Charlot Strasser
Reisenovellen aus Russland und Japan
Charlot Strasser

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Nadjeschda

Ich hatte einen Unfall erlitten, lag seit Wochen im International Hospital zu Kobe – an Zeit fehlte es mir nicht, eine Geschichte, die mir mein Freund, der Maler, bei einem Besuch gebeichtet, aufzuschreiben.

Man möge keinen allgemeinen Schluss aus dem Erlebnis ziehen, von dem hier berichtet wird. Wir lieben es so sehr, durch ein Beispiel eine ganze Klasse von Menschen darstellen zu wollen, – durch eine psychologische Studie Schlaglichter zu werfen auf eine sogenannte Rasse (Rassenvorurteile sind heute leider mehr an der Tagesordnung denn je) und die Taten einzelner als massgebend und folgenschwer für ein ganzes Geschlecht zu betrachten.

Mein Freund, der Maler, und darum hatten ihn alle lieb, war durch und durch Optimist.

Er wollte in der Landschaft, die er zeichnete, die sinnereizenden Linien festhalten, durch sinngefällige Farben Genuss bringen und jenen seligen Traumzustand, der uns über das Kleinliche, Grämliche des Lebens hinwegsetzt, – die Stimmung, im Herzen erwecken. Er wollte das Schöne festhalten und weiterverbreiten, das Schöne, das er auch in jeder menschlichen Handlung, in jedem neuen Tag des herrlichen Lebens erkannte.

Und dennoch liegen Tage über uns, da wir im Dunkel schreiten, und schleichen Erinnerungen in unsere Freude sich ein, die Schatten zu werfen vermögen auf unsern sonnenfrohesten Mut, dass wir krank werden und ohne Glauben an unser Wollen.

Und wieder blieb er Optimist und schaffte sich einen neuen Glauben, vielleicht gerade an das, was 78 unlängst zu Staub zerfiel vor seinen Augen. Viele schalten ihn darum töricht. Und in dem Worte töricht lag ihnen das Mitleid für die unglückliche oder besser unmaterielle Veranlagung ihres armen Mitmenschen.

Aber dann wiederholte er sich immer wieder die vornehmen Worte eines Medizinalprofessors in Bern, der über den Wert des Glückes gesprochen hatte.

Der Maler war mehr aus Neugierde in eine seiner Vorlesungen geraten, und weil von ihr noch weiter die Rede sein wird, soll auch deren Inhalt nicht übergangen werden, besonders da er einen so tiefen Eindruck auf meinen Freund gemacht hatte. Der Lehrer der Wissenschaft sprach angesichts eines Schwerkranken über den relativen und absoluten Wert des Glückes. Der Kranke vor ihm konnte vielleicht dem Tode entrissen werden, wenn alle Kräfte seiner Pfleger angespannt wurden, wenn Arzt und Wärter in Nichtachtung ihrer eigenen Gesundheit für das Leben ihres Patienten einstehen wollten. Wenn aber auch das Leben gerettet wurde, so blickte die Zukunft dennoch mit traurigen Augen her, da die Folgen der Krankheit den Patienten zu Taubstummheit und Erblindung verdammten. Und mehr als das; sie verurteilten nicht nur den Kranken selber, sondern mit ihm seine armen Anverwandten, denen er von Stund an zur Last fallen musste. Er war ein schöner, begabter Knabe gewesen, und man konnte sich mit Recht fragen: Lohnt es denn, ein Leben zu erhalten, das später auf alle Freuden der Welt verzichten musste? Und die Antwort heisse: Das Leben muss mit menschenmöglicher Anstrengung gerettet werden darum, weil nicht unser, der andern Menschen Begriff von Glück, den Wert eines Lebens ausmachen kann. Sondern die Widerstandsfähigkeit gegen den 79 Tod, der Wille zum Sein, der auch dem armseligsten Geschöpf innewohnt, gibt eben dieser armseligsten Kreatur einen Anspruch auf Erhaltung ihres Lebens und dessen, was sie in sich selber als Glück empfindet, und was wir andern, in unsrer eigenen Welt stehenden, in keiner Weise beurteilen, noch überhaupt nachempfinden können.

Der Maler hörte damals nichts mehr vom weiteren Verlauf des Vortrages, aber, als er einmal aufsah zu dem in beide Hände gestützten Gesicht einer Hörerin und in ihre leuchtenden, schwarzen Augen schaute, trug er die Philosophie vom Glücke auf weniger allgemeine Fälle in unserem Erdengang über und dachte demjenigen nach, das von dem sinnlichen Begehren zweier Augen ausströmen kann.

Dieses alles erzählte er mir zuvor, weil er, wie er wiederholt betonte, sonst lieber das Gute berichtete als das Hässliche und weil er nicht wollte, dass nach seinen Erlebnissen ein allgemeines Urteil gefällt werden sollte über den Wert oder Unwert der russischen Studentinnen.

Denn von einer solchen handelt diese Erinnerung.

Seit jenem Vortrage waren an sechs Jahre ins Land gegangen und immer noch fühlte er ihren ersten Blick auf sich.

Und ihr eigenartiges, kindlichreines Antlitz: Die drei Dinge, welche die Schönheit eines Frauengesichtes ausmachen: Stirne, Augen und Mund!

Eine weisse Stirne, von schwarzen Locken umkränzt; Augen, schwarz, wie des Meeres tiefste Tiefe; Lippen vom Rot der Granatapfelkerne und der Süsse eines berauschenden Marsalaweines.

Doch hätte er sie bald vergessen gehabt, da er damals mit einem Gemälde beschäftigt war, das ihn 80 völlig beherrschte. Aber es fiel ihm auf, dass er ihr häufig begegnete, ja, dass sie ihm nachstellte. Es war das Spiel eines unverdorbenen Kindes, das seine liebreizenden Kunststücke zeigt, nicht, um belohnt, aber doch, um bemerkt zu werden. Und er fing an zu merken, und ein paar Tage noch, dann war er in einem glühenden, seligen Rausch.

Und es folgte ein Sommer und eine Liebe, wie der Duft der betäubenden Hyazinthen, wie das Freiheits- und Herrengefühl der kleinen Zaunkönige, und wie der Zauber, der in des Kinderspiels Unbefangenheit schlummert und glückliche Träume aufbaut.

Dann gab es Ferien an der Universität und Ferien in der Beiden Liebe. Seine kleine Studentin reiste ab. Drei Monate blieb sie verschollen.

Seltsamerweise achtete er dessen nicht. Er war zu stark mit seiner Arbeit beschäftigt, und nur daran erkannte er, wie sehr er immer noch liebte, dass er sich oft darüber ertappte, wie er ihre Augen, oder den Mund, oder die Linien des Alabasterhalses zu zeichnen versuchte.

Auf einmal erschien sie wieder im Lande. Nicht, dass sie gleich zu ihm gekommen wäre, – es vergingen an drei Wochen darüber, dass sie ihn warten liess, dann fand er sie bei sich im Atelier. Liebreizend wie nie. Und ihre Küsse brannten heisser denn früher, und ihre Leidenschaft war mächtiger emporgelodert, und ihr Leben bestand nur mehr aus dem Einen und Einzigen, ihrer Liebe zu ihm. Aber ihre Küsse waren ganz anders geworden. Ihre Reize wurden bewusster ausgespielt; sie hatte sich den Verführungsinstinkt im Weibe zu nutze gemacht, sie fesselte ihn an Händen 81 und Füssen, an Willen und Geist, und selig lag er in ihrem Hexenbanne.

Und wieder gab es Ferien, und seine kleine Studentin reiste ab.

Und wieder blieb sie verschollen. Er schrieb an sie, er forschte nach ihr, – es blieb alles vergeblich.

Er war in einer elenden, hilflosen Leidenschaft, – seine Liebe war von Tag zu Tag tiefer gegangen, von Stunde zu Stunde wahrer und unausrottbarer geworden – und mit einem Schlage stand er vor quälenden Rätseln, vor einer höhnisch lächelnden Sphinx.

Warum dieses zerstörende Ende?

Warum dieses entehrende Schweigen?

Und sie kam nicht wieder zurück. Sie blieb verschollen.

Er durchträumte all ihre gemeinsamen, seligen Stunden. Er suchte nach Schatten, die in jedem Glück herumzuflattern pflegen, dass es um so leuchtender wieder aufstrahlen könne.

Doch wer nach Schatten suchen will, der geht den Weg der Finsternis.

Hatte sie einen andern Geliebten in Russland, bei dem sie geblieben, zu dem sie zurückgekehrt war? Aber sie erschien ihm wie die Unschuld eines Kindes, da er sie kennen lernte.

Oder war ihre Reinheit nur Spiel gewesen, eine Komödie zur Befriedigung ihrer Laune und Lust? Und er hatte sich für so klug gehalten, für solchen Menschenkenner.

Oder hatte sie seiner vergessen, um ihrem Vaterlande zu dienen, der Revolution ihr junges Leben zu weihen? 82

Aber das Werk fürs Vaterland stösst die Liebe nicht von sich, und, so sehr er sie und ihresgleichen als ehrliche Schwärmer für das Wohl ihrer Heimat kannte, – zum Verleugnen der Sinne gehörte mehr Wille und Kraft, als er in ihnen wusste.

Was war es denn, was?

Er taumelte wie in einer tollen Krankheit herum, – er streifte durch Wald und Feld, wo sie zusammen gewandert waren, – er konnte nicht arbeiten und mit den Frohen nicht mehr froh sein.

Er packte seinen Kram zusammen und ging auf Reisen.

Auf einer seiner Fahrten kam er auch durch Russland. Da er natürlich immer dort sein Interesse fand, wo seine unverwundene Liebe sich wieder in süsser Qual erregen konnte, geriet er unter Studenten und Gymnasiasten und sah das grosse Elend, das mit den Unruhen und dem Unglück des Vaterlandes über ihre hoffnungsfrohe Jugend gekommen war. Wie sollte die Erziehung eines Menschen eine tiefgründige und abgerundete werden, wenn Knaben und Mädchen mit den ersten Buchstaben, die sie in der Schule zeichneten, die Begriffe von Protektion und Korruption kennen lernten, die Begriffe von Rassenhass und Antisemitismus, und mit Heisshunger das Gewäsch ungeschulter Redakteure verschlangen, um von den Gedanken des Sozialismus, der Anarchie und Revolution ein völlig verworrenes Bild zu bekommen. Und da, ausser den wenigen Tollkühnen, die ihr Leben und ihre Existenz vorschnell und vom Fanatismus verblendet, einsetzten für die Durchführung ihres Ideals, in Russland, wie überall auf der Welt mehr mit Worten verheissen und zerrissen, als durch die wahrhafte Tat aufgebaut ward, 83 lernten die Kinder von frühester Zeit an wohl den Unmögliches vorspiegelnden Idealismus kennen, nicht aber die durch alles Kleinliche und wenig Ideale im Leben gerade so mühsame praktische Arbeit. So kam es, dass die köstlichste Zeit ihrer Jugend verschleudert wurde an unfruchtbare Phantastereien, und dass die Kinder den Kopf vollgepfropft hatten mit grossen, unverdauten Problemen, aber dass ihnen deshalb verloren ging, was andern jungen Menschen geboten werden konnte: Schulung und Vorbildung zu erwerben, an den Universitäten weiter zu lernen und geistige Taten zu vollbringen, die nur die Früchte ruhigen Heranwachsens und zielbewusster Studien sein konnten. An Stelle dessen trat von frühester Jugend spielerische Geheimbündelei, später vielleicht auch mutige, aber in den meisten Fällen das ganze Leben zerstörende Mithilfe an, von der bestehenden, im Kampf um ihre Existenz verzweifelten Regierung, bestraftem Werke.

Um die russischen Studenten im Ausland, um die Wirren der vergangenen Jahre in ihrer Heimat zu verstehen, muss man des Vorerwähnten gedenken. Auch möge es zur psychologischen Deutung der Heldin dieser Erzählung beitragen.

* * *

Im November des Jahres 1906 schlenderte mein Freund, der Maler, durch eine Strasse Nagasakis, an der verschiedene, in nicht sehr hohem Ansehen stehende Niederlassungen der Ausländer sich befanden.

Es war neun Uhr nachts, und die Papierlaternen zogen sich wie eine glitzernde Schlange den Holzhäusern entlang. Durch das Lärmgewirr, das von 84 kleinen Geishas und ihren Trommeln und Shamisen herrührte, drangen plötzlich abgerissene Klaviertöne an sein Ohr, in einer japanischen Stadt gewiss seltsam genug, und wie er dem Klange nachging, sah er einen roterleuchteten, dunstigen Raum, in dessen hinterster Ecke sich der Kasten befand, aus dem die Töne hervorwinselten, und ein Weib sass davor und schlug sich mit den gelben, schmutzigen Tasten herum.

Sie war schön, – er erkannte die drei Dinge, welche die Schönheit eines Frauengesichts ausmachen: Stirne, Augen und Mund. Eine weisse Stirne, von schwarzen Locken umkränzt, – Augen, schwarz, wie des Meeres, wie der Sünde tiefste Tiefe, – und Lippen, vom Rot des heissen Blutes und dem Geschmacke eines Tarantelstiches. Wer von ihnen getroffen wird, der kennt den unfreiwilligen Tanz des Wahnsinns und Leides.

Es war Nadjeschda, sein verschollener Liebling, Nadjeschda, seine unverwundene Hoffnung.

Schon wandte er sich in unbeherrschbarer Angst zur Flucht und hob die Hand abwehrend gegen die Vision, – da traf ihn ein Blick aus ihren Augen, wie aus der Sünde, aus des Meeres tiefster Tiefe, – kinderrein waren dennoch die Augen; unwirklich unbeeinflusst von ihrer furchtbaren Umgebung. Ihr ganzes übriges Ich widersprach diesen Augen, ihre Züge trugen die Spuren eines schrecklichen Lebens, – immer noch stand er ohne Bewegung, – bis sie ihm, wie jedem andern, der vorüberging, zunickte, und er eintrat und sich in ihre Nähe setzte.

Solches Ende hatte jenes stolze Kind genommen, das er zur Gefährtin seines Lebens hatte emporheben 85 wollen, – Klavierspielerin in einer gemeinen Kneipe des fernen Ostens.

Was er weitersah, war der Traum eines Fieberkranken und war doch nackteste Wahrheit. Nicht einmal erkannt hatte sie ihn, – ihn, den sie mit ihren weissen Armen viel tausendmal umfangen und geherzt und geküsst hatte. Er trug einen Bart, er war gewiss auch älter geworden, – kannte sie ihn wirklich nicht?

Unmöglich! Unmöglich!

Und doch, – sie setzte sich zu ihm an die Bar; sie bestellte sich einen Whisky und trank ihn auf sein Wohl und seine Kosten; sie redete ihn mit du an; sie war eine Dirne, – und war es nicht. Es lag in den Augen, die ihrem ganzen Handeln widersprachen, die jede ihrer triebhaften Bewegungen widerlegten. Sie wusste nicht, dass sie Übles tat. Aus ihren Augen blickte eine Seele, die dem Hässlichen, was der Körper und die Sinne sprachen, unberührt gegenüberstand, die nicht wusste, wozu die Hülle, die sie umgab, missbraucht wurde.

Es gibt solche Frauenseelen. Da ist kein Dualismus; Physis und Psyche gestalten sich nicht unabhängig; aber es gibt Frauen, die als zwiefache Menschen dastehen, als Leib und Seele. Wo diese beiden sich in sich selbst berühren, ist von Fall zu Fall qualvolles Rätsel. Man löst es nie. Es gibt Frauen, die von der ganzen Welt als entsetzlich verdorben und unmoralisch verschrien werden, und die nicht anders handeln können, als wie die Kinder, unbewusst, und darum unschuldig in ihrem verdammungswürdigsten Tun. Es gibt Menschen, die jegliche Laster kennen und nicht hässlich werden durch 86 sie, und sollten sie doch gezeichnet sein, – ihre Kinderaugen behalten sie; – es gibt andere, die in Askese und rasender Selbstzucht dahinleben und keinen einzigen unbefleckten Gedanken besitzen.

Manchmal trank Nadjeschda, doch hastig und in kurzen Zügen, als ob das scharfe Getränk ihren Ekel erregte, und wie der Verzweifelte, der im Rausche Vergessen sucht.

Und als ob sie doch noch gefühlt hätte, dass sie dem, der ihr gegenübersass, Rechenschaft schuldig war, fing sie ganz von selber an, über ihr Leben Gericht zu halten. Sie erzählte in der Art eines Menschen, der von geistiger Höhe herabgesunken und im Rinnstein der Gasse liegen geblieben ist, der aber zu all seinen, das Geistige abtötenden, ekeln Beobachtungen und Erfahrungen doch noch die Vergleiche des Gebildeten in Erinnerung hat, – aber noch mehr in der Art eines Menschen, der dem Liebesschacher darum so habgierig nachgeht, weil er gar nichts anderes mehr mit sich anzufangen weiss.

Nein, – so erzählte sie äusserlich, – aber ihre Augen straften sie Lügen. Sie erzählte, was ihr das Schicksal zugeteilt hatte, gegen das sie mit ihrer Kinderkraft nicht hatte aufkommen können. Auch ihre Worte waren kindlich, – sie erzählte wohl Schreckliches, und dennoch klang es niemals hässlich.

Er trank keinen Tropfen, aber er lachte, wie ein Betrunkener, – er sagte nichts Trauriges, aber seine Stimme war von Tränen erstickt.

»Ihre Kindheit im Elternhause in Südrussland. Die Eltern sind frei in ihrem Denken und Handeln, vielleicht zum Vorteil ihres eigenen Lebensgenusses, – aber den Kindern ein gefährliches Vorbild. Der Vater 87 sucht ausserehelichen Verkehr; die Mutter folgert daraus das gleiche Recht für sich. Nach einiger Zeit aber finden sich die beiden wieder zusammen zu Liebe und Ehe. All das sieht ein zehnjähriges Kind und fängt an zu verstehen.

Dann kommt es auf die Schule, weit weg von zu Hause, nach Odessa, dem russischen Neapel. Auf den Strassen sieht es die Unzucht in tierischer Roheit, nicht behindert und beseitigt durch Gesellschaft und Staat, da die Polizei nur Zeit für politische Vergehen hat. 1m Gymnasium, in Gemeinschaft mit den verdorbenen Kindern raffinierter Genussmenschen, mit den Sprösslingen von Offizieren und hohen Beamten, kommt die ganze Kette der glänzenden Laster vor die Augen der Jugend. Dazu finden sich die Theorien der freien Liebe, der Anarchie, des sozialistischen Idealstaates, der Revolution, – alles kunterbunt durcheinander aus verbotenen, aber um so süsseren und trotzdem unverstandenen Schriften. In den höheren Klassen der Schule folgt die praktische Liebe, – legale Ehen zwischen Gymnasiasten und Gymnasiastinnen sind möglich, und der Minne köstliche Näschereien sind das angenehmste Zeitvertreiben nach langweiligen Schulstunden. Die Liebenden verbündet ja eine gemeinsame Arbeit, ein hohes platonisches Streben: die Befreiung des Vaterlandes!

O, diese sinnbetörenden Phrasen!

Dann folgt die Zeit der goldenen Universitätsfreiheit. Die Ausnahmegesetze machen es für Unzählige in der Heimat aussichtslos, ihrer Sehnsucht nach Weiterbildung Folge zu leisten, – sie reist mit vielen andern Landesschwestern in die Schweiz. Ein ernstes, fleissiges Studium nimmt seinen Beginn; aber der Arbeit zum 88 Trotz lässt sich das wilde, slawische Blut nicht verleugnen, und ein junger Maler, den sie zufällig kennen lernt, wird ihre Liebe und Erfüllung.

Dann kommen die Ferien. Sie fährt aus der Beschaulichkeit des Kleinbürgerlebens zur Gedankenwelt ihrer Altersgenossen in Russland, die gleich den Kohlensäureperlen im berauschenden Sekt prickelt und aufreizt. Sie kehrt in die Arme des Jugendfreundes zurück, mit dem sie der Streitruf: »Freiheit des russischen Vaterlandes!« und das Schlagwort: »Freiheit der Liebe!« verbindet. Sie gibt sich ihm hin mit Leib und Seele, bis die Ferien zu Ende, bis sie wieder ins Ausland kommt und bis sie wieder ihren Maler findet, mit dem sie nun ein leidenschaftliches Liebesspiel beginnt.

Und wieder folgen die Ferien und wieder kehrt sie in die Arme des Jugendfreundes und politischen Gesinnungsgenossen zurück.

Und nun ist der Stein ins Rollen gekommen. Die Erfahrungen ihrer zügellosen Jugend gewähren keinen Halt, – Gut und Böse sind nie überlegte Begriffe, – Schön und Hässlich lassen sich nicht mehr unterscheiden in den Extremen und Ausschweifungen der Genüsse. Und dann ist sie von jenen, die nichts Hässliches tun können. Sie kann nicht. Sie geht nach Paris, sie verlässt die Studien, – Liebe und Lust haben tausendfältige Fangarme, – Leib und Lust sind seit alters für Tausende und Tausende der Erwerb zum Leben; sie zieht den grossen Städten nach, dem Liebesmarkt entlang, – sie kommt ins Gefolge des russischen Heeres, – sie folgt einem gefangenen Offizier nach Japan, – er stösst sie, ihrer überdrüssig, von sich, und schliesslich ist sie froh, ihr Brot als Klavierspielerin in der 89 schmierigen Kneipe zu Nagasaki zu verdienen.« Und dann –?

* * *

Das alles vernahm er in den endlosen Stunden einer einzigen Nacht. Er wusste nicht, was mit ihm geschah, er entsann sich nur eines furchtbaren Schreis, der aus der Brust des armen Weibes brach, eines entsetzlichen Winselns, als sie seine Füsse umklammerte, während ihn fremde Menschen von ihr wegzerrten, und weit, weit in die Nacht hallte sein Vorname, den sie ihm nachschrie, als man ihn auf die Strasse gebracht hatte.

»Noch einmal, es ist dies nur ein vereinzeltes, persönliches Erlebnis,« schloss mein Freund, der Maler. »Wenige gibt es, die so traurig enden. Und sehen wir auch in die tiefsten Tiefen menschlichen Elends – –

Schuld? – –

Schuld ist das nämliche wie Schicksal, und Schicksal ist hier die furchtbare Zerrüttung eines schönen, unglücklichen Vaterlandes.«

 


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