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(Dienstag)
Ich hatte gehofft, den vergangenen, von Frühlingskräften und -strahlen geschwängerten Sonntag hinter geschlossenen Fensterläden zu verbringen. Den müden Augen im grün zurückgeworfenen Schatten Erholung zu meinen Aufzeichnungen zu bieten. Hätten dann auch die Kinder dazwischen geschrieen, wäre mir doch neben den kleinen Diensten für meine Frau, der es unberufen besser geht, noch manch freier Augenblick verblieben. Welterlösende Märchen hätte ich schreiben mögen!
Ich erlebte zu vieles. Erlag beinahe dem Verführer. Und als ich spät abends ans Fenster sitzen wollte, klatschte mir der Regen ins Gesicht. Flackerte die Laternenflamme so grelläugig, daß mich die zuckenden Lichter wie Schläge aus der Kinderzeit schmerzten. Dazu Gewissensbisse. War dieses Geschreibe, das mir doch sattsam Mühe bereitet, nicht Ausrede, um Berge von Adressen, die ich den Sonntag über zu Hause gefertigt hätte, liegen lassen zu dürfen? Die acht Stunden wären mir nötig genug gewesen, wenigstens drei Franken in die Tasche zu erübrigen.
Ich mußte zu Inspektor Büren. Unterwegs überlegte ich, wie August Lohmers Charakter, im Gegensatz zu 342, gestaltbar wäre.
Bei Herrn Büren ersuchte man mich, zu warten. Bis er aus der Kirche kam. An fünf Orten hat er für mich angeklopft! Die Division sei von der Grenze zurück. Alle Stellen besetzt. Die Geschäfte gehen schlecht. Man kann die vorhandenen Leute nicht wegschicken. Nicht einmal voll beschäftigen. Einzig ein Kaufmann, der sich Schirmkönig nennt, will mich in zwei Wochen zur Aushülfe fürs Magazin annehmen. Mit achtzig Franken Anfangsgehalt. Weil man eben doch nicht wisse, was so ein Vorbestrafter anrichten könne.
»Darf ich Ihnen immer keine Unterstützung vorstrecken? Wenigstens ein paar Franken?«
Wenn er wüßte, wie mein Stolz, – mein falscher, ich weiß es, – mich züchtigt. Rot übergossen stand ich da.
»Ich möchte nicht wieder liederlich anfangen.«
»Durch die Armenpflege wird Ihnen für die Kleinen Milch gebracht werden.«
»Für Frau und Kinder. Mir hilft allein Arbeit. Ich muß meine Schulden abtragen.«
»Sie sind zu gewissenhaft. Kein Mensch verlangt es derzeit von Ihnen. Ich werde mein Möglichstes tun. Geduld. Nur Geduld.«
Ich dachte, daß er seinen Sonntag für sich haben sollte. Sein Beruf ist, die ganze Woche hindurch für Andere zu suchen, zu bitten, zu betteln –
Er tut mir wirklich Gutes. Sorgt sich um mich.
Hat mich sogar gerne. Und nur ich bin im Fehler, wenn er nicht wagt, mir, wie üblich zu helfen.
Zu Hause traf ich die Gemeindeschwester. Sie legte das Jüngste trocken. Bettete die Frau.
Ich rüstete eine Reissuppe, die allen trefflich mundete. Kaum abgewaschen, klopft's. Herr Panjeczek. Von Panjeczek. Wohnt in einem vornehmen, mir nicht verratenen Hotel. Hat sich an mich gemacht, kaum daß ich zum Gefängnistor heraustrat. Verdanke meine Bekanntschaft Herrn August Lohmer. »Nummer 118«, fügte er lächelnd bei. Damit vermochte ich Namen und Person zu verbinden. Von Panjeczek brachte der Friedel Apfelsinen und Schokolade. Bot mir eine Zigarre mit rotgoldener Bauchbinde an.
Ob ich mir die Sache überlegt habe? Wie gesagt, nichts, als ein paar kleine Reisen. Zuerst Eisenbahnfahrt über eine Grenze. Eine von ihm zu bestimmende. Paß –? – Kleinigkeit –. Nur auszufüllen.
Dort gewisse Instruktionen in Empfang nehmen. Rückkehr mit einem neuen Paß für ein anderes Land. Einige Notizen. Besser im Kopf, als auf dem Papier. Zusammenspiel mit August Lohmer, der bereit wäre. Abermals Aufenthalt im neutralen Gebiet. Besprechung. Vierhundert Franken heute auf den Tisch. Vierhundert nach Heimkunft.
»Sie wollen meine Notlage ausbeuten und mich zum Spion machen?«
»Tatata! Spion. Reden Sie nicht so laut. Bedenken Sie doch, was die vier blauen Scheine in sich haben.« Legte sie vor mich hin.
»Wenn ich sie nun einstecke und nicht fahre.«
»Dazu sind Sie zu anständig.«
»Ich war doch im Zuchthaus.«
»Eben deshalb. Und damit Sie mir August Lohmer aufpassen. Dem ist viel weniger zu trauen.«
»Und wenn ich die Banknoten verspiele.«
»An diese Gefahr dachte ich bereits. Gut. Tun Sie's. Aber, wie Sie sich kennen und ich Sie, kehren Sie nach dorthin um, wo sie hergekommen sind.«
»Herr von Panjeczek, ich kann Ihnen die Türe weisen.«
»Bitte schön.«
»Borgen Sie mir das Geld!«
»Wozu? Haben wir nicht genug an den alten ›Ehrenschulden?‹ Fallen wir so leicht um?«
»Sprechen Sie nicht so laut. Meine Frau hört uns. Ich schäme mich, daß ich Sie noch bei mir dulde.«
»Wollen wir nicht lieber das Geld redlich verdienen? Sie brauchen ja lediglich auf mein Angebot einzutreten.«
»Redlich? Ehrlich? Ist nicht spionieren das Schamloseste, das sich ein Mensch vorstellen kann?«
»Schamlos? Du lieber Gott! Schädigen Sie Jemanden?«
»Mein Vaterland, das es zum allgemeinen Wohle verbietet.«
»Ihr Vaterland, das Ihnen die bürgerlichen Rechte einstweilen abgesprochen hat.«
»Die Partei, gegen die ich kundschafte.«
»Als ob dieses Tröpfchen Schaden mehr oder weniger bei der Allerweltszerstörung etwas bedeuten würde.«
»Ich riskiere den Kopf.«
»Ja, wenn Sie verlieren.«
»Verkaufe mich. Um mit schändlichen Mitteln und in klarem Bewußtsein. etwas Strafbares zu tun, einen Judaslohn einzuheimsen.«
»Judaslohn?«
»Wie die Dirnen, ohne Liebe, ohne Überzeugung, Leib und Seele preisgeben.«
»Für den Leib der Gewinn. Die Seele? – Quatsch!«
»Im Geheimen, Verborgenen, Dunkeln wühlen. Einen Feind aushorchen, der nicht mein und überhaupt kein Feind ist. Ein Vertrauen mißbrauchen, das man mir entgegenbringt. Bestechen, erpressen, verraten. Gegen die eigne Gesinnung wüsten für dreißig Silberlinge.«
»Entschuldigen Sie. Für achthundert Franken. Meinetwegen tausend.«
»Metzenhandwerk! Kupplergewerbe.«
»Was für Worte! Was für Ausdrücke! Lauter Begriffe, die man umwertet, je nachdem der Wind weht. Können Sie verhindern, daß ungezählte Andere tun, worauf Sie verzichten? Daß jene nach der Gelegenheit greifen, auch wenn sie es nicht so nötig hätten, wie Sie. Ich dachte an Ihr Wohl. Ging Ihnen darum nach. Fürchten Sie, ich müßte mir meine Leute suchen? Zehn für einen. Allerdings sind Sie ein zuverlässiger Mann. Das beweist Ihre ganze Geschichte. Es gibt immerhin wenige Narren, die im Wahn an Sühne und Vergeltung sich selber dem Gericht überantwortet hätten. Ich stellte mir vor, Sie würden, der Sie an der Wirklichkeit erfahren mußten, was gefangen sein heißt, was Strafe für Aberwitz in sich schließt, lernen und praktischer werden. Wollen Sie nicht?«
Ich schwieg.
»Lassen Sie doch das Titelchen weg: Spion. Fünf Buchstaben. Weiter nichts. Die keineswegs beweisen, welchen Wein die Flasche birgt. Denken Sie sich's einfach aus dem Gesamtklang heraus. Fangen Sie beim Auftraggeber an, der entschädigt, weil Sie ihm Dienste leisten. Überbürden Sie die moralische Verantwortung mir. Geschäft ist Geschäft.«
Panjeczek blieb noch anderthalb Stunden. Ich glaube nicht, daß er den Unterschied zwischen seinem und meinem Handeln verstand. Daß er aus Überzeugung, sagen wir für sein Vaterland, an dem er hängt, mich zu gewinnen trachtete. Indem er mich unsäglich erniedrigte. Käuflich erachtete. Er meinte es in seiner Art tatsächlich gut mit mir. Ich bat ihn endlich, sich zu verabschieden.
Einige Minuten später kam Friedel, die draußen gespielt hatte, außer Atem und streckte mir das geballte Fäustchen entgegen.
»Rate, was ich habe?«
»Einen Maikäfer?« . . . »Einen Marmel?« . . . »Ein Zeltchen?« . . . »Ein Krokodil, weil du so arg festhältst?«
»Etsch, du weißt es nicht. Da . . . .« und sie krallte die kleine Hand erst in meiner Rocktasche auf.
Ich fand eine zerknüllte Fünfzigernote. Von Panjeczek hatte es ihr unten für den Papa gegeben, aber verboten, zu sagen, von wem es sei. Er war nicht mehr zu erblicken.
Unbezahlter Spion. Was wäre geworden, wenn man mich verdächtigt und bei mir nachgesucht hätte? Er wies mir übrigens unter anderem an, daß, wenn mich die Sache weiter interessiere, ich heute Abend ins Restaurant »Stadtbahn« gehen solle. August Lohmers Standquartier. Weil ich nicht wußte, wo von Panjeczek wohnte und ob er überhaupt so hieß, entschloß ich mich, Lohmer auszufragen und den Schein dem Spender zurückzuschicken.
Eine furchtbare Versuchung blieb dieses Geld für mich Bettelarmen. Ich nannte es meinen ersten Weg. Den nächsten, leichtesten, glänzendsten. Brauche nur ein paar Tage zu reisen, gut aufzupassen, um zu besitzen, was ich in vielen Monaten durch meiner Hände Arbeit nicht erschufte. Könnte mir in solchem Reichtum fast ausmalen, wie es Menschen zu Mut ist, die nie erlitten, wie Stundenlohn Schweiß kostet. Denen es einfach zufließt. Ohne Zutun, ohne Fingerbewegung. Die nie Zeit, nie Kraft, nie Gesundheit dafür herzugeben brauchten. Ich selbst war einmal ein solcher.
Dieses schäbige, grüne Papier machte mich merkwürdig unruhig. Regte mich dermaßen auf, daß ich ins Freie lief. Kam nicht früher heim, als bis ich die Suppe aufzuwärmen hatte. Gestand meiner Frau den schmählichen Handel. Erst mußte ich sie leiden sehen, bevor ich meine Ruhe und Sicherheit wiedergewann. Schließlich war sie selber dafür, daß ich in die »Stadtbahn« ging.
August Lohmer ist ein zwanzigjähriges Bürschchen, dem ein weitausgeschnittener Smoking die Hüften einschnürt. Ein Schlips teilt die weiße oder bunte Hemdenbrust mit farbigem Streifen. Er bohrt immer die Hände in die vorn angebrachten Hosentaschen. Trägt einen kurzrandigen Filzhut schief auf dem blonden, naßgekämmten, in der Mitte gescheitelten Haar. Sein Gesicht ist nicht übel. Besonders jetzt, nachdem er sich von der neunmonatlichen Gefängniskost erholt und die vielen Finnen verloren hat. Trotzdem ist etwas, an dem man den Zuhälter errät.
Ich traf den Wirt im Hausgange zur Gaststube. Fragte, ob Lohmer drinnen sei. Der Italiener traute mir nicht. Musterte mich von oben bis unten, öffnete dann die Tür, aus der Tabaks- und Bierdunst quoll. Tanzende Paare drehten sich zwischen den wenigen Stühlen und Tischen. Ein heiseres Grammophon schnarrte durch den Nebel. Mit einem Dutzend Kumpanen saß Lohmer um eine runde Tafel und »bänkelte«.
Er kehrte sich halb um. Erblickte mich und bemerkte zu den Spießgesellen: »Der hat auch schon seinen Doktortitel, wollte sagen, seine Nummer gehabt.« Zugleich lud er mich neben sich zum Sitzen ein.
Ich wollte ihm die Fünfzig einhändigen. Aber er nahm sie nicht an.
»Du hast sie nötiger als ich. Wärest ein gestreifter Esel, wenn du sie nicht behieltest. Der Herr »von« zahlt es nicht aus der eigenen Tasche. Schreibt's einfach seiner Regierung »für Spesen« auf. Und wenn du nicht zu ihm gehen willst, dann laß ihn sein, wo er ist. Er läuft dir nicht nach. Kannst sicher sein. Er hat viel zu viel Angst, es könnte ihm auskommen. Und dann fliegt er. Behalt du nur ruhig deine Aktie.«
Während er sprach, schlug er unentwegt seine Trümpfe auf den Tisch. Den ganzen Abend dauerte das an: »Meine deine Tante«, »polnische Bank« und »siebzehn und vier«.
Hätten sie nicht gespielt, wäre ich unverzüglich aufgebrochen. Aber ich konnte die Augen nicht davon wenden. Ihre Einsätze waren im Vergleich zu ihren Anzügen gar nicht gering. Gewinn und Verlust kreisten um dreißig und mehr Franken. Mir war, als ob meine vierfach zusammengefaltete Banknote sich aus der Tasche heraus in mein Fleisch einbohrte. Mich vergiftete. Warum nicht mit einspringen? Eine halbe Stunde davon Gebrauch machen? Spekulieren? Ein paar Rappen verdienen? Dann den Grundstock zurückgeben?
Lohmer sah mir an, was ich dachte.
»Du hast ja Stoff bei dir. Wag's!«
Er selbst hatte nichts mehr. Die Kellnerin strich immer an ihm herum. Sein Gesicht war noch das frischeste unter den übrigen. Auch trug er einen Kragen, was nicht von allen behauptet werden konnte. Mancheinem fehlte es am Schuhwerk; mehrere standen mit dem Haarkünstler im Streit.
Lohmer lud »Apachenidi«, wie sie gerufen wurde, zu einer Runde. Tanzte. Lieh sich Nickel und Silber von ihr. Setzte weiter.
Viele taten wie er. Dirnen, die aus und ein gingen, kamen frisch vom Geschäft auf der Straße. War es gut gewesen, wurde »geschmissen«. Dann floß Asti.
Ich blieb Stunden lang hocken. Gab mir vor, die Umgebung zu studieren. War ja zur Zeit Schriftsteller. Schrieb an einer Verbrechergeschichte. Lebendigeren Stoff hätte ich mir nicht ausdenken können. Aber in Wahrheit glühte mein Geld in der Tasche.
Lohmer schrie zwischen Spässen, zwischen schleimigen Anzüglichkeiten, die er rings herum wechselte, hartnäckig auf mich ein: Solle mitmachen! Hinausreisen. Ihm den Handel nicht verderben.
Einmal gab es eine Aufregung, weil der Wirt hereinpolterte, Polizei in der Nähe gewittert hatte. Blitzartig verschwand der Phonograph unter den Tisch.
Aus den Reden, die hin und her flogen, erfuhr ich mancherlei. Einer wußte nicht, wer sein Vater, ein zweiter nicht, wer seine Mutter gewesen. Waisen- und Armenhaus hatten die meisten aufgezogen. Fast keinen gab es, der nicht seinen dummen Streich hinter sich, der nicht gesessen hatte, in einer Anstalt durchgebrannt war. Die Weiber standen nicht zurück. Zeigten geschminkte Larven und neumodische Kleider, die zu den zotigen, gemeinen Redensarten nicht in Widerspruch standen.
Ich bin überzeugt, daß, während ich da saß, von einigen, die untereinander flüsterten, Diebstähle verabredet, erpresserische Pläne ausgeheckt wurden.
Die Adresse Panjeczeks, der natürlich anders heißt, entlockte ich Lohmer. Meine Fünfzigernote ist heute auf der Post. Aber ein schaler Geschmack haftet mir an. Das Einzige, was mir in der gestrigen, schlaflosen Nacht klar vor Augen trat, ist das Lebensbild August Lohmers, das ich am Donnerstag Abend ins Reine bringen will. Ein Mittel vielleicht, die peinliche Beichte des eigenen Schicksals hinauszuschieben. Und dann, weil sie zu 342's und meiner ein Gegenstück ist. Jenem konnte nicht mehr geholfen werden, weil es ihm teilweise an Verstand gebrach. Ich glaube, August Lohmer wird nicht aus dem Sumpf geraten. Ihm gefällt es so. Weil sein Denken, nicht sein Gehirn, zu ziel- und gesetzlos ist, daß kein Maßstab mehr gilt. Weil ihm Sinnenhunger und grober, handgreiflicher Genuß die Wirklichkeiten ausmachen, mit denen er rechnet. Weil ihm höhere Gefühls- und Sittenbegriffe, wie sie ihm gewiß vorgesprochen wurden, als Lüge und Selbstbetrug erscheinen müssen.
Fragt ihn nur, was ihm gut und böse bedeutet: Er wird Euch die nämlichen Worte sagen, die Ihr in der Schule gelernt habt. Er wiederholt sie wohl, hört aber den Inhalt nicht. Darum richtet er sich nicht danach.