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Das Zimmer im Hotel war durch die gepackten Koffer nicht behaglicher geworden. Mein Vetter, ein junger Architekt, der es seit zwei Tagen bewohnt hatte, ging schweigend und seine Zigarre rauchend auf und ab, wie jemand, der ungeduldig ist, eine leere Zeit hinzubringen. – Es war eine milde Septembernacht, die Sterne schienen durch das offene Fenster; drunten auf der Gasse war der Lärm und das Wagengerassel der großen Stadt schon verstummt, so daß man drüben vom Hafen her das Plustern der Nachtluft in den Wimpeln und Tauen der Schiffe vernehmen konnte.
»Wann mußt du fort, Alfred?« fragte ich.
»Um drei Uhr geht das Boot ab, das mich an Bord bringen soll.«
»Willst du nicht noch ein paar Stunden ruhen?«
Er schüttelte den Kopf.
»So laß mich bei dir bleiben. Meinen Schlaf hole ich morgen im Wagen auf der Heimfahrt nach. Und wenn du willst, erzähle mir – von ihr! Ich kenne sie ja nicht; und laß mich wissen, wie alles so gekommen ist.«
Alfred schloß das Fenster und schraubte die Lampe höher, so daß es völlig hell im Zimmer wurde. »Setz dich und habe Geduld,« sagte er, »so sollst du alles wissen.«
»Schon als zwölfjähriger Knabe«, begann er dann, als wir uns jetzt gegenüber saßen, »habe ich mit ihr in meinem elterlichen Hause zusammen gelebt, sie mochte einige Jahre weniger zählen als ich. Ihr Vater lebte derzeit noch auf einer der kleinen Inseln Westindiens, wo er durch Glück und Geschick in verhältnismäßig kurzer Zeit aus einem mittellosen Kaufmann zu einem reichen Plantagenbesitzer geworden war. Seine Tochter hatte er schon vor einigen Jahren nach Deutschland geschickt, um sie in der Sitte seiner Heimat erziehen zu lassen; aber die Anstalt, in der sie sich bisher befunden, war durch den Tod der Vorsteherin aufgelöst, und bis eine neue gefunden wurde, sollte sie unter Obhut meiner Eltern bleiben. Lange schon, ehe ich sie selber sah, war meine Phantasie von ihr beschäftigt worden, besonders aber als meine Mutter nun wirklich ein Kämmerchen neben dem Schlafzimmer der Eltern für sie in Bereitschaft setzte. Denn es war ein Geheimnis um das Mädchen. Nicht nur, daß sie aus einem andern Weltteil kam und daß sie die Tochter eines Pflanzers war, die ich aus meinen Bilderbüchern nur als fabelhaft reiche und höchst grausame Herren hatte kennen lernen – ich wußte auch, daß ihre Mutter nicht die Frau ihres Vaters sei. Näheres von dieser hatte ich nicht erfahren können; und ich dachte sie mir daher am liebsten als eine schöne ebenholzschwarze Negerin mit Perlenschnüren in den Haaren und blanken Metallringen um die Arme.
Endlich, an einem Februarabend, hielt der Wagen vor unserer Haustreppe. Ein kleiner alter Herr mit weißen Haaren stieg zuerst herab; es war der Kommis eines ihrem Vater befreundeten Handlungshauses, der sie ihren neuen Beschützern überliefern sollte. Bald darauf hob er ein kleines, in viele Tücher und Mäntel gehülltes Mädchen vom Wagen, das er dann mit einer gewissen Feierlichkeit in unsere Wohnung führte und mit einer kleinen wohlgesetzten Rede der Fürsorge des Herrn Senators und Frau Gemahlin empfahl. – Aber wie verwunderte ich mich, als sie den Schleier zurückschlug; sie war nicht schwarz, nicht einmal braun; sie schien mir weißer als irgend ein anderes Mädchen aus meiner Bekanntschaft. Ich sehe sie noch, wie sie mit den großen Augen um sich blickte, während sie sich von meiner Mutter das pelzverbrämte Reisemäntelchen von den Schultern ziehen ließ. Als auch Hut und Handschuhe abgenommen waren, und das ganze zierliche Figürchen nun endlich aus allem Reiseplunder herausgeschält dastand, streckte sie meiner Mutter die Hand entgegen und sagte etwas zaghaft: »Bist du denn meine Tante?« Als diese ihr aber die kohlschwarzen Löckchen von der Stirn strich, sie in die Arme schloß und küßte, da sah ich mit Erstaunen, wie leidenschaftlich das Kind diese Liebkosungen erwiderte. Bald zog meine Mutter auch mich zu sich heran. »Und das ist mein Junge!« sagte sie. »Sieh ihn dir an, Jenni; er hat ein gut Gesicht; nur zu wild ist er; und da paßt es sich, daß er jetzt ein Mädchen zur Gespielin bekommt.«
Jenni sah sich um und gab mir die Hand; aber dabei schoß ein Blick von solcher Schelmerei zu mir herüber, als wollte sie sagen: »Wir verstehen uns; guten Tag, Kamerad!«
Und so zeigte es sich schon in den nächsten Tagen; diesem leichten, feingliederigen Kinde war kein Baum zu hoch, kein Sprung zu verwegen. Sie war fast immer mit bei unsern Knabenspielen, und ohne daß wir es wußten, regierte sie uns alle; durch ihre Kühnheit wohl weniger als durch ihre Schönheit. Mitunter konnte sie uns zu einem wahrhaft wilden Taumel hinreißen, so daß mein Vater von dem Lärm aus seiner Schreibstube aufgeschreckt wurde und dann durch ein unerbittliches Machtwort aller Lust ein Ende machte. Mit diesem, während der Verkehr mit meiner Mutter immer inniger wurde, kam sie nie in ein zutrauliches Verhältnis; er verstand es nicht, mit Kindern umzugehen; dieses eigenartige Wesen schien er mit bedenklichen Blicken zu betrachten. Ebenso wenig gelang es ihr mit Tante Josephine, dieser ehrenwerten, aber etwas strengen alten Jungfrau, die sich auf eine recht fatale Weise um das Fertigwerden unserer Schulaufgaben bekümmerte. Und hier, wo Jenni nicht von allzu großem Respekt in Bann gehalten wurde, gab es bald einen kleinen fortgesetzten Guerillakrieg; und die würdige Tante konnte mitunter keine zehn Schritte gehen, ohne zu ihrem Schreck auf irgend einen lustigen Schabernack zu treten.
Aber es waren nicht bloß Tollheiten, die sie trieb; wir beide konnten auch zusammen plaudern. Sie wußte allerlei Märchen und Geschichten, die sie mit glänzenden Augen und lebhaftem Fingerspiel erzählte; meist wohl aus der Pension, die eine oder andere, wie ich jetzt glaube, auch noch aus ihrer alten Heimat. Und so konnte man uns denn oft abends in der Dämmerung auf der Bodentreppe oder in dem großen Reiseschrank zusammensitzen finden; je heimlicher wir unsern Märchensaal aufgeschlagen hatten, desto lebendiger traten alle die wunderlichen und süßen Gestalten, die verzauberten Ungeheuer, Schneewittchen und die Frau Holle vor unsere Phantasie. Unsere Vorliebe für verborgene Erzählungsplätzchen trieb uns zur Entdeckung immer neuer Schlupfwinkel; ja, ich entsinne mich, daß wir zuletzt eine große leere Tonne dazu ausersehen hatten, die in dem Packhause unweit von meines Vaters Stube stand. In diesem Allerheiligsten kauerten wir abends, wenn ich aus den Privatstunden gekommen war, so gut es ging, zusammen; meine kleine Laterne, die zuvor mit einigen Lichtendchen versehen war, nahmen wir auf den Schoß und schoben dann ein großes auf der Tonne liegendes Brett von innen wieder über die Öffnung, so daß wir wie in einem verschlossenen Stübchen beisammen saßen. Wenn nun die Leute, die abends zu meinem Vater gingen, das Gemurmel aus der Tonne aufsteigen hörten, auch wohl einige Lichtstrahlen daraus hervorschimmern sahen, so konnte unser alter Schreiber, der sein Zimmer gegenüber hatte, kaum den immer neuen Fragen nach dieser verwunderlichen Erscheinung gerecht werden. Waren dann unsere Lichtendchen ausgebrannt oder hörten wir von der Hoftür aus die Magd nach uns rufen, so kletterten wir heimlich wie die Marder aus unserer Tonne, um noch, bevor mein Vater sein Zimmer verließ, in unsere Schlafkammern zu schlüpfen.
Nur von ihren Eltern, besonders über ihre Mutter, sprachen wir niemals mit einander, außer einmal an einem Sonntagmorgen. – Ich spielte mit meinen Kameraden »Räuber und Soldat«. Seitwärts von unserm Hofe und hinter dem Garten lag, noch vom Großvater her, eine ganze Reihe jetzt leer stehender Fabrikgebäude, voll dunkler Keller und Kämmerchen und über einander getürmter Dachböden. Die übrigen Räuber waren schon alle in diesen Labyrinthen verschlüpft; nur ich, der ich selbstverständlich auch zu ihnen gehörte, stand noch unschlüssig im Garten. Ich dachte an Jenni, die sonst stets dabei war und im Klettern über Dächer und im Herabspringen durch Falltüren hinter dem wildesten Räuber nicht zurückstand. Heute aber hatte Tante Josephine sie an einen Schulaufsatz gepreßt; ich wußte, sie saß dort in der Hinterstube, deren Fenster auf den Garten ging. Und während ich vom Hofe her unter der Fahrpforte den Anführer der Soldaten seine Truppen harangieren hörte, schlich ich mich vorsichtig längs der Gartenmauer an das Haus heran und blickte, von einem Jasminbusch verborgen, in das Zimmer.
Jenni saß mit aufgestütztem Arm am Tisch vor ihrem Schreibbuch; aber ihre Gedanken schienen nicht bei der Arbeit zu sein; denn, während ihre eine Hand in dem schwarzen krausen Haar begraben lag, zerstampfte sie mit der andern die arme Gänsefeder auf der Tischplatte. – Dicht neben ihrem Schreibzeug lag die wohlbekannte silberne Nadelbüchse der Tante Josephine und nicht weit davon ein mir gehöriger ziemlich starker Magnetstein. Plötzlich, während sie wie in Langerweile darüberhin blickte, schoß ein übermütiger Strahl aus ihren dunkeln Augen; die nützliche Verwendung dieser beiden Dinge schien sich in ihrem Köpfchen zu kombinieren. Aus dem trägen Selbstvergessen wurde jetzt die beflissenste Geschäftigkeit. Sie schüttete den ganzen Inhalt von Tante Josephinens Heiligtum auf den Tisch; dann nahm sie den Magnet und begann emsig jede einzelne Nadel damit zu bestreichen. Wie ein kleiner schöner Teufel saß sie da mit ihren schwarzen Augen; sie schien im voraus schon die staunende Entrüstung der alten Jungfrau zu genießen, wenn diese demnächst ihre echt englischen Nähnadeln als ein rätselhaft vereinigtes Bündelchen aus der Büchse ziehen würde. Und während sie immer eifriger an ihrem schadenfrohen Werke arbeitete, zuckte unablässig ein kaum verhaltenes Lachen über ihr Gesichtchen, so daß die weißen Zähnchen hinter den roten Lippen hervorblitzten.
Ich klopfte leise ans Fenster; denn auf dem Hofe erscholl das Signalhorn der ausrückenden Soldaten. Sie fuhr zusammen; als sie aber ihren Kameraden erkannte, nickte sie mir zu und tat rasch ihren ganzen Unfug in Tante Josephinens Nadelbüchse. Dann strich sie das schwarze Haar hinter die Ohren und kam auf den Fußspitzen zu mir heran. »Jenni,« flüsterte ich, »wir spielen Räuber!«
Sie stieß behutsam den Fensterflügel auf. »Wer ist Räuber, Alfred?«
»Du und ich; die andern sind schon im Versteck.«
»Wart einen Augenblick!« Und sie schlich leise zurück und schob den Riegel vor die Tür, die das Zimmer von der Wohnstube trennte. »Adieu, Tante Josephine!« – Rasch war sie wieder da, und mit einem leichten Sprung stand sie draußen.
Es war ein prächtiger Frühlingstag; Garten und Hof voll von Sonnenschein. Die alten Birnbäume, die ihre Äste hoch an den Dächern der Gebäude ausbreiteten, waren mit weißen Blüten übersäet, zwischen denen sich überall die jungen lichtgrünen Blätter hervordrängten; aber hier unten im Boskett war das Laub nur noch spärlich am Gesträuch hervorgesproßt. Jennis weißes Kleid konnte uns verraten. Ich faßte ihre Hand und zog sie durch die Büsche, hart an der Gartenmauer entlang, und während wir das Trappen der Soldaten in einem Gange des vordersten Fabrikgebäudes verhallen hörten, schlüpften wir durch eine vom Garten aus hineinführende Tür in den entlegensten Anbau, auf dessen oberstem Boden ich auch meinen Taubenschlag eingerichtet hatte. Als wir auf der dämmerigen Treppe standen, atmeten wir einen Augenblick auf; wir waren glücklich entronnen. Aber wir stiegen höher, auf den ersten und dann auf den zweiten Dachboden; Jenni voran, ich vermochte kaum zu folgen; aber es entzückte mich – das weiß ich noch sehr wohl – wie die geschmeidigen Füßchen mit sichern, fast lautlosen Tritten vor mir die Stufen hinaufflogen. Als wir den letzten Boden erreicht hatten, ließen wir behutsam die Falltür herab und wälzten einen großen länglichen Holzblock darauf, der, Gott weiß bei welcher Gelegenheit, auf dem abgelegenen Boden liegen geblieben war. Einen Augenblick hörten wir auf das Flattern der Tauben, die nebenan in dem Schlage aus und ein flogen; dann setzten wir uns zusammen auf unsern Block, und Jenni stützte das Köpfchen schweigend in ihre Hand, daß die krausen Haare ihr über das Gesicht herabhingen.
»Du bist wohl müde, Jenni?« fragte ich.
Sie nahm meine Hand und legte sie an ihre Brust. »Fühl nur, wie es klopft!« sagte sie.
Als ich dabei unwillkürlich auf die schlanken weißen Fingerchen blickte, welche die meinen gefangen hielten, erschien mir daran, ich wußte nicht was, anders, als ich es sonst gesehen hatte. Und plötzlich, während ich darüber nachsann, sah ich es auch. Die kleinen Halbmonde an den Wurzeln der Nägel waren nicht wie bei uns andern heller, sondern bläulich und dunkler als der übrige Teil derselben. Ich hatte damals noch nicht gelesen, daß dies als Kennzeichen jener oft so schönen Parias der amerikanischen Staaten gilt, in deren Adern auch nur ein Tropfen schwarzen Sklavenblutes läuft; aber es befremdete mich, und ich konnte die Augen nicht davon wenden.
Es mochte ihr endlich auffallen; denn sie fragte mich: »Was guckst du denn so auf meine Hände?«
Ich entsinne mich, daß ich verlegen wurde über diese Frage. »Sieh nur!« sagte ich, indem ich ihre Finger neben einander legte, daß die übrigens ganz rosenroten Nägel wie eine Perlenschnur beisammen standen.
Sie wußte nicht, was ich meinte.
»Was hast du denn da für kleine dunkle Monde?« fuhr ich fort.
Sie betrachtete aufmerksam ihre Hand und verglich sie mit der meinen, die ich dagegen hielt. »Ich weiß nicht,« sagte sie dann; »auf St. Croix haben sie das alle. Meine Mutter, glaub ich, hatte noch viel dunklere.« –
Ganz aus der Ferne, aus der Tiefe irgend eines verborgenen Kellers heraus, hörten wir das Getöse der Räuber und Soldaten, die indessen handgemein geworden sein mochten, aber es war noch weit von unserem Zufluchtsort. Meine Gedanken gerieten wieder auf einen andern Weg. »Weshalb bist du nicht bei deiner Mutter geblieben?« fragte ich.
Sie hatte wieder den Kopf gestützt. »Ich glaube, ich sollte was lernen,« sagte sie gleichgültig.
»Konntest du dort nichts lernen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Papa sagt, sie sprechen dort so schlecht.«
Es war ganz still auf unserm Dachboden und fast dämmerig, denn die kleinen Fenster waren mit Spinngeweben überzogen; nur vor uns durch eine ausgehobene Dachpfanne kam ein wenig Sonnenschein, so viel sich vor einem blühenden Zweig des großen Birnbaums hereinstehlen konnte. Jenni saß schweigend neben mir; ich betrachtete ihr Gesichtchen; es war sehr blaß, nur unter den Augen lagen seltsam tiefe Schatten.
Auf einmal bewegte sie die Lippen und lachte ganz laut vor sich hin. Ich lachte mit; dann aber fragte ich: »Worüber lachst du denn?«
»Sie konnte Papa nicht leiden!« sagte sie.
»Wer denn?«
»Mamas Meerkatze!«
»War dein Papa nicht gut gegen sie?«
»Doch! – Ich weiß nicht. – Sie stahl ihm immer seine Brillantnadel aus dem Jabot, wenn er zu uns kam!«
»Wohnte dein Papa denn nicht bei euch?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er kam nur oft des Abends zu uns; er wohnte in einem großen Hause in der Stadt. Mama hat es mir gesagt, ich bin nicht drin gewesen.«
»So! – Wo wohntet ihr denn, du und deine Mutter?«
»Wir wohnten auch sehr schön! Draußen vor der Stadt. Das Haus lag im Garten, hoch über der großen Bai; eine Galerie mit Säulen war davor; da saß ich immer mit Mama, wir konnten alle Schiffe kommen sehen.« – Sie schwieg einen Augenblick: »Oh, sie ist sehr schön, meine Mama!« sagte sie stolz. Dann ließ sie die Stimme sinken und setzte fast traurig hinzu: »Sie hatte so allerliebste schwarze Löckchen vor der Stirn!« Und als sie das gesagt hatte, brach sie in bitterliche Tränen aus.
Nach einer Weile hörten wir unter uns das Getümmel und die Blechhörner der Soldaten; sie schienen an der Treppe des ersten Bodens Halt zu machen und sich zu beraten. Ich sprang auf und blickte umher. Das hatten wir nicht bedacht, es war nirgend ein Ausgang. »Wir müssen uns verteidigen,« sagte ich leise; »denn wir sind gefangen.«
Jenni hatte rasch ihre Augen getrocknet. »Noch nicht, Alfred!« Und sie zeigte auf die Dachöffnung uns gegenüber. »Dort mußt du hinaus, und dann über den Birnbaum in den Garten hinab.«
»Das geht nicht; ich darf dich nicht verlassen.«
»Oh!« rief sie, »mich sollen sie nicht fangen.« Dabei blickte sie nach dem dunkelsten Winkel des Daches hinauf. »Geschwind, hilf mir! Ich setze mich dort oben auf den Hahnebalken; dann seh ich's, wie sie unter mir umherrasen!«
Der Rat war gut; und nach ein paar Augenblicken war sie mit meiner Hilfe an den Sparren und Latten emporgeklettert und saß im Dunkeln auf dem kleinen Querbalken unter der höchsten Spitze des Daches. »Siehst du mich?« rief sie, als ich wieder unten stand.
»Ja, ich sehe deine weiße Hand.«
»Noch immer?«
»Nein, ich sehe nun nichts mehr.«
»Dann mach, daß du fortkommst!« –
Aber die Öffnung war zu eng. Ich riß noch eine Pfanne aus und zwängte mich hindurch; denn schon drängten die Verfolger mit lautem Geschrei unter der Falltür unseres Bodens, und ich hörte schon den schweren Holzblock sich bewegen.
Wie es geschah, weiß ich nicht mehr; aber kaum war ich draußen, so fühlte ich die Dachpfannen unter mir fortgleiten; ich kam ins Rutschen, die Zweige des Baumes schlugen mir ins Gesicht, es prasselte rings um mich herum; auf gut Glück, während es immer unhaltbarer abwärts ging, erwischte ich einen Ast, fuhr wie rasend daran hinunter, während ein paar Dachpfannen an mir vorbei in den Garten hinabflogen, und kam endlich mit einem so derben Stoß zu Boden, daß ich fast wie betäubt liegen blieb.
Als ich hinaufblickte, sah ich über mir in der Höhe zwischen den blühenden Zweigen die großen erschreckten Augen und die hängenden schwarzen Locken des schönen Kindes, das sich mit halbem Leibe aus dem zertrümmerten Dache zu mir herabbog. Um ihr ein Zeichen meines Lebens, vielleicht noch mehr meiner Bravour, zu geben, stieß ich, nicht ohne Anstrengung, ein lautes Lachen aus; als ich dann aber den Kopf wandte, sah ich in das strenge Gesicht meines Vaters, der mich mit mehr Verdruß als Sorge zu betrachten schien; auch Tante Josephine zeigte sich in der Ferne, den unvermeidlichen Strickstrumpf in den vor Schreck erstarrten Händen. Ich begreife noch nicht, wie Jenni so schnell zu uns herabgekommen. Sie hatte sich über mich geworfen und begann emsig mir die Haare aus Gesicht und Schläfen wegzustreichen; in demselben Augenblick aber, als jetzt mein Vater mit einer heftigen Gebärde die Hand ausstreckte, um mir vielleicht etwas unsanft vom Boden aufzuhelfen, sprang sie wie emporgeschnellt wieder auf. »Du,« schrie sie, und die ganze kleine Gestalt streckte sich, »rühr ihn nicht an!« Sie hielt ihm das geballte Fäustchen vors Gesicht; im Grund ihrer Augen funkelte etwas, das herausschießen wollte.
Mein Vater, einen Schritt zurücktretend, kniff nach seiner Art die Lippen zusammen und legte die Hände auf den Rücken; dann wandte er sich ab und ging, bei sich selber murmelnd, in sein Kontor zurück. Mir war, als habe er gesagt: »Das muß ein Ende haben.« Als meine Mutter jetzt in den Garten trat, flog Jenni auf sie zu, und ich sah, wie die milde Frau das zuckende Körperchen des heftig bewegten Kindes unter leisem, mir unhörbarem Zuspruch mit beiden Armen an sich drückte.
Seit diesem Tage war – so glaube ich – in uns beiden ein unbewußtes Gefühl der Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Verantwortlichkeit entstanden; es war ein Keim gelegt, der viele Jahre geschlummert hat, aus dem aber dann im Strahl der Mondnacht die blaue Märchenblume emporgeschossen ist, deren Duft mich jetzt berauscht.
Wie soll ich dir diese kleinen ungreifbaren Dinge schildern! Gleich in den ersten Tagen darauf, wenn unter dem Mittagsessen mein Vater mir nach der Magd zu klingeln befahl, so hatte gewiß schon Jenni jedesmal die Schnur gezogen, noch ehe er das Wort ganz ausgesprochen; nur damit mein humpelnder Gang die verhängnisvolle Geschichte nicht in Erinnerung bringe.
Aber die schönen Tage waren vorüber; die Schreckensnachricht kam, daß eine neue Pension für Jenni gefunden sei, und bald war auch der Tag des Abschieds da. – Ich weiß noch wohl, wie ich, in unserm großen Birnbaum sitzend, in einem unklaren Zustand von Trauer und Ingrimm, eine unreife Birne nach der andern abriß und damit nach dem unschuldigen Bodenfenster unseres Nachbarn zielte, bis ich durch ein Geräusch unter mir aufmerksam gemacht wurde und beim Hinabblicken Jenni im Nankingreisemäntelchen einen Zweig um den andern bis zu mir hinauf erklimmen sah. Als sie oben war, schlang sie den Arm um einen Ast; dann zog sie einen kleinen Ring aus der Tasche und steckte ihn an meine Hand. Sie sprach kein Wort, sondern sah mich dabei nur höchst traurig mit ihren großen Augen an. Ich hatte mir das mit der Unbeholfenheit eines aufwachsenden Jungen gefallen lassen, und während ich halb verlegen auf meinen so geschmückten Finger blickte, war Jenni ebenso still wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Jetzt erst fuhr ich so rasch von meinem Baume herunter, daß ich fast wieder hinabgestürzt wäre. Da ich aber durch das Haus auf die Gasse hinauskam, fuhr eben der Wagen fort, und ich sah nur noch ein weißes Tüchelchen, das nach uns zurückwehte.
Da stand ich denn plötzlich von Kummer und Sehnsucht überwältigt und betrachtete mein kleines Angedenken. Es war ein Ring von Schildpatt mit goldner Einfassung. – Ich wußte nicht, daß Jenni mir das Liebste gegeben hatte, was sie zu jener Zeit besaß.«
Alfred hatte während des Erzählens seine Zigarre weggelegt. »Du rauchst nicht!« sagte er; »aber ich kann dich nicht so müßig sitzen sehen, du mußt einen Ableiter für die Langeweile haben.« Er hatte mit diesen Worten einen kleinen Flaschenkeller aufgeschlossen, der neben seinem Reisekoffer stand; und bald hielt ich ein geschliffenes Glas mit duftendem Trank in meiner Hand. »Wein von Alicante!« sagte Alfred; »und hier sind auch Feigen in wilden Thymian verpackt! Ich weiß, du liebst mit dem Erfinder der Urhygiene, was süß und lieblich ist. Es sind Geschenke von Jennis Vater; er hat sie mir selber eingepackt, als ich ihn vor einigen Tagen verließ.«
»Du hast deines älteren Bruders nicht erwähnt,« bemerkte ich, als Alfred sich wieder zu mir gesetzt hatte.
»Mein Bruder Hans«, erwiderte Alfred, »war damals weit vom Hause auf einer landwirtschaftlichen Schule; aber er hat Jenni später kennen gelernt; denn seine Frau war mit ihr in einer Pension zusammen, wo Jenni auch noch nach Beendigung der eigentlichen Schuljahre blieb. – Ich selbst habe sie erst nach zehn Jahren wiedergesehen.
Es war im letzten Juni. Ich hatte, wie du weißt, der reichen Gräfin die kleine Basilika in ihrem Dorfe gebaut und wurde zu guter Letzt noch von dem dort auftretenden Typhus ergriffen. Ich wurde gut gepflegt; aber ich war weit von der Heimat und der Mann mit den langen Knochenarmen hatte scharf nach mir ausgelangt. – Meine Mutter war damals, während mein Vater unter Tante Josephinens Fürsorge zurückblieb, zum Besuch auf dem Gute meines Bruders; dort war sie selbst erkrankt und hatte zu ihrem Schmerz die Pflege ihres Sohnes fremden Händen überlassen müssen. Jetzt aber waren wir beide wieder fast genesen, und schon in den nächsten Tagen wollte ich die Heimreise antreten. Das Gut meines Bruders kannte ich noch nicht. Er hatte es kurz vor seiner Hochzeit aus dem Nachlaß eines Mannes gekauft, von dessen Vorfahr, einem reichen französischen Emigranten, das Herrenhaus gebaut und namentlich der dasselbe umgebende Park in großartiger Weise nach der Gartenkunst Lenotres angelegt sein sollte. Wie meine Mutter schrieb, war ein großer Teil desselben, der sogenannte Lusthain, noch wohl erhalten; sogar von jenen graziösen Statuen, zu denen die schönen Damen vom Hofe Ludwigs des Fünfzehnten das Modell gegeben, sollte noch hie und da an Teichen und stillen Plätzen eine zwischen den hohen Laubwänden wie in verzauberter Einsamkeit stehen.
Kurz vor meiner Abreise kam noch ein Brief von meiner heitern Schwägerin: »Wenn Du bald kommst,« schrieb sie, »so können wir Kindergeschichten zusammen lesen. Ich habe lebendige Bilder dazu; auf dem einen ist eine Räuberbraut; sie hat ein schönes blasses Gesicht und rabenschwarzes Haar. Den Kopf hat sie gesenkt und blickt auf ihren Goldfinger; denn dort hat der Ring gesessen, den sie einst dem treulosen Räuber geschenkt hat.« Den Brief in der Hand, sprang ich auf und kramte zwischen meinen Sachen ein Elfenbeinkästchen hervor, in dem ich allerlei kleine Schätze zu bewahren pflegte. Dort lag auch Jennis Ring. Ein schwarzes Band war daran; denn ich hatte ihn, wie sich von selbst versteht, in der ersten Zeit nach jenem Abschiede ganz heimlich auf dem Herzen getragen. Dann war er zu andern Raritäten in das Kästchen gewandert, das ich auch schon seit lange besessen. Jetzt, als könne es nicht anders sein, tat ich, wie ich als Knabe getan hatte; mit einem Lächeln mich zugleich verspottend und entschuldigend, hing ich mir aufs neue den Ring um den Hals.
Du solltest« – unterbrach sich Alfred – »auf deiner Rückfahrt den kleinen Umweg nicht scheuen! Das Gut liegt ja nur eine Meile von hier; und, wie Hans mir sagt, hast du ihnen schon seit lange deinen Besuch versprochen. Du würdest es in der Tat so finden, wie meine Mutter mir geschrieben. –
Es war nachmittags am letzten Juni, als ich aus der Sonnenhitze des offenen Weges in den Schatten der Kastanienallee hineinfuhr, die zum Hofe hinaufführt; und bald hielt auch der Wagen vor einem schloßartigen Gebäude, das in dem sogenannten Kommodenstil erbaut und mit einem Schwulst von Ornamenten überladen war, aber dennoch in seinen hervorspringenden Profilen und in den tiefe Schatten werfenden Reliefs einen Eindruck großartiger verschollener Pracht auf mich hervorrief. Auf der Treppe empfingen mich Hans und seine Grete. Als wir durch den geräumigen Flur gingen, erhielt ich die Weisung, leise zu sprechen; denn unsere Mutter hielt noch ihre Mittagsruhe.
Wir waren der Haustür gegenüber in einen großen hellen Saal getreten. Zwei offene Flügeltüren führten auf eine Terrasse; unterhalb dieser breitete sich ein Rasen aus von solchem Umfange, daß von allen Seiten wohl nur ein lauter Ruf herüberreichen mochte. Überall in der grünen Fläche zeigten sich üppige Gruppen hochstämmiger und niedriger Rosen, die eben jetzt in voller Blüte standen und die Luft mit Wohlgerüchen erfüllten. Dahinter war eine Gebüschpartie, die wie die Rasenanlage offenbar aus neuer Zeit stammte; jenseit derselben, aber schon in ziemlich weiter Ferne, erhob sich in der ganzen Breite des Gartens der Lusthain des ursprünglichen Begründers mit seinen steilen Laubwänden und regelrechten Einschnitten. Alles dies lag im Glanz der Nachmittagssonne vor mir.
»Was sagst du zu unserm Paradiese?« fragte die junge Frau.
»Was ich sage, Grete? – Wie lange hat denn dein Mann das Gut?«
»Ich denke, seit letzten Mai zwei Jahre.«
»Und dieser praktische Landwirt duldet eine solche Raumverschwendung?«
»Ei was, tu nur nicht, als wenn du die Poesie allein gepachtet hättest!«
Mein Bruder lachte. »Aber recht hat er, Grete! – Die Sache ist die, Alfred; ich darf mich nicht an diesen Herrlichkeiten vergreifen; das ist kontraktlich festgemacht.«
»Gott sei gedankt!«
»Von mir nicht. – Inmitten eines kleinen Wasserspiegels steht dort noch eine Venus im reinsten Stile Louis Quinze; ich hätte sie schon für schweres Gold verkaufen können; aber – wie gesagt!«
In diesem Augenblick hatte Grete meine Hand erfaßt. »Sieh dich um!« rief sie.
Und auf der Türschwelle mir gegenüber stand im weißen Sommerkleide eine Mädchengestalt, die ich nicht verkennen konnte. Das waren noch die fremdartigen Augen der westindischen Pflanzertochter; aber das schwarze, einst so widerspenstige Haar lag jetzt in einem glänzenden Knoten gefesselt, der fast zu schwer schien für den zarten Nacken.
Ich ging ihr entgegen; aber ehe ich den Mund noch aufgetan, war meine heitere Schwägerin schon zwischen uns getreten. »Haltet einen Augenblick!« rief sie. »Ich sehe schon das ›Sie‹ und ›Fräulein Jenni‹ und alle unmöglichen Titel auf euern Lippen sitzen; und das stört mich in meinen Familiengefühlen. Darum besinnt euch erst einmal auf den alten Birnbaum!«
Die eine Hand legte Jenni der Freundin auf den Mund, die andere streckte sie mir entgegen. »Willkommen, Alfred!« sagte sie.
Ich hatte ihre Stimme seit vielen Jahren nicht gehört; um so tiefer traf mich der eigentümliche Akzent, mit dem sie ganz wie damals meinen Namen sprach. »Ich danke dir, Jenni,« sagte ich, »das klingt noch ganz wie in der Kinderzeit; aber du mußt diesen Namen lange nicht gesprochen haben.«
»Ich bin keinem Alfred sonst begegnet,« erwiderte sie, »und du bist mir ja immer aus dem Wege gegangen.«
Ehe ich noch diesem Vorwurf begegnen konnte, hatte Grete uns schon aus einander gedrängt.
»Das wäre in Ordnung,« rief sie. »Und nun, Jenni, hilf mir den Kaffee besorgen; denn er hat einen langen Weg gemacht, und unsere Mutter wird auch gleich hier sein.«
Das Wiedersehen mit dieser, als sie bald darauf eintrat, war ein erschütterndes. Sie hatte den Sohn schon verloren gegeben; nun hielt sie ihn leibhaftig in ihren Armen und liebkoste ihn und streichelte ihm die Wangen wie einem kleinen Kinde. In dem Augenblick, da ich mich aufrichtete, um meine Mutter zu einem Lehnstuhl zu führen, sah ich Jenni bleich und mit überquellenden Augen an einen Schrank gelehnt. Als wir an ihr vorübergingen, fuhr sie zusammen; eine Porzellanschale, die sie in der Hand hielt, fiel zu Boden und zerbrach. »Verzeih, verzeih mir, süße Grete!« rief sie und schlang den Arm um ihre Freundin.
Diese führte sie sanft aus dem Zimmer.
Mein Bruder lächelte. »Wie das gleich überkocht!« sagte er.
»Sie hat ein teilnehmendes Herz, Hans!« bemerkte unsere Mutter, die ihr zärtlich nachgeblickt hatte.
Grete war wieder hereingetreten. »Lassen wir sie einen Augenblick,« sagte sie; »das arme Kind war schon vorhin in Unruhe; ihr Vater hat geschrieben; er wird in den nächsten Tagen kommen, dann soll sie mit ihm nach Pyrmont.«
Ich erfuhr nun, daß der reiche Kaufherr, der bis jetzt ohne eigene Wirtschaft gelebt, nach beendeter Badereise eine neu erbaute Wohnung zu beziehen und in diese seine Tochter als Dame des Hauses einzuführen beabsichtige. – Grete schien eben nicht seine Freundin. »Es ist Jennis Vater,« sagte sie; »aber – oh, ich könnte ihn hassen, diesen Mann, der mit gleichgültiger Hand Tausende für seine Tochter hingäbe, bei dem sie aber vergebens um das kleinste Tausendteilchen seiner eigenen werten Persönlichkeit betteln würde. – Ja, Hans,« fuhr sie fort, als ihr Mann ihr neckend und wie zur Beschwichtigung über das blonde Haar strich, »du solltest nur eine von den Antworten sehen, die Jenni auf ihre Briefe zu bekommen pflegt: ich wenigstens kann sie von Quittungen nicht unterscheiden.«
Meine Mutter nahm die junge Frau bei beiden Händen. »Nun kocht auch unsere Grete über,« sagte sie. »Ich habe den Mann gekannt; in früheren Jahren, heißt das. Aber er hat mit der Not des Lebens kämpfen müssen; und da wird manches hart, was bei uns andern weich geblieben ist. – Mitunter scheint's auch wohl nur so.«
Als wir dann später zusammen saßen und ich auf die Fragen der Meinigen alles noch einmal erzählen mußte, was ich in meinen Briefen ihnen schon geschrieben hatte, kam auch Jenni wieder zu uns und setzte sich still an Gretes Seite.
Abends nach herzlichem Zwiegespräch führte Hans mich in das Schlafzimmer im oberen Stockwerk. – Noch lange, nachdem er mich verlassen, lag ich wachend, aber in behaglichster Ruhe in meinen Kissen; denn die Nachtigallen schlugen überlaut in den Büschen des Gartens, auf den die Fenster hinausführten.
Als ich erwachte, war mein Zimmer erhellt von dem Licht des Sommermorgens. Ein Gefühl von wachsender Gesundheit und Lebensfülle durchströmte mich, wie ich es kaum je empfunden. Ich kleidete mich an und öffnete die Fenster; der weiche Rasen unten lag noch feucht von Tau, und der Duft der Rosen wehte mir frisch und morgenkühl entgegen. Meine Uhr zeigte auf sechs; es war noch eine Stunde bis zum gemeinsamen Frühstück. So sah ich mich denn noch einmal in dem Zimmer um, das, wie Grete mir neckend vertraut hatte, bis zu meiner Ankunft die Residenz meiner Räuberbraut gewesen sei. Und wirklich, in einem Schubfach des Toilettenspiegels, das ich aufzog, lag noch ein Flöckchen rosafarbener Seide, in das sich ein langes glänzend schwarzes Haar so eigensinnig verfangen hatte, daß ich es kaum ohne Verletzung herauszulösen vermochte. Dann, als mir das gelungen, fand ich auf einem Hängebrettchen über dem Bette ein paar Bücher mit Jennis Namen, die ich zu durchblättern begann. Das erste war ein Album, wie man es bei jungen Mädchen findet, vollgeschrieben von allerlei Versen wenig ausgeprägten Inhalts. Dazwischen aber standen andere, wie Disteln zwischen unschuldigem Klee. Gleich das erste, das mir in die Augen fiel:
Ich bin eine Rose, pflück mich geschwind;
Bloß liegen die Würzlein vor Regen und Wind.
Nein, geh nur vorüber und laß du mich los;
Ich bin keine Blume, ich bin keine Ros.
Wohl wehet mein Röcklein, wohl faßt mich der Wind;
Ich bin nur ein heimat- und mutterlos Kind.
Die letzte Zeile war zwiefach unterstrichen; und desselben Sinnes fanden sich mehrere.
Ich legte das Album fort und nahm das andere Buch. Ich erschrak fast. Es war Sealsfields Pflanzerleben; der Teil, welcher die lebensvolle Erzählung von den Farbigen enthält, jenen anmutigen Kreaturen, denen der Verfasser kaum ein ganzes Menschentum zugesteht, die aber, nach seiner Schilderung, in ihrer verlockenden Schönheit die bösen Genien der eingewanderten Europäer sind. Auch in diesem Buche waren einzelne Stellen mit Bleistift angestrichen, so scharf mitunter, daß das Papier davon zerrissen war. Mir fiel das Gespräch ein, das ich vor vielen Jahren mit der kleinen Jenni über diesen Gegenstand gehabt hatte; auf alle die Dinge, welche damals ihre Phantasie so harmlos bewahrte, mußte jetzt ein scharfes, schmerzendes Licht gefallen sein.
Als ich aufstand und aus dem Fenster sah, ging sie unten auf dem breiten Kieswege des Gartens. Sie trug wie gestern ein weißes Kleid; ich habe sie in jenen Tagen nie anders als in weißen Kleidern gesehen.
Einen Augenblick später war auch ich im Garten. Sie ging vor mir auf dem breiten Steig, der von der Terrasse aus um den Rasen führt; sie ging rasch wie in innerer Erregung und schwenkte ihren Strohhut an den seidenen Bändern. Ich blieb stehen und sah ihr nach. Als sie bald darauf zurückkam, ging ich ihr entgegen. »Verzeih, wenn ich dich störe,« sagte ich; »ich habe die kleine Jenni nicht vergessen, aber ich bin ungeduldig, die große kennen zu lernen.«
Sie sah mich rasch mit ihren schwarzen Augen an. »Das wird ein schlechter Tausch, Alfred!« erwiderte sie.
»Ich hoffe, gar keiner. Du hast dich gestern schon verraten; du bist noch ganz die alte herzlich heftige Jenni von vordem; mir war, als müßten sogar deine schwarzen Haare aus dem Knoten springen und sich wieder in kleinen wilden Kinderlöckchen um deine Stirn kräuseln. Und« – fuhr ich fort – »laß mich es dir auch sagen, wie jene unwillkürliche Äußerung deiner Teilnahme mich bewegt hat.«
»Ich verstehe dich nicht,« sagte sie.
»Nun, Jenni, was war es denn anders, das dir die Schale aus der Hand warf, als meine Mutter ihren Sohn empfing?«
»Das war keine Teilnahme, Alfred. Du hältst mich für besser, als ich bin.«
»Was war es denn?« fragte ich.
»Neid war es,« sagte sie hart.
»Was sprichst du da, Jenni?«
Sie antwortete nicht; aber während wir neben einander hergingen, sah ich, wie ihre blitzenden Zähne sich in die rote Lippe gruben. Dann brach es hervor. »Ach,« rief sie, »du verstehst das nicht; du hast noch keine Mutter verloren! Und – oh, eine Mutter, die noch immer lebt! – Daß ich einmal ihr Kind gewesen, mir schwindelt, wenn ich daran denke; denn es liegt tief im Abgrund unter mir. Immer vergebens und immer wieder ringe ich, ihr schönes Antlitz aus der trüben Vergessenheit heraufzubeschwören. Nur ihre zärtliche Gestalt sehe ich noch an meinem Kinderbettchen knien; ein seltsames Lied summt sie und blickt mich mit weichen sammetschwarzen Augen an, bis unwiderstehlich mich der Schlaf befällt.«
Sie schwieg. Als wir uns wieder dem Hause zugewandt hatten, sah ich meine Schwägerin auf der Terrasse, die mit dem Schnupftuch nach uns winkte. Ich faßte die Hand des Mädchens. »Glaubst du mich noch zu kennen, Jenni?« fragte ich.
»Ja, Alfred; und mir ist das wie ein Glück.«
Als wir die Terrasse betraten, drohte Grete uns lächelnd mit dem Finger. »Wenn ihr noch Bedürfnis nach irdischer Speise habt,« sagte sie, »so kommt jetzt an den Teetisch!« – Damit trieb sie uns in den Saal, wo wir schon unsere Mutter mit ihrem ältesten Sohne im Gespräch fanden. Und in dieser freundlichen Umgebung schwanden bald die Schatten, die noch eben tief genug auf diesem jungen Antlitz lagen; oder sie traten wenigstens von der Oberfläche unsichtbar in ihr Inneres zurück.
Am Nachmittag fand ich Gelegenheit, mit Jenni unserer gemeinsamen Kindergeschichten zu gedenken, und sie lachte wieder hell und herzlich. Ein paarmal suchte ich das Gespräch von meiner Mutter auf die ihrige zu bringen, aber sie schwieg entweder plötzlich oder redete von andern Dingen.
Später, als die Sonnenhitze abgenommen, rief mein Bruder uns und seine Frau zum Federballspiel auf den großen Rasen. Es gehörte zu seiner Sonntagsunterhaltung, und er hielt streng darauf, daß es nicht versäumt wurde. Für unsere Mutter ließ er einen Polsterstuhl auf die Terrasse tragen, von wo aus sie dem Spiele zusah.
Hier war Jenni in ihrem Elemente. Mit den großen rasch blickenden Augen verfolgte sie den Ball, und ebenso leicht, bald rückwärts, bald zur Seite weichend, flogen ihre Füße über den Rasen. Dann im rechten Augenblick schwang sie mit ihrer kleinen Hand den Ketscher und schlug das herabschießende Federspiel, daß es geflügelt in die Luft zurückstieg. Einmal auch, wie hingerissen in der Aufregung des Spiels, warf sie den Ketscher von sich, und unter dem lauten Ruf: »Wie er fliegt! Ihm nach, ihm nach!« flog sie selbst, mit den Fingern wie zum Gruß in die Luft schnalzend, über den Boden dahin. – Oder wenn sie sich bückte und den Ball aufnahm, oder wenn er, von der kräftigen Hand meines Bruders getroffen, einmal über sie hinflog, – man mußte es sehen, wie sie dann den Kopf mit dem schweren glänzenden Haar zurückwarf, und wie leicht und rasch diese biegsamen Hüften der Wendung des schönen Kopfes folgten. Ich konnte die Augen nicht von ihr wenden; in diesen kräftigen und doch so anmutigen Bewegungen war etwas, das unwillkürlich an die Ursprünglichkeit der Wildnis erinnerte. Auch meine gute Schwägerin schien ganz davon hingerissen. Während Jenni den fliegenden Ball verfolgte, kam sie auf mich zugelaufen und flüsterte: »Du siehst sie doch, Alfred? Du hast doch die Augen offen?« Und als ich erwiderte: »Ach, nur zu sehr, Grete!« sah sie mich mit ihrem schwesterlichsten Lächeln an und sagte heimlich: »Ich gönne sie nur einem; hörst du, nur einem einzigen auf der Welt!«
Dann aber rief uns meine Mutter und sagte: »Es ist genug, Kinder!« Und Jenni kniete vor ihr, und die alte Frau streichelte ihr die heißen Wangen und nannte sie ihr »goldnes Herz«.
Später, nach dem Abendessen, da schon die große Lampe brannte und nachdem meine Mutter sich zur Ruhe begeben, saß ich mit den beiden jungen Frauen in einem dämmerigen Winkel des Saales auf dem Eckdiwan. Mein Bruder war in sein Zimmer gegangen, um noch einige Geschäfte zu besorgen. Die Türflügel nach der Terrasse standen offen und ließen der Abendkühle freien Zugang; wir konnten von unserm Sitze aus über den dunkeln Baumgruppen die Sterne in dem tiefblauen Nachthimmel sehen.
Grete und Jenni versenkten sich in ihre Pensionserinnerungen; sie plauderten lebhaft, ich brauchte nur zuzuhören. So saßen wir lange Zeit. Als aber Grete ausrief: »Das war doch eine glückliche Zeit!« senkte Jenni schweigend den Kopf; so tief, daß ich auf den Scheitel ihres glänzenden Haares sah.
Dann stand sie auf und ging nach der offenen Gartentür, wo sie auf der Schwelle stehen blieb; und da in diesem Augenblick mein Bruder seine Frau zu sich ins Nebenzimmer rief, so trat ich zu ihr. Draußen hatte indes die Mondnacht den Garten in ihren weichen Duft gehüllt; hie und da auf dem Rasen leuchtete eine Rose aus der Dämmerung hervor, deren Kelch dem Strahle des eben aufgehenden Lichtes zugewendet war. Jenseit des Bosketts sah man einen Teil der hohen Laubwände des Lusthains in bläulicher Beleuchtung, während die hineinführenden Gänge schwarz und geheimnisvoll dazwischen standen. Weder Jenni noch ich versuchten ein Gespräch, aber es war mir süß, so schweigend neben ihr zu stehen und in die ahnungsreiche Nacht hinauszublicken.
Nur einmal sagte ich: »Eines vermisse ich noch an dir; wo sind denn deine schönen Teufeleien geblieben?«
Und sie erwiderte: »Ja, Alfred!« – und an ihrer Stimme hörte ich, daß sie lächelte – »wenn wir die Tante Josephine hier hätten! Vielleicht« – setzte sie plötzlich ernst hinzu – »gebrauche ich meine Gedanken anderswie.«
Ich antwortete nicht darauf. Wie gestern schlugen fern und nah die Nachtigallen; wenn sie schwiegen, war es so still, daß ich meinte, von den Sternen herab den Tau auf die Rosen fallen zu hören. Wie lange das gedauert, weiß ich nicht. Plötzlich aber richtete Jenni sich auf und sagte: »Gute Nacht, Alfred!« und reichte mir die Hand.
Ich hätte sie gern zurückgehalten; aber ich sagte nur: »Gib mir noch einmal die Hand! – Nein, hier in meine linke!«
»Da hast du sie. Weshalb aber denn in die linke?«
»Weshalb, Jenni? – Die brauche ich den andern nicht zu geben.«
Und fort war sie; und in den Büschen schlugen noch immerzu die Nachtigallen.
Die Perlenschnur dieser Tage wurde unterbrochen; der nächste wenigstens war ohne Glanz für mich; denn – und so stand es schon mit mir – Jenni war fort; wie sie gesagt hatte, um einen längst bestimmten Besuch auf einem Nachbargute zu machen. Sie war frühmorgens mit der Post gefahren, die auf dem Wege nach hier dort, wie auch an dem Gute meines Bruders, vorbeifährt; ihre Rückkunft war erst spät abends zu erwarten.
Den Vormittag hatte ich auf dem Zimmer meiner Mutter in stillem Austausch von Gedanken und Zukunftsplänen zugebracht; am Nachmittag war ich mit meinem Bruder auf die Felder, nach seinen Wiesen, Heiden und Mergelgruben gegangen; dann hatte Grete mir ihre lustige Verlobungsgeschichte erzählt; aber je mehr der Abend dunkelte, desto mehr verlor ich die Ruhe, den Worten meiner Freunde zuzuhören. – Als meine Mutter in ihr Schlafzimmer gegangen war, lehnte ich in der offenen Gartentür, wo ich gestern neben Jenni gestanden hatte; und wieder sah ich über den Rasen weg jenseit des Bosketts die ferne Buchenwand des Lusthains in dem bläulichen Duft der Mondscheinbeleuchtung. Durch Zufall war ich immer noch nicht hineingekommen; jetzt aber lockten mich noch mehr als gestern die tiefen Schatten, durch welche sich die Eingänge kenntlich machten. Mir war, als müsse in jenem Labyrinth von Laub und Schatten das süßeste Geheimnis der Sommernacht verborgen sein. Ich sah in den Saal zurück, ob mich jemand bemerkte; dann stieg ich leise von der Terrasse in den Garten hinab. Der Mond war eben hinter den Kronen der Eichen und Kastanien heraufgestiegen, welche denselben nach Osten hin begrenzten. Ich ging an dieser Seite, die noch ganz im Schatten lag, um den Rasen; eine Rose, die ich im Vorübergehen brach, war schon feucht von Tau. Dem Hause gegenüber gelangte ich in das Boskett. Breite Steige schlangen sich scheinbar regellos zwischen Gebüschen und kleineren Rasenpartien; hier und dort leuchtete noch ein Jasmin mit seinen weißen Blüten aus dem Dunkel. Nach einer Weile trat ich auf einen sehr breiten, quer vor mir liegenden Weg hinaus, jenseit dessen sich majestätisch und hell vom Mond beleuchtet die Laubwände der alten Gartenkunst erhoben. Ich stand einen Augenblick und sah daran empor; ich konnte jedes Blatt erkennen; mitunter schwirrte über mir ein großer Käfer oder ein Schmetterling aus dem Laubgewirr in die lichte Nacht hinaus. Mir gegenüber führte ein Gang in das Innere; ob es derselbe war, dessen Dunkel mich zuvor von der Terrasse aus gelockt, konnte ich nicht entscheiden; denn das Gebüsch verwehrte mir den Rückblick nach dem Herrenhause.
Auf diesen Steigen, die ich nun betrat, war eine Einsamkeit, die mich auf Augenblicke mit einer traumhaften Angst erfüllte, als würde ich den Rückweg nicht zu finden wissen. Die Laubwände an beiden Seiten standen so dicht und waren so hoch, daß ich nur wie abgeschnitten ein Stückchen Himmel über mir erblickte. Wenn ich, wo sich zwei Gänge kreuzten, auf einen etwas freieren Platz gelangte, so war mir immer, als müsse aus dem Schatten des gegenüber liegenden Ganges eine gepuderte Schöne in Reifrock und Kontusche am Arm eines Stutzers von anno 1750 in den Mondschein heraustreten. Aber es blieb alles still; nur mitunter hauchte die Nachtluft wie ein Atemzug durch die Blätter.
Nach einigen Kreuz- und Quergängen befand ich mich an dem Rande eines Wassers, das von meinem Standort aus etwa hundert Schritte lang und vielleicht halb so breit sein mochte, und von den es an allen Seiten umgebenden Laubwänden nur durch einen breiten Steig und einzelne am Ufer stehende Bäume getrennt war. Weiße Teichrosen schimmerten überall auf der schwarzen Tiefe; zwischen ihnen aber in der Mitte des Bassins auf einem Postamente, das sich nur eben über dem Wasser erhob, stand einsam und schweigend das Marmorbild der Venus. Eine lautlose Stille war an diesem Platze. Ich ging an den Ufern entlang, bis ich dem Kunstwerke so nahe als möglich gegenüber stand. Es war offenbar eine der schönsten Statuen aus der Zeit Louis Quinze. Den einen der nackten Füße hatte sie ausgestreckt, so daß er wie zum Hinabtauchen in die Flut nur eben über dem Wasser schwebte; die eine Hand stützte sich auf ein Felsstück, während die andere das schon gelöste Gewand über der Brust zusammenhielt. Das Antlitz vermochte ich von hier aus nicht zu sehen; denn sie hatte den Kopf zurückgewandt, als wolle sie sich vor unberufenen Lauschern sichern, ehe sie den enthüllten Leib den Wellen anvertraue.
Der Ausdruck der Bewegung war von so täuschendem Leben, und dabei, während sich der untere Teil der Gestalt im Schatten befand, spielte das Mondlicht so weich und leuchtend um die marmorne Schulter, daß mir in der Tat war, als hätte ich mich in das Innerste eines verbotenen Heiligtums eingeschlichen. Hinter mir an der Laubwand stand eine Holzbank. Von hier aus betrachtete ich noch lange das schöne Bild; und – ich weiß nicht: war es eine Ähnlichkeit in der Bewegung, oder war es nur die Stimmung, in die ich durch den Anblick der Schönheit versetzt wurde, ich mußte im Hinschauen immer an Jenni denken.
Endlich stand ich auf und irrte wiederum aufs Geratewohl eine Zeitlang in den dunkeln Gängen umher. Unweit des Teiches, den ich eben verlassen, fand ich an einem mit niedrigem Gebüsch bewachsenen Platze auf marmornem Sockel noch den Überrest einer zweiten Statue. Es war ein muskulöser Männerfuß, der sehr wohl einem Polyphem gehört haben konnte; und so hatte der Vetter Philologe vielleicht nicht unrecht, der jenes Marmorbild für eine Galathea erklärt haben sollte, die vor der Eifersucht des ungeschlachten Göttersohns ins Meer entflieht.
Der Kunstmensch wurde in mir lebendig. Ob Galathea oder Venus – es reizte mich, selbst diese Frage zu entscheiden; und so wollte ich noch einmal zurück, um weniger träumerisch als vorhin zu betrachten. Aber so manchen Weg ich einschlug, es wollte mir nicht gelingen, den Teich wieder zu erreichen; endlich, da ich aus einem Seitenweg in einen breiten Laubgang einbog, sah ich am Ende desselben das Wasser glitzern, und bald meinte ich auch an derselben Stelle zu stehen, wo ich das erstemal an das Ufer getreten war. Es war seltsam, daß ich den Ort so hatte verfehlen können. – Aber ich traute meinen Augen kaum; dort in der Mitte erhob sich zwar noch das Postament über dem Wasser; auch die Teichrosen schimmerten nach wie vor auf der schwarzen Tiefe; aber das Marmorbild, das dort gestanden, war verschwunden. Ich begriff das nicht und starrte eine ganze Weile nach dem leeren Fleck. Als ich der Länge nach über den Teich hinblickte, sah ich drüben am jenseitigen Ufer im Schatten der hohen Baumwand eine weiße Frauengestalt. Sie lehnte an einem Baum, der neben dem Wasser stand, und schien in die Tiefe hinabzublicken. Und jetzt mußte sie sich bewegt haben; denn, während sie noch eben ganz im Schatten gewesen, spielte nun das Mondlicht auf ihrem weißen Gewande. – Was war das? Machten die alten Götter die Runde? Es war wohl eine Nacht dazu. Im Wasser zwischen den weißen Blumen spiegelten sich die Sterne; im Laube rieselte der Tau von Blatt zu Blatt; mitunter von den am Ufer stehenden Bäumen fiel ein Tropfen in den Teich, daß es einen leisen Klang gab; vom Garten her, wie aus weiter Ferne, schlug die Nachtigall. Ich ging an der Schattenseite um den Teich herum. Als ich mich näherte, erhob die Gestalt den Kopf, und Jennis schönes blasses Antlitz wandte sich mir entgegen; es war so hell vom Mond beleuchtet, daß ich den bläulichen Schmelz der Zähne zwischen den roten Lippen schimmern sah.
»Du bist es, Jenni!« rief ich.
»Ich, Alfred!« erwiderte sie und trat mir entgegen.
»Wie bist du hieher gekommen?«
»Hinten am Eingang des Parks bin ich abgestiegen.«
»Ich dachte,« sagte ich leise, »es sei die Göttin, die dort vom Postament herabgestiegen ist.«
»Die ist wohl seit lange herabgestiegen, oder vielleicht herabgestürzt; ich habe sie niemals dort gesehen.«
»Aber ich sah sie noch vor einer Viertelstunde!«
Sie schüttelte den Kopf. »Du bist drüben an dem andern Teiche gewesen; dort wird das Marmorbild auch jetzt noch stehen. Hier sind keine Götter, Alfred; hier ist nur ein armes, hilfsbedürftiges Menschenkind.«
»Du, Jenni, hilfsbedürftig?«
Sie nickte heftig.
»Wenn du, wie du mir gestern sagtest, mich wirklich noch zu kennen glaubst, so sprich es aus; was ist es, dessen du bedarfst?«
»Geld,« sagte sie.
»Du – Geld, Jenni!« Und ich betrachtete erstaunt dieses Kind des Reichtums.
»Frage mich nicht, wozu,« erwiderte sie; »du wirst es bald erfahren.« Dann zog sie ihr Schnupftuch aus der Tasche und nahm daraus einen Schmuck, an dem ich grüne Steine in künstlicher Fassung funkeln sah, als sie ihn jetzt in den Mondschein hinaushielt. »Ich habe keine Gelegenheit, ihn zu verkaufen,« sagte sie; »willst du es morgen für mich versuchen?« Und als ich einen Augenblick zögerte, setzte sie rasch hinzu: »Es ist nichts Geschenktes oder gar Ererbtes; ich habe ihn einst für mein Taschengeld gekauft.«
»Aber, Jenni,« konnte ich nicht unterlassen ihr zu sagen, »weshalb wendest du dich nicht an deinen Vater?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich dächte,« fuhr ich fort, »er sorgte reichlich für dich.«
»Ja, Alfred; er zahlt für mich – reichlich!« Und während die bitterste Erregung aus ihrer Stimme klang, setzte sie hinzu: »Ich kann den Mann nicht bitten.«
Sie trat einen Schritt zurück und setzte sich auf die Bank, die hinter uns an der Laubwand stand. Dann ließ sie den Kopf in beide Hände sinken.
»Ist es denn ganz notwendig?« fragte ich.
Sie sah zu mir empor und sagte fast andächtig: »Ich muß eine heilige Pflicht damit erfüllen.«
»Und es gibt keinen andern Ausweg?«
»Ich weiß keinen.«
Sie tat es, und ich nahm ihn mit innerem Widerstreben. – Jenni hatte sich schweigend zurückgelehnt; ein Streif des Mondlichts beleuchtete die schmale Hand, die in ihrem Schoße lag, und ich sah wieder, wie vor Jahren, die kleinen dunkeln Monde an ihren Nägeln. Ich weiß nicht, weshalb ich darüber fast erschrak, so daß meine Augen wie gebannt waren. Als Jenni es bemerkte, zog sie die Hand leise in den Schatten zurück. »Ich habe noch eine Bitte, Alfred!« sagte sie.
»Sprich nur, Jenni!«
Sie neigte den Kopf ein wenig. »Ich habe dir vor Jahren,« begann sie, »da wir als Kinder von einander Abschied nahmen, einen kleinen Ring gegeben. Erinnerst du dich dessen noch?«
»Wie kannst du daran zweifeln?«
»Wenn du dieses wertlose Kleinod,« fuhr sie fort, »wenn du es so viel geachtet hättest, daß du es noch besitzest, dann bitte ich dich, gib es mir zurück!«
»Wenn du es zurückverlangst,« erwiderte ich, nicht ohne einen Anflug von Gereiztheit, »so habe ich kein Recht, es ferner zu besitzen.«
»Du mißverstehst mich, Alfred!« rief sie; »ach, es ist das einzige Angedenken von meiner Mutter!«
Ich hatte schon das Bändchen mit dem Ringe unter meinem Halstuche hervorgezogen. »Hier ist er, Jenni; aber – verzeih mir, es tut mir dennoch weh!«
Sie war aufgestanden. Ich sah, wie eine leichte Röte über ihr schönes Gesicht flog; dann aber, wie aus unwillkürlichem Antrieb, streckte sie die Hand nach dem Ringe und erfaßte ihn. Ich konnte mich nicht überwinden, ihn hinzugeben; ich hielt ihn fest. »Vor kurzem«, sagte ich, »war er mir nichts als eine Erinnerung an die anmutige Gespielin aus der Kinderzeit. – Nun ist es anders geworden; mit jedem Tage mehr, den ich hier gelebt.«
Aber ich schwieg; denn sie sah mich an, als hätte ich ihr ein tiefes Leid getan. »Sprich nicht so zu mir, Alfred,« sagte sie.
Ich achtete dieser Worte nicht; ich ergriff ihre Hand, die sie ruhig in der meinen ließ. »Nimm den Ring, Jenni,« sagte ich, »aber gib mir deine Hand dafür!«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Die Hand einer Farbigen,« sagte sie tonlos.
»Deine Hand, Jenni. Was kümmert uns das übrige!«
Sie stand, ohne sich zu regen; nur an dem Zittern der Hand, die noch immer in der meinen lag, fühlte ich, daß sie lebe. »Ich weiß wohl, daß wir schön sind,« sagte sie dann, »verlockend schön, wie die Sünde, die unser Ursprung ist. Aber, Alfred – ich will dich nicht verlocken.«
Und dennoch, als ich schweigend die Arme nach ihr ausbreitete, da lag sie plötzlich an meiner Brust und hatte ihre Hände fest um meinen Nacken geschlossen. Sie sah zu mir empor; ihre großen glänzenden Augen waren wie ein Abgrund unter mir. »Ja, Jenni,« und mir war, als wehe ein Schauer von den Bäumen durch mich hin, »du bist betörend schön; sie war nicht schöner, die dämonische Göttin, die einst der Menschen Herz verwirrte, daß sie alles vergaßen, was sie einst geliebt. Vielleicht bist du es dennoch selbst und gehst nur um in dieser seligen Nacht, um die zu beglücken, die noch an dich glauben. – – Nein, reiße dich nicht los; ich weiß es ja, du bist ein Erdenkind wie ich, machtlos gefangen in deinem eignen Zauber; und wie der Nachthauch durch die Blätter weht – spurlos, so wirst auch du vergehen. – Aber schilt nicht die geheimnisvolle Macht, die uns einander in die Arme warf. Wenn wir auch willenlos das Fundament unserer Zukunft hier empfangen mußten – der Bau, den es einstens tragen soll, liegt doch in unserer Hand.«
Ich löste ihre Hände sanft von meinem Nacken und legte den Arm um ihren Leib. Dann riß ich das Bändchen von dem Ringe und steckte ihn an ihren Finger. Sie lehnte sich an mich wie ein beruhigtes Kind und ließ sich still von mir hinwegführen. – Als wir nach einiger Zeit an den andern Teich gelangten, stand wirklich noch das Bild der Venus zwischen den weißen Wasserrosen, und ich wußte es nun gewiß, daß ich ein irdisches Weib in meinen Armen hatte.
Zögernd, aber endlich dennoch traten wir aus den entlegenen Schattengängen in das Boskett, und aus dem Boskett dem Hause gegenüber ins Freie. Über den Rasen weg durch die offenen Flügeltüren sahen wir drinnen in dem erhellten Saal meinen Bruder mit seiner Frau wie im traulichen Gespräche auf und ab gehen.
Jenni bückte sich und war, ehe ich mich dessen versah, aus meinem Arm entschlüpft; aber ebenso schnell hatte sie auch meine Hand wieder erfaßt. »Tue, was du mir versprochen, Alfred,« sagte sie, »und alles andere«, setzte sie kaum hörbar hinzu, – »vergiß!«
Und als hierauf Grete in die offene Tür trat und in die Nacht hinausrief: »Jenni, Alfred, seid ihr's denn?«, da bat sie dringend: »Sprich nicht davon, auch nicht zu deiner Mutter; wir dürfen sie nicht betrüben.«
»Aber ich verstehe dich nicht, Jenni.«
Sie drückte nur heftig meine Hand. Dann verließ sie mich und stand gleich darauf bei Grete auf der Terrasse, die uns, als wir in den hellen Saal getreten waren, eines um das andere mit schweigendem Kopfschütteln betrachtete.
Am andern Morgen früh ritt ich in die Stadt, um mein Versprechen zu erfüllen. Dort ließ ich von zwei verschiedenen Juwelieren den Wert des Schmuckes schätzen. Er war hoch; aber meine Kasse war damals grade gefüllt. So konnte ich selbst den Schmuck für Jenni aufheben und wechselte von meiner mitgenommenen Barschaft eine Rolle Goldes ein, die dem angegebenen Werte entsprach. – Als das besorgt war, ging ich noch eine Weile an dem schönen Hafen auf und ab. Draußen auf der Reede, ganz fern im Sonnenduft, sah ich ein großes Schiff liegen; eine Brigg, wie mir ein Matrose sagte, segelfertig nach Westindien. –
»Nach ihrer Heimat!« dachte ich; und dann übernahm mich das Denken an sie so sehr und ließ mir keine Ruhe, als bis ich wieder auf dem Heimwege war.
Kurz vor Mittag trat ich in den Gartensaal. Es war niemand dort; aber von der Tür aus sah ich in einiger Entfernung Jenni mit einem hageren ältlichen Herrn im Garten stehen. Gleich darauf bot er ihr mit einer gewissen Förmlichkeit den Arm und führte sie dem Hause zu. Als sie näher kamen, sah ich, daß der Mann fast weißes Haar hatte; aber aus dem sehr dunkeln Antlitz blickten zwei scharfe herrische Augen, und die kurzen Bewegungen seines Kopfes zeugten davon, daß er gewohnt sei, zu befehlen. Das weiße Halstuch und die große Brillantnadel in dem gekrausten Jabot gehörten wie selbstverständlich zu dieser Gestalt. Ich wußte auch sofort, daß es Jennis Vater sei, der reiche Pflanzer, mein Onkel von Vetters wegen, den ich bis jetzt noch nie gesehen hatte; aber so, wie er war, entsprach er wohl noch meiner Knabenphantasie. Und jetzt hörte ich auch seine fremdklingende Stimme; er sprach in abgestoßenen Worten, die ich nicht verstand, zu seiner Tochter; sie schien nur zuzuhören.
Da ich mich nicht vorbereitet fühlte, ihm jetzt entgegenzutreten, so verließ ich, ehe die beiden die Terrasse erreicht hatten, den Saal und ging in das Oberhaus hinauf. Die Tür zu Jennis Zimmer stand offen. Ich ging hinein und legte unserer Verabredung gemäß den Erlös des Schmuckes in einen Wandschrank, der sich oberhalb der Tür befand. Dann ging ich in mein eigenes Zimmer und warf mich dort aufgeregt und doch ermüdet aus das Sofa.
Es mochten kaum einige Minuten vergangen sein, als ich von der Treppe her Schritte vernahm und bald darauf zwei Personen in das große, neben dem meinigen liegende Zimmer treten hörte. Eine von meinem Zimmer dahinein führende Tür befand sich meinem Sitze gegenüber. Sie war zwar jetzt verschlossen; aber sie hatte ein Fenster, das von der andern Seite mit einer weißen Gardine dicht verhangen war.
An der Stimme erkannte ich, daß Jenni und ihr Vater die Eingetretenen seien, obwohl ich, da sie sich am andern Ende des Zimmers befinden mochten, von ihrer Unterhaltung nichts verstand. Als sie sich dann näherten, wollte ich mich leise entfernen; aber die ersten Worte, die mit Deutlichkeit mein Ohr trafen, bewirkten, daß ich regungslos und alles andere vergessend auf meinem Sitze blieb.
»Du konntest dort nicht bleiben!« hörte ich den Vater in der schon vorhin bemerkten abgestoßenen Redeweise sagen.
»Weshalb nicht?« fragte Jenni.
Ich hörte ihn jetzt ein paarmal langsam auf und ab gehen. Dann stand er still. »Du magst es hören,« sagte er, »weil du mich zwingst, es zu sagen. Du hättest bei der Abstammung deiner Mutter niemals die Gesellschaft deines Vaters teilen können.«
»Und bei meiner eignen,« setzte Jenni hinzu. »Ich weiß das.«
»Du weißt das? Wer hat dir diese Dinge gesagt?«
»Niemand; ich habe sie gelesen.«
»Nun, dann weißt du auch, weshalb ich dich nach Europa schicken mußte. Ich meine, du hättest mir das danken sollen.«
»Ja,« sagte sie, »so wie ich dir mein Leben danke.«
Der Vater erwiderte hierauf nichts; aber es wurde ein Fensterflügel aufgestoßen, und an dem Geräusch bemerkte ich, wie er den Kopf in die freie Luft steckte und mit großer Erregung sich räusperte. – Jenni hatte sich mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, welche die beiden Zimmer trennte. Ich sah durch das verhängte Fenster den Schatten ihres Kopfes und hörte das Rauschen ihres Kleides.
Nach einiger Zeit schien ihr Vater in die Stube zurückgetreten zu sein. »Ich habe«, begann er wieder, »für dich getan, was ich vermochte. Du hast freilich niemals einen Wunsch gegen mich ausgesprochen; aber ich wüßte auch nicht, was du noch zu wünschen gehabt hättest.«
Sie erhob sich und trat ihm langsam einen Schritt entgegen. »Wo ist meine Mutter?« fragte sie.
»Deine Mutter, Jenni!« rief der Mann, als habe er eher alles andere als eine Frage nach dieser Frau erwartet. »Du weißt es ja, sie lebt; es wird für sie gesorgt.«
»Und«, fuhr das Mädchen unerbittlich fort, »da nun dein großes neues Haus fertig und eingerichtet ist, hast du schon Anstalten getroffen, daß sie herüberkomme, um wieder mit uns zu leben?«
Ich hörte, wie er ein paarmal mit starken Schritten in dem großen Zimmer auf und ab ging. Dann trat er wieder zu seiner Tochter. »Du bist ein Kind, Jenni,« sagte er mit gedämpfter Stimme; aber die Worte klangen dennoch scharf akzentuiert. »Du kennst die Verhältnisse drüben in deinem Geburtslande nicht; du sollst sie auch nicht kennen lernen.« Und als überkomme ihn, den alten Kaufherrn, plötzlich der Zauber der Erinnerung, fuhr er fort: »Sie war unglaublich schön, jene Frau; unglaublich! – wenn sie sich in ihrer Hängematte schaukelte, in ihren weißen Gewändern zwischen den grünen breiten Blättern der Mangrove, unten die Bai im Sonnenglanz, darüber der stahlblaue Tropenhimmel; wenn sie mit ihren Vögeln spielte oder die goldnen Bälle lachend in die Luft warf! – Aber man durfte sie nicht reden hören; der schöne Mund stümperte in der gebrochenen Sprache der Neger; es war das Geplapper eines Kindes. – Jene Frau, Jenni, war keine Gesellschafterin für dich, wenn du das werden solltest, was du geworden bist.«
Sie hatte sich wieder an die Tür gelehnt. »Und dafür«, sagte sie, »hast du der Mutter das Kind genommen. – Sie schrie; oh, sie schrie, als du mich aus ihren Armen nahmst und über das Brett ins Schiff hinüber trugst. Und das war der letzte Laut, den ich von meiner Mutter hörte. – Ich hatte es lange vergessen; denn ich war ein gedankenloses Kind. Gott verzeihe mir das! – Aber jetzt höre ich es alle Nächte vor meinen Ohren. Wer gab dir das Recht, meine Zukunft mit dem Elend meiner Mutter zu bezahlen!« Und ich sah durch die Gardine, wie sie sich hoch aufrichtete bei diesen Worten.
Der Vater schien ihre Hand zu fassen. »Besinne dich, Jenni,« sagte er; »ich hatte nur die Wahl zwischen dir und ihr; – aber du warst mein Kind.«
Der weiche, fast zärtliche Ton, worin er die letzten Worte sprach, schien ohne Eindruck auf die Tochter zu bleiben. »Du hast mir meine Frage nicht beantwortet,« sagte sie; »der Preis, den du gezahlt hast, war nicht dein und auch nicht mein; er muß zurückerstattet werden, soweit es jetzt noch möglich ist. Antworte mir – ja oder nein: wird meine Mutter in dem neuen Hause mit uns wohnen?«
»Nein, Jenni; das ist unmöglich.«
Auf diese Worte folgte eine lautlose Stille. Was in diesen Augenblicken in dem Innern des Mädchens vorging, was davon etwa in dem Ausdruck ihrer Gebärde oder sonstwie zu Tage trat, konnte ich nicht bemerken.
»Ich habe noch eine Bitte,« sagte sie endlich.
»Sprich nur, Jenni,« erwiderte der Vater hastig; »sprich nur. Alles, was sonst in meinen Kräften steht!«
»So bitte ich«, fuhr sie fort, »um die Erlaubnis, während deines Aufenthalts in Pyrmont bei unsern Freunden hier zurückzubleiben.«
Er schwieg einen Augenblick. »Wenn du«, sagte er dann, »es nicht für passender findest, deinen Vater zu begleiten, so wüßte ich nichts dagegen einzuwenden.«
Sie antwortete nicht darauf; sie fragte nur: »Darf ich mich jetzt entfernen?«
»Wenn du mir nichts mehr zu sagen hast; ich werde mit hinabgehen.«
Darauf wurde die Tür geöffnet, und ich hörte, wie ihre Schritte sich draußen aus dem Korridor nach der Treppe zu entfernten. – Ich blieb auf meinem Zimmer, bis ich zum Mittagsessen herabgerufen wurde.
Jennis Vater, als mein Bruder mich ihm vorstellte, maß mich mit seinen raschen Augen, so daß ich fühlte, es werde meine Person im Überschlage abgeschätzt. Dann fragte er nach meinen Studien und Reisen, und ob ich Gelegenheit fände, meine Kenntnisse in der Heimat zu verwerten. Das alles geschah in einer Art, die einem Examen nicht unähnlich war. Zuletzt wurde ich höflich eingeladen, über das neuerbaute Haus mein sachverständiges Urteil abzugeben, sobald er von seiner Badereise zurück sein werde. – Von dem, was kurz vorher zwischen ihm und seiner Tochter geschehen, war bei dem förmlichen Wesen des Mannes nichts zu spüren.
Bei Tische saß er neben meiner Mutter und unterhielt sie in aufmerksamster Weise; als diese das Gespräch auf eine gemeinsam verlebte Jugendzeit brachte, verstand er es sogar, zu scherzen. Er erinnerte seine Nachbarin an verschiedene Bälle, auf denen sie in dem Harmoniesaale ihrer Vaterstadt getanzt, und an das lebensgroße Bild eines kleinen wohlbeleibten Amors, das dort an der Tapete gewesen. »Die jungen Damen«, sagte er, »hatten solche Scheu davor, daß es dort immer eine Lücke in der Tanzreihe gab.«
»Und Sie, Herr Vetter,« erwiderte meine Mutter, »waren recht darauf versessen, Ihre Dame immer wieder vor das verfemte Götterbild zu führen.«
Er verneigte sich galant gegen sie. »Ich wußte ja, Frau Cousine,« sagte er, »daß Sie mir gegenüber den Amor nicht zu scheuen hatten.«
Ich sah, wie bei diesen Worten ein zartes Rot das noch immer anmutige Gesicht meiner Mutter überflog; und unwillkürlich dachte ich, ob, wie jetzt ihre Kinder, so vielleicht auch sie in vergangenen Tagen einmal durch gegenseitige Neigung zu einander gezogen gewesen. Auch Jenni, die bisher ohne Zeichen der Teilnahme und kaum die Speisen berührend dagesessen, blickte bei diesen Worten auf; vielleicht hatte sie ihren Vater noch nie über so heitere Dinge reden hören. Dieser selbst richtete über Tisch kein Wort an seine Tochter, sondern sprach wieder über allerlei Verkehrsverhältnisse mit meinem Bruder. Später aber, beim Kaffee, hörte ich ihn zu meiner Mutter sagen: »Jenni wird durch die Güte Ihrer Kinder nun noch eine Zeitlang hier verweilen; ich reise morgen allein weiter. Wir kennen uns seit langen Jahren, Frau Cousine; wenn es die Gelegenheit gibt – erzählen Sie ihr von jenen Tagen. – Sie soll in nächster Zeit mit dem alten Manne leben; es wäre vielleicht gut, wenn sie vorher den jungen etwas kennen lernte.« Und indem er seiner Jugendgenossin die Hand drückte, fügte er aufstehend hinzu: »Sie tun mir damit einen Dienst, Cousine.«
Der Tag ging hin, ohne daß es mir gelang, Jenni allein zu treffen; sie vermied es sichtlich.
Auch Grete war meist draußen in ihrer Wirtschaft. – Am andern Morgen, als sie nach der Abreise unseres Gastes zu mir in den Garten kam, kreuzte sie die Hände auf der Brust und sagte lächelnd und mit einem tiefen Seufzer: »Da wären wir denn nun wieder unter uns!«
Bald erfuhr ich zu meinem Schrecken, daß Jenni noch am Vormittag auf mehrere Tage in die Stadt reise, um in dem neuen Hause ihres Vaters mit dessen Wirtschafterin, ich weiß nicht welche Einrichtungen zu beschaffen.
Ich stand allein auf der Terrasse, als sie im Reiseanzug zu mir heraustrat. Sie reichte mir die Hand; aber ich grollte ihr, daß sie mich jetzt verlassen könne. »Warum tust du mir das, Jenni?« fragte ich. »Hatten denn diese Einrichtungen solche Eile?«
Sie schüttelte den Kopf, indem sie mich groß und ruhig anblickte; in ihren Augen war, ich kann nicht anders sagen, ein Ausdruck von erhabener Schwärmerei.
»Und doch gehst du?« fragte ich wieder, »und grade jetzt?«
»Ich will dich nicht belügen, Alfred,« sagte sie, »das ist es nicht; aber ich muß, ich kann nicht anders.«
»So komme ich täglich in die Stadt, um dir zu helfen.«
Sie erschrak sichtlich. »Nein, nein,« rief sie, »das darfst du nicht!«
»Weshalb denn nicht?«
»Ich weiß nicht, frage mich nicht! – O glaub es doch!«
»Kannst du mir nicht vertrauen, Jenni?«
Sie stieß einen Laut der Klage aus, so schmerzlich, wie ich jemals etwas hörte. Dann streckte sie die Arme nach mir aus, unbekümmert, wer es sehen möchte; und wie einmal zuvor im Geheimnis der Nacht, so hielt ich sie jetzt im hellsten Sonnenlicht an meinem Herzen. »So bleib denn nicht zu lange!« bat ich; »mein Vater erwartet mich, meine Zeit hier geht zu Ende.«
Ich sah auf ihr schönes blasses Antlitz, da sie schwieg. Sie hatte die Augen geschlossen und, als wolle sie hier ruhen, den Kopf aus meine Schulter gelegt.
Es war nur ein Augenblick. Sie riß sich los, und wir gingen nach der Vorderseite des Hauses, wo schon der Wagen bereit stand. – Als sie eingestiegen war, hörte ich noch meine Mutter, die ihre Hand gefaßt hatte, sagen: »So weine doch nicht, Kind! Du weinst ja, als ob es dir das Herz abstieße.«
Es folgte jetzt trotz alles Sonnenglanzes für mich eine Reihe von grauen Tagen. Es war noch ein Glück, daß mein Bruder mich mit den Entwürfen zu einem neuen Wirtschaftsgebäude vollständig außer Atem hielt. Es war keine Kleinigkeit, seine praktischen Anforderungen mit den künstlerischen, die ich meinerseits nicht außer acht lassen wollte, zu verbinden. Oft fuhr er mir unbarmherzig mit dem Bleistift in meinen schön gezeichneten Plan hinein; und wir stritten hin und her, bis endlich sogar die beiden Frauen zur Entscheidung aufgerufen wurden.
Es war am vierten Tage nach Jennis Abreise, als ich mit dieser Arbeit beschäftigt auf meinem Zimmer saß. Es wollte indes heute nicht von der Hand gehen, und da ich der armen Reißfeder die Schuld gab, so stand ich auf, um eine andere aus meinem Koffer zu nehmen. Als ich dabei die darin befindliche Wäsche auspackte, fiel mir ein zusammengefaltetes Papier in die Hand. »Von Jenni«, stand darauf; darin lag der kleine Schildpattring, den ich kurz zuvor ihr an den Finger gesteckt hatte, und, dadurch geschlungen, ein langer Streifen seidenschwarzen Haares.
Mein erstes Gefühl war ein Schauer des Entzückens, ein Gefühl unmittelbarer Nähe der Geliebten; dann aber überkam mich eine unbestimmte Besorgnis. Ich betrachtete das Papier von allen Seiten; aber es war kein Buchstabe oder Zeichen sonst daran.
Nachdem ich vergeblich wieder zu arbeiten versucht hatte, ging ich in den Saal hinab, wo ich meinen Bruder mit seiner Frau in einem Gespräche über Jenni traf. »Aber so etwas von Augen!« hörte ich Grete bei meinem Eintritt sagen.
Ihr Mann schien ihr im Scherz das Widerspiel zu halten; denn er erwiderte: »Du findest diese wilden Augen doch nicht schön?«
»Wild, Hans? Und nicht schön? – Aber freilich, du hast recht, sie sind so schön, daß sie den Widerspruch hervorrufen. Und dies –!« Sie hielt inne und blickte mit einem mitleidigen Lächeln zu ihrem stattlichen Manne empor.
»Was denn, Grete?«
»Ist nichts als der Anfang einer Verteidigung. Aufrichtig, Hans, du fühlst schon, wie sie dir gefährlich wird!«
»Ja, wenn ich dich nicht hätte!«
»Oh, auch wenn du mich hast.«
Er gab ihr lachend beide Hände. »Halt sie fest,« sagte er, »so soll kein hübscher Teufel mich verführen.«
Aber das ließ seine Frau nicht gelten. »Der Teufel ist in euch Männern!« rief sie. »Überhaupt, was hast du jetzt immer an dem harmlosen Kind zu nörgeln, der du doch sonst allezeit ihr Ritter warst?«
»Sonst, Grete, ja. Aber sie ist anders geworden!« Er besann sich einen Augenblick. »Ich schäme mich fast, es zu sagen. Aber es ist nur zu gewiß; die Kaufmannstochter ist in ihr zum Vorschein gekommen – sie ist geizig geworden.«
»Geizig!« rief Grete. »Nun wird es zu arg! Jenni, die in der Pension nur durch die strengsten Verbote zurückzuhalten war, sich nicht das Kleid vom Leibe fortzugeben!«
»Sie gibt jetzt keine Kleider mehr fort,« erwiderte mein Bruder; »sie verkauft sie an den Trödler; und zwar kann ich dir sagen, daß sie die Preise sehr genau behandelt.«
Ich hatte, ohne mich ins Gespräch zu mischen, aufmerksam zugehört. Bei diesen letzten Worten überfiel mich plötzlich eine erschreckende Klarheit. – Mein Entschluß war rasch gefaßt. »Kann ich dein Pferd bekommen, Hans?« fragte ich.
»Freilich; wohin willst du denn?«
»Ich möchte in die Stadt reiten.«
Seine Frau war mir dicht unter die Augen getreten. »Kannst du es denn gar nicht länger aushalten, Alfred?«
»Nein, Grete!«
»Nun, so grüß mir Jenni; oder, noch besser, bring sie uns selber wieder mit zurück!«
Ich sagte nichts; aber gleich darauf saß ich im Sattel; eine Stunde später war ich in der Stadt und bald auch in der mir wohl bekannten Straße, wo das Haus von Jennis Vater liegen sollte. Es war unschwer aufgefunden, und nach mehrmaligem Klingeln wurde die Tür des stattlichen Gebäudes von einer ältlichen Frau geöffnet. Als ich nach Fräulein Jenni fragte, erwiderte sie trocken: »Das Fräulein ist nicht hier.«
»Nicht hier?« wiederholte ich; und mein Gesicht mochte die Bestürzung ausdrücken, die ich bei dieser Antwort empfand; denn die Alte fragte mich nach meinem Namen. Als ich ihr aber gesagt hatte, wer und woher ich sei, setzte sie verdrießlich hinzu: »Was fragen Sie denn? Das Fräulein ist ja den andern Tag schon wieder zurückgereist.«
Ich ließ die Alte stehen und lief aus einer Straße in die andere, bis ich den Hafen erreicht hatte. Die Sonne war schon unter und die Reede weit hinaus mit dem Purpur eines starken Abendrots überglänzt. Dort hatte die Brigg gelegen; jetzt war sie fort, kein Schiff mehr zu sehen. Ich suchte mit den Arbeitern, die umherstanden, ein Gespräch anzuknüpfen, und erfuhr den Namen des Reeders und Schiffes, und daß es vor drei Tagen in See gegangen sei. Weiteres wußten sie nicht; außer noch die Schlafstelle des Kapitäns. Ich machte mich sogleich auf den Weg, und dort brachte ich heraus, daß eine junge schöne Dame mit schwarzen Haaren sich am Bord befinden solle. Dann ging ich auf das Kontor des Reeders, wo ich durch Zufall noch den alten Buchhalter an seinem Pulte traf; aber er wußte mir keine weitere Auskunft zu geben; denn die Passagiere seien lediglich Sache des Kapitäns.
Ich kehrte ins Hotel zurück und ließ mein Pferd satteln. Schneller, als mein Bruder es erlaubt haben würde, trabte der Rappe heimwärts. Es war schon spät, und der Himmel hing voller Wolken. Wenn der Nachtwind durch die Finsternis an mir vorüberwehte, so flogen meine Gedanken mit, und wie einen Spuk vor meinen Augen sah ich das Schiff, das sie hinwegtrug; ein winziger Punkt, schwebend in dem flüssigen Element über den gähnenden Abgründen der Tiefe, umlagert von Nacht in der Ungeheuern Öde des Meeres. – Endlich blinkten die Lichter des Gutes vor mir aus den Bäumen.
Hier fand ich alles in Trauer und Bestürzung. Es war ein Brief von Jenni da, datiert vom Bord der Brigg »Elisabeth«. Sie war fort, übers Meer, zu ihrer Mutter; wie sie es mir gesagt hatte, wie sie es hier wiederholte, um eine heilige Pflicht zu erfüllen. In den innigsten, süßesten Worten bat sie alle, ihr zu verzeihen. Mein Name war in dem Briefe nicht genannt; aber ich hatte ja meinen Gruß im stillen schon empfangen. Auch ihres Vaters hatte sie nicht erwähnt.
Am andern Tage waren mein Bruder und ich wieder in der Stadt; aber nur, um dort die Überzeugung zu erlangen, daß die Brigg »Elisabeth« nicht mehr zu erreichen sei.
Dann, ohne erst mit Hans zurückzukehren, reiste ich gradeswegs nach Pyrmont. Einige Augenblicke nach meiner Ankunft stand ich Jennis Vater gegenüber und berichtete ihm die Flucht seiner Tochter. – Ich hatte mir gedacht, den schon ältlichen Mann unter dieser Nachricht zusammenbrechen zu sehen; aber es war kein Schmerz, es war ein Blitz des Jähzornes, der aus seinen Augen fuhr. Die Faust auf dem Tisch ballend, daß die mageren Knöchel scharf hervorstanden, stieß er Verwünschungen gegen seine Tochter aus. »Möge sie gehen, wohin sie gehört!« rief er, »diese Rasse ist nicht zu bessern; verflucht der Tag, wo ich das geglaubt habe!« Dann aber wurde er plötzlich still; er setzte sich und stützte den Kopf in seine Hand. Und wie zu sich selber sprach er: »Was red ich denn! Es ist mein eigen Blut; das andre – ist meine Schuld. Was kann das Kind dafür! Es hat zu seiner Mutter gewollt.« Und die Arme ausstreckend und vor sich hinstarrend, rief er laut: »O Jenni, meine Tochter, mein Kind, was hab ich dir getan!« Er schien meine Gegenwart vergessen zu haben, und ich ließ ihn ungestört gewähren. »Wir sind ja Menschen,« fuhr er fort; »du hättest mir das verzeihen sollen; aber ich verstand es nicht, zu dir zu sprechen; das war es, wir konnten nicht zu einander kommen.«
Da, in diesem Augenblick wagte ich es, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen und ihm zu sagen, daß wir uns liebten. Und der gebrochene Mann griff danach wie nach einem Strohhalm und bat mich, ihm sein Kind zurückzubringen.
Was soll ich viel erzählen! Tags daraus reiste ich wieder ab; aber zuvor gab er mir einen Brief an seine Tochter, den er in der Nacht geschrieben hatte. Und glaub mir, diesmal ist es keine Quittung; Zorn und Liebe, Anklage und Entschuldigung, wie sie während des langen Abends, den wir noch zusammen saßen, in seinen Worten wechselten, werden auch in diesem Briefe sein.
Das übrige« – so schloß Alfred seine Erzählung – »ist dir bekannt. Hier stehe ich, ausgerüstet mit allen Vollmachten und väterlichen Konsensen, und harre des Glockenschlags, um meine Brautfahrt anzutreten.« –
Noch eine Stunde etwa waren wir beisammen; dann schlug es drei vom Kirchturm, und ein Packträger kam, um Alfreds Koffer an den Hafen hinabzutragen.
Ich geleitete meinen jungen Freund. Es war eine kühle Nacht; ein scharfer Ostwind regte das Wasser auf und warf das Boot polternd gegen die Hafentreppe. Alfred stieg ein und reichte mir die Hand herüber. »Nicht wahr, Alfred,« sagte ich, die Bewegung des Abschieds in einen Scherz verhüllend, »mit Jenni – oder niemals?«
»Nein, nein!« rief er zurück, während schon das Boot in die Nacht hinaussteuerte: »Mit Jenni, aber jedenfalls!«
Über ein halbes Jahr ist seit jener Nacht vergangen. Auf das Gut bin ich noch nicht hinausgekommen; aber eben jetzt, wo die ersten Mailüfte mir ins offene Fenster spielen, ist eine erneuete Einladung an mich eingelaufen, und ich werde mich diesmal nicht vergebens bitten lassen. Vor mir liegen zwei Briefe; beide datiert aus Christiansstadt auf St. Croix; der eine, von Jenni an Alfred, ist in dessen Abwesenheit von seiner Schwägerin erbrochen worden. Er lautet:
»Ich habe meine Mutter gefunden; ohne Mühe, denn sie hält ein großes Logierhaus in der Nähe des Hafens. Sie ist noch schön und von blühender Gesundheit; aber in ihren Zügen, deren Umriß ich zwar noch erkenne, suche ich vergebens, wonach ich die langen Jahre mich gesehnt habe. – Ich muß Dir alles sagen, Alfred; es ist anders, als ich mir gedacht. Ich habe eine Scheu vor dieser Frau; mich schaudert, wenn ich daran denke, wie sie bei der ersten Mittagstafel mich einer Anzahl Herren als ihre Tochter vorstellte. Gleich darauf, in einem Gemisch aller lebenden Sprachen, gab sie laut und prunkend die Geschichte ihrer Jugend preis – alles, was im geheimen an mir genagt, und was ich in die schwärzeste Nacht hätte verbergen mögen. – Die meisten Gäste und Kostgänger sind Farbige; einer von ihnen aber, ein reicher Mulatte, scheint das ganze Hauswesen zu regieren; meiner Mutter begegnet er mit einer Vertraulichkeit, die mir das Blut heiß ins Gesicht jagt. Und dieser Mensch, Alfred – er hat das Zähnefletschen eines Hundes – verlangt mich zum Weibe; und meine Mutter selbst drängt mich dazu, bald durch ihre ungezähmten Liebkosungen, womit sie mich fast erstickt, bald in aller Fremden Gegenwart mit kreischenden Drohungen und Vorwürfen. – Ich muß mitunter wie sinnverwirrt in das Gesicht dieser Frau starren; mir ist, als sähe ich auf eine Maske, die ich herabreißen müßte, um darunter das schöne Antlitz wiederzufinden, das noch aus meiner Kindheit zu mir herüberblickt; als würde ich dann auch die Stimme wieder hören, die mich einst in den Schlaf gesummt, süß wie Bienengetön. – – Oh, es ist alles furchtbar, was mich hier umgibt! Frühmorgens schon, denn meine Schlafkammer liegt nach der Hafenseite, wecken mich die Stimmen der schwarzen Arbeiter und Lastträger. Solche Laute kennt ihr drüben nicht; das ist wie Geheul, wie Tierschrei; ich zittre vor Entsetzen, wenn ich es höre, und begrabe den Kopf in meine Kissen; denn hier in diesem Lande gehöre ich selbst zu jenen; ich bin ihres Blutes, Glied an Glied reicht die Kette von ihnen bis zu mir hinan. Mein Vater hatte recht; und doch – – mir schwindelt, wenn ich in diesen Abgrund blicke. Ich werfe mich an Deine Brust; Alfred, hilf mir, ach, hilf mir!«
Und die Hülfe war nicht fern gewesen; der andere Brief ist von Alfred an seine Schwägerin, und das Datum nur um wenige Tage später. Die frohe Zuversicht, mit der er seine Reise antrat, hat ihm auch dort den Preis gewinnen helfen.
»Schon von Bord aus« – so schreibt er – »wurde ich zu Jennis Mutter ins Quartier gewiesen. Jenni selbst war die erste, die mir bei meinem Eintritt auf dem Flur begegnete; sie flog mit einem Schrei der Freude in meine Arme. – Seither habe ich denn auch die Mutter genügend kennen gelernt; sie ist eine wohlbeleibte, noch immer hübsche Frau, die in bunten seidnen Kleidern daherrauscht und in einer ganz unmöglichen Sprache redet; je nachdem, ob mit den Gästen oder mit dem Gesinde, in sanften oder auch wohl in etwas kreischenden Tönen. Von Jenni's Vater spricht sie mit dankbarem Respekt und nennt ihn den »guten nobelen Herrn«, durch dessen Freigebigkeit sie in diese behaglichen Verhältnisse gekommen sei. Nichts liegt ihr ferner, als ein Verlassen ihrer Heimatinsel oder gar eine Heirat mit dem vornehmen Vater ihrer Tochter. Sie ist hier an ihrem Platze und befindet sich so wohl, daß es für Jenni eine fast herbe Enttäuschung gewesen sein muß, statt des geträumten Elendes, zu dessen Heilung sie alle Bande in der Alten Welt zerrissen hatte, eine so niedrige Region vorzufinden, in der solch edles Leid gar nicht gedeihen kann. – Nichtsdestoweniger hat die Ankunft der Tochter dieser lebhaften Frau eine große Freude bereitet; und sie hat sie oft genug vor meinen Augen mit einer ungestümen, ich möchte sagen, elementarischen Zärtlichkeit überschüttet. Da sie mit dem schönen Mädchen vor den Gästen prunken will, so ist sie unaufhörlich bemüht, sie herauszuputzen, und Jenni hat alle Not, sich der brennenden Farben zu erwehren, welche die Mutter für sie aussucht. Aber nicht genug; sie hatte ihr unter den Gästen des Hauses einen reichen Herrn zum Gemahl ausersehen, in dem mir noch ein erhebliches Maß des hier so verfemten Blutes zu zirkulieren scheint, und zu dem Ende schon die ernstlichsten Anstalten ins Werk gesetzt. Da bin ich denn dazwischen getreten; und der Wille und die Vollmacht des »guten nobelen Herrn« haben alles aufs leichteste geschlichtet.
Ich fühle wohl, es war nicht nur ein Schrei der Freude, sondern auch der Erlösung, womit Jenni mich begrüßte. Aber es ist gut so; sie mußte auch das erst erfahren; denn nur, wie es jetzt geschehen, konnte sie wirklich mein werden; und fehlt ihr der Blick nach rückwärts in eine Familie, so wird sie einen Mann haben, der stolz und glücklich ist, ein neues Haus mit ihr zu gründen und sein künftiges Geschlecht aus ihrem Schoß emporblühen zu sehen. Denn ich schreibe dies an unserm Hochzeitstage . – Ihr hättet nur sehen sollen, in welch leuchtend grüner Seide die wackere bewegliche Dame zwischen den Stammgästen des Hauses der Hochzeitstafel präsidierte, wie stolz sie auf ihre wunderschöne Tochter und – ich kann es nicht leugnen – auch auf ihren Schwiegersohn war, und welche unglaublichen Toaste sie in drei Sprachen zugleich auf das Wohl der Neuvermählten ausbrachte. In den ersten Frühlingstagen hoffen wir bei Euch einzutreffen. Und Du, Grete, wirst nicht eifersüchtig in Deiner Freundschaft werden, wenn ich Dir vertraue, was Jenni mir eben zugeflüstert: »Nun, Alfred, hilf mir, daß ich zu meinem Vater komme!«
Diese Briefe waren dem Einladungsschreiben der beiden Eheleute angeschlossen. »Also kommen Sie« – hieß es in dem letzteren von Frau Gretes Hand – »Jennis Vater ist schon hier; Alfreds Eltern treffen noch heute ein; sogar Tante Josephine kommt, obgleich sie mitunter noch einige Bedenken äußern soll hinsichtlich einer Person, die schon in ihren Kinderjahren so ruchlos mit englischen Nähnadeln umgegangen ist. – Wir sind aus unsern Winterquartieren schon wieder in den hellen Gartensaal eingezogen. Vom Rasen her weht der Duft der Maililien durch die offenen Flügeltüren, und drüben im Lusthain am Teiche, wo die Venus steht, sind die Uferränder blau von Veilchen.«
Und in der kräftigen Handschrift meines Freundes Hans stand dahinter: »Die ›Brigg Elisabeth‹ hat am letzten Sonntage Lissabon passiert; Jenni und Alfred sind an Bord; in einigen Tagen können sie bei uns sein; denn schon wehen günstige Winde und bringen die beiden und ihr Glück.«