Charlot Strasser
Reisenovellen aus Russland und Japan
Charlot Strasser

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In aller Stille

(1906)

Arm in Arm mit einem jungen Leutnant, den ich auf der Reise nach Sibirien kennen gelernt hatte, schritt ich durch die Hauptstrasse.

Die Sonne war eben untergegangen in das den Horizont streifende Wolkenband, wie eingehüllt in einen scharlachroten Henkersmantel. Die Schattenrisse der kahlen Berge hoben sich gewaltig gegen den glühenden Himmel. Die Räder, die Lafetten und Rohre von sechs Geschützen der Stadtbatterie hoch auf dem Rücken des nächsten Hügels und der schlanke Flaggenmast daneben prägten sich, wie von der Feder gezeichnet, in die Luft und drohten lauernd über dem nervösen Leben der Beherrscherin des Ostens, – Wladiwostok.

Damals, als die Meuterei in der Stadt wütete, als die Soldaten wie ausgehungerte Bestien geplündert, gesengt und getrunken, waren es diese Geschütze gewesen, die ihnen Mut und Schutz zu ihrer furchtbaren, zügellosen Freiheit verliehen hatten. Menschen, die nie die Macht ihrer zwar schwerbeweglichen, doch riesenhaften Masse empfunden, und gar von denen, die das Bewegende ihrer Kraft waren, von ihren Vorgesetzten, mit mordwütigen Maschinen und Waffen ausgestattet worden, hatten sich plötzlich zu Herren dieser Geschütze gemacht und sie, mit Granaten geladen, gegen die wehrlose, begehrenswerte Stadt gerichtet. Und Alles lag im Schreckensbann ihrer Glut und Eisen geifernden Rachen. 64

Junge Studenten, Redakteure und Lehrer hatten die Soldaten zu solcher Tat aufgestachelt, auf lange, mühsame Wühlarbeit hin war es die giftige Frucht.

Nun stand Wladiwostok in Flammen, und ein Dritteil der Stadt ward Schutt und Asche. Gier und Durst hatten in der herrenlosen Meute die Herrschaft an sich gerissen, und, als die jungen Treiber und Aufwiegler flehentlich zu Besonnenheit mahnten, wurden sie von den Sinnlosen erst niedergeheult und später zu Boden getreten. Der Soldaten frühere Tyrannen aber, die Offiziere, waren von Todesfurcht geblendet; – sie rissen die Epauletten von den Mänteln, – sie färbten an den Hosen die roten Streifen schwarz oder verschafften sich bürgerliche Kleider, und eine grosse Zahl von ihnen zog in solchem Aufzuge mit den Revolutionären von Plünderung zu Plünderung und hetzte sie weiter auf, um den allgemeinen Hass gegen ihresgleichen von sich abzulenken.

Dann freilich, als die erste Wut, der erste Blutrausch der Soldaten verkocht war, stürzte das Feuer in sich zusammen, verkrochen sich die Schürer der Flammen, fehlten die Werkmeister, um die verheerenden Elemente, die hätten befreiend werden können, weiter zu leiten. Und wenige Tage nur lähmte der Schrecken die bedrohten Machthaber von ehedem. Es zog sich zusammen von den Aussenforts, eisern und kettenklirrend, – die ferner liegenden und darum treu gebliebenen Regimenter bildeten einen Bajonettgürtel, – die herbeigeholten Kosaken, unwillig, dass sie von der ersehnten Heimreise wieder zurückgeholt wurden, brachen über die Herrenlosen herein. Ganze Eisenbahnzüge voll wurden die Meuterer hinausgeschafft in die verschwiegene Einsamkeit, welche im weiten 65 Festungsrayon, zwischen den drei Bergreihen rings um die Stadt liegt, – und zugweise, – in aller Stille – erschossen.

»Zugweise. Es ist die Wahrheit,« erzählte mir mein Freund, der junge Leutnant. Er war auf das orientalische Institut in Wladiwostok abkommandiert. Das sollte die Übergangsstufe zur diplomatischen Laufbahn werden, in die er später einzutreten hoffte. Er gehörte zu den Balten und wer aus diesen die fortschrittlichgesinnten findet (während die baltischen Reaktionäre zu den schwärzesten in ganz Russland zählen) der ist gewiss, auf gebildete, vornehme Edelleute zu stossen und braucht nicht weit zu fragen, um zu erfahren, dass sie mit der bestehenden Ordnung unzufrieden sind, dass sie gegen Regierung und Korruption sich aufbäumen möchten, kurz, – der Leutnant hatte mich eines Tages auf der sibirischen Bahn zu sich in sein Coupé eingeladen und hatte mir bei Tee und Eingemachtem, »Warjenje,« erzählt, dass er eigentlich gern Revolutionär wäre, dass er aber unaufhörlich vor sich selber auf der Hut sein müsse, denn seine Denkart könne ihm beim leisesten Versehen den Hals kosten. Er fügte damals bei, da ich mich über sein Geständnis nicht besonders zu wundern schien, dass es denn garnicht so selbstverständlich sei, wenn ein aktiver Offizier der gleichen Gesinnung wäre, wie er. »Als ich seinerzeit in Warschau lag mit meinem Regiment, berief der Oberst eines schönen Morgens die Herren Offiziere zu sich, und teilte uns mit, dass die Revolutionäre ihm eben geschrieben hätten: »Zum heutigen Tage würden sämtliche Hauptleute des Regimentes niedergeschossen.« Und wirklich fielen am angegebenen Tage drei der Waffenkameraden. Die andern hatten sich versteckt gehalten.« 66

Der Leutnant war einer jener guten Menschen, die nirgends an ihrem Platze sind. Als Kriegsknecht der Regierung kannte er deren Niedertracht viel zu genau, um mit ehrlicher Freude seinen Beruf lieben zu können. Zum wahren, sich selbst verleugnenden Empörer fehlte ihm das Zusammengehörigkeitsgefühl mit den unterdrückten, niedern Klassen. Kein Zug seines Charakters trat besonders hervor. Er war durch und durch anständig. Er empfand was schlecht, nicht aber, wie und wo zu bessern sei; – ein Mensch, auf den man wirken konnte, von dem allgemein viel erwartet wurde und den Verhältnisse wie Umgebung in jeder Richtung treiben konnten.

Wir schritten jetzt zusammen durch das Gewühl der Strasse, an der überall gebaut wurde. Tag und Nacht, um die grossen Geschäftshäuser und Hotels wiederherzustellen, die von den Meuterern niedergebrannt worden waren. Wir schritten durch das Getriebe der westeuropäischen Großstadt, an aufgeputzten Dirnen vorbei, an schreienden Zeitungsverkäufern, an keifenden Fruchthändlerinnen, an hastenden Geschäftsleuten, an geschniegelten Offizieren, an schmutztriefenden Soldaten; in der Mitte der Strasse sausten die Iswoschtschiks mit ihren struppigen Gäulen und leichten Wägelchen in unheimlicher Gewandtheit über das halsbrecherische Pflaster, und zwischen hindurch warfen die Trachten der Chinesen, Japaner und Indier, – letztere, die als Hafenwärter im Dienste der Kaufleute standen, in hohen, bunten Turbans, – fremdartige Farben in das Bild.

Der Hafenmeister gesellte sich zu uns, den ich kennen gelernt hatte, als ich mir den Ausgangspass aus Russland anfertigen liess. Er war ein gemütlicher 67 Graukopf, ein alter Seebär, der mich erst, nach russischer Beamtenhöflichkeit, mächtig angeblasen hatte, als ich ihm mein Anliegen vortrug, dann aber, sowie er merkte, dass ich dem deutschen Sprachkreis angehörte, sofort und voller Liebe nach den »Fliegenden Blättern« fragte, an denen er seit reichlich zwanzig Jahren sein Herz erquicke. Und weil ich ihn, um schneller meinen Pass zu bekommen, angelogen hatte, dass ich diese unversiegliche Quelle deutschen Humors auch – regelmässig geniesse, – behüte mich der heilige Seraphim! der hundertzweiundvierzigste und neueste Heilige, den Väterchen Zar zu Beginn des Krieges machen liess, – hatte mich der Alte in sein Herz geschlossen und seine herrliche Seele vor mir ausgebreitet: dass es sein seligster Traum sei, wenn er einmal genug des Geldes zur Seite gebracht hätte, nach München zu fahren und dort die grossen Geister der »Fliegenden« hinter den Witz und deutschen Humor bergenden Masskrügen kennen zu lernen.

Immer noch zeichneten sich die Kanonen der Stadtbatterie scharf in den nunmehr dunkelviolett gewordenen Himmel. Schwüle Stille lastete auf den Häusern, und es drängte mich, das Schweigen zu brechen, indem ich zu dem Alten hin bemerkte, wie sehr die eisengespickten Hügel ringsum einen beklemmenden, einen todgemahnenden Eindruck machten.

»Und doch, wenn die Japaner gekommen wären,« gab er zur Antwort, »wir hätten uns nicht länger denn einen Monat halten können. Die Soldaten selber hatten uns angedroht, nach dieser Frist den Gehorsam zu weigern. So war die Stimmung nach dem Fall Port Arthurs.«

Dann nahm er mich auf die Seite, damit es der Leutnant auf der andern nicht hören sollte: 68

»Und sehen Sie, damals hoffte ich nichts sehnlicher, als dass die ›Gelben‹ kommen möchten. Was fangen wir an mit einer Regierung, die zehntausend Kilometer entfernt von uns ist? Wenn wir ein Strässchen bauen wollen, müssen wir in Petersburg fragen. Wenn wir Tinte kaufen wollen, Papier und Streusand, um nach Petersburg zu schreiben, müssen wir in Petersburg erst um Erlaubnis fragen. Was wissen die dort von unsern Nöten? Nach Monaten kommen die Antworten auf unsere Bitten, und immer hecken sie etwas Pfiffigeres aus, als das ist, worum wir gebeten haben. – Nein, wenn sie gekommen wären, die kleinen Gelben, dann hätten wir hier die Republik! Dann wären wir stark und glücklich! Aber dies möge kein Unberufener hören. Ich bin Beamter und Offizier. Ich habe den Oberstenrang. Verstehen Sie? –« Und er deutete die Bewegung der Schlinge an, die sich um den Hals legt.

Eine Zeitlang schritten wir schweigend durch das bunte Gewühl.

Auf einmal kam es wie ein unruhiges Zittern durch die Strasse. Als ob eine ungeheure Glasscheibe über die Stadt gelegt worden wäre und eine Riesenfaust mit einem wollenen Lappen darauf hin und her gerieben hätte, dass alle die zierlichen Puppen und Figuren unter der Scheibe elektrisch zu zucken anfingen.

Die Zeitungsbuben schrien lauter, – aufgeregte Menschen hielten Zettel in den Händen, – zusammengebeugte Köpfe über schwarzen, schmierigen Buchstabenkolonnen auf rauhem, grauweissen Papier.

Dann wurden die Ausrufe der Zeitungsverkäufer deutlicher, – bald fern, – bald näher:

»Telegramm!« – 69

»Attentat! Bomben! Telegramm!«

» Ministerpräsident Telegramm!«

»Vierundzwanzig Tote– –zig Verwundete –«

»– Telegramm! – – egramm – –«.

Der Leutnant war hinter einem Jungen hergelaufen, der gar nicht schnell genug an die Aufgeregten seine Botschaft austeilen konnte. – Jetzt hatte er den Wisch, jetzt flogen seine Blicke über die Zeilen und ein schwerer Schatten legte sich über sein jugendfrisches Gesicht.

Wir gingen schweigend weiter, die lange Strasse hinauf, und kamen zur Anhöhe, wo das Denkmal des Admirals Newelski steht, des Gründers der Stadt, daran die stolzen Worte Nikolais I. prahlen: »Wo einmal die russische Flagge aufgezogen wurde, soll sie nicht wieder sinken«, und von dem aus man weit über den Kriegshafen sieht. Es war still und dunkel ringsum. Das Meer gähnte in der Tiefe, wie ein frisch aufgeworfenes Grab.

Da brach es heraus, verhaltene Wut und schluchzender Zorn, und quoll hervor aus der Brust des jungen Mannes, als ein bitteres, brennendes Weh, wie der Blutstrom aus der mit den Fäusten zusammengepressten Todeswunde:

»Fluch über diese Wahnsinnigen, die unser mühsam geflochtenes Gewebe mit frevlen Fäusten zerstören, die mit Meuchelmord, mit Blut und Schrecken Grosses zu vollbringen gedenken und doch nur aus niedern Trieben anscheinend Heldenhaftes vollbringen! Fluch ihnen, die um der Eitelkeit, um des Ehrgeizes, um der Ruhmsucht willen, die aus feiger Verzweiflung auf die Arbeit von Tausenden einen falschen Schein zwingen, die mit verworrener Phantasie, mit kranken, überspannten Sinnen tun, was sie nicht vor sich selber, 70 nicht vor der Menschheit verantworten können! – Dem das Attentat galt, – unversehrt! – Sohn und Tochter verwundet! viele, entsetzlich viele Unschuldige ermordet und zu Krüppeln vernichtet! Wozu, wozu dies alles?! . . .

Gibt es denn nicht anderer Arbeit genug? Stille, kleine, schwere, entsagungsreiche Arbeit. Da kein Einzelner noch hervorzutreten vermag, da die Persönlichkeit verschwinden muss im Wirkungskreis unter Bauern, unter Tagelöhnern, unter Soldaten und niedern Beamten. Wozu denn grosse Taten vollbringen wollen für ein ungeheures Vielfaches, für ein unendliches, russisches Reich, wo eine vereinzelte Tat für die gewaltige Unendlichkeit so viel bedeuten kann, als ein Tropfen dem Meere? Warum nicht diejenigen, die wirklich das Wohl ihrer Heimat wollen, aussenden in die unmessbaren Länder zu den verschiedenen Ständen und Völkerschaften mit all ihren widerstrebenden Sitten und Eigenheiten, verteilen auf die achtundneunzig Volksstämme, die man im heiligen Russland nachweist, auf dass sie an geringe, bestehende Kultur anlehnend, Grund legen könnten und weiterbauen, wo alles um hundert und hundert Jahre zurücksteht gegen den Fortschritt des Westens? Warum nicht versuchen, die einzelnen Völker zu gliedern, ihnen vor allem den Begriff der Schule klarzulegen, ihnen den Begriff der Gemeinde-, der Bezirksverwaltung begreiflich zu machen? Warum nicht zuerst den Ersatz für Verwaltung und Regierung schaffen, bevor das Bestehende weggesprengt werden soll? . . .

Aber diese Arbeit lohnt nicht, diese Arbeit im kleinen Kreis, – kein Denkmal wird dem Helden, der unter das Volk herabgestiegen, – keine 71 Ehrenstelle, keine Lebensversorgung im neugegründeten Staat, – ohne Ruhm ist solche Arbeit, und ohne klingenden Entgelt . . .

Ja, wenn einmal die einzelnen Gemeinden ihre Vertretungen hätten, und dann weiter die Bezirke, und dann die Gouvernemente, wenn die erst ihren Landtag bestellen würden, gleichwie in Deutschland die Bundesstaaten es tun und in der Schweiz die Kantone, und wenn endlich über all diesen Volksvertretungen die grosse Reichsduma aufwachsen würde, die des Landes gemeinsame Aufgaben zu lösen hätte, dann wäre daran zu denken, gegen des Kaisers Thron und vor allem wider des Kaisers Sippe anzustürmen, und blutiges Gericht zu halten über jahrzehntelang vergossenes Blut und unter die Füsse gestampftes Recht! –«

Der junge Leutnant stand mit erhobenen Fäusten, und seine weisse Litewka hob sich gespenstig ab gegen das schwarze Meer, das hinter ihm aus der Tiefe dräute, gleich einem frisch aufgeworfenen Grab.

Der Hafenmeister war unruhig geworden, und plötzlich fasste er mich an der Hand und verabschiedete sich.

»Ich darf es nicht hören – und ich darf es nicht. – Mein Hals. – Towarischtsch!« sagte er, »Genosse! – Ich habe nichts gehört –«

* * *

Einen Monat später in einem Teehaus zu Nagasaki.

Mir gegenüber ein rotbärtiger Mann mit verwitterten, harten Zügen. Bald hatten wir ein Gespräch zusammen. Er war Russe und ehemaliger Offizier und mit der Übergabe Port Arthurs in die Gefangenschaft der Japaner geraten. Der schnöde, habgierige Zweck des Krieges und die Schamlosigkeit der Beamten und Offiziere hatten ihm die Augen über die 72 Schwären seines Vaterlandes geöffnet. Er war in Japan geblieben, als einer der Führer der revolutionären Kolonie, die an zweitausend Mitglieder zählte, und die mit allen Mitteln, die aus der Ferne auf die Heimat wirksam sein konnten, den Aufruhr und Widerstand gegen die Regierung in Russland unterstützte. Er war Redakteur an der revolutionären Zeitung »Nowoja Schisn« (Neues Leben) und wusste anregend zu erzählen von seiner Arbeit und politischen Überzeugung.

Mir kamen die Worte des jungen Leutnants aus Wladiwostok in den Sinn, und ich erzählte dem jetzigen Redakteur den ganzen Vorgang, wie ich ihn damals, zusammen mit dem Hafenmeister, erlebt hatte. Kaum waren die Namen der beiden von mir genannt, als mein Gegenüber zusammenfuhr, sein Gesicht schien mir einen Augenblick lang wie verzerrt, und mit vor Erregung um den Klang kämpfender Stimme fragte er, ob er mir Fortsetzung und Schluss zu meiner Erzählung mitteilen solle. Er zog einen zerknitterten mit Bleistift gekritzelten Brief aus seiner Brusttasche und las:

»Mein liebster Freund!

Ob diese Zeilen Dich jemals erreichen werden, weiss ich nicht. Ich werde versuchen, den Brief meinem Burschen zuzustecken, wenn sie mich heute im Morgengrauen holen werden.

Worte der Liebe drängen sich in meinem Herzen, Dir zu danken für all Deine treue Freundschaft, die das köstlichste Kleinod meines Lebens war. Lies diese Worte, als ob sie mit Blut gestanzt wären, als ob sie einen tiefen, rührenden, erschütternden Klang in sich hätten, der Dir mein Bild wachruft, – mich, wie ich Dir die treuen Hände küsse als Zeichen meiner grenzenlosen Liebe und Dankbarkeit. 73

Mehr der Worte darf ich Dir nicht geben. Ich fürchte sonst das Ende nicht erzählen zu können, – und Einer in der Welt soll es doch wissen, dass ich bis zum letzten Atemzug meiner Denkart, meiner Überzeugung treu bleiben musste! –

Es war vor drei Tagen.

Ich kam eben von einer Einladung beim Gouverneur, wo der Sekt in Strömen geflossen und von nichts anderem geredet worden war, als von lüsternen, halbnackten Abenteuern, von Ehebruch, von schwülen Nächten und immer wieder von Dirnen.

Ich kam heraus auf die dunkle Strasse, fiebernd von Wein, mit aufgeregten Sinnen, als mein Blick auf ein graues Telegramm fiel, das ein Junge vor mir hin und her schwenkte:

»Kronstadt. Dreiundvierzig von den Meuterern wurden heute Nacht – in aller Stille – erhängt.«

Auf einmal schlugen Flammen vor mir auf, –

Flammen loderten auf in meinen Augen, –

Flammen prasselten auf in meinem Gehirn und frassen sich Rinnen in den glühenden Schädel, –

Flammen spie der Himmel, Blut! –

Ich stürzte durch die Strasse mit blanker Waffe –

»Flammen! Blut!!« –

Ich stürzte zur Hauptwache, –

Ich stürmte unter die erschrockenen, schlaftrunkenen Soldaten, –

»Flammen! – Blut!! –«

»Der Tag ist gekommen, Rache zu nehmen an Zar und Blutgesinde!«

»Auf, mir nach!!«

»Verweigert den Gehorsam feilen Sklaven einer zerrütteten Macht!« 74

»Weidet eure Augen an den Todeszuckungen, erquicket das Herz an dem elenden Gnadengewinsel eurer verbuhlten Herrscher!«

»Tötet! Plündert! Mordet!«

»Flammen! Blut!!«

– –

Ein Hieb auf meinen Arm schlug mir den Säbelgriff aus der Hand.

– –

»Es tut mir leid, Towarischtsch, – dass ich es bin, der Sie um Ihre Waffe bitten muss.«

Es war der Hafenmeister, den ich früher einmal kennen gelernt hatte und der mit anderen Kameraden an der Wache vorbeigekommen. Er war der höchste im Rang. Er musste einschreiten. Ich wusste, dass er seiner Überzeugung nach Revolutionär war.

– –

Das Ende niederzuschreiben vermag ich nicht.

Kriegsgericht.

Morgens um vier Uhr holen sie mich, – in aller Stille – –

Tröste die Eltern!

Grüsse Vera!

Lebe wohl! Ich umarme und küsse Dich!

A. K.«

– –

Lange Zeit sass ich schweigend über dem zerknitterten, mit Bleistift gekritzelten Brief. Mein Gehirn durchwühlten wüste, sich hetzende Träume.

»War es denn möglich? War es nur möglich?!« –

Der ehemalige Offizier erhob sich.

»Am 13. Oktober morgens um vier Uhr wurde er – in aller Stille – erschossen.«

 


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