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Das war noch in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts, daß ich an einem rauhen Frühlingsabend bei pfeifendem Wind und spritzendem Wellenschlag, nach langer Schaukelfahrt, von meinem weit draußen ankernden Dampfer her, auf der Reede von Gibraltar an Land ging.
Schon vom Meer aus hatte ich auf Old Mole ein buntes Uniformgewimmel bemerkt. Und richtig: das ganze kanonengespickte Felsennest stak voll britischer Truppen, von England aus unter Kitchener unterwegs zum Straf- und Rachefeldzug wider den blutigen Mahdi und seine wütenden Derwische in Khartum.
Und durch die Straßen von Gibraltar zog phantastisch, bei Fackelgeloder und dem uralten Clanlied der voraushüpfenden Dudelsackpfeifer die Zapfenstreich-Scharwache eines der stolzesten Hochschotten-Regimenter, und der zahme Hochlandhirsch lief dem riesigen, von einem Pantherfell umflatterten Tambour-Major voraus, und zu beiden Seiten wanderten andächtig Spanier, Levantiner, Araber im britischen Schritt und Tritt mit.
Mehr als anderthalb Jahrzehnte später habe ich die Uniform dieses Schottenregiments noch einmal gesehen: Ein Häuflein von bayerischen Landsturm-Männern bewachter Gefangener trug sie im Herbst 1914 in Belgien.
Damals aber, in Gibraltar, freundete ich mich, in dem kleinen Hotel in Waterportstreet, mit einem Kreis von Leutnants dieser Highlanders an. Sie hatten erfahren, daß ich aus dem Innern Marokkos – zu jener Zeit noch eines wilden Landes – kam und ein paar Tagreisen durch das Gebiet der Rif-Kabylen drüben geritten war. Das war, nach ihrer Ausdrucksweise, »ein rauhes Werk« und gewann mir ihr Zutrauen.
So saßen die Schotten des Abends beisammen – nicht mehr im kurzen Röckchen über nackten Knien und mit dem Tartan, dem gewürfelten Plaid, und der Stoßfeder an der bebänderten Mütze, sondern in Frack und weißer Binde des britischen Gentleman, und die Stimmung war, angesichts des bevorstehenden, interessanten Sportereignisses – des neuesten Kolonialfeldzugs – aufgeräumt und angeregt.
Immerhin – der Mahdi mit seinen fanatischen weißen Burnusträgern am blauen Nil war doch etwas anderes als ein beliebiger Nigger-King. Bereits der frühere Mahdi hatte einst den frommen, bibelfesten britischen General Gordon enthauptet. Die gegen ihn entsandte Armee der ägyptischen Regierung war schon vorher, fünfzehntausend Köpfe stark, unter Hicks Pascha bis auf den letzten Mann im Sudan umgekommen. Und in der Erinnerung daran meinte einer der Schottenleutnants gesprächsweise:
»Ob wohl im Herbst irgendein guter Mann nicht mehr hier zwischen uns seinen Whisky trinken wird, wenn wir den alten Burschen in Khartum erledigt haben?«
»Wohl – da gibt es Zeichen!« antwortete freimütig und heiter lächelnd ein anderer junger Offizier. Es war ein auffallend schöner, groß gewachsener Mann mit glattrasierten, kühnen Zügen. Das Urbild eines blonden, blauäugigen Briten der höheren Stände, wie es den Frauen seines Landes vielleicht als Inhalt ihrer Wunschträume vorschwebte.
Zeichen . . . Vorahnungen . . . Gesichte in einer Runde von Hochschotten! Man braucht da nichts weiter zu sagen. Alles ist bei ihnen, im Nebel über den Mooren, der Dämmerung am Strand, dem Zwielicht der Stubenecken, voll vom zweiten Gesicht – von Widergängern, von Vorausahnungen. Jedes alte Schloß, jedes alte Haus hat dort seine Geister und Geheimnisse. Und so frug es neugierig in der Runde:
»Was sahen Sie für Gespenster, Malcolm?«
Und andere Stimmen.
»Wo? Wann? McCosh?«
Ein paar Rauchwirbel lässig aus der kurzen Pfeife.
»Wohl! Vor kurzem! Gerade, ehe wir aus Schottland absegelten!«
Rings hoben sich die Köpfe.
»Erzählen Sie, alter Mann!«
»Eines Morgens,« begann der große, schöne, blonde Leutnant Malcolm McCosh, »bekam ich im Hotel in Edinburgh einen Brief. In ihm stak ein Scheck über 100 Pfund und ein Zettel: ›Viel Jagdglück im Sudan! Besuche vor der Abfahrt Deinen treuen Oheim Andrew!‹«
»Ich hatte diesen Onkel Andrew McCosh nie gesehen. Er war ein alter Junggeselle und erst vor kurzem aus Afrika zurückgekommen. Dort hatte er den größten Teil seines Lebens als britischer Beamter an der Westküste verbracht und sich mit gutem, rauchigem Whisky gegen das Fieber über Wasser gehalten. Die Flüsse stießen dort lehmgelb in das blaue Meer, und wenn da den Steamern schon auf hoher See, weit vor dem Hafen, die leeren Flaschen entgegenschwammen, dann sagte der Kapitän zu den Passagieren: ›Hallo! Der alte McCosh lebt noch!‹
Nun war er lebendig wieder bei uns im Land, und ich machte mich auf, ihm, seinem Wunsch gemäß, persönlich für die hundert Pfund zu danken.
Es war eine höllisch lange Fahrt von der vorletzten Eisenbahnstation im Wägelchen aufwärts durch das Hochland bis zu dem ererbten alten Familiensitz des Onkels. Ein gespenstiger, grauer Steinkasten – eigentlich ein verfallenes Schloß – Lochgilphead House – lag es völlig einsam – auf eine Viertelstunde im Umkreis sonst keine menschliche Behausung – in weiter Öde. Kahle Heidekrauthügel engten es von drei Seiten ein. Vorn breitete sich bleifarben, ohne ein Windgekräusel und ohne ein Boot auf seinem Spiegel, der Loch Long, eines der vielen Gewässer aus der Seenkette des Hochtals, und füllte die kühle Luft mit einem zähen Nebel.
Rings war alles totenstill, als ich vorfuhr. Nur ein paar Hunde heulten. Ein alter Butler öffnete mir schweigend das Tor. In der Halle trat mir ein kleiner, zarter, blondlockiger Engel von einer Lady in einem weißen Kleid aus dem Dämmern entgegen. Ein paar große, reine Augen glänzten tiefblau wie zwei besonnte schottische Hochlandseen in dem süßen, stillen Kindergesicht. Sie reichte mir schüchtern die Hand und hieß mich willkommen.
»Ich bin Miß Turner! Onkel Andrews Nichte!« versetzte sie. »Sie müssen Mary-Ann zu mir sagen, Vetter!«
Und weiter, während wir in den altertümlichen Speisesaal traten, wo zum Lunch für zwei gedeckt war.
»Ich bin Waise. Mein Vater war Reverend. Er und Mutter sind beim Herrn. Onkel hat mich zu sich ins Haus genommen, damit ich ihm die Wirtschaft führe! Es ist so gut von Ihnen, daß Sie ihn besuchen!«
»Kann ich ihm nicht die Hand drücken?«
»Jetzt?« Die kleine, liebliche Mary-Ann schüttelte erstaunt das sanfte, blonde Köpfchen, dessen blasse Wangenfarbe der Jugendfrische ihrer zwanzig Jahre widersprach. »Jetzt darf man ihn nicht stören! Er schläft!«
»Mittags um zwölf?«
»Oh – dies ist kein Haus wie andere!« Das herrliche Kind der Hochlandeinsamkeit versorgte mich mit weichem Lächeln, hausmütterlich, mit Hafergrütze und Eiern mit Speck. »Onkel schläft immer bei Tag und wacht bei Nacht.«
»Und was macht er des Nachts?«
»Er spricht nicht gern davon, was er dann alles im Schlosse sieht. Wenn Onkel um Mitternacht in den Saal hier tritt, sind die Rahmen der Ahnenbilder an den Wänden leer, und die Vorfahren promenieren unten Arm in Arm über das Parkett.«
»Geistererscheinungen, wie sie eines wahrhaften Gentleman würdig sind!«
»In dem großen Turm hat doch im 18. Jahrhundert William McCosh in der Nacht vor seiner Hinrichtung gesessen.«
»Wo ist ein Schloß in England oder Schottland, Mary-Ann, wo nicht die Königin Elisabeth einmal eingekehrt ist oder jemand die Nacht vor seiner Hinrichtung gesessen hat?«
»Es war der McCosh – der Laird des Clans – der Onkel trifft ihn oft nachts auf der Turmtreppe in seiner altschottischen Häuptlingstracht, den Kopf unter dem Arm!«
»Der Oheim sieht also Tote?«
»Vor allem – nehmen Sie ein Hammelrippchen, Vetter! – sieht Onkel den Menschen an, wenn sie sterben müssen! Steht ihr Tod nahe bevor, dann ist er zu ihnen besonders freundlich. Das gilt als kein gutes Zeichen. Denn für gewöhnlich ist Onkel wahrhaft rauh zu jedermann. So hat er es sich in den vielen Jahren in Afrika angewöhnt!«
Das merkte ich, als ich gegen Abend eine grimmige Greisenstimme durch das Schloß kreischen hörte: »Wo ist er? Ich werde diesen Windhund davonjagen!« Dazwischen tobte Hundegebell. Dann erschien ein kleiner, beweglicher, dunkelbraungebrannter Herr mit weißem Schopf und zornfeuchten, wilden Augen. Die Doggen rasten und sprangen um ihn her. Er selber knallte mit einer kurzen Hetzpeitsche. Mary-Ann hob durch den Lärm beschwörend die schmächtigen Arme:
»Onkel – das ist er ja gar nicht! Das ist ja Dein Neffe Malcolm!«
Der alte McCosh stutzte, musterte mich scharf. Plötzlich wandelte sich sein wütendes Antlitz in stille Sanftmut. Nochmals ein forschender Blick. Er reichte mir jäh und herzlich die Hand. Er drückte sie fest.
»Du ziehst ins Feld, mein Junge!« sagte er gedämpft. »Gut, daß ich Dich vorher noch einmal sehe!«
Ich war der Worte der Base eingedenk, daß der Onkel nur zu Todeskandidaten so warmherzig sei, und antwortete nur mit einem zurückhaltenden Lächeln. So setzten wir uns zu dritt zum Dinner.
Bei dem war Old-Cosh die Liebe und Güte selbst zu mir – väterlich um mein leibliches Wohl bemüht, während Mary-Ann in seiner Gegenwart kein Wort sprach und beklommen dasaß und die sanften blauen Augen kaum von ihrem unberührten Teller hob.
Der alte Gentleman gab durch einen blinden Schuß zur Decke aus einer neben ihm liegenden Pistole das Zeichen zum Abräumen und trank mir mit weißrollenden Augen zu.
»Auf Afrika! Grüße mir mein altes Afrika! Afrika ist das einzige Land, in dem ein Gentleman leben und sterben kann!«
»Auch sterben, Onkel?« frug ich beiläufig.
»Schick' den Mahdi zur Hölle!« Der alte Mann hob begeistert sein Glas. Mary-Ann hatte sich still erhoben und nebenan in einem Wohnraum an den Kamin gesetzt.
»Auch sterben, Onkel?« wollte ich wissen.
Old-Cosh schnitt eine Grimasse und winkte heftig dem Butler, die Portweinflasche nachzufüllen.
»Onkel Andrew – Du siehst doch in die Zukunft . . .«
»Aber ich binde, was ich sehe, nicht jedem grünen Burschen auf die Nase!« schrie der Alte. Sein Zorn schien mir mehr Verlegenheit, und ich rief erbittert:
»Es ist zynisch von Dir, Oheim, Dein Wissen für Dich zu behalten!«
». . . und es ist nicht weise, mein Neffe Malcolm, zu viel zu reden!«
»Ich will es aber hören – Gott verd . . .« Ich warf einen scheuen Blick in das Nebenzimmer, wo Mary-Ann verträumt und reizvoll, wie ein Bild von Gainsborough, mit gesenktem Blondköpfchen in ihrem weißen Kleid am roten Flackerschein des Kamins saß. Plötzlich stand sie auf und kam flüchtigen Schritts über die Schwelle. Klein und zart, wie ein verflogenes, blondes Vögelchen, stand sie vor uns in der mächtigen, düsteren Halle.
»Wozu plagst Du den Onkel, Malcolm?« versetzte sie mit einer merkwürdig gepreßten Stimme, als kostete es sie eine Überwindung zu reden. »Es gibt doch hier im Schloß Anzeichen genug, wenn Eines sterben muß!«
»Still!« schrie der Alte.
»Doch, Onkel Andrew! Das war seit Jahrhunderten so, daß der schwarze Wagen . . .«
»Still!« heulte wieder Old-Cosh.
». . . daß der schwarze Leichenwagen . . .«
»Genug . . .«
». . . plötzlich, mit zwei Rappen bespannt, um Mitternacht vor dem Schloß hält – so lange, als es ungefähr dauern würde, einen Sarg hineinzuschieben. Dann fährt er langsam weiter und verschwindet.«
»Ich verbiete Dir . . .«
»Oh – Onkel! Jeder im Schloß weiß es. Auch Du! Und von denen im Schloß, die den Wagen sehen, muß einer in der nächsten Zeit sterben. Darum flüchtet alles und versteckt sich.«
»Gute Nacht!« sprach der alte McCosh kurz und düster und stapfte aus dem Saal, und seine Nichte, der blasse, blonde Engel, hielt bang den Finger vor den Mund.
»Stören Sie den Onkel heute abend ja nicht mehr!« warnte sie mit großen, besorgten, blauen Augen. »Er schließt sich jetzt bis Sonnenaufgang in seine rückwärtigen Zimmer ein und blendet die Fenster mit Läden und Vorhängen ab.«
»Ist der alte Mann aus Afrika so bang?« frug ich und zündete mir meine Pfeife an.
»Onkel hat, nachdem er dort so viele Gefahren bestanden, jetzt, je älter er wird, immer mehr eine kindische Angst vor dem Tode! Er möchte um keinen Preis auch nur durch einen Zufall einmal etwa den schwarzen Wagen da unten sehen!«
»Und Sie meinen, daß der heute nacht kommen könnte, Base?«
»Wer kann es wissen?«
»Und wem sollte das gelten?«
Die Wangen der süßen, kleinen Base waren fast weiß. Ihre klaren Augen maßen mich weich, feuchtschwimmend, in stiller Angst.
»Sie übernachten heute in dem Schloß, Vetter!« stieß sie erstickt hervor. »Sie ziehen bald in den Krieg. Onkel war zu Ihnen so unheimlich gütig, wie er sonst nur zu Menschen ist, die . . . Ach Vetter . . . Wenn es nur schon heller Tag wäre und nichts Neues in dieser Nacht . . .«
Damit war sie weg. Und ich schaute ihr nach. Und ohne unchristliche Eitelkeit mußte ich mir eingestehen, daß ich offenbar auf den ersten Blick einen kräftigen Eindruck auf Mary-Ann Turners einsames, kleines Herz gemacht, und mit diesem freundlich mein Inneres wärmenden Bewußtsein ging auch ich zur Ruhe.
Ich habe einen so gesunden Schlaf, daß es schon eines starken Gepolters auf der Treppe draußen bedurfte, um mich zu wecken. Es war, als liefen da Diener oder Mägde oder was im Haus war, hastig nach hinten, nach der Gartenseite des Schlosses. Dorthin verklang auch von unten das Winseln der Hunde, die sich offenbar, die Angst der Menschen merkend, gleich ihnen nach rückwärts verzogen. Dann wurde alles still.
Eine Minute lag ich schlaftrunken und überlegte mir, wo ich war und was da wohl um mich her geschah. Richtig – jetzt wußte ich wieder Bescheid . . .
Ich stieg aus dem Bett und tappte mich zum Fenster hin. Das dauerte im Dunkeln wieder einige Zeit. Endlich bekam ich die Gardinenschnur in die Hand und zog den Vorhang hoch. Ich wurde fast geblendet von der Fülle von bläulichem Mondlicht, die mir entgegenflutete und draußen den schmalen, langen See, die kahlen Bergrücken, das ganze Hochland fast taghell übergoß.
Als grellweißes Band lief um einen Hügel zur Rechten die Landstraße auf das Schloß zu und verschwand ebenso hinter einer steilen Kuppe zur Linken. Diese Landstraße war jetzt, nach Mitternacht, ganz leer.
Nur gerade an der Vorfahrt zum Schloß – da stand Etwas – ganz deutlich: Ein schwarzer, geschlossener Leichenwagen. Zwei Rappen davor. Ein uralter, verwitterter, wie aus dem Grab gestiegener Kutscher in altertümlichem, schwarzem Radmantel, hohem schwarzen Hut und umflorter Peitsche saß regungslos hoch oben auf dem Bock.
Der Wagen stand. Nein. Er begann sich wieder zu bewegen – gerade als ich ihn sah. Die schwarzen Pferde zogen ihn langsam im Schritt weiter über den weißen Weg. Das Nachtgefährt bog um den Hügel. Es war nicht mehr zu sehen.
Ich müßte verdammt mit der Wahrheit umspringen, wenn ich behaupten wollte, ich hätte den Rest der Nacht so sanft geschlafen, wie ein Baby in der Wiege. Ich schlief in dieser Nacht überhaupt nicht mehr, bis es Morgen wurde. Unten kreischten die Tore in den Angeln. Das Schloß wurde geöffnet. Ich wollte, in der lichten Sonne draußen, wenigstens die Stelle des nächtlichen Spuks sehen, wenn er auch selber sich längst in Nichts aufgelöst hatte.
Ich trat, als erster am heutigen Tag, aus der Torwölbung auf die Einfahrt hinaus und schaute vor mich auf die Straße und riß die Augen auf . . .
Im Staub der Straße – genau da, wo der schwarze Wagen gehalten – erkannte ich ganz deutlich die frischen Radspuren eines Gefährts – dazwischen die Eindrücke von acht breiten Hufen.
Und vor allem: Ich hatte am Abend noch deutlich gesehen, wie der Pförtner die Vorfahrt vor dem Schloß mit dem Besen reinfegte. Jetzt aber lagen da, mitten im Sand, ganz frisch, nur wenige Stunden alt, ein halbes Dutzend runde, ausgewachsene Roßäpfel . . .
Plötzlich stürmte, weißschopfig, mit weißrollenden Feueraugen, wie aus der Pistole geschossen, von den brüllenden Doggen umtobt, der Onkel Andrew aus dem Schloß. Er hielt eine Pistole schußfertig in der Hand. Er fuchtelte damit herum. Er spähte rachgierig die Straßenbiegung hinab. Da war außer ein paar Spatzen nichts zu sehen. Neben ihm meldete – mit einem Zittern der Aufregung hinter der Kehlkopfwamme – der würdevolle Hausmeister:
»Mac Gregor, der Schäfer, hat nachts vom Feld aus beobachtet, daß sich der Leichenwagen gleich hinter dem Hügel in gestreckten Galopp setzte und über Stock und Stein davonpreschte. Er sprach ein Vaterunser. Er hielt es für ein Blendwerk der Hölle!«
»Geht nur zur Hölle!« schrie Old-Cosh atemlos dem längst verschollenen Geisterwagen nach.
»Ich habe einen reitenden Boten nach der Eisenbahnstation geschickt, Sir! Er kam vorhin zurück: Ja. Es hat seine Richtigkeit. Der Leichenwagen kam mit schweißbedeckten Rappen zehn Minuten vor der Durchfahrt des Edinburgher Schnellzugs an. Die Lady und der Gentleman kamen zu allgemeinem Erstaunen aus dem Innern des Wagens statt eines Sargs zum Vorschein und stiegen Arm in Arm in den Zug. Manche ältere Damen und sonstige respektable Charaktere waren peinlich berührt. Manches jüngere Volk mußte lachen, als man erfuhr, worum es sich handelte!«
»Ja – worum handelt es sich denn, Onkel?« frug ich.
»Deine Base Mary-Ann ist heute Nacht durchgebrannt!« schrie der alte Gentleman. »Mit diesem cynischen Burschen, diesem Bill, dem sie offenbar gestern Abend heimlich Nachricht gegeben und der den Leichenwagen besorgt und uns heute Nacht diese unwürdige Komödie vorgespielt hat! Kennst Du Deinen Vetter Bill Mc Cosh?«
»Flüchtig!« erwiderte ich. Ich hatte ihn ein paarmal in Oxford besucht. Er war dort schon Bachelor in einem der ausgewählten, alten Colleges. Er hatte eine große Stellung unter den Fellows. Seine Stärke bestand in dem weiten Ausholen und der Gleichmäßigkeit seines Ruderschlags. Es bestand Hoffnung, ihn im nächsten Frühjahr in London, bei Hammersmith, im Kampf um das hell- und dunkelblaue Band der Themse zu sehen.
»Ein famoser Junge!« bemerkte ich. Und der Alte, zitternd vor Zorn.
»Eine Niete Gottes! Er ist nichts! Er hat nichts! Er wird nichts! Er kann nur rudern!«
»Das ist doch schon wahrlich sehr viel!« sagte ich.
»Mir genügt es nicht!« zischte Onkel Andrew. »Ich habe ihm schon voriges Jahr das Haus verboten, als ich das verliebte Kälberspiel zwischen ihm und Mary-Ann bemerkte. Aber hat es etwas geholfen?«
»Es scheint nicht!« erwiderte ich und betrachtete die Roßäpfel am Boden.
»Ich habe Mary-Ann untersagt, mit ihm brieflich oder durch Dritte zu verkehren! Hat sie es befolgt?«
»Sicherlich!« sagte ich. »Denn sie ist jetzt unmittelbar mit ihm selber auf dem nächsten Weg über Edinburgh nach London!«
»Nach London . . .« stöhnte der alte Herr.
»Wohl – Onkel – dort ist man in wenigen Tagen getraut!«
»Habe ich ihr nicht junge Männer zur Auswahl ins Schloß geladen, damit sie sich in Einen vergafft?« schrie der Onkel Andrew. »Vor Dir ein halbes Dutzend schon! Stattliche junge Burschen!«
»Und dann mich?«
»Dann Dich! Ich dachte: Vielleicht rührt der Gedanke, daß Du in Krieg und Gefahr gehst, Mary-Anns Herz! Deswegen war ich ja auch so freundlich zu Dir!«
»Ach – das war der Grund?«
»Sicherlich kein anderer, mein lieber Malcolm! Ich konnte es Dir nur in Mary-Anns Gegenwart nicht sagen. Aber – ist der Plan geglückt?«
»Wenn ich meine Eitelkeit unterdrücke, muß ich als Brite die Hand aufs Herz legen und erklären: Nein!«
»Ich habe dieses Haus und dieses Mädchen darin so ängstlich behütet!« Der arme, alte Andrew setzte sich erschöpft auf den Prellstein der Schloßeinfahrt, vor dem im Sonnenschein die Spatzen in dem Stoffwechsel der Geisterpferde pickten. »Das Eingangstor war Tag und Nacht bewacht. Keine Maus konnte ungesehn hinein und heraus, geschweige denn Mary-Ann!«
»Darum hat das teuflische Mädchen Deine einzige Nacht im Schloß benutzt und mit Hilfe ihres Spießgesellen den Totenwagen beschworen,« fuhr er matt fort, »sie wußte genau, daß vor dessen Anblick sofort Alles, was im Schloß war, nach hinten fliehen und ihr den Ausgang aus dem Schloß freigeben würde. Ach – die Menschen sind ja so betrübend abergläubisch und feige!«
Der kaffeebraune, kleine Mann aus Afrika schüttelte traurig den schlohweißen Kopf über die Unzulänglichkeit der Welt.
»Glaubst Du, daß noch eine Aussicht besteht, sie einzuholen?« frug er.
»Ich hoffe: Nein! Der Vorsprung ist zum Glück zu groß!« sagte ich. »Lasse sie ihr Glück im Leben probieren, Onkel! Der Bill ist ein zäher Sportsmann! Der läßt nicht leicht das Ruder sinken!« Ich sah auf die Uhr. »Ich muß mich jetzt zur Abreise rüsten!«
»Besuche mich noch einmal, ehe Du Schottland verläßt!«
Als ich das eine Woche später tat, zeigte mir der alte Mc Cosh stumm eine Depesche aus Portsmouth.
›Segeln in einer Stunde als Mann und Frau nach Gilbert-Inseln in Neuseeländischen Gewässern, wo gute Stellung bei Zolldirektion. Gruß an Malcolm. Treulichst Mary und Bill.‹
»Und ich«, der riesige, blonde Leutnant Mac Cosh kam mit seiner Erzählung zum Schluß und zeigte humoristisch lächelnd seine großen weißen Zähne, »war in dieser Geschichte der Ehestifter wider Willen!«
»Aber die Freundlichkeit des Onkels zu mir stammt nicht aus seinem zweiten Gesicht,« endete er heiter, »und der Totenwagen war keine wirkliche britische Gespensterware. Mithin kann ich guten Muts dem Mahdi die Faust unter die Nase halten!«
*
So sprach der Leutnant Malcolm Mac Cosh in der Waterportstreet in Gibraltar im Kreis der Hochschotten, mit denen er in den Sudankrieg zog. Ich habe ihn nie wieder gesehen und weiß nicht, wie es ihm dort ergangen.