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Der Amtschirurgus. – Heimkehr

Allerlei Seltsames war in der alten Stadt. In der alten, sage ich; denn seit der große Brand ihre Treppengiebel verzehrt und die Eisenbahn den Arm nach ihr ausgestreckt hat, ist sie jünger geworden, als sie es in meiner Jugend war.

Damals, wenn Unwetter in der Luft drohte, ließen wir uns das nicht, wie anderwärts, durch ein Wetterglas prophezeien, auch nicht durch einen Laubfrosch, der die Leiter in seinem Glase hinabkletterte, sondern durch einen alten Amtschirurgus, der die Treppen der drei Rathausböden hinaufstieg und dann aus der obersten Giebelluke über die Stadt hinaus prophezeite. Zwar betrafen seine Worte nicht zunächst das Wetter; vielmehr pflegte er sich dann als Kronprinzen von Preußen zu proklamieren und hinterher allerlei Verwünschungen über die höchsten Würdenträger der Stadt herabzurufen; aber wir Eingeborenen wußten Bescheid, ein Sturm aus Nordwest war gewiß im Anzuge. Oft habe ich aus dem engen Steinhofe eines Nachbarhauses hinaufgeschaut, wenn das breite rubinrote Gesicht mit dem weißgepuderten Haarschopf droben aus dem Rathausgiebel hinausfuhr, und mit Wonne die ungeheuren Aufrichtigkeiten eingesogen, die der aufgeregte Redner mit beiden Armen aus der Bodenluke hervorarbeitete. Es war dies allerdings nicht das geeignetste Mittel, um in einem jungen Herzen den Respekt vor den Autoritäten des Staatskalenders groß zu ziehen, und ich habe später oft darüber nachdenken müssen, was der Mann nicht alles in mir zerstört haben mag. – Ob im Grunde genommen nicht der Amtschirurgus klarer sah als die Leute unten in der Stadt, die ihn für einen Narren hielten? – Nur so viel ist gewiß; auch wir Gesunden sehen die Dinge nicht, wie sie sind; uns selber unbewußt webt unser Inneres eine Hülle um sie her, und erst in dieser Scheingestalt erträgt es unser Auge, sie zu sehen, unsere Hand, sie zu berühren.

Ich glaube nicht, daß unser Amtschirurgus der Kronprinz von Preußen war; aber er war vielleicht ein Prinz jenes weit entlegenen, aber viel größeren und schöneren Reiches, in welchem Aschenbrödel einst den Thron bestieg. Bestimmtes über seine Herkunft kann ich nicht berichten; denn er war lange vor meiner Geburt aus der Fremde eingewandert. Seit seine Denkweise von der der andern guten Bürger in so Anstoß erregender Weise abzuweichen begonnen hatte und, wie es hieß, sogar die Kehle eines hohen Beamten unter seinem Schermesser in Gefahr geraten war, hausete er, ich weiß nicht in Folge welches Abkommens, auf den wüsten Böden des Rathauses, die er weder sommers noch winters verließ. – Dennoch konnte man sein Leben kein ungeselliges nennen; nur etwas seltsam mochte, wenigstens dem oberflächlichen Beobachter, die Gesellschaft erscheinen, die er bei sich sah. Da er nämlich auf menschlichen Besuch nicht eingerichtet war, so hatte er dafür desto traulichere Beziehungen mit den großen Ratten der benachbarten Brauerei angeknüpft; und er stand sich dabei um nichts schlechter.

Die meisten Leute in der Stadt kannten von dem Amtschirurgus nur noch die Stimme, wie sie an düsteren Novembertagen in der Luft über ihren Köpfen laut wurde; mich aber hatte schon lange die Neugierde geplagt, dies geheimnisvolle Leben einmal in unmittelbarer Nähe zu betrachten; auch wußte ich von meiner dicken Freundin, der Ratskellerwirtin, daß der Amtschirurgus, wenn die Geister des Sturmes ihn nicht beunruhigten, ein gar wohlanständiger alter Herr sei. Und so schlich ich denn an einem sonnigen schulfreien Nachmittage die engen Wendelstiegen hinauf, bis ich endlich durch die Bodentür in den untersten der weiten, unbenutzten Räume eintrat. Es war totenstill, von dem Wirtschaftsleben drunten im Keller drang kein Laut herauf; überall jene bekannte Bodendämmerung; nur hie und da durch die kleinen Dachfenster fiel ein Lichtstrahl mit emsig tanzenden Sonnenstäubchen. Dort hinten in der dunkeln Ecke sah ich eine Stiege, die durch einen Ausschnitt in der Decke zu einem weiteren Boden führte, der, wie ich wußte, noch nicht der letzte war. Eine seltsame Beklommenheit befiel mich, und ich wollte schon ganz leise meinen Rückzug nehmen; da hörte ich hinter mir eine Tür ausklinken, und als ich mich umwandte, stand eine aufrechte breitschultrige Gestalt vor mir, und ein stattliches Burgundergesicht mit vollem weißen Haarschopf schaute aus kleinen zugeschnürten Augen gelassen auf mich herab. »Nun, mein Söhnchen,« – er sprach es aber: Sehnchen – »was hast du denn zu bestellen?« Diese Worte wurden mit einer auffallend zarten Tenorstimme an mich gerichtet, und ich wollte eben wohlgemut eine Antwort geben, als zum Unglück mein Blick in die offene Tür einer Kammer fiel und ich drinnen eine ganze Reihe halb geöffneter spiegelblanker Schermesser an dem Balken hängen sah. Aber schon legte sich beschwichtigend eine große Hand gar sanft auf meinen Kopf: »Warte nur, mein Söhnchen; wir sollen wohl meine Haustierchen einmal zu Gaste laden!« – Ich blickte auf, vermochte aber nur durch ein stummes Nicken mein Einverständnis zu erkennen zu geben; der Mann sah mir so altertümlich vornehm aus, und es war plötzlich, ich weiß nicht wie, in meinem Knabenhirne fertig, daß der Amtschirurgus, wenn auch kein Prinz, so doch wenigstens ein in Ungnade gefallener Kammerherr sein müsse. Der blaue Kleidrock mit dem aufrecht stehenden Kragen und den blanken Knöpfen, zwischen dessen Schößen der goldene Schlüssel nicht übel gepaßt hätte, mochte ein Wesentliches zu dieser Vorstellung beitragen. Freilich, en grande tenue habe ich ihn auch später nie gesehen; seine hellgrauen Pantalons waren über den Knöcheln zugebunden, und seine Füße steckten immer in großen Lederpantoffeln, wenn er, die Hände auf dem Rücken, in seinem öden Reiche promenierte.

Damals war übrigens zu langen Betrachtungen keine Zeit gelassen; denn der Amtschirurgus begann jetzt in scharfem Tempo den Marsch des alten Dessauer zu pfeifen. Unter dieser Musik stieg er die Treppe zu dem zweiten Boden hinan, und während ich ihn so immer weiter bis unter das Dach hinauf pfeifen hörte, wurden über mir alle Böden nach und nach lebendig, überall hörte ich es rascheln und an dem Holzwerk herunterhuschen, kleine Kalkstückchen fielen mir vor die Füße, und hie und da zwischen Pfannen und Sparren fuhr ein grauer Rattenkopf hervor und lugte wie suchend mit den blutschwarzen Augen umher, während an der andern Seite der kahle Schwanz herabhing. Meine Gegenwart schien hier keinen Zwang zu tun; denn bald begann es dicht neben mir immer emsiger auf den Fußboden herabzuplumpen, bis endlich ein ganzer Haufen von glatten grauen Pelzen durch einander wimmelte. Und jetzt verbreitete sich auch der eigentümliche Dunst, den die Ratte an sich hat, so daß ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.

Mittlerweile hatte der Amtschirurgus seinen Marsch vollendet und war mit einer Brotschnitte in der Hand herangetreten. Einen Augenblick wurde es ruhig, und die sämtlichen Köpfchen hoben sich empor; sobald aber der erste Brocken zwischen sie fiel, fuhr alles wieder quieksend und beißend in einen Haufen zusammen. Nur eine Ratte mit lichtgrauem Fell, es mochte eine junge fein, war nicht unter dem Wirrsal; sie hob sich auf den Hinterfüßchen, ließ die Vorderpfötchen hängen und sah erwartungsvoll zu ihrem Meister auf. Alsbald auch begann dieser eine neue musikalische Figur zu pfeifen; die Ratte huschte über den Fußboden und saß im Nu in derselben zuwartenden Stellung auf der Lehne einer zerbrochenen Holzbank; und der Amtschirurgus trat dicht an sie heran. – Sie kannten sich wohl, das fremde unheimliche Tier und der einsame alte Mann; sie blickten sich traulich in die Augen, als hätten sie in deren Tiefe den kleinen Punkt gefunden, der unterschiedslos für alle Kreatur aus dem Urquell des Lebens springt. Und jetzt nahm der Alte ein Krüstchen Brot zwischen seine Lippen, und sein Lieblingstier lief an ihm herauf, erfaßte es mit den zierlichen Pfötchen und saß gleich darauf wieder auf der zerbrochenen Bank, behaglich knuspernd und dann und wann einen Blick auf seinen großen menschlichen Freund werfend, der lächelnd danebenstand.

Ehe ich fortging, führte der Amtschirurgus mich noch in seine Kammer, wo die blanken Schermesser mich nun nicht mehr erschreckten. – Es war nur ein Bretterverschlag, den man von dem großen Boden abgeteilt hatte; darin stand ein Stuhl, ein Tisch und ein Bett; das war alles. Ein Ofen war nicht darin; und wenn im Januar die »hahnebüchene« Kälte bei uns einzog, so mußte der Amtschirurgus auch den Tag über im Bette bleiben, und er lag dann, wie mir die Ratskellerwirtin später erzählte, so tief darin vergraben, daß nur die bläuliche Burgundernase und die kleinen Augen über der rotkarrierten Bettdecke hervorsahen. – Allein es war auch dann so übel nicht in seiner Kammer; denn die Wände waren ganz mit jenen hübschen Bilderbogen bedeckt, wie wir Älteren sie in unserer Kinderzeit für einen Schilling uns beim Krämer holen konnten. Derzeit, vor der Erfindung des Steindrucks, war noch jeder Bilderbogen ein illuminierter Kupferstich und zum mindesten ein halbes Kunstwerk, und der Amtschirurgus wußte wohl, was er tat, als er mit dieser Tapete seine Bretterwand bekleiden ließ. Da sah man außer dem Affen- und dem Ritterspiel jenen berühmten Bilderbogen von der verkehrten Welt, wo die Bauern von den Ochsen auf die Weide getrieben werden und der Schulmeister von den Schuljungen die Rute bekommt; da war ferner ein Bogen mit kleinen Landschaften in runden Schildern, hier eine Heuernte, über der so luftig die gelbe Sommersonne schien, dort ein Vogelherd mit dem alten Vogelsteller im tiefen grünen Walde; lauter trauliche Orte für den Amtschirurgus; denn ich zweifle nicht, daß er sich dieselben Bilder ausgesucht hatte, für welche einst in seiner Knabenzeit seine ersparten Dreier zum Krämer gewandert waren. Und so, während draußen auf den wüsten Böden die Bretter im Froste krachten, während das Trinkwasser vor seinem Bett gefror und durch die bereiften Dachfenster das kalte Dämmerlicht des Winters in seine Kammer fiel, führte er seine Augen an den Wänden spazieren und wandelte vergnügt in seinem Kindheitsgarten, wo er einst gewandelt, da er noch nicht der Kronprinz von Preußen und der Wetterprophet unserer grauen Stadt gewesen war.

 

Aber es gab noch andere Unterhaltungen für den alten Herrn. – Unter seinem ersten Bodenraum befand sich der große Rathaussaal, in welchem nicht nur unsere heimischen Komödianten zuweilen ihr Gerüste aufschlugen, sondern wo auch wir Primaner alljährlich um Michaelis von einem hohen Katheder herab mehr oder minder selbstverfertigte Reden hielten. Von allem diesen bekam der Alte seinen stillen Anteil. Denn wenn unten – und das geschah unfehlbar jedesmal – die Begeisterung die Luft allzusehr erhitzt hatte, dann wurde in der Bretterdecke des Saales eine Luke ausgehoben, und alsbald vom Rande der Öffnung glänzte das rote Gesicht des Amtschirurgus teilnehmend zu uns herab.

Es war immer ein großer Tag, diese »Redefeierlichkeit«. Wir konnten damals noch nicht am eignen Tische frühstücken und in Hamburg zu Mittag essen; alles blieb deshalb hübsch zu Hause, und was wir dort hatten, das würzten wir uns und machten es schmackhaft und kosteten es aus bis auf den letzten Tropfen. – An jenem Tage standen die Häuser der Honoratioren wie der kleineren Bürgersleute leer; der Rattenfänger von Hameln hätte sie nicht leerer fegen können. Frauen und Töchter in Flor und Seide saßen dicht gereiht vor dem weißen Katheder mit der grünsamtenen goldbefransten Bordüre; den Männern blieben nur die hintersten Bänke, oder sie standen an der Wand unter den großen Bildern vom Jüngsten Gericht und vom Urteil Salomonis. Wer hätte auch zu Hause bleiben können, wenn wir Primaner uns nicht zu vornehm hielten, die gedruckten Einladungen in eigener Person von Haus zu Haus zu tragen! Freilich war auch diese Pflicht, besonders für die älteren Schüler, nicht ohne allen Reiz; denn die »Stellen«, welche nach einem Maßstabe von Wein und Kuchen in »fette« und »magere« zerfielen, wurden von dem Primus Classis streng nach der Anciennität verteilt. Die Einladungen selbst enthielten nur unsere Namen und die Thematen unserer Vorträge; aber dessen ungeachtet waren es keine öden Listen, wovon es heutzutage an allen Ecken wimmelt; unser alter Rektor – möge der allverehrte Greis noch lange seiner fruchtbringenden Muße genießen! – wußte durch eine feine Abtönung auch diesen Dingen einen munteren Anstrich zu geben. Denn während der erste nur »redete«, suchte der zweite schon »auszuführen«, der dritte »vertiefte sich in«, der vierte »verbreitete sich über«; und so arbeitete jeder in seinem eigenen Charakter. Was blieb endlich mir übrig, der ich schon damals in einigen Versen gesündigt hatte? Ich, selbstverständlich: »besang«, – »Matathias, der Befreier der Juden«, so hieß meine Dichtung, welche der Rektor mir ohne Korrektur und mit den lächelnd beigefügten Worten zurückgab, er sei kein Dichter. Ich will nicht leugnen, es überrieselte mich so etwas von einer exklusiven Lebensstellung, und ich mag in jenem Augenblick meinen Knabenkopf wohl um einige Linien höher getragen haben. – Freilich, unser Schultisch war derzeit nur mit geistiger Hausmannskost besetzt; wir kannten noch nicht den bunten Krautsalat, der – »Friß Vogel, oder stirb!« – den heutigen armen Jungen aufgetischt wird. Ich habe niemals Kaviar essen können, und – Gott sei Dank! – ich habe ihn auch niemals im Namen der »Gleichmäßigkeit der Bildung« essen müssen; diese schöne Lehre beglückte noch nicht unsere Jugend; der Fundamentalsatz aller Ökonomie »Was kostet es dir, und was bringt es dir ein?« fand damals, freilich harmlos und unbewußt, auch für die Schule noch seine Anwendung. – Leider muß ich bekennen, daß auch die deutsche Poesie als Luxusartikel betrachtet und lediglich dem Privatgeschmack anheimgegeben war; und dieser Geschmack war äußerst unerheblich. Unseren Schiller kannten wir wohl; aber Uhland hielt ich noch als Primaner für einen mittelalterlichen Minnesänger, und von den Romantikern hatte ich noch nichts gesehen als einmal Ludwig Tiecks Porträt auf dem Umschlage eines Schreibbuches. – Nichtsdestoweniger dichtete ich den »Matathias«.

Und endlich kam der große Tag. Während draußen vor der Kirche die Buden zum Michaelis-Jahrmarkte aufgeschlagen wurden, war oben in unserem Rathaussaale die Redefeierlichkeit schon in vollem Schwange. Die an den Fenstern entlang postierte Liebhaberkapelle hatte schon einige Pausen mit entsprechenden Walzern und Ekossaisen ausgefüllt; nun aber begann ein feierlicher Marsch, Und mir klopfte das Herz; denn ich hatte ihn bestellt als Ouvertüre zum Matathias. Dort stand auch mein würdiger Freund, der Doktor, derzeit Primaner und Mitglied des »Dilettantenvereins«, und noch hübscher, als er redete, blies er die Klarinette; heute aber leistete er das Außerordentliche. Da plötzlich, noch ein heroischer Akkord, und oben auf dem Katheder stand ich in dem lautlosen Saale, die erwartungsvolle Menge unter mir. Wie durch einen Schleier sah ich noch die Dilettanten ihre Klarinettenschnäbel mit den Taschentüchern putzen; ein Blick nach oben zeigte mir am Rande der Deckenöffnung das leuchtende Gesicht des Amtschirurgus, der wie ein umgekehrter sixtinischer Engelskopf zur Erde statt zum Himmel blickte; dann:

O Söhne Judas, rächt der Väter Schmach!

– – Zum Unglück für den Leser ist das Gedicht verloren gegangen, und mein Gedächtnis vermag dem Schaden nicht mehr abzuhelfen; doch kann ich versichern, daß es ohne Anstoß zu Ende gebracht wurde. Und das war keine Kleinigkeit; denn unter den Zuhörerinnen hatte ich ein Paar wohlbekannte vergißmeinnichtblaue Augen entdeckt, die mit dem Ausdruck zarter Fürsorge auf mich gerichtet waren. Ich kannte solche Klippen nur zu wohl; war es mir doch in meiner vorjährigen Rede »Über den Untergang der Staaten« begegnet, daß ich in denselben Augen eine ganze Weile, alle Feierlichkeit vergessend, hängen blieb, wodurch denn eine allen übrigen Zuhörern unbegreifliche Kunstpause entstanden war. Diesmal aber, und das von Rechts wegen, half mir der Gott Israels. Denn dort hinten, unter dem Urteile Salomonis, erschien mein Freund, der jüdische Handelsherr aus unserer Nachbarstadt, und nickte mir zu und lächelte mich an; und der Geist meiner heutigen Sendung erfüllte mich wieder, ich sah nicht mehr in die vergißmeinnichtblauen Augen, sondern auf die goldenen Uhrberloques, die an dem behäbigen Leibe des jüdischen Mannes funkelten; und für ihn eigentlich habe ich diese Rede gehalten.

Dein Stern ging unter, Judas Stern
Erglänzt in neuer Pracht und brennt
An deiner Gruft die würd'ge Todesfackel.

Das waren meine letzten Worte für den Matathias. Als ich das Katheder verlassen und mich nach dem alttestamentarischen Bilde durchgedrängt hatte, nahm der Urenkel desselben schweigend und mit sanftem Druck meinen Arm in den seinen, und wir stiegen miteinander die schmale Wendeltreppe hinab bis unten in den Ratskeller und tranken dort in altem Madera auf das Gedächtnis des unsterblichen Matathias und auf die Gesundheit seines jungen sterblichen Dichters. Dann, da die Redefeierlichkeit für den Vormittag beendet war, gingen wir auf den Markt hinaus und setzten uns im Lindenschatten vor einem Hause auf den Beischlag. Uns gegenüber im Sonnenschein wurde eine Bude nach der andern aufgeschlagen; aber der sonst so eifrige Handelsmann, obgleich er noch nicht einmal sein herkömmliches Tuchgeschäft mit meinem Vater gemacht hatte, wandte kein Auge auf dieses werktägige Treiben. Von meiner Rede ausgehend, hatte er mich, wie er es liebte, in allerlei religiös-moralisches Gespräch verwickelt: »Was soll's!« rief er mit den scharfen Akzenten seines Volkes, »ich sage bloß: Tue Recht und scheue niemand!« – Bald darauf schien er indessen durch den jetzt vom nahen Kirchturm tönenden Schlag der Viertelsglocke an die Kostbarkeit der Zeit erinnert zu werden; denn als wolle er alle grauen Theorien von sich schütteln, stand er plötzlich auf und klopfte mich zärtlich auf die Schultern. »Komm nun!« sagte er schmunzelnd; »woll'n wir gehen und woll'n noch betrügen ein bißchen den Alten!«

Aber das war nur dein Scherz, mein alter Freund; ich kann nicht anders, als es dir in dein Grab nachsagen, worin du nun seit lange auf dem kleinen Judenkirchhof der Nachbarstadt ruhst, daß du meinem Vater gewiß gutes niederländisches Tuch zu den christlichsten Preisen verkauft hast. – Wer weiß, ob nicht die Freundlichkeit, die du dem Knaben einst erwiesest, den Keim jener Zuneigung gelegt hat, die ich deinem Volke stets bewahrte, und die mir auch der schmutzigste Schacherjude nicht hat stören können. Habe ich doch aus jener Sympathie heraus noch vor wenigen Jahren die nachstehenden Verse gedichtet, welche freilich von meinem Freunde Alexander, da ich sie ihm noch warm aus dem Herzen vortrug, mit der kurzen Kritik: »Auch eine Auffassung!« ganz und für immer abgefertigt sind:

Crucifixus

Am Kreuz hing sein gequält Gebeine,
Mit Blut besudelt und geschmäht;
Dann hat die stets jungfräulich reine
Natur das Schreckensbild verweht.

Doch, die sich seine Jünger nannten,
Die formten es in Erz und Stein,
Und stellten's in des Tempels Düster
Und in die lichte Flur hinein.

So, jedem reinen Aug ein Schauder,
Ragt es herein in unsre Zeit;
Verewigend den alten Frevel,
Ein Bild der Unversöhnlichkeit.

 

Aber ich kann so nicht weiter schreiben. Durch das offene Fenster weht der Primelduft aus dem Garten, und draußen unter dem sprießenden Syringenbaum steht plötzlich meine Muse, die ich so lange nicht mehr sah. Sie legt den schönen, ewig jugendlichen Kopf zurück und sieht mich an; schimmernd liegt die Frühlingssonne auf ihrem goldig blonden Haar. Soll ich noch einmal deine träumerischen Wege wandeln? – Aber, wenn du mich zur Höhe führst, und nun dein Fuß von der festen Erde auf die rosigen Wolken hinaustritt? – Zwar meine Seele hat noch ihre Flügel; aber manche der rauschenden Schwungfedern sind schon gebrochen, und mächtiger als sonst fühl ich die Erde mich zu sich niederziehen. – Doch, wer könnte diesen Augen widerstehen? So gehen wir denn! Streich mit deiner Götterhand das graue Haar von meinen Schläfen, und dann sage mir: wie war es doch?

– – Ich war wieder in der kleinen Küstenstadt, in der ich einst die Tage meiner Jugend lebte. Weit dahinter lag jene Zeit, unabsehbar weit; denn es gibt Gräber, über die hinweg der Blick in die Vergangenheit unmöglich wird. Dennoch hatte es mich dahin zurückgezogen; in allen Jahren, die ich in der Fremde lebte, war immer wieder das Brausen des heimatlichen Meeres an mein inneres Ohr gedrungen, und oft war ich von Sehnsucht ergriffen worden, wie nach dem Wiegenliede, womit einst die Mutter das Tosen der Welt von ihrem Kinde fern gehalten hatte. – Nun hörte ich es wieder, das Wiegenlied des Meeres; am Tage wanderte ich hinaus an seine Küste und ließ die Wellen zu meinen Füßen rauschen, des Nachts klang es hinüber in die schlafende Stadt, nur unterbrochen von dem tönenden Flug der Wandervögel, die in großen Zügen unsichtbar unter den Sternen dahinrauschten. Wie oft stand ich jetzt im Dunkel meines Gartens, blickte hinauf zu der lichten Sternenhöhe und ließ mein Ohr von diesen Akkorden des Schöpfungsliedes erfüllen.

Ich entsinne mich eines Spätherbstnachmittages; so ungestört war ich seit meiner Heimkehr nicht durch die Stadt gewandert; denn der erste Novembersturm hatte die Gassen leer gefegt. Ich sah mir die Häuser an und gedachte ihrer einstigen Bewohner. Hier auf der Bank unter den Linden, von deren Zweigen jetzt die letzten Blätter wehten, saß einst der lustige Herbergsvater, der uns Schülern stets das griechische »Heureka« zum Gruß entgegenrief. – Heureka – Gefunden! – Ob man wohl das Wort auf seinen Sarg geschrieben hat?

Und drüben jenes Giebelfenster mit den zertrümmerten Scheiben; – die Donner des Frühlingsungewitters sind längst verhallt, die ich in lauer düfteschwerer Nacht dort über meinem Haupte rollen hörte; aber wo ist sie geblieben, die ich so fest in meinen Armen hielt? – Ich habe das blasse Gesichtchen nie vergessen können, wie es beim Schein der Blitze aus dem Dunkel auftauchte und wieder darin verschwand. – Hu! Wie kommen und gehen die Menschen! Immer ein neuer Schub, und wieder: Fertig! – Rastlos kehrt und kehrt der unsichtbare Besen und kann kein Ende finden. Woher kommt all das immer wieder, und wohin geht der grause Kehricht? – Ach, auch die zertretenen Rosen liegen dazwischen.

Ich will zum Kirchhofe gehen; es stillt die Unruhe, in den Blättern dieses grünen Stammbuches zu lesen. Auf dem Wege dahin sieht hie und da ein übrig gebliebener Treppengiebel vertraut auf mich herab. Ob droben in der Tertia der nun abgesetzten »Gelehrtenschule« das halb zerschnittene Pult noch steht, vor dem ich einst »Üb immer Treu und Redlichkeit« so weltvertrauend deklamierte? Mir ahnte damals noch nicht, daß die Redlichkeit nur so weit geübt werden dürfe, als sie nicht verboten ist. Jetzt weiß ich es und begreife nur nicht, warum man die Kinder Dinge lernen läßt, die ihnen später so gefährlich werden können.

Äußerst schmucklos waren jene alten Räume; höchstens, daß hie und da eine aus Strafgeldern zusammengesparte Landkarte an der Wand hing. Wir kannten weder die Schöne griechischer Götterbilder, noch anderseits jenes cäsarische Wesen, in dem Bilde des jemaligen Herrschers der aufstrebenden Jugend ein drohendes Symbol der Gewalt entgegenzuhalten. Aber jenseit der schmalen Straße in dem Hofe der damaligen Propstei stand derzeit ein mächtiger Kastanienbaum, dessen Zweige zu den Fenstern der Tertia und der daneben liegenden Sekunda hinüberreichten. Wie oft, wenn es draußen Frühling war, flogen meine Gedanken über den Nepos oder später über den Ovid hinweg und schwärmten drüben mit den Bienen um die weißen rot gesprenkelten Blütenkerzen, die aus den jungen lichtgrünen Blättern emporgestiegen waren! Aber weiter, – weiter! Hier noch den kurzen Baumgang hinab, und schon sehe ich die Totenkränze an den Kreuzen wehen und die weißen Bänder flattern. Die Ulmen an der Seite des Kirchhofes ächzen und schlagen ihre nackten Zweige an einander, wie der Sturm ihnen die letzten Blätter abreißt und sie weithin über die Gräber wirft. Wie wüst dort im Nordwest das Meer am Horizonte aufsteigt! Ich lese die Inschriften der Leichensteine: »Du warst, wirst sein, wirst nie vergehen, nie Todesraub.«

Überall dies unheimliche Wehren gegen die Vernichtung; nur hier der alte aufrechte Stein trägt einen andern Spruch:

Het Liden hier geleden,
Het Striden hier gestreden,
Ick was het Leven möd;
Ick zegg Adies min Vrienden,
Gy zelt mi niet mer vinden;
– – – – – – – – – – – –

Das übrige bedeckt die Erde.

Es ist sehr einsam hier; – doch nein, da stehe ich ja an deinem Grabe, alter ehrlicher Georg, candidatus der Gottesgelahrtheit. Wie lange ist es her, daß wir unter den blühenden Apfelbäumen deines elterlichen Gartens auf dem widerspenstigen Esel Schule reiten wollten! Mir ist, als sei das nur ein Kapitel aus einer sonnigen Idylle, die ich in schöner Jugendzeit gelesen. Etwas später war es, – wir waren schon Studenten – da wir am lauen Frühlingsabend über den Hamburger Wall schlenderten. Als in der Dämmerung die Frösche aus dem Graben ihre Stimme erhuben, legtest du die Hand auf meinen Arm und sagtest andächtig: »Horch nur, wie lieblich doch die Nachtigallen girren!« Freilich, du warst ein Sohn unserer Küste, und selten und nur zu flüchtigem Besuche kehrt Philomele bei uns ein; denn sie weiß es wohl, daß ihre Liebesklage von dem Brausen der großen Naturorgel verschlungen wird, die Boreas hier so meisterlich zu spielen weiß. Aber daß dir auch der Frosch, der Sänger unserer Marschen, plötzlich fremd geworden war, das mußte mich billig wunder nehmen, und ich komme nachträglich auf den Verdacht, daß du die seltsamen Worte nur gesprochen hast, damit ich jenen Abend nicht vergäße, an dem sonst nichts war als Frieden in der Natur und in unseren jungen Herzen. – Das Pfeifen ganz anderer Vögel war es, die dir bei Idstedt dein letztes Schlummerlied gesungen haben, und mit Andacht lese ich auf deinem Grabe den Spruch aus dem Evangelium Johannis, den, wie ich anderswo berichtet habe, auch der alte Landschullehrer auf seines Knaben Grabstein hauen ließ: »Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde.« Für seine Freunde; möge das dein Los gewesen sein!

Und hier stolpere ich über den Hügel unseres Amtschirurgus; der Nordwest, der jetzt den Sand von seinem Grabe bläst, beunruhigt ihn nicht mehr. Ich war ihm noch begegnet nach meiner Heimkehr; aber schon damals hatte er seine großen Räume verlassen und begnügte sich mit einem Winkel in dem städtischen Krankenhause. Seine Seltsamkeiten hatten abgeblüht, und er war nur noch ein müder abgebrauchter Mensch, gleich allen übrigen, die dort der Ewigkeit entgegenträumen. Hier auf der Bank am Kirchhofssteige saß er und wärmte seine Glieder in der Frühlingssonne. Als ich ihn begrüßte, stand er auf, und ich sah, wie das Alter seine hohe Gestalt gebeugt hatte. »Und was ist aus Ihren trefflichen Ratzen geworden?« So fragte ich, nachdem die üblichen Reden eines ersten Wiedersehens zwischen uns gewechselt waren. Ich hatte eine unverharschte Wunde berührt; aus seinen kleinen Augen blickte er wehmütig auf mich herab, indem er mit seinem Stock im Sande scharrte: »Sie wissen ja; die große Brauerei nebenan; – vergiftet! alle vergiftet!« Und er schlich von dannen mit einem Seufzer über die schöne alte Zeit; denn, wie Freund Mörike sagt:

Doch besser dünkt ja allen, was vergangen ist.

Aber wo bist denn du, Ludwig? Ich lebe noch, und schon finde ich dein Grab nicht mehr. Wir waren gute Kameraden; hab ich doch einst, da wir auf dem Lübecker Gymnasium unserer Schulbildung die letzte Politur geben ließen, meine goldene Uhr zum Pfandverleiher getragen, damit du in der Rolle des Dottore Bartolo die Maskerade im Schauspielhause besuchen konntest! Mit dem Bambusrohr und der Pillenschachtel stapftest du wacker im Saale umher; und als der spanische Grande dich wegen der Donna Ines konsultierte, die zart und schmächtig an seinem Arme hing, da versichertest du mit großer Innigkeit, daß die Dame nur an den Würmern leide, was dir seltsamerweise mehr Entrüstung als Dank von dem Gemahl der hohen Patientin eintrug. – Auch eine Maskerade war es, die wir beide wenige Jahre später in unserer grauen Küstenstadt veranstalteten. Dein Name stand neben dem meinigen auf dem Einladungsbogen; aber als der Abend des Festes herangekommen war und die Masken sich durch einander drängten, die du mit mir berufen, da hattest du dich so tief vermummt, daß dich niemand zwischen ihnen zu finden vermochte; und auch später bist du niemals wieder zum Vorschein gekommen. – –

Aber es wird schon dämmerig; mir ist, als höre ich zwischen dem Brüllen des Sturmes das gewichtige Wort des alten Jobst Sackmann, das bei jeder Wiederkehr immer dröhnender ins Gehör fällt: »Wo is he bleven? – Wo is he bleven? – Mortuus est!«

Ich will nach Hause gehen. Die eiserne Kirchhofstür fällt klirrend hinter mir ins Schloß; die lange Straße, die nach meiner Wohnung führt, ist noch so öde wie zuvor. Aber dort sehe ich eine weibliche Gestalt mit dem Winde kämpfen; und wie wir uns einander nähern, bemerke ich mit Verwunderung, daß sie einen maigrünen Sonnenschirm in der Hand hält. Unter einem lila Seidenhütchen mit Blumen hängen lange braune Locken auf die Schultern herab. Und jetzt erkenne ich sie! In meiner Erinnerung taucht ein Erkerfenster auf mit Reseda- und Geranienstöcken, hinter denen ein junges Mädchen an einer Stickerei zu sitzen pflegte. Wie tief zogen wir Primaner unsere Mützen, um einen Aufschlag dieser Augen, ein Erröten dieses frischen Antlitzes zu erhaschen! – Auch jetzt ziehe ich den Hut. Ein ältliches maskenartiges Gesicht verzieht sich zu einem verbindlichen Lächeln, und mit altjüngferlichem Knicks geht die Gestalt an mir vorüber.

 

O, meine Muse, war das der Weg, den du mich führen wolltest? Die sommerlichen Heiden, deren heilige Einsamkeit ich sonst an deiner Hand durchstreifte, bis durch den braunen Abendduft die Sterne schienen, sind sie denn alle, alle abgeblüht?

Es ist ein melancholisches Lied, das Lied von der Heimkehr.


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