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Eines Nachmittages, da ein fremder Pferdezieher auf den Hof gekommen war, hatte Herr Hennicke ein kleines Nordlandspferdchen eingehandelt; als aber die beiden Füchse, welche ihn schon lange um ein solches Tier geplagt hatten, in lauten Jubel ausbrachen, erklärte er ihnen, daß sie dessen keine Ursach hätten: »den Pony habe er für Heilwig eingekauft; für solche Buben, wie sie beide, seien die Milchesel annoch die besten Rosse.« Bei diesen Worten hob er das zitternde Mädchen, das dabei gestanden, gleich einem Vogel auf den Rücken der kleinen Stute und führte diese behutsam auf dem Hof umher; die beiden Füchse aber rannten heulend in das Haus, um ihrer Mutter diese neue Unbill zu berichten.
Frau Benedikte schwieg; sie wagte, wo es das Mädchen galt, nicht gern gegen ihren Eheherrn zu reden; nur ihre Wangen wurden etwas bleicher und ihre bläulichen Lippen etwas blasser, als sie ohnedies schon waren.
Die kleine Heilwig aber, als Herr Hennicke zu den Arbeitern auf das Feld gegangen war, fürchtete sich, ins Haus zu gehen, obgleich die Dämmerung stieg und kalte Herbstluft wehte. Sie schlich sich frierend auf den Weg hinaus; bald schritt sie mutig fürbaß und wollte drüben durch den dunklen Wald zur Großmutter nach dem Eekenhof zurück, bald stand sie ratlos still und wickelte sich ihr Schürzchen um die kalten Arme, bis sie am Ende, da eben überm Herrenhaus der Mond heraufstieg, von kindischer Furcht ergriffen, nach dem Hof zurücklief. Kaum aber war sie durch das Torhaus auf den hellen Platz getreten, so sah sie plötzlich aus dem Schatten einer Scheune die beiden Buben auf sich zustürzen.
»Was wollt ihr!« rief sie erschreckt. »Was hab ich euch getan?«
Aber die Füchse packten sie bei den Armen und zerrten sie gegen den steilen Rand einer Wassergrube, aus welcher bei kalten Nächten das heimkehrende Vieh getränkt zu werden pflegte.
»Laßt mich!« schrie das Kind. »Ich will das dumme Pferd nicht haben; ich will nichts, gar nichts von euch und eurem Vater haben!«
Doch die beiden Füchse fuhren nur stumm und emsig in ihrer gemeinschaftlichen Arbeit fort, und schon blinkte von unten das Wasser in die entsetzten Kinderaugen, da plötzlich ließen sie mit jammerndem Geschrei von ihrer Beute ab. Herr Hennicke, vom Felde heimkehrend, einen derben Stock in seiner Faust, stand über ihnen. Aber auch Frau Benedikte war alsbald zur Stelle und frug, was denn die Kinder abermals verbrochen hätten.
Da schrie der Älteste, durch der Mutter Gegenwart ermutigt: »Der Kuckuck! Wir wollten nur den Kuckuck aus dem Neste schmeißen!«
Frau Benedikte stieß ein Lachen aus. »Die da?« rief sie. »Nicht wahr, Herr Hennicke, das ist kein Kuckuck? Ihr kraus Gefieder stammt von einem anderen Vogel; auch gäbest du gar gern wohl Weib und Kind, wenn du der Dirne Augen noch in einem andern Kopf erschauen könntest!« Sie streckte ihre hageren Finger nach dem Kinde, daß dieses sich erschrocken an ihres finsteren Paten Seite drängte.
Dieser aber hob die Kleine auf seinen Arm und wischte mit ihrem Schürzchen ihr die Tränen aus den Augen. »Wenn du das alles weißt, Frau Benedikte«, sprach er, »dann weißt du auch, weshalb der Vogel hier ins Nest gehört.«
Die Frau wollte ein hastig Wort erwidern; aber sie biß sich nur auf ihre bleichen Lippen, denn die Zornader lag dick auf ihres Mannes Stirn. So gingen die beiden schweigend mit einem Blick des Hasses auseinander: er mit dem schwarzen heimatlosen Vogel, sie mit den beiden roten Buben, die sich an ihre Röcke hingen.
Nach diesem, als die untersetzten Junker in die Länge schossen, ist ein armer candidatus reverendi ministerii als Informator in das Haus gekommen; denn da Herr Hennicke ihm die Nachfolge in den Dienst des greisen Pastors zu Eekenhof in Aussicht stellte, so ist er um ein Billiges zu haben gewesen. Aber noch in späten Jahren, da er selber als emeritus in der müßigen Geschwätzigkeit des Alters hier umher wanderte, hat er des kein Ende finden können, was diese Schüler ihm für Not geschaffen haben. Hatte er sie eben zur Arbeit an ihre Lektionen fortgeschickt, so fand er sie statt dessen draußen auf dem Hofe oder in der nahen Sandgrube heftig an einem unnützen Werke arbeitend; kam er dann auch noch so hurtig mit der Haselgerte, so saßen sie zu seinem unaussprechlichen Erstaunen rittlings auf dem Scheunendach und machten, gleich Eulenspiegel, unehrerbietige Gebärden.
In einem jetzt noch in dem Kirchenarchiv des Eekenhofer Pastorats vorhandenen Exemplare von Henrici Müllers »Liebeskuß« sieht man auf dem Titelbilde neben den pausbäckigen Engeln eine Anzahl kleiner ungefüger Säue mit Rötel hingezeichnet, und dazu in kleinen steilen Zügen die vergilbte Randschrift: »Von den Herrn Junkern Henno und Benno more solito hinzugefüget.«
Aber auch seine Freuden hat der Kandidat gehabt; denn wöchentlich an zweien Nachmittagen ist er auf Herrn Hennickes Anordnung nach dem Eekenhof hinübergewandert, um auch an Heilwig Lektionen zu erteilen. Wenn er hier in seinem abgeschabten Mäntelchen aus dem Eichenschatten dem Hause zugeschritten ist, dann hat er, vergnüglich seine Hände reibend, vor sich hingerufen: »O arboretum recreationis! Lustwäldlein, drin Erquickung weht!« Von der Treppe des Hauses ist ihm dann wohl ein Mädchen mit einem Büchlein in der Hand entgegen gelaufen; sie hat sich rasch die schwarzen Löckchen fortgestrichen, die ihr beim Lesen in die Stirn gefallen waren, dann aber, bevor der Unterricht begann, dem guten Informator die Klettenbüschel und etwa auch den Fuchsschwanz von wildem Sauerampfer abgenommen, was alles seine männlichen Scholaren ihm zum Abschied auf den Weg gegeben hatten.
Der Kandidat sollte noch einen vierten Schüler erhalten.
Von dem Junker Detlev, seit ihn als Kind die Base in die Stadt genommen hatte, war in seiner Heimat weder etwas gesehen noch gehört worden; ja, in Frau Benediktes Hause wußten die beiden Füchse kaum, daß noch ein älterer Bruder da sei. Jetzt aber wurde ihnen solches, und dazu noch, daß dieser nächstens auf dem Hofe eintreffen werde, mit einem Mal verkündet. Denn die freigebige Base in der Stadt war trotz ihrer Munterkeit von einem jähen Tode angesprochen worden, und da sich keine zweite fand, so war es, nach einem diesmal von Frau Benedikte und Herrn Hennicke gleichmäßig gelösten Rechenexempel, das Geratenste, den Buben heimzurufen und gleichfalls in des doch einmal vorhandenen Kandidaten Information zu geben.
– – Und eines Nachmittages im September, da auf Eekenhof die hohen Bäume im warmen Sonnengolde standen, ist von der Heerstraße ein blonder Knabe darauf zugewandert. Man hat ihn auf zwölf Jahre schätzen können; einen Schulranzen hat er auf dem Rücken und einen dicken Stab in seiner Hand gehabt. Als er auf die jetzt immer herabgelassene Zugbrücke getreten ist, hat er fester seinen Stab gefaßt, wie um den großen Hunden zu begegnen, welche derzeit aus den Herrensitzen mit Gebell den Ankommenden entgegen zu stürzen pflegten. Aber es ist dergleichen nichts geschehen; nur ein schwarzhaariges Dirnlein hat mit den Armen über das Brückengeländer gehangen und von einem Stücklein Brotes für die Fische drunten abgebröckelt.
»Wer bist du?« frug der Knabe, als sie jetzt den Kopf zu ihm herumwandte. »Wohnst du hier?«
»Das Haus steht leer«, sagte das Mädchen; »ich und meine Großmutter wohnen allein darin; wir halten auch die Uhr in Ordnung. Hörst du? Da schlägt es eben vier.«
Als die Uhr vom Hause ausgeschlagen hatte, frug der Knabe wieder: »Wer ist denn deine Großmutter?«
– »Mein Großvater war der Förster hier im Walde.«
»So?« sagte der Knabe. »Ich kenne euch nicht; aber ihr dürft hier schon noch wohnen bleiben, denn ich brauche das Haus noch lange nicht!«
Die Kleine hatte sich gerade vor ihm hingestellt. »Du!« rief sie. »Da werden wir dich wenig fragen; das Haus gehört Herrn Hennicke, der drüben hinter dem Walde wohnt.«
Aber der Bube ließ sich das nicht anfechten. »Herr Hennicke ist mein Vater«, sagte er; »aber das Haus ist mein, denn es ist meiner Mutter Haus gewesen.«
Als er so redete, ist von dem Hause her eine ältliche Frau zu ihnen getreten, deren Antlitz von verwundenem Leide zeugte, und auch davon, daß sie fremdem Willen sich zu beugen hatte lernen müssen. Eine Weile ließ sie ihre Augen auf dem Knaben ruhen; dann sprach sie: »Siehst du es denn nicht, Heilwig? Das ist der Junker Detlev! Ich kenne ihn nach seiner Mutter Angesicht; und alle Armen und Bedrückten werden ihn auch daran erkennen.«
Sie hatte dem Knaben ihre Hand gereicht, Heilwig aber sah ihn groß aus ihren blauen Augen an. »O Junker Detlev«, rief sie, »du siehst ganz anders aus als deine Brüder!«
»Ich kenne meine Brüder nicht«, sagte der Junker; »ich kenne euch hier alle nicht! Wenn meine gute Base nur noch lebte, so wäre ich erst gekommen, wenn ich mündig war; der Herzog hat mir auch versprochen, daß ich auf seiner neuen Universität studieren soll!«
»Aber«, sagte die Förstersfrau, »hat denn Herr Hennicke Euch kein Roß zum Reiten in die Stadt geschickt?«
»Ich gehe lieber«, entgegnete er kurz, »als daß ich auf Frau Benediktes Pferden reite!«
– »Und wißt Ihr denn auch, daß Ihr an der jetzigen Wohnung Eures Vaters vorbei gewandert seid?«
Der Knabe nickte. »Das weiß ich wohl; ich will erst meiner Mutter Bildnis sehen, bevor ich nach dem fremden Hause komme!«
»Mit Gott, Junker Detlev!« sprach die Alte, indem sie einen Schlüssel von ihrem Gürtel löste; »Heilwig mag Euch die Sommerstube aufschließen, indessen ich Euch einen Imbiß unter Eurer Mutter Dach besorge!«
Das war der Junker wohl zufrieden; und während dann die Alte in der düsteren Küche zu hantieren anfing, stiegen die Kinder miteinander in das Oberhaus hinauf.
– – Als spät mit Dunkelwerden der Junker Detlev auf Frau Benediktes Hof kam, haben die beiden Füchse schon am Tor auf ihn gelauert und ihn mit Lärmen in das Haus gezogen; er sollte ihnen gegen den dummen Informator beistehen und ihnen den Kuckuck aus dem Neste schmeißen helfen! Frau Benedikte, da er bei seiner Abendschüssel gesessen, hat das feine Tuch seines Wamses mit ihren mageren Fingern ausgeprüft und ihm gesagt, das passe hier nicht auf dem Lande; auch werde sie schon morgen ihm die blonden Locken stutzen. Herr Hennicke aber ist auswärts bei einem Nachbar zum Gelag gewesen.
Gleichwie indes der Junker Detlev sich Frau Benediktes Schere zu erwehren verstand, so wurden auch die Hoffnungen der beiden Füchse nicht erfüllt. Sie wußten freilich nicht, daß Detlev mit dem »Kuckuck« vor seiner Mutter Bild gestanden hatte, und konnten deshalb nicht begreifen, warum er nicht ihre Kameradschaft der des dummen Mädchens vorzog, ja gleich dieser und zu des verhaßten Informators Freude emsig bei den Büchern saß.
Herr Hennicke selber ist seinem ältesten Sohne meistens aus dem Weg gegangen und hat weder in Schimpf noch Ernst zu ihm geredet. Nur wenn der Junker sich bisweilen seines mütterlichen Erbes annahm, sei es, daß er für einen armen Hörigen Fürspruch tat, oder daß er den sichtlichen Verfall des alten Hauses aufzuhalten wünschte, dann hat Herr Hennicke ihn drohend angeschaut und ihn mit hartem Wort zurückgewiesen; doch noch niemals, was die beiden Füchse sich mit Neid erzählten, hatte er eine Hand zum Schlage gegen ihn erhoben.
Auf dem Eekenhofe ist der Junker oft gesehen worden. An Winterabenden saßen er und Heilwig vor dem Ofenfeuer, und die spinnende Förstersfrau erzählte ihnen die Geschichten von den Bildern droben, soweit sie selber davon wußte. Im Sommer, zumal wenn draußen gar zu dumpfe Schwüle lagerte, gingen sie auch wohl nach dem kühlen Saal hinauf. Als einst die Schritte des Knaben gar zu hallend in dem stillen Raume tönten, legte Hedwig die Hand auf seinen Arm: »Du! du mußt leise gehen!«
– »Leise? Warum denn leise?«
»Ja, deine Mutter ist doch tot; und auch die andern, die hier abgebildet sind!«
Da tat er, wie sie sagte; und flüsternd gingen sie von einem Bild zum andern, bis vor dem Bilde von Detlevs Mutter ihr Gespräch verstummte.
An andern Tagen strichen sie miteinander durch den nahen Wald, und wenn der Durst sie überfiel, liefen sie zu einem Kätner, dessen kleines Heimwesen dicht am Waldesrand gelegen war. »Forthmann«, sagte dann wohl der Knabe, wenn er das Krüglein Milch aus dessen Hand an Heilwig reichte, »warte nur, du sollst zu deiner einen Kuh noch einmal zwei dazubekommen!« Und der arme Hörige antwortete: »Ja, ja, Herr Junker, Euer Großvater ist auch ein guter Mann gewesen.«
Mitunter redeten die Kinder gar ernsthaft miteinander; und einmal, da sie in einsamer Waldlichtung im Grase beisammen saßen, sagte Detlev: »Erzähl mir doch einmal von deinem Vater. Heilwig! Ist er denn niemals hier gewesen?«
Heilwig schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie, »Großmutter spricht nicht gern von ihm; ich glaube, Detlev, er ist kein guter Mann gewesen; denn er hat meine Mutter verlassen, bevor ich noch geboren wurde, und sie ist dann darum gestorben.«
Der Knabe wurde nachdenklich; dann aber ergriff er die kleine Hand des Mädchens und flüsterte ihr zu: »Sag es zu keinem Menschen, Heilwig, auch nicht zum Informator; aber ich glaube, mein Vater ist auch kein guter Mann!«
Heilwig rührte sich nicht; und so saßen die Kinder in ihrer Einsamkeit noch lange schweigend Hand in Hand.