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Nur wenige mögen sich noch des Verfassers der Urhygiene entsinnen; insonders seiner so beherzigenswerten Worte: »Was süß und was lieblich ist, das genießet; aber werfet von euch mit hochsinnigem Abscheu das giftige Dampf- und Nieskraut!« Und doch ist wenigstens der erste Teil derselben seit lange Fleisch geworden; Denker, Dichter und Helden, alles ißt jetzt Kuchen, ohne dadurch in den Verdacht der Originalität zu kommen oder sonst von der bürgerlichen Reputation etwas Merkliches einzubüßen. Die meisten Älteren aber werden wissen, daß in unserer Jugend solches für ganz unmännlich galt und lediglich den Frauen zugestanden wurde; und nicht zu leugnen ist es, daß sich unter den Kuchenessern der alten Zeit manche seltsame oder wohl gar unheimliche Figuren befanden.
Zu den ersteren gehörte ein alter Familienonkel, den wir »Onkel Hahnekamm« nannten. Der fein geschnittene Kopf des sauberen alten Herrn wurde nämlich von einem wohl gepflegten Toupet gekrönt, das durch die glatt angekämmten Schläfenhaare nur noch mehr zum Ausdruck kam. Nie und nirgends wieder habe ich ein solches Toupet gesehen; aber es war auch der Stolz und die Wonne des Besitzers. Jeden Abend vor dem Schlafengehen wurde es von ihm selbst – denn der arme Alte hatte an seinem Lebensabend keinen Diener mehr – mit Papilloten eingewickelt und dann die Nachtmütze behutsam darübergezogen; die Frisierstunde selbst pflegte er bei verschlossenen Türen und ohne Zeugen zu begehen. Aber wer vergäße nicht einmal, den Schlüssel umzudrehen? – Und so kam ich denn am Ende dahinter, weshalb, wie unsere Köchin behauptete, »der Pull« im Winter doch am schönsten sei. – Es war an einem Neujahrsmorgen, als ich wie herkömmlich den Großohm für den Abend auf »Karpfen und Fürtgen« einzuladen hatte; aber ich klopfte diesmal wiederholt an seine Tür, ohne das »Herein!« der alten Stimme zu vernehmen. Als ich endlich dennoch zu öffnen wagte, erblickte ich ihn vor seinem großen Ofen in einer Stellung, die mich zuerst auf den Gedanken brachte, der gute Alte wolle durch einen Feuertod seinem Leben ein Ende machen; denn Kopf und Hals steckten völlig in dem heißen Ofenloch. Glücklicherweise, ehe ich einen Rettungsversuch begann, kam mir wie durch Eingebung der innere Zusammenhang der Dinge; ich schlich mich leise fort, um erst nach einer halben Stunde wiederzukehren, wo das Toupet bereits wie ein silbergraues Sträußchen über der Stirn saß; und der gute Alte hat es nie erfahren, daß sein keuschestes Geheimnis von mir belauscht wurde. – Wer weiß! Jenes Toupet war vielleicht das einzige, was er aus den Tagen seines Glanzes in sein einsames Greisenalter hinübergerettet hatte; er hatte es vielleicht in seinem Bräutigamsstande als allerneueste Mode aus Hamburg oder gar aus Paris mit heimgebracht; und es war nun das letzte Zeichen, das ihn, wenn er in voller Toilette vor dem Spiegel stand, noch an die verstorbene Tante erinnerte, die ich in meiner frühesten Kindheit mit gelben falschen Locken und kupferigen Wangen auf dem Sofa hatte sitzen sehen, von der aber die Großmutter sagte, daß sie einst eine große Schönheit gewesen sei.
Am Abend trat er dann in seinem olivenbraunen Überrock mit feingefälteltem Jabot in die Gesellschaft. L'Hombre spielte er nicht mehr, er hatte nichts mehr zu verspielen; er saß nur als ein bescheidener und wenig beachteter Zuschauer bald bei dieser, bald bei jener Spielpartie. Dafür aber fand er denn auch Gelegenheit, in dem letzten halben Stündchen vor dem Abendessen, wo die Hausfrauen in der Küche ihre Saucen zu revidieren pflegen, in das noch einsame Tafelzimmer hinüber zu gehen und ungestört die zu erwartenden Genüsse vorzukosten. Nicht zu leugnen ist es, daß dabei hier ein Törtchen, dort eine Traubenrosine aus den Kristallschalen verschwand. Indes, der Onkel war einer von den harmlosen Kuchenessern; die Törtchen und Rosinen gehörten zu den wenigen Veilchen, die ihm zuletzt noch an seinem Wege blühten, und er befolgte nur die Mahnung des alten Liedes, sie nicht ungepflückt zu lassen. – –
Eine ganz andere Figur war der Herr Ratsverwandte Quanzfelder. – Noch sehe ich ihn, wie er unserm Hause gegenüber aus seiner Tür zu treten pflegte; im mausgrauen Kleidrock, den rot baumwollenen Regenschirm unter dem Arm. Trotz seiner knochigen Gestalt machte er mir immer den Eindruck einer alten Mamsell. Denn seine Bewegungen waren klein und seine Stimme dünn und gläsern gleich der eines Verschnittenen; dabei hingen ihm in dem runzligen zusammengedrückten Gesichte die Augenlider wie Säckchen über den kleinen Augen. Wenn er vor einer Dame den Hut zog, so krächzte er sein »Gud'n Dag, gud'n Dag, Madam!« wie ein heiserer Vogel; und seltsam war es anzusehen, wie er dann mit gespreizten Fingern und taktmäßig hin und her bewegten Armen seinen Weg fortsetzte.
Von dem intimeren Gebaren des Mannes weiß ich aus eigener Erfahrung nichts zu berichten; aber unsere Tante Laura, in deren elterlichem Hause er aus und ein ging, hat mir gründlichen Bescheid gegeben, da ich mich neulich nach diesem weiland »Hausfreunde« bei ihr erkundigte.
»Hm, Vetter!« begann sie – und sah mich dabei mit äußerstem Behagen an, wie immer, wenn wir auf unsere alte Stadt zu reden kommen. – »Er kam allerdings mitunter zu uns; aber unser Hausfreund ist er nicht gewesen. – Mein Vater hatte, wie Sie wissen, einen Kram mit Galanterie- und Eisenwaren, aus dem auch Herr Quanzfelder seinen kleinen Bedarf, und zwar auf Rechnung, zu entnehmen beliebte; sobald aber sein Konto nur zu ein paar Mark aufgelaufen war,« – und Tante Laura nahm die verbindlichste Miene an und fiel für einen Augenblick in ihr geliebtes Platt – »so wurr en Grötniß bestellt, Herr Ratsverwandter keem van Namiddag Klock dree, um de Räken to betalen.« – Nebenan bei meinem Onkel, aus dessen Laden er seine Ellenwaren kaufte, bedeutete das eine Anmeldung zum Kaffee, bei uns auf Tee und Pfeffernüsse.
Der Mann übte einen seltsamen Bann auf mich aus, so daß ich ihn immerfort betrachten mußte, und doch bekam ich allzeit einen Schreck, wenn ich seine Krähstimme von draußen vor dem Laden hörte, besonders aber, wenn er nun in der Stube mit altjüngferlicher Zierlichkeit seine knochigen Hände ausstreckte, um sich die wildledernen Handschuhe abzuziehen, und darauf Hut und Schirm so seltsam hastig in die Ecke stellte.
Es war mir damals ganz unzweifelhaft, daß es der Geruch der Pfeffernüsse sei, wodurch er in diese Unruhe versetzt wurde. Kaum daß noch die rote Perücke mit beiden Händen plattgedrückt war, so saß er in seinem mausgrauen Rock auch schon unter dem Fenster am Teetische. – Ich höre ihn noch sein »Danke, danke, Madam!« krähen, wenn meine Mutter ihm das Backwerk präsentierte. Er nahm dann mit der einen Hand eine Pfeffernuß, zugleich aber mit der andern auch den ganzen Teller und schob ihn neben sich unter das Blumenbrett auf die Fensterbank.
Gesprochen wurde nicht viel; man hörte meistens nur das Klirren der Teelöffel und das Scharren des Kuchentellers, der unter dem Blumenbrett aus und ein geschoben wurde und unter der pflichtschuldigen Nötigung meiner Mutter sich allmählich leerte. Zuweilen geschah das Abbeißen auch nur scheinbar, und die Pfeffernuß verschwand in dem weiten Rockärmel, worauf dann plötzlich der Herr Ratsverwandte das Bedürfnis empfand, sich die Nase zu schneuzen. Das buntseidene Taschentuch wurde hinten aus der Rocktasche gezogen, und das Backwerk glitt bei dieser Gelegenheit hinein. Wir Kinder sahen dem allen aufmerksam zu; sehnsüchtig nach der süßen Speise, von der heute für uns nichts abfiel. – Schließlich, nach der dritten oder vierten Tasse, stand Herr Ratsverwandter auf: »Dörf ick nu bidden um en bät Papier darum!« Und mein Vater, der inmittelst rauchend im Zimmer auf und ab gegangen war, machte ihm eine Tüte; Herr Quanzfelder schüttete den Rest der Pfeffernüsse hinein und steckte sie zu ihren Brüdern in die Schoßtasche; dann nahm er Hut und Schirm, krächzte noch ein paarmal »Adje, adje, Madam!« und empfahl sich.
Auch zu Fasten« – fuhr Tante Laura nach einer kleinen Pause in ihren Mitteilungen fort – »machte er regelmäßig seine Visite; und wenn meine Mutter, wie nicht anders schicklich, dann die Anfrage tat, ob Herr Ratsverwandter Appetit auf einen Heißewecken habe – und Sie wissen, Vetter, wie butterig die am Fastnachtmontag sind! – so erbat er sich außerdem noch immer Butter und holländischen Käs' darauf, der alte Bösewicht!
Seine größte Schandtat aber verübte er am Geburtstage meines jüngsten Bruders. – Der gute Junge hatte von seiner Tante ein Stück Kirschkuchen bekommen und saß seelenvergnügt damit auf seinem Kindersofa. Da – Gott verzeihe mir, Vetter; ich glaube, er hatte es im Geruch! – da tritt Quanzfelder herein: »Na, min lütje Jung, schall ick dat Stück Koken hemm?« –
Ob mein Bruder das für Scherz hielt, ich weiß es nicht; genug, er gab richtig seinen Kirschkuchen hin; Herr Ratsverwandter aber ging ungesäumt zu meinem Vater: »Dat lütje Jung hätt mi dat Stück Koken gäben; will'n Se mi dat en bäten inwickeln?« – Und mein Vater verlor so die Fassung, daß er ihm auch noch einen Bogen schönes weißes Papier darum gab. »Danke, danke, min Leeve.« Und fort ging Herr Ratsverwandter mitsamt dem Kirschkuchen; und ich sehe noch meinen Bruder mit seinem langen Gesicht auf dem Kindersofa sitzen.«
Tante Laura schwieg; sie hatte ihre Erinnerungen ausgeschüttet.
Ich selbst entsinne mich des Herrn Ratsverwandten besonders aus der Kirche, wo er seinen Stuhl neben dem unsrigen hatte, und wo er an keinem Sonntage fehlte. Eine breite Hornbrille auf der Nase, das aufgeschlagene Gesangbuch in der Hand, ließ er bei jedem Verse noch vor dem Kantor den Einsatz seiner scharfen Stimme hören. Kaum aber war nach Schluß des Gesanges der Propst auf die Kanzel getreten, so verfiel der Herr Ratsverwandte in seinen eigenen Zeitvertreib; legte zuerst den linken Arm auf den rechten, dann den rechten auf den linken, paßte sorgsam die Nähte der Ärmelaufschläge an einander und maß und verglich in immer neuen Lagen ihre beiderseitige Länge, begann dann ebenso mit den gelbledernen Stülpen seiner Stiefel und fuhr in diesen stillen Unterhaltungen, denen ich zum unersetzlichen Schaden meiner Andacht stets wie unter dem Blick der Klapperschlange zusehen mußte, wechselsweise fort, bis er jedesmal noch vor dem Vaterunser fest entschlafen war. – Sowie aber die Orgel wieder einsetzte, fuhr er mit einem Schnarcher in die Höhe, und indem seine Hand mechanisch nach dem Gesangbuch griff, intonierte er unfehlbar das »O Lamm Gottes!« oder was sonst an der Nummertafel stehen mochte; und sein tremulierendes Falsett schwebte wieder wie eine flatternde Krähe über dem Gesang der Gemeinde. Wenn schon überall die Türen der Kirchenstühle klappten, und unter dem Herausdrängen der Menge, hörte man noch immer den Diskant des Herrn Ratsverwandten. Erst wenn die Orgel schwieg, klappte auch er sein Gesangbuch zu, stäubte sich mit seiner ausgespreizten Hand die Andacht aus den Rockaufschlägen und schritt dann eilig über den Markt in das Weinhaus zur großen Traube. – Hier bemächtigte er sich der neuesten Zeitung. Er las indessen nicht, er tat nur desgleichen; in Wahrheit nahm er sie nur für seinen Freund, den Aktuarius, in Beschlag; und wenn außer den andern Sonntagsgästen auch dieser in die Gaststube getreten war, so verschwand er bald darauf und machte sich ein Scheingeschäft auf dem Hofe, wo immer eine Anzahl fetter Küken umherspazierte. – Und eine dunkle Sage ging, der Herr Ratsverwandte habe bei solcher Gelegenheit stets einigen der fettesten den Hals umgedreht und sie hinten in die unergründlichen Taschen seines grauen Rocks gleiten lassen, wobei die jungen Hähne mit doppelten Kämmen besonders in Gefahr gewesen sein sollen.
Ich glaube zwar nicht an diese Mordgeschichte; dennoch hat sie in meinem Kopfe sich immer seltsam mit der Erzählung von einer schönen blassen Frau verflochten, welche er lange vor meiner Geburt besessen haben sollte. In Bremen oder Lübeck – so hieß es – sei sie ihm wider ihren Willen bei Abschluß eines Handels angeheiratet worden, dann aber jung und kinderlos verstorben. Nach der Meinung einiger hatte sie nur vor Angst und Widerwillen nicht länger leben können, während andere von noch unheimlicheren Dingen munkelten. So viel ist gewiß, daß ich in meinen Knabenjahren die knochigen Hände des Herrn Ratsverwandten stets mit einer heimlichen Scheu betrachtet habe.
O seliger Theodor Amadeus Hoffmann, dessen Laterna magica, ich an stillen Herbstabenden so gern noch vor mir aufstelle, weshalb schlägt nicht mehr die Stunde deiner Serapionsabende, auf daß ich dir diesen Kuchenesser der alten Zeit überliefern könnte! In welch wunderbaren, geheimnisvoll glühenden Farben würdest du durch deine Zaubergläser sein Bild an der grauen Wand erscheinen lassen.