Rudolph Stratz
Die siebte Pille und andere abenteuerliche Geschichten
Rudolph Stratz

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Das Gespenst von Lappland

Sind Sie unwohl?« fragte ich meinen Freund. Er antwortete nicht, sondern starrte nach wie vor regungslos nach der Tür, wo die junge Dame verschwunden war. Die Dame hatte auf der Schwelle stehend nur einen Augenblick in das Zimmer hineingeschaut. Eine schöne, schlanke Erscheinung – so viel konnte ich erkennen – mit hellblondem Haar, hellbraunen Augen, im Reiseanzug – offenbar eine Engländerin. Aber hübsche Engländerinnen gibt es genug in Italien. Und außerdem konnte der Anblick eines schönen Mädchens unmöglich so niederschmetternd auf normale Menschen wirken.

Mein Freund aber war wie vom Donner gerührt. Er saß schweigend da und trocknete sich mit dem Taschentuch die Stirn. Ich beobachtete ihn. Eigentlich war es gar nicht mein Freund, sondern eine flüchtige Reisebekanntschaft von Capri her, ein amüsanter amerikanischer Weltbummler, mit dem ich, in jenen fernen Wanderjahren meiner Jugend, die langen Abende Neapels nach Kräften bei Falerner, Zigaretten und Billardspiel totschlug.

Da er beharrlich schwieg, tat ich das gleiche. So saßen wir eine Weile beisammen. Nichts rührte sich in dem kleinen Rauchzimmer des Hotels. Das Gas summte eintönig, von der Straße klang Peitschenklatschen und Eselgeschrei, und in der Ecke schnarchte, die Füße gegen den glimmenden Kamin gestemmt, ein alter Englishman den Schlaf des Gerechten. Seine Stiefelsohlen waren schon etwas brenzlig. Aber ohne das fühlt sich ja bekanntlich kein Brite behaglich.

»Eine Vision«, sagte plötzlich der verstörte Mann an meiner Seite, »nun schon zum zweitenmal – das erstemal war es in Paris, daß ich sie sah.«

»Welche Vision? Die Dame von eben?«

»Ja! Morgen gehe ich zum Arzt.«

»Weil Sie ein schönes Mädchen gesehen haben? Wenn das allgemein üblich wird, bereue ich, nicht ebenfalls Medizin studiert zu haben. Dann gäbe es notleidende Ärzte höchstens noch auf dem Berge Athos.«

»Das ist gar kein Mädchen, was da eben an der Türschwelle stand«, sagte mein Gegenüber störrisch, »das ist eine Frau – und zwar eine tote!«

Eine tote Frau, die bei hellem Gaslicht in Hotels ersten Ranges herumspukt und nüchterne Yankees zu Geistersehern macht! Das ging mir doch über den Spaß. Ich saß ganz verblüfft da.

»Sie halten mich wohl für verrückt?« Die Stimme meines Freundes hatte einen melancholischen Klang.

»Noch nicht ganz!« erwiderte ich ehrlich. »Aber es ist ja nicht schwer zu ermitteln. Also die Frau, die mir eben sahen, ist tot?«

»Sie starb vor drei Jahren an der lappländischen Küste.«

»Sie waren dabei, als sie starb?«

»Ihr Tod wurde von mir und mindestens einem Dutzend einwandfreier Zeugen vor Gericht beschworen.«

»Und trotzdem war dieselbe Dame eben hier im Zimmer?«

»Ja. Das heißt – natürlich war es eine Vision. Die Dame ist ja tot und begraben.«

»Beachten Sie, bitte«, sagte ich, »daß wohl ein einziger Mensch infolge von Krankheit oder erschütternden Erlebnissen eine Vision haben kann, aber nicht gleichzeitig ein zweiter, ganz unbeteiligter.«

»Und die Fata Morgana? Hunderte von Karawanenpilgern sehen sie!«

»Ich habe sie selber oft genug in der Sahara gesehen.«

»Und ebenso habe ich bei Gelegenheit meiner Weltumsegelung«, sagte mein Gegenüber, »über den Bergen des Sinai die Fata Morgana – nicht nur schwimmende Schiffe und Palmenwälder, sondern auch Menschen am Himmel, zugleich mit meinen Freunden erblickt.«

»Aber nicht hier mitten in unserem nüchternen Europa! Also können wir morgen beide zum Arzt gehen«, erwiderte ich ärgerlich.

»Warum? Vielleicht war die Dame tatsächlich im Zimmer, erschien Ihnen in ihrer wirklichen Gestalt, und nur ich sah darin ein anderes, längst verstorbenes Wesen.«

Ich stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. »Kommen Sie mit!«

Unten im Vorraum des Hotels stand der Portier. Natürlich ein Schweizer. »Hören Sie mal«, sagte ich vertraulich, »eben kam doch hier aus dem Konversationszimmer eine junge Dame herunter – groß – schlank – blond – mit braunen Augen –«

»Gewiß«, bestätigte der Portier und warf einen Blick auf die Fremdentafel, die an der Wand hing. »Mrs. Gallego – mit ihrem Mann, der aber heute auf einer Vesuvtour abwesend ist – aus Argentinien.«

Ich sah meinen Freund an. Der Name schien ihm fremd. Er fragte: »Wo ist die Lady jetzt?«

»Sie ist hinunter in die Stadt gefahren«, erklärte der Schweizer und wies auf das Häusergewirr Neapels, das endlos unter uns in den Silberfluten des Mondes glänzte. »Ich habe selbst noch dem Kutscher die Richtung gesagt. Sie wollte sich das Straßenleben ansehen – Toledo – Santa Lucia – Chiaja –«

Im nächsten Augenblick winkten wir einem Kutscher, Avanti – Toledo – Santa Lucia – Chiaja –«

Natürlich war unser Unternehmen verrückt. Ebensogut könnte man eine Stecknadel in einem Ameisenhaufen suchen wie einen Fremden in dem Straßengewühl Neapels. Aber die Verrücktheit führt in der Welt ja so oft zum Ziele! So auch hier.

Im Toledo, oder wie es offiziell heißt, in der Via di Roma kam die abwärts fahrende Wagenreihe wieder einmal ins Stocken. Die kleinen Droschken hielten in endlosen Kolonnen. Die auf ihrem Bock befindlichen Galgenvögel schrien, lärmten und klatschten mit der Peitsche, halbnackte Bengel schwangen sich bettelnd auf den Wagentritt, die Menge auf dem Bürgersteig johlte, in dicke, von Taschendieben eilfertig durchschlüpfte Klumpen zusammengedrückt, die Munizipalgarden schimpften, die Maulesel wieherten mit durchdringendem Schmettern – kurzum, man war in Neapel.

Auf der andern Seite der Straße bewegte sich der Wagenzug langsam aufwärts. Und plötzlich stieß mein Freund mich an. In einer der kleinen Droschken saß, ohne uns zu bemerken, allein die Fremde von vorhin.

Wir erkannten sie beide auf den ersten Blick. Aber ehe wir noch in dem flackernden Gaslicht und dem Getümmel ringsum sie näher mustern konnten, setzte sich auch unsere Droschkenkolonne in Bewegung. Die kleinen Pferde zogen an, die Kutscher heulten und brüllten, die Menge johlte, und schon waren wir fern von der Stätte der Begegnung.

Von der Chiaja fuhren wir schweigend ins Hotel zurück. Dort empfing uns der Schweizer: »Die Dame, nach der Sie fragten, ist vor einer halben Stunde zurückgekommen. Sie ist aber gleich auf ihr Zimmer gegangen.«

»Sie haben ihr doch nicht gesagt, daß wir uns nach ihr erkundigten?«

»Doch. Ich dachte, die Herrschaften kennen sich!«

»Schade!«

Mein Genosse schüttelte den Kopf und stieg in das Rauchzimmer hinauf.

Ich folgte ihm und bestellte noch eine Flasche Falerner. »Die Sache steht also so«, sagte ich, die Gläser vollschenkend, »daß wir hier in Neapel eine unzweifelhaft lebende Dame gesehen haben, bei deren Tode Sie gleichwohl zugegen gewesen sein wollen. Da kann nun vorliegen – erstens –«

»Ich weiß schon«, erwiderte mein Freund gereizt, »erstens eine Verwechslung – die ist absolut ausgeschlossen. Zweitens ein leichter Stich in meinen Hirnkasten. Das wäre schon eher möglich.«

»Ich möchte es ungern glauben!« entgegnete ich, »aber es hätte manches für sich, wenn Sie mir einmal die Geschichte erzählen wollten.«

»Well!« sagte der Amerikaner, »das will ich tun! Kennen Sie Lappland? Ja? Um so besser!«

*

»Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß man in Lappland gedörrten Lachs in den Morgenkaffee taucht, marinierten Lachs zum zweiten Frühstück nimmt, sich mittags an gekochtem Lachs sättigt, um fünf Uhr eine Scheibe rohen Lachs mit Pfeffer darauf setzt und gegen Abend geräucherten Lachs als Nachtmahl einnimmt. Brot, das, wie Sie wissen, in Kisten, Möbeln und Särgen verpackt wird und mit diesen als Schiffsladung nach den entlegenen Stationen geht, wo man weder Holz zu Möbeln und Särgen, noch Korn zum Leben selbst erzeugen kann – dieses scheußliche Schiffsbrot ist dort ein Leckerbissen.

Den Eingeborenen bekommen ja diese Lachsexzesse vortrefflich. Mir weniger. Als ich mich einige Wochen auf den Walfischfängerstationen der Polarküste umhergetrieben, fühlte ich die Anzeichen eines dauerhaften Magenkatarrhs und beschloß, nach Hammerfest zurückzukehren.

In irgendeinem trostlosen Fjordflecken auf –ö bestieg ich den Postdampfer. Es war schon ziemlich spät im Jahre und ein rauher Morgen. Selbst in dem stillen Fjord kräuselten sich die Wellen unter dem vom Nordpol kommenden Mailüftchen, das draußen die Wogen des Eismeeres tanzen ließ.

Daher auch wenig Passagiere. Ein halbes Dutzend ernster, wortkarger Norweger, meistens ›Landhändler‹ oder Beamte, zwei deutsche Maler, die sich bis zur Murmanskischen Küste gewagt hatten, ›nachdem die Lofoten zu sehr in die Mode gekommen und der Ranf-Fjord schon von Krethi und Plethi abgepinselt worden sei‹, dann ein englischer Tourist, mißmutig, schweigsam und von Mücken zerstochen. Er hatte es versucht, von Badsö aus die berühmte Tour quer durch Lappland bis Haparanda in Schweden zu machen, war aber schon am zweiten Tage, durch die Stechfliegen fast zum Wahnsinn gebracht, samt Pferden und Führern umgekehrt. Übrigens, wie das Gerücht ging, ein bekannter Reisender, Gletschermann ersten Ranges und im Londoner Touristenklub hochangesehen.

Und dessen Frau, die ihn auf seiner Reise begleitete, das war eben sie – sie, von der wir sprechen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das wirkte: unter dem grauen Himmel, auf der eintönigen See, zwischen den mürrischen Menschen dies junge, blühende Geschöpf, dessen silbernes Lachen durch das ganze Schiff hin klang und selbst den stillen Norwegern ein verstecktes Schmunzeln entlockte.

Alles drehte sich um sie. Der Kapitän, ein linkischer, gutmütiger Mann in älteren Jahren, ließ sie bei Tisch nicht von seiner Seite, der Erste Steuermann, ein verwegener, junger Mensch, erzählte ihr auf Deck seine tollen Abenteuer in den Gewässern Chinas und der Südsee, die beiden Maler skizzierten sie in allen möglichen Stellungen und Drapierungen, die ungeschlachten, riesigen Matrosen brachten die Angelschnüre in Ordnung und hakten die kleinen, blinkenden Metallköder daran, damit sie das Vergnügen des Fischens nicht entbehren solle, kurzum, sie beherrschte souverän das Schiff mit allem, was es trug.

Wie es mir erging, können Sie sich denken.

Ihr Mann kümmerte sich um alles das kaum. Er saß phlegmatisch in der Rauchkajüte, bastelte an seiner und an Mrs. Sydhams Gletscherausrüstung herum und sann darüber nach, welche lappländischen, noch nie von Menschenfuß betretenen Berge er demnächst besteigen wolle, um auf dem Gipfel die Steinpyramide, den berühmten ›Steinmann‹ aufzurichten. Seine Frau nahm er, wie er mir sagte, selten zu solchen Ausflügen mit. Nicht, als ob es ihr an Kraft oder Mut dazu gemangelt hätte – sie war, nach seinem Ausdruck, zäh wie eine Katze; aber er tadelte ihren Mangel an Besonnenheit, an Vorsicht, die allerdings in diesen verwünschten Gegenden, in den Stein- und Eiswüsten, den steilen Schneehängen und namentlich den gefährlichen Hochmooren Lapplands sehr am Platze ist.

Übrigens unterhielt sie sich ohne ihn recht gut. Zur Ruhe kam niemand auf dem Schiff. Alle Augenblicke hatte sie etwas Neues ausgedacht. Bald war ein riesiges, mit Kohle auf ein Blatt Papier gezeichnetes Schwein an der Kajütentür befestigt, dem man dann der Reihe nach mit verbundenen Augen das Schwänzchen anzeichnen sollte – meines kam gewöhnlich über das Ohr zu stehen – bald wurde mit kleinen Messern nach einer Apfelsine geworfen oder im Chorus unter obligatem Fußstampfen ein Niggergesang zum besten gegeben. Dann lief sie wieder in ihre Kabine, um englische Cakes – ein Leckerbissen in diesen lachsbehafteten Gegenden – zu holen und unter ihre Freunde zu verteilen, oder sie spähte mit dem Fernrohr des Kapitäns emsig nach den dunklen Tangstreifen an den Klippen. Denn man hatte ihr eingeredet, das sei Walfischlaich, und sie ärgerte sich nun darüber, daß sich die Walfische so wenig um ihre Brut zu kümmern schienen, sondern gefühllos draußen im offenen Meer in kleinen ›Schulen‹, wie der Norweger solch einen Trupp nennt, umherplätscherten.

So fuhren wir den halben Tag im Fjord. Wir hatten bereits zu Mittag gegessen – gekochten Lachs und rohen Lachs in Scheiben – und saßen auf dem Verdeck. Da verkündeten die immer heftiger werdenden kalten Windstöße, der ferne Donner der Brandung, durch den schrill und klagend der Schrei der Möwen scholl, ein Schwanken und Zittern des Dampfers, daß wir uns der offenen See näherten.

Eine halbe Stunde darauf waren wir mitten in dem wie gewöhnlich sturmbewegten Eismeer. In langen, endlosen Wogen rollte es von Norden, wo blutrot die Sonne hoch am Himmel stand, wider uns heran. Es war zehn Uhr abends, aber taghell, wie es in diesen Breitegraden den ganzen Sommer ist. Hinter uns lag die Küste, in seltsame, violette Farbentöne getaucht, von denen blendend sich das Weiß der endlosen Schneefelder, das leuchtend tiefe Blau der Gletscherspalten abhob. Am blaßblauen Himmel segelten rosige Lämmerwölkchen, milchweißer Schaum tanzte auf stahlfarbigen Wellen, und der Vollmond starrte in trostlosem Aschgrau auf diese Farbenorgie herab. Schildern kann man sie ja nicht, das muß man gesehen haben.

An Schlafen dachte keiner. Wenn man noch so lange im Norden reist, das prachtvolle Schauspiel der Mitternachtssonne fesselt doch immer wieder.

In einer Gruppe standen wir alle, die schöne Frau, die Maler, ein paar Norweger und ich an der Spitze des Schiffes. Bloß der Gletschermann saß stumpfsinnig in der Kajüte. Da man der Mitternachtssonne mit Eispickel und Steigeisen nicht beikommen konnte, so interessierte sie ihn wohl weiter nicht.

Immer stärker wurde der Sturm. Von Norden, wo fern am Horizont der sprühende Wasserdunst einer Walfischherde aufstieg, kam es in schweren Stößen. Das Schiff fing an zu tanzen. Es wälzte sich auf die rechte und auf die linke Seite, es richtete sich in die Höhe und machte dann wieder Anstalten, sich auf den Kopf zu stellen, kurzum, es war ungemütlich.

Die Maler verschwanden still. Auch die Norweger bis auf einen. Zu dritt standen wir am Bugspriet und starrten hinaus in die kochende See, bis plötzlich eine besonders wohlgelungene Welle über die Bordwand schlug und uns alle übergoß.

Wir trieften, und wer den Mund in dem entscheidenden Moment offengehalten, fühlte in seinem Schlund die angenehme Empfindung, als habe er ein Salzfaß verschluckt. Unter solchen Umständen begaben wir uns so würdevoll, wie dies auf einem wie toll schwankenden Schiffe und in einem tobenden Sturmwind möglich ist, die steile Hühnertreppe hinunter in die Kabinen, wo mir beim Öffnen der Türe bereits meine ganze irdische Habe, Bergschuhe, Jagdgerätschaften, ein Walroßzahn, ein photographischer Apparat, Wäsche und vieles andere in regellosen Sprüngen entgegengehüpft kam wie ein treuer Hund seinem Herrn.

Ich kümmerte mich nicht weiter um das Gerümpel, sondern warf mich aufs Bett und schlief in dem sanften Schaukeln des Eismeeres ein.

Gegen Morgen erwachte ich. Das Schiff lag ruhig. Das Pfeifen des Windes war verstummt, die Stöße der Maschine durchzitterten nur mit halber Kraft den Dampfer. Durch das kleine, runde Kajütenfenster sah man nichts als eine regungslose graue Wand. Ich ging an Deck und erfuhr, daß in der Nacht zu dem Sturm sich einer jener eisigen Nebel gesellt, wie sie so häufig das Nördliche Eismeer zieren. Der Kapitän warte daher in diesem Fjord, wo er ohnedies die Station eines Möwenjägers und Landhändlers anlaufen müsse, besseres Wetter ab. Vermutlich würden wir den ganzen Tag hier liegenbleiben.

Auch gut! Ich sah mich um, wo wir uns eigentlich befanden. Wir waren kaum hundert Schritt vom Ufer entfernt, einer jäh, etwa tausend Fuß aufsteigenden, kahlen und wild zerrissenen Felswand. Zwischen ihren abenteuerlichen Klüften und Steinklumpen, ihren endlosen Geröllhalden und spitz emporschießenden Zacken wälzte sich ein ungeheurer Gletscher schwerfällig bis hart an den Rand des Meeres. Er mochte wohl eine Stunde breit sein. Sein oberes Ende verlor sich weit, weit in der Ferne unter den Nebelmassen, die den schneebedeckten Kamm der Gebirge umwogten. Nach dem Strande zu öffnete er sich in riesigen, bläulich schimmernden Klüften, aus denen milchweiße Wasserströme schäumend über das vorgelagerte Gewirr von Eisblöcken und Steingerümpel dem Meere zuschossen. Die obere Fläche des Gletschers war schneefrei und vielfach zerklüftet. Phantastische Eisgebilde zeichneten sich auf ihm undeutlich in der dicken, grauen Luft ab.

Alles in allem ein unheimlicher, finsterer Geselle, dieser Gletscher. Einer von denen, die man in den Alpen, selbst am Seil und mit zwei Führern, nur vorsichtig und am frühen Morgen überschreitet. Und kein Mensch ringsum. Kein Strauch, kein Halm – kein lebendes Wesen. Nur Wasser, Eis und Fels.

Auch Hütten sah man nicht. Der Fjord schien an dieser Stelle völlig verödet. Umsonst spähte das Auge nach einem jener hochgiebeligen Fischerboote mit rotbraunem Segel, die sich aus Urzeiten den Bau und das Aussehen des Wikingerschiffes bis jetzt bewahrt haben. Auch die Schiffer schienen diesen Ort zu meiden. Wenn sich das Wetter auf ein paar Minuten aufhellte, sah man am Ende des Fjords, auf ein oder zwei Meilen Entfernung, einen Vogelberg, einen jener riesigen, auf unzugänglichen Bergklippen angelegten Möwenbrutplätze, die zu den Wundern des Nordlands gehören.

Wir hatten ihrer schon viele gesehen, hatten mit einem Schusse die Hunderttausende von Vögeln aufgescheucht, daß es wie ein Gewirbel von Schneeflocken unser Schiff, die Bergwand, das Meer, den ganzen Himmel einhüllte. Wir hatten staunend miterlebt, was ich selbst dem Altmeister Brehm kaum glauben konnte, daß diese Möwenschwärme die Sonne verfinstern und ihr Gekreisch den Donner der Brandung übertönt. Und wir hatten auch die halsbrecherische Art bestaunt, mit der waghalsige Kerle an Leitern und Stricken in steter Todesgefahr diese schroffen Wände erklommen, aus den Nestern die Eier raubten und die Vögel, jung und alt, mit Stöcken erschlugen, um die weißen, zierlichen Segler der Lüfte als Schweinefutter zu verwenden.

Das alles war uns nicht neu. Auch war es zu weit, zu dem Vogelberg zu rudern, und sehr ungewiß, ob man dort, in der menschlichen Ansiedlung, den Pächter des Berges und Landhändler mit seinen Leuten zu Hause antreffen würde.

Ein Gepolter neben mir weckte mich aus dem stumpfen Brüten. Zwei Matrosen standen da, riesige Kerle in roten Flanellwämsern und hohen Transtiefeln, und ließen das Fallreep an der Schiffswand herabgleiten. Ein paar andere senkten eines der an den Bordkranen hängenden Boote in die Flut und nahmen dann, mit langen Rudern bewehrt, auf den Bänken Platz.

Der Engländer wollte mit seiner Frau den Gletscher besichtigen. Der Kapitän hatte nichts dagegen, da an ein Weiterfahren vorerst doch nicht zu denken war und Mr. Sydham bestimmt in zwei Stunden zurück sein wollte.

Da kam dieser auch schon aufs Deck, in der vorschriftsmäßigen Bergsteiger-Ausrüstung, in schweren Nagelschuhen, die Eisaxt in der Hand, die Schneebrille auf die Krempe des Sturmhutes geschoben, ein vielfach gerolltes Manilaseil um die Schulter. Prüfend, mit verbissenem Gesichtsausdruck musterte er den Gletscher. Er schien, wie jeder Alpinist von Beruf, einen Berg oder Gletscher, den er noch nicht bezwungen, gewissermaßen als seinen persönlichen Feind zu betrachten. Es war, als ob ein Löwenbändiger sich anschickte, den Käfig seiner Bestien zu betreten. Und in dem feuchten Nebelgeriesel, der sonnenlosen, trüben Luft, dem stoßweise durch den Fjord irrenden Sturme sah der Eisstrom wirklich tückisch aus, der sich da aus den unbekannten, schauerlichen Wüsten des inneren Lapplandes bis zum Meere herunter ergoß.

Bald erschien auch Mrs. Sydham, munter und lustig wie immer, in etwas kokettem Bergkostüm, fußfreiem Rock, gelben Gamaschen, ein zierliches Alpenstöckchen in der behandschuhten Rechten.

Sie forderte mich auf mitzukommen. Weit würden sie ohnedies nicht gehen. Es handle sich für Mr. Sydham bloß darum, an den Abschilferungen der Gletscherwände gewisse, höchst merkwürdige geologische Beobachtungen anzustellen.

Ich sagte gern zu. Aber erst mußte ich mich umkleiden. So ward beschlossen, daß ich mit den beiden Malern, die am Lande Skizzen machen wollten, nachkommen sollte. An der Endmoräne des Gletschers würde ich das Ehepaar bestimmt treffen. Auch der Steuermann schloß sich mit Erlaubnis des Kapitäns mir an.

Nur die Norweger blieben. Was war ihnen ein Gletscher? Wenn es ein Kornfeld gewesen wäre, ein Rebenspalier, ein Laubwald oder andere Dinge, die sie von Hörensagen kannten! Aber Schnee und Eis interessierte sie wahrhaftig nicht. Sie saßen auf Deck beisammen. Die Mäßigkeitsapostel unter ihnen – de goode Templer heißen sie hierzulande – labten sich an Tee, die Verständigeren taten reichlich Rum dazu, und alle hielten uns für gelinde verrückt, daß wir bei diesem Wetter an Land gingen.

Als ich mit dem Steuermann und den Malern nicht ohne einige Schwierigkeit die geröllüberschüttete Küste betreten hatte, von deren Klippen ein paar Seehunde mißvergnügt in die Flut hinunterklatschten, sah ich wieder einmal, wie falsch man in der unglaublich klaren Luft des Nordens die Entfernungen schätzt. Man sieht alles zu nahe. So auch hier. Vom Schiff aus hatte es geschienen, als reiche das Ende des Gletschers bis ganz dicht an den Wasserspiegel heran. Jetzt zeigte sich, daß die mit wüsten, riesigen Steintrümmern und kleinen Wassertümpeln bedeckte Strecke, die beide voneinander schied, gut fünf Minuten breit war.

Und das Klettern in diesem chaotischen ›Ur‹, wie solch eine urwüchsige Gegend kurz und bündig im Norwegischen genannt wird, ist keine Lustpartie. Die Maler gaben es denn auch bald auf und richteten sich mit ihren Skizzenbüchern auf irgend einem Felsblock häuslich ein, von dem sich bei ihrem Nahen ein Trupp fetter, kurzflügeliger Lummenvögel mit entrüstetem Quaken kopfüber ins Meer gestürzt hatte.

Der Steuermann und ich krochen in dem Geröll weiter. Von Sydham und seiner Frau sahen wir nichts. Sie erwarteten uns wohl an dem hohen Schuttwall, der die Stirnmoräne des Gletschers bildete. Aber als wir an die Geröllhalde kamen, sahen wir uns verblüfft an. Sie zu übersteigen war kaum möglich. Es war da ein wüstes, ungeheuerliches Gewirr toll durcheinander geschleuderter haushoher Felsblöcke, zwischen denen gurgelnd und kochend die milchigen Gletscherströme dahinschossen. Dazwischen vereinzelte mächtige Eisklumpen, die vom Gletscher herabgestürzt waren. Eben als wir kamen, löste sich wieder solch ein bläuliches, blankes Ungetüm los und polterte klirrend in die Felsmassen hinunter.

Und in der Mitte, wo die Schuttwand sich einsenkte, so daß man sie hätte überschreiten können, klaffte uns das Gletschertor entgegen, eine mächtige, bläuliche Wölbung, die sich tief in dem geheimnisvollen Innern des Gletschers verlor und einen breiten, flachen Strom eisigen Wassers in das Geröll vor sich fluten und zerrieseln ließ.

Da konnte kein Mensch hinauf. Kein Zweifel: Die Touristen hatten sich, wie das meist geschieht, zur Seite gewendet, um längs des Gletschers auf der Seitenmoräne emporzusteigen.

Aber ob rechts oder links, das war die Frage. Wir entschieden uns für rechts. Doch auf halbem Wege mußten wir umkehren. Das ›Ur‹ wurde derart, daß man einfach nicht weiter konnte, wenn man nicht die Fähigkeit besaß, gleich einer Fliege glatte Steinflächen emporzukriechen.

Also nach links! Hier ging es besser. Aber wir hatten viel Zeit verloren. Mehr als anderthalb Stunden waren im ganzen vergangen, bis wir endlich oben auf dem Gletscher standen, und da wir erst eine halbe Stunde nach Sydham vom Schiffe abgefahren waren, so hätte dieser eigentlich schon wieder auf dem Rückwege sein müssen.

Daß wir ihn nirgends sahen, bestätigte diese Vermutung. Freilich hätten wir ihm unter gewöhnlichen Umständen begegnen sollen. Aber in dieser Wildnis, wo man oft eine Viertelstunde lang zwischen den Steinblöcken nur den grauen Himmel über sich sah, war ein Verfehlen wohl möglich, zumal bei diesem Nebel. Denn der Nebel wurde dichter und dichter. In schweren Schwaden kroch er aus den Klüften und Falten der Gebirge hervor und zog einen triefenden Schleier über die endlose, wildzerrissene Fläche des Gletschers, die sich langsam ansteigend über uns bis zum Horizont auftürmte.

Ab und zu zerriß ein Windstoß die Nebelschicht, aber es dauerte nur wenige Minuten, so hatte sich die fahle Wand wieder geschlossen und rückte von neuem vor.

Dabei wurde es bitter kalt. Dem Steuermann war die Sache ungemütlich. ›Der Engländer ist natürlich umgekehrt‹, sagte er. ›Er ist ein erfahrener Mann und weiß, daß ein Verirren hier im Nebel und in diesem Lande den sicheren Tod bedeutet. Und wenn wir nicht bald seinem Beispiel folgen, so kann es uns ebenso ergehen.‹

Darauf ließ sich wenig erwidern. Ich warf noch einen Blick auf die nunmehr schon beinahe völlig verhüllte Fläche, ich stieß ein paar laute Rufe aus und horchte, ohne daß das feierliche Schweigen der Einöde durch etwas anderes als ein höhnisch klingendes Echo gestört wurde, und entschloß mich dann, dem Steuermann zu folgen.

So rasch es ging, kletterten wir zum Strand hinab, wo infolge der beständigen, leichten Seebrise die Luft klarer war und wir trotz des mittlerweile eingetretenen Regengeriesels ohne Mühe unser Boot entdeckten.

Die beiden ungeschlachten Matrosen saßen darin und blickten verwundert auf den Steuermann, als er sie fragte, ob der Engländer und seine Frau wohlbehalten auf das Schiff gelangt seien.

Nein. Die Maler wohl. Von den Engländern wußten sie nichts. Sie waren noch nicht zurückgekommen.

Wir sahen uns einen Augenblick stumm an. Man hörte nichts als das leise Plätschern der Wellen und das eintönige Rauschen des Regens. Was nun?

Der Steuermann war bleich geworden. Der kecke, junge Bursche, der in allen Gewässern der Erde sich den Sturm um das mahagonifarbene Antlitz hatte fegen lassen, schien ganz verstört bei dem Gedanken, daß eine hilflose Frau nur eine oder zwei Stunden von uns in Todesgefahr schwebte, ohne daß wir ihr Rettung bringen konnten. Denn was sollten wir machen? Der Nebel war so dicht geworden, daß man etwas abseits vom Strande kaum mehr auf zwanzig Schritte sah. Stärker und stärker fiel der Regen, und ein Dämmerschein wie von Abendgrauen lag über der trostlosen Gegend.

Wir wußten ja, es würde nicht dunkel werden. Aber was half es, bei solchem Wetter ziellos in die Wüste hinein, bei Nebel über die dräuenden Gletscherspalten zu wandern? Nur ein Wunder konnte dann uns selbst retten, ein noch größeres Wunder uns auf die Vermißten stoßen lassen.

Endlich entschloß sich der Steuermann, zunächst an Bord zu fahren und mit dem Kapitän über den Fall zu sprechen. Nach einer halben Stunde kam er zurück, mit ihm die beiden Deutschen, mehrere Norweger und ein paar besonders rüstige Matrosen. Der Kapitän selbst durfte sein Schiff natürlich nicht verlassen.

Wir riefen und suchten am ganzen Strand. Wir drangen wieder in die Geröllschicht ein. Wir stiegen endlich zu viert nochmals zum Gletscher empor, indem wir unterwegs eine endlose, zusammengeknüpfte Angelschnur aufrollten, um des Rückweges sicher zu sein. Endlich stapften wir auf dem Gletscher selbst vor, ohne Seil und sonstige Hilfsmittel. Denn drei von uns verstanden doch nichts von alpinem Sport, und ich allein konnte nicht helfen.

In zerstreuter Reihe schritten wir suchend über die Eisfläche. Da sah ich plötzlich, wie einer der Maler mit kurzem Aufschrei zurückprallte und den Steuermann mit sich zurückriß. Im nächsten Augenblick blieben wir alle in wortlosem Schrecken stehen: dicht vor unseren Füßen gähnte, bisher durch den Nebel verhüllt, eine jener gräßlichen Gletscherspalten, die mir immer eines der unangenehmsten Dinge auf Erden gewesen sind. Ein eisiger Hauch stieg aus dem schwarzen Riß empor. Es gurgelte und rauschte da unten in der unergründlichen Tiefe, von der uns nur zwei Schritte trennten.

Schweigend wandten wir uns ab. Und solche Gletscherspalten gab es hier ringsherum. Bei Sonnenschein kann man sie da, wo kein Schnee liegt, leicht vermeiden: aber jetzt im Nebel?

Nein, da war nichts zu machen. Wir kehrten um und atmeten erleichtert auf, als wir das bisher so verhaßte Steingeröll der Moräne unter unseren Stiefeln spürten. Ein schneidender Wind wehte am Strande. Wir alle waren naß bis auf die Knochen. Mehr und mehr nahm der Wind zu und gestaltete sich gegen Abend wieder zum richtigen Sturm, der die Nebelfetzen zerriß und die trübe Luft klärte.

In unheimlich rotem Glanze strahlte in dieser Nacht die Mitternachtssonne. Wie der Widerschein einer Feuersbrunst lag es auf der phantastisch-zerrissenen Fläche des Gletschers, den wir zum drittenmal, nach den Vermißten suchend, bestiegen.

Wiederum umsonst. In feierlichem Schweigen erhoben um uns die Gebirgszüge ihre wolkenumflogenen Zacken, in den Gletscherspalten gurgelten und plätscherten nach wie vor die geschäftigen Eisbäche, und der allmählich wieder ersterbende Wind zog ab und zu in eintönigem Heulen von der wüsten See über das wüste Land.

Weiter und weiter kletterten wir. Jetzt, wo das Auge wieder meilenweit schweifen konnte, hatte es keine Gefahr. Wir verließen den Gletscher und drangen seitwärts in die jäh aufsteigenden Gerölltäler ein. Vielleicht hatten sie sich dahin in irgendeine Höhle geflüchtet.

Nichts regte sich. Steine ringsum, große und kleine Steine, mächtige Quader und schütteres Geröll, phantastische Gestaltungen, die von fern an eingestürzte Brücken, an zerstörte Kathedralen, an die Trümmer einer rheinischen Ritterburg erinnerten, und regellose Haufen durcheinander geworfener Blöcke, teils in ihrem eigenen stumpfen Grau schimmernd, teils überzogen von jenem in der Sonne graubraun, im Regen saftiggrün schimmernden Moos, das hier allein die lebendige Welt vertrat.

Nur fern, in einer Seitenhalde, blinkte es in freundlicherem Schein. Dort war an geschützter Stelle ein spärlicher, mit bunten Blumen durchsetzter Graswuchs vorhanden. Große, graue Blöcke lagen massenhaft und regellos darüber verteilt. Als wir uns von oben der Halde näherten, bot sich ein überraschendes Bild. Einer der grauen Blöcke wurde plötzlich lebendig, dann Dutzende, dann Hunderte. Sie bewegten sich, sie schlossen sich zu Klumpen zusammen, das ganze Tal wurde lebendig, ein paar Hunde kläfften auf, und jetzt erkannten mir: wir hatten eine Renntierherde in ihrer nächtlichen Ruhe gestört.

Im Galopp, dicht geschlossen, stob die Masse, wohl tausend Stück, vor uns den Hang hinab. Man sah nichts als eine Flut gelbbrauner, wogender Rücken, über denen, wie ein entlaubter Wald im Sturme, die kahlen Stangen der Geweihe schwankten. Der Boden donnerte dumpf unter den Sprüngen, und zwischendurch tönte deutlich vernehmbar das seltsame elektrische Knistern, das die Renntierhufe beim Lauf hervorbringen.

In weiter Ferne blieben die Tiere stehen und äugten mißtrauisch zu uns hinüber. Sowie wir uns vorwärts bewegten, setzten sie sich von neuem in Galopp. Es war eine jener halbwilden Herden, mit denen die nomadisierenden Lappen im Sommer die Einöden des innern Berglandes durchstreifen. Aber kein Mensch war ringsum zu erblicken.

Fern konnte das Zeltlager des Stammes nicht sein. Denn entweder, meinten die mit uns wandernden, selbst aus Finnmarken gebürtigen Norweger, suche diese Horde einen der geheimnisvollen, den Lappen heiligen Berge in der Nachbarschaft auf, oder aber, was viel wahrscheinlicher, sie habe sich in der Nähe der Ansiedlung an dem Vogelberge gelagert, um von dem Landhändler gegen Renntierfelle und die Bälge der Eidergänse den vielgeliebten Branntwein zu erstehen.

Während wir noch überlegten, drang von der See her ein dumpf mahnendes, stoßweises Gebrüll, das wie das Heulen eines Ungetüms durch die Stille klang. Der Dampfer gab mit dem Nebelhorn das Zeichen, an Bord zu kommen. Er mußte, nachdem das Wetter sich beruhigt, weiter. Um Tote konnte er sich nicht kümmern. Uns blieb nichts übrig, als zunächst an Bord zurückzukehren.

Es war gegen zwei Uhr morgens, als wir in dem kalten toten Scheine, der um diese Zeit, wenn die Sonne noch hart über dem Horizont steht, der Glut der Mitternacht folgt, das Fallreep emporklommen. Neben dem Dampfer schaukelte, die rotbraunen Segel gerefft, mit hochgeschweiftem Bugspriet, eines der merkwürdigen Fischerboote des Nordlandes. Es war, wie die Matrosen sagten, vom Eingang des Fjords, vom Vogelberg gekommen. Sein Insasse war kein Norweger, sondern ein »Kwäne«, einer der im Sommer hier zahlreichen russischen Finnen. Oben auf Deck verhandelte er mit dem Kapitän in irgendeinem merkwürdigen, durch Zeichen unterstützten Kauderwelsch.

Der gute Kapitän sah sehr verstört aus. »Also, wir haben Nachricht, meine Herren«, sagte er zu uns gewendet, »leider nicht die beste – der Engländer hat sich vor zwei Stunden fast besinnungslos, aus Kopfwunden blutend, durchnäßt und erstarrt, zur Station des Landhändlers am Vogelberg geschleppt. Er war in eine Gletscherspalte gestürzt und ist wie durch ein Wunder, indem er an einem Eisvorsprung hängenblieb, gerettet.«

»Und seine Frau? – Mrs. Sydham – wo ist sie?« klang es erregt durcheinander.

Der Kapitän wandte sich ab. »Die liegt wohl für immer in dem Gletscher begraben.«

Ein tiefes Schweigen folgte. Und ein jeder von uns sah in diesem Augenblick wieder den unheimlichen, nebelverhüllten Abgrund vor sich, aus dessen nachtdunkler Tiefe das Gurgeln und Glucksen des Gletscherwassers heraufklang.

»Ja, meine Herren!« sagte der Kapitän schweratmend, »so ist nun einmal das Leben. Einmal müssen wir ja alle daran glauben, aber so plötzlich – und so schrecklich – und wir können uns nicht einmal länger hier aufhalten – meine Zeit drängt – das Schiff muß weiter –«

Mein Entschluß war rasch gefaßt. »Ich fahre mit dem Finnen zum Landhändler«, sagte ich, »nehme dort Quartier und sehe, ob nicht doch etwas zu retten ist. Wenn keine Hoffnung mehr vorhanden ist, so setze ich mit dem nächsten Postdampfer die Rückreise nach Hammerfest fort.«

Der Vorschlag fand Beifall. Die beiden Deutschen und ein Norweger schlossen sich mir an. Wir machten, nicht ohne Mühe, dem verschmitzt und tückisch aussehenden Finnen unsere Absicht begreiflich, nahmen Abschied von Bord und kreuzten bald, auf unserm Gepäck sitzend, blinzelnd und mit Schaumspritzern überschüttet, gegen den Wind, der die Wellen des Eismeeres durch den engen Eingang des Fjords trieb.

Endlich erreichten wir am frühen Morgen die Station. Alles lag in tiefer Ruhe. Selbst auf dem durch eine breite Bucht von uns geschiedenen Vogelberg gaben sich die Möven dem Schlafe hin. In glänzenden, weißen Perlenschnüren zogen sich die Reihen der kauernden Vögel an allen Gesimsen und Vorsprüngen des Berges entlang, dessen jäh abstürzende Wände von ihrem Unrat wie mit weißem Kalk getüncht erschienen.

Der Landhändler, ein robuster Mann, wie alle Leute seines Berufes auf Fremdenbesuch eingerichtet, wies uns in seinem saubern, rotbraun getünchten Blockhaus ein Zimmer an und führte uns dann zu dem Verwundeten.

Ein Arzt befand sich nicht unter uns, aber es war unschwer zu erkennen, daß Mr. Sydham sehr krank war. Zwar schienen die Wunden an Kopf und Arm nur leichte Hautabschürfungen zu sein, desto schlimmer aber hatten offenbar die Erschütterung des Sturzes, die Kälte und der Schrecken auf ihn gewirkt. Kein Wunder! Ist es doch hier wie auch in Island vorgekommen, daß man Menschen, die sich in diesen gespenstigen Einöden verirrt hatten, nicht nur zu Skeletten abgemagert, sondern auch als unheilbar Irrsinnige wiederfand. Und dazu nun noch der Sturz in die Gletscherspalte.

Mit Mühe brachten wir Sydham so weit, daß er den Vorgang erzählte. Er war sehr einfach und so, wie wir ihn gedacht. Auf dem Gletscher hatte sie der Nebel überrascht. Mit seiner Frau durch ein Seil verbunden, schritt er vorsichtig voran. Da sieht er, wie sie, die trotz seines Verbotes neben ihm, statt mit gespanntem Seil hinter ihm geht, mit dem Fuß ins Leere tritt. Ein kurzer Schrei, dann reißt sie ihn mit sich in die Tiefe. Er verliert das Bewußtsein und findet sich, an einem Zacken über dem Abgrund hängend, wieder, das geborstene Seil noch um den Leib geschlungen. Zum Glück hat er seine Eisaxt nicht verloren. Er kriecht nach einer Stelle, wo der Spalt besonders schmal ist, und indem er sich hier abwechselnd rechts und links Stufen in die Eiswände haut und die Ellenbogen gewaltsam gegen die Wände preßt, gelangt er endlich ans Tageslicht und, halb kriechend, halb gehend, zur Station, die er beim Aufhellen des Wetters von ferne sieht.

Wir drängten ihn, ehe er wieder das Bewußtsein verlor, uns die Stelle des Unglücks genau zu beschreiben. Das vermochte er nicht. Doch daß man den Weg nicht verfehlen könne, schien ihm sicher, zumal wenn man Hunde mitnehme. Denn man brauchte ja nur rückwärts seinen Blutspuren bis zur Unglücksstätte zu folgen.

Das taten wir, und nach beschwerlichem Marsche fanden wir den Ort, beinahe in der Mitte des Gletschers. In der ganzen schauerlichen Umgebung war er einer der schauerlichsten. Ein wildes Gewirr von überhängenden Eiswänden, zerklüfteten Eistälern, über die Oberfläche strömenden Gletscherbächen und tiefen, im Sonnenlicht hellblau glänzenden Spalten, in denen die Bäche gurgelnd verschwanden.

Und zu dem tiefsten und entsetzlichsten dieser Risse führte die Blutspur. Wir sahen den Abdruck eines Körpers in den feinen Eisgraupeln, wir sahen die vom Tauwasser schon halb zerleckten Stufen und etwa zwanzig Fuß tiefer unten an einem Zacken hängend das zerrissene Seil. Aber sonst auch nichts. Wir riefen, wir schrien, wir wanderten die endlose Kluft auf und nieder, wir legten uns an dem Rande hin und späten hinunter in die schaurige Tiefe.

Und da sahen wir endlich etwas. Ungefähr an der Stelle, wo das Seil hing, nur tiefer, viel tiefer stak, schräg eingeklemmt, ein zierlicher, zerbrochener Bergstock, und unweit davon hing an einem kaum merkbaren Vorsprung ein rundes Sturmhütchen mit Spielhahnfeder. Wir kannten es alle. Mrs. Sydham hatte es getragen, als sie das Schiff verließ.

Da gab es keine Rettung mehr. Wer einmal bis dahin gestürzt, den nahm der Abgrund für immer auf, den rissen die Wogen des unterirdischen Stromes mit sich auf Nimmerwiedersehen. Nach vielen Jahren erst wirft vielleicht der Gletscher die Reste seiner Beute an irgendeiner Stelle wieder an das Tageslicht. Und wer sollte sie dann in dieser Wüste finden?

Obwohl wir das Nutzlose unseres Beginnens uns nicht verhehlten, suchten wir an diesem und den folgenden Tagen immer wieder die verhängnisvolle Stätte auf und riefen und schrien. Ein Knecht des Landhändlers ließ sich an Seilen, die sonst beim Vogelberg Verwendung fanden, vorsichtig, soweit es ging, in die Tiefe hinab. Es war dem Manne unmöglich, auch nur den Boden zu sehen, und er wurde halberstarrt und aschfahl im Gesicht heraufgezogen.

Schließlich fiel mir der Lappenstamm ein, dessen Renntierherde wir neulich bemerkt. Es war zwar undenkbar, daß diese Menschen uns Auskunft geben sollten, aber man mußte alles versuchen. »Schon der Gerichte wegen«, meinte der Landhändler. »Diese Lappen sind außer mir und meinen Leuten und den zwei dicht bei mir wohnenden kwänischen Fischern die einzigen menschlichen Wesen auf viele Meilen in der Runde. Wissen auch die nichts von der Dame, so ist ihr Tod unzweifelhaft erwiesen.«

Zwei Stunden darauf betraten wir, von einem Knechte des Möwenjägers geführt, das Lappenlager, bestehend aus einem halben Dutzend unendlich schmieriger, in die Erde hineingebauter Höhlen und einem großen, kreisrunden Gehege, in dem man die Renntierkühe zum Melken eingesperrt hielt.

Neugierig versammelte sich der Stamm um uns, einige zwanzig quäkende, seltsame Zwerge mit geschlitzten Augen und platten Nasen. Auf flachen Füßen ruhten die unglaublichen Säbelbeine, die die dürftigen Körperchen trugen. Sie waren von Kopf bis Fuß in buntgesticktes Renntierleder gekleidet. Ein großes, krummes Messer schlenkerte den Männchen um die Hüften. Die meisten von ihnen waren etwas betrunken. »Gewiß hat ihnen der Kwäne Schnaps verkauft«, brummte der Knecht, auf einen finnischen Fischer blickend, der sich im Lager befand und, wie es schien, mit einer scheußlichen Alten um einen kunstvoll hergestellten Eiderdaunenanzug feilschte. Abgemagerte Hunde heulten und kläfften uns an. Ein unausstehlicher Tran- und Aasgestank erfüllte die Luft.

»Rafthem vissui! Friede mit euch!« begrüßte der etwas lappländisch sprechende Knecht, der uns als Dolmetsch diente, die Horde.

Und unverzüglich antwortete ihm der Stammeshäuptling, ein uralter, spitzbübisch lächelnder Zwerg: »Ismael addi! Gott gebe ihn!«

Seine Aufforderung, den boasso, den Ehrenplatz am Feuer im Innern seiner Hütte einzunehmen, lehnten wir ab. Denn als er den Zeltlappen zurückschlug, um uns hineinkriechen zu lassen, drang uns aus dem halbdunklen Raum ein so grauenhafter Geruch, verbunden mit beißendem Rauch und dem Quäken eines in einer pantoffelartigen Wiege gebetteten Säuglings entgegen, daß wir entsetzt zurückfuhren.

Auch Erfrischungen lehnten wir dankend ab. Uns lockte weder der undefinierbare Blutbrei, der über dem Feuer brodelte, noch die fette, gallertartig dicke Renntiermilch, die man vor dem Genuß mit Wasser verdünnt. Dagegen kauften wir den Leuten, um sie in gute Laune zu bringen, einige Kleinigkeiten ab, Eßlöffel, aus den Schulterknochen des Renntiers geschnitzt und mit primitiven Kritzeleien bedeckt, hübsche, bunte Fellpantoffeln und ähnliches mehr. Das Geld nahm der Häuptling, mit dem zahnlosen Maule schmatzend, in Empfang und hat es wahrscheinlich nach Stammessitte unter irgend einem Stein in der Einöde vergraben, um allenfalls auf dem Totenbett den Angehörigen das Versteck seines Schatzes zu verraten.

Nach Erledigung dieser Angelegenheit kamen wir auf unsere Frage. Natürlich hatte niemand Mrs. Sydham gesehen. Ganz verdutzt starrten uns die armseligen Geschöpfe an, als sie von dem Unfall erfuhren, und schüttelten quäkend die platten Schädel als ein Zeichen, daß da nichts mehr zu machen sei.

So war der Zweck unseres Besuches erledigt. Wir verabschiedeten uns von den schmutzigen, freundlich grinsenden Zwergen, drückten den paar kleinen, ganz niedlichen Kindern Geldstücke in die Pfötchen und traten den Rückweg an. Nur der Finne blieb, mit der Alten um den Daunenpelz feilschend, zurück. Am nächsten Tage bestieg ich das Postschiff. Sydham, dem ich doch nicht helfen konnte, ließ ich in guter Pflege zurück. Später hatte ich dann noch ebenso wie meine Reisegefährten vor Gericht meine Wahrnehmungen über den Tod der Mrs. Sydham auszusagen und zu beschwören.

Das ist mein Abenteuer in Lappland.«

*

Mein Freund schwieg. Ich trat mit ihm hinaus vor das Hotel in die Mondnacht Neapels. Den Kopf noch voll von Gletschern, Walfischen und Stürmen im Eismeer, sah ich gedankenlos auf das wunderbare Panorama, auf die silbern glänzende See, die in dem warmen Nachtwind nickenden Palmen, die malerische Stadt, über der in weiter Ferne zerstreute, glutrote Flecken am Horizont den Vesuv erkennen ließen.

Warum geht der Mensch auch nach Lappland? Dieser blödsinnige Gedanke schoß mir einen Augenblick durch den Kopf. Dann wurde ich wieder ernst und wandte mich zu meinem Begleiter: »Und diese Mrs. Sydham, die den furchtbaren Tod in der Gletscherspalte fand –«

»– sah ich wieder vor einem Jahr für einen Moment auf dem Boulevard de l'Opéra in Paris und jetzt zum zweitenmal vorhin hier in Neapel.« Mein Freund sah sehr bleich aus, aber seine Stimme klang fest und entschieden.

»Es liegt eine Täuschung vor.«

»Ich kann es beschwören, daß es keine Täuschung ist.«

»Wissen Sie was«, sagte ich, »warten Sie morgen früh im Saal, bis die Dame zum Frühstück kommt, und reden Sie sie dann einfach an. Dann werden wir ja sehen.«

»Sie haben recht! Gute Nacht!«

*

Ich schlief ziemlich schlecht diese Nacht und träumte von Gletscherspalten, Walfischlaich und Eskimos. Am andern Morgen ging ich erst spät hinunter in den Frühstückssaal. Mein Freund saß dort, gelblich im Gesicht und übellaunig. Die Piccoli betrachteten ihn mit scheuem Staunen. Daß ein Gast ohne erkennbaren Grund zwei Stunden lang beim Kaffee sitzt, war ihnen noch nicht vorgekommen. Gemeinsam warteten wir noch eine dritte Stunde. Der Saal hatte sich schon völlig geleert. Es war elf Uhr vormittags. Die Dame kam nicht.

Endlich entschloß ich mich, den Portier zu fragen, ob sie vielleicht einen Ausflug unternommen. »Mrs. Gallego? – Mit ihrem Manne heute in aller Frühe abgereist.«

Abgereist! – Und ganz unvermutet? Jawohl, die Herrschaften hätten erst gestern spät abends, als er, der Portier, ihnen von unseren neugierigen Fragen erzählt, den Entschluß gefaßt, Neapel zu verlassen. Um sieben Uhr morgens waren sie nach dem Zentralbahnhof gefahren.

Wir stürzten uns auf den Fahrplan. Nach Bari oder Messina konnten sie um diese Zeit nicht gereist sein. Wohl aber ging ein Zug nach Rom.

»Und wann geht der nächste Schnellzug nach Rom?« Mein Reisegefährte war in großer Aufregung.

»In einer Stunde.«

Darauf sah er mich nur an: »Kommen Sie mit?«

»Ja. Warum nicht?«

Gegen Mittag rollten wir bereits durch Campanien dahin. »Eine glorreiche Idee«, sagte ich, den Amerikaner etwas von der Seite ansehend, »eine glorreiche Idee, durch halb Italien hinter einer toten Frau herzufahren.«

Der Amerikaner seufzte. »Sie sieht verwünscht lebendig aus«, erwiderte er nach einer Weile, »ich begreife das alles nicht!«

*

Gegen sechs Uhr abends kamen wir in Rom an. Es war gerade noch Zeit, auf den Monte Pincio zu fahren, wo man an solch einem lauen Frühlingsabend unfehlbar alle Fremden trifft. Unser Gepäck schickten wir mit dem ersten besten der in langer Reihe vor dem Bahnhof harrenden Hotelwagen voraus und feuerten alsdann einen Vetturino durch Vorzeigung eines Lirezettels zu besonderer Eile an.

Auf dem Monte Pincio spielte die Musik. Massen von Menschen wandelten auf und nieder. In Hunderten von Equipagen umkreiste der römische Adel und die vornehme Fremdenkolonie rastlos den kleinen Park.

Von den Gesuchten keine Spur. Zu Wagen waren sie nicht da. Und in der Menge der Fußgänger hätten wir sie bemerken müssen. Denn nach einer so goldblonden Schönheit drehen sich alle Italiener ausnahmslos in gelinder Verzückung um.

Ein Glück, daß wir wenigstens den Namen unsres Hotels nicht vergessen hatten. Mißmutig fuhren wir dorthin. Während ich mit dem Wirt verhandelte, musterte mein Genosse die Fremdenliste an der Wand. Und plötzlich fuhr er zusammen und faßte mich am Arm. Ja: da stand es in großen deutlichen Kreidebuchstaben: »Mr. und Mrs. Gallego aus Neapel.«

Die Herrschaften seien gegen Mittag eingetroffen, hätten sich jetzt auf ihr Zimmer zurückgezogen, würden aber zur Table d'hôte erscheinen. Um sieben Uhr. Wir würden doch wohl auch –? »Jawohl. Wenn möglich, setzen Sie uns den Herrschaften gegenüber!«

Leider begingen wir den Fehler, etwas zu früh zur Table d'hôte zu erscheinen. Die Plätze uns gegenüber waren noch leer, und sie blieben es auch. Das Ehepaar Gallego hatte sich im letzten Augenblick, nachdem es schon den Saal betreten, dazu entschlossen, in seinem Zimmer zu speisen.

So beendeten wir unsere Mahlzeit, gingen in das Zimmer meines Freundes, zündeten uns dort Zigarren an und schwiegen.

»Morgen mit dem frühesten reisen sie natürlich wieder ab«, sagte endlich der Amerikaner, »ich werde sie nicht zu Gesicht bekommen und mir noch eine Reihe von Jahren über dies blödsinnige Abenteuer den Kopf zerbrechen.«

»Sie wissen doch immer noch nicht, ob diese Dame wirklich Mrs. Sydham ist.«

»Wenn sie es nicht ist«, erwiderte mein Gegenüber gereizt, »so hat sie ein verwünscht schlechtes Gewissen. Was in aller Welt treibt sie dann dazu, vor zwei harmlosen Touristen durch halb Italien zu fliehen?«

»Nun, wenigstens halten Sie sie jetzt für ein Wesen von Fleisch und Blut!«

»Und – was ist das?« Mein Gefährte war plötzlich fahl im Gesicht geworden und starrte nach der Tür.

Die Tür hatte sich lautlos geöffnet. Die Gestalt der blonden Dame stand auf der Schwelle und sah uns aus ihren großen, hellbraunen Augen forschend, beinahe ängstlich an. Wir fuhren beide in die Höhe, während sie die Türe langsam hinter sich zuzog.

Eine kurze Pause entstand. Dann trat die Fremde ein paar Schritte auf meinen Freund zu. »Warum verfolgen Sie mich?« fragte sie leise. »Warum wollen Sie mich unglücklich machen?«

Mein Freund raffte sich zusammen. »Sind Sie Mrs. Sydham?« fragte er.

»Ja, gewiß!« Die Fremde schien beinah erstaunt über die Frage. »Sie haben mich doch wohl schon gestern erkannt.«

»Ja, aber – mein Gott!«

Ich glaubte zu bemerken, daß der Verstand meines Reisegefährten etwas zu schwinden anfing.

Da ließ sich wieder die Stimme der Fremden vernehmen, in flehendem, fast verzweifelndem Ton. »Seien Sie großmütig – Sie sind ja nicht geschädigt – stürzen Sie uns nicht ins Unglück –«

»Was soll ich tun?« Mein Freund starrte die Fremde fassungslos an.

»Schweigen!« flüsterte sie leise und eindringlich – »nur vier Wochen. Dann sind wir auf der Rückreise nach Argentinien!«

»Nach Argentinien!« wiederholte mein Genosse.

»Wenn Sie wüßten, wie glücklich wir dort leben« – sie faßte angstvoll seine Hand – »mein Mann und ich – und die Kinder – und wie behaglich wir es uns auf unserer Farm eingerichtet haben.«

Der Druck ihrer Hand schien dem Amerikaner endlich die Überzeugung verliehen zu haben, daß Mrs. Sydham oder Gallego durchaus zur Klasse der Lebewesen zu zählen sei. »Ich werde schweigen«, sagte er, und seine Gesichtsfarbe nahm ihre normale Röte wieder an, »vier Wochen und länger – auf mein Wort – wenn Sie mir eine Frage beantworten wollen.«

Mrs. Gallego sah ihn an. »Muß das sein?«

»Ja! Wie kamen Sie aus der Eisspalte heraus?«

»Ich war nie darin.«

»Aber Ihr Hut – Ihr Stock?«

»Die fielen hinein, als wir Mr. Sydham herauszogen –«

»Wer denn – wir?«

»Ich und einer der finnischen Fischer, der uns auf den Gletscher begleitete«, sagte Mrs. Gallego. »Sie müssen wissen – wir waren nicht zum erstenmal auf diesem Gletscher, wir hatten ihn schon früher besichtigt, wir kannten auch die Finnen bereits und hatten sie – gegen gute Belohnung natürlich – für unsern Plan gewonnen.«

»Für welchen Plan?«

Mrs. Gallego beantwortete diese Frage nicht direkt. »Entworfen ist solch ein Plan leicht«, sagte sie seufzend, »wie oft haben mein Mann und ich ihn durchgesprochen – in unsrer traurigen Wohnung auf der Londoner Surrey-Side – denn Sie müssen wissen, wir waren arm, recht arm. Aber ihn ausführen – das erfordert einen Entschluß; – ohne den Nebel, der Mr. Sydham, natürlich gegen unsere Absicht, wirklich in eine Spalte stürzen ließ und den ganzen Vorfall viel wahrscheinlicher machte, hätten wir es gewiß auch diesmal nicht gewagt –«

»Was denn nicht?« Mein Freund hielt sich den Kopf mit beiden Händen.

»Nun«, sagte die Fremde lächelnd, »daß ich mich eben als hoffnungslos tot von Mr. Sydham trennte und von dem Finnen in das Lappenlager führen ließ.«

»Sie waren in dem Lappenlager?«

»In dem Zelt, in dem ich dort lag, hörte ich Ihre Stimmen«, sagte Mrs. Gallego kaltblütig, »als Sie draußen mit dem Häuptling verhandelten.«

»Und Sie riefen uns nicht?«

»Ich dachte nicht daran! Vor meiner Hütte standen der Finne und ein altes Weib. Sie hatten den Auftrag, Ihnen, wenn Sie etwa neugierig wurden, zu versichern, daß in dem Zelt ein Blatternkranker läge. Nun – endlich gingen Sie ja wieder.«

»Ja – und – Sie?« Mein Gefährte fragte schon ganz mechanisch.

Die Fremde zuckte die Schultern. »Ich blieb im Lappenlager – ein paar Wochen lang. Zeigen durfte ich mich ja nicht, ohne daß alles herauskam. Endlich gelang es meinem Begleiter, mich heimlich in seinem Boot auf ein finnisches Schiff zu bringen, das mit Dorsch-Rogen – Sie wissen, man braucht ihn an der französischen Küste zum Sardinenfang – nach Bordeaux segelte. Dort traf ich dann meinen Mann wieder.«

»Ja – und« – mein Freund griff sich an die Stirn – »nun hielt doch alle Welt Sie für tot –«

Mrs. Gallego sah ihn seelenvoll an. »Aber natürlich«, sagte sie, »das war doch eben –«

In diesem Augenblick pochte es an die Tür. Ein kleiner Kellner platzte herein, um die Abendpost zu bringen. Ehe er noch hinausbefördert werden konnte, nahm unser Besuch die Klinke ihm aus der Hand.

»Ich habe Ihr Wort«, sagte sie einfach. »Ich danke Ihnen. Wir reisen sofort ab. Gute Nacht.« Ehe wir uns noch besinnen konnten, war sie verschwunden.

Und zehn Minuten später rasselte der Hotelomnibus durch die enge Gasse. Einige mit E. G. gezeichnete Koffer hüpften munter auf seinem Verdeck.

*

Ein Jahr darauf traf ich in Scheveningen zufällig den Amerikaner wieder. Er kam eben aus New York.

»Lesen Sie einmal!« sagte er, unmittelbar nachdem wir auf der Terrasse des Kurhauses Platz genommen, und reichte mir ein dünnes, gedrucktes Heftchen.

Es war der Prospekt der Buffalo Life Insurance Company, die, wie sie schon auf dem Umschlag in fettem Druck hervorhob, das Leben nicht nur gegen gewöhnliche Todesarten, sondern auch gegen die Folgen von Duellen, gegen Selbstmord, gegen Unglücksfälle zu Wasser und zu Lande und unter allen Breitegraden versicherte.

Zum Beweis, daß sie diese Bedingungen pünktlich innehielt, führte die Gesellschaft eine Reihe der markantesten Fälle an. Und da stand am Rande blau angestrichen, unter anderem: »Mr. Henry Sydham, Buchhalter, früher in Buffalo, dann in London wohnhaft, hatte das Unglück, während einer Gletschertour in Norwegen seine Frau, mit der er wechselseitig sein Leben bei uns versichert hatte, durch den Tod zu verlieren. Dem trauernden Witwer wurde die Versicherungssumme in Höhe von 25 000 Dollars am 7. November 1896 zu Buffalo auf Grund der von ihm vorgelegten, amtlich beglaubigten und von einwandfreien Zeugen beschworenen Aussagen ausbezahlt.«

»Sie sehen«, sagte der Amerikaner etwas melancholisch, »die Romantik spielt in diesem Abenteuer keine Rolle. Es war einfach der raffinierte Gaunerstreich eines unternehmenden Mannes, der es auf ehrliche Weise zu nichts bringen konnte und mit Hilfe seiner Frau oder, was noch wahrscheinlicher, von ihr angestiftet zu einem Betrug seine Zuflucht nahm.«

»Und zwar zu einem sehr frechen Betrug.«

»Frechheit gehört auch dazu«, meinte der Amerikaner. »Ich glaube, der Mann träumt jede Nacht davon, daß die Detektive in sein Zimmer treten, um ihn abzuholen.«

»Und eines schönen Morgens werden sie wohl auch vor seinem Bette stehen!«

 


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