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Ostern, 5. April.
Es ist wie ein Märchen, aus dem ich nicht erwachen möchte.
Karfreitag nachmittag kam Robert plötzlich.
Ich las gerade in den Briefen von Abälard und Heloise, deren Leidenschaft mir aus eigenem Erleben heraus besonders verständlich ist. Mich hat Heloisens kühnes, stolzes Wort als Ausdruck hoher Liebesfähigkeit stets so gefreut: daß sie lieber Abälards Geliebte als das Ehgemahl des Kaisers sein wollte.
Ja, so muß man wohl denken, so kann man wohl nur denken, wenn man liebt.
Ich verstehe auch, wie selbst die Entsagung, die sie ihm zuliebe dann leiden muß, dennoch – bei aller Qual – eine größere, stolzere Befriedigung für sie ist, als Ehefrau oder Geliebte eines anderen zu sein.
»Nie, Gott weiß es,« sagte sie, »nie habe ich von dir etwas anderes haben wollen als dich selbst.
Dich wollte ich, nicht dein irdisches Gut. Nie habe ich danach gefragt, ob du mich ehelichen willst – nie nach dem Besitz, nie nach meiner Lust, nie nach meinem Verlangen.«
»Das Leid um so viel Verlorenes entzündet sich immer wieder an der lustreichen Erinnerung des mir für immer Geraubten – und die Bitterkeit ist um so härter, da sie unmittelbar folgte auf die letzten Entzückungen der Liebe.« –
Wie muß man gelitten haben, um das zu verstehen!
*
Roberts Klingeln hatte mich aus meiner Lektüre aufgestört. Er hatte einen sehr interessanten Brief von Dr. Waßmann bekommen – den ersten von seiner Reise, erzählte er und ging bis dicht an meinen Schreibtisch heran, um dort Platz zu nehmen und mir daraus mitzuteilen. Ich packte erschrocken den Band der Heloise-Briefe fort, der dort noch aufgeschlagen lag – nein, er soll nicht sehen, wie mich das festhält und ergreift. Dann holte ich einige Skizzen von mir aus der letzten Zeit, die er sich ansehen wollte. –
Er kritisierte, lobte dies, tadelte jenes – ich freue mich immer, wenn er sich so Mühe gibt, sich in meine Arbeit zu vertiefen. Dann brachte ich einige neu erschienene Mappen mit wundervollen Kunstblättern, für die er sich sehr interessiert! Während ich vor ihm stand und ihm eifrig die Schönheiten der Blätter zu zeigen bemüht war, nahm er auf einmal meine Hände, und dann legte sich sein Arm sehr lieb um meine Hüften, während wir zusammen blätterten. –
Es ist seit jener entsetzlichen Stunde im März des vorigen Jahres das erstemal, daß er eine Berührung wagt. Ich stand still und wagte kaum zu atmen und dachte nur: »Woher weiß er denn nur, daß ich keinen andern liebe?«
Wir lasen zusammen das Maeterlincksche Gedicht voll herzzerreißender Schwermut, voll Wohllaut:
»
Et s'il revenait un jour –
Que faut-il lui dire?«,
das mich neulich so ergriffen hat – es packte auch ihn.
»
Dites-lui que j'ai souri –
De peur qu'il ne pleure.«
Ja – das ist vielleicht Liebe.
Wir waren dann beide still.
»Du hast ja so kalte Hände«, sagte er – und nahm sie beide, um sie in den seinen zu wärmen. Ich erzählte ihm von Lillis furchtbarem Schicksal – und wie wir zu Neujahr uns seelisch noch so nahe gewesen seien. Es erschütterte ihn sehr.
»Weißt du übrigens, wer viel Ähnlichkeit mit deinen Anschauungen hat?« fragte er später. »Schleiermacher in seinen Vertrauten Briefen über die Lucinde.«
»Das ist ja sehr schön von ihm«, sagte ich ungeschickt.
»Das war ein Verlegenheitsausdruck«, lächelte er.
»Ja, gewiß – ich dachte nur betrübt, was mir jemand helfen könnte, der seit einem halben Jahrhundert tot ist«, entschuldigte ich mich.
Wieviel beglückender wäre es, einem solchen Menschen im Leben zu begegnen, – wenn Robert zum Beispiel meine Auffassung teilte!
Aber das sprach ich nicht aus.
»O, das ist doch besser als irgendein kleiner Mensch von heutzutage. Ich suche doch bei Goethe auch die Beziehungen zur heutigen Kultur. Wir sind noch lange nicht mit ihm fertig.«
»Nein, gewiß nicht – alle großen Menschen leben noch und wirken auf uns – auch Christus zum Beispiel. Vielleicht fangen wir jetzt erst an, ihn zu verstehen. Man darf ihn doch nicht verantwortlich machen für das, was die Torheit und Engherzigkeit der Menschen aus ihm und seiner Lehre gemacht hat. Weißt du, wir haben ja oft darüber gestritten – ich sagte, das beste wäre die Liebe – und du sagtest das Handeln.«
Aber Liebe, die nicht handelt – im Geist der Liebe – ist gar keine Liebe – und dann hätte Christus gewiß nicht gesagt: »Gott ist die Liebe!« Damit meinte er doch wohl auch, sie sei das Höchste – und müsse wirksam sein – »handeln«.
*
Wir sprachen von der Einsamkeit – was das bedeutet: das Glück der Einsamkeit, die Qual der Verlassenheit.
»Aber vielleicht braucht man die Menschen, die das nicht kennen, nicht einmal zu beneiden«, sagte ich.
»O, lies doch einmal die Natalie von Wilhelm Meister – die kennt es, glaube ich, nicht.«
»Aber Jesus muß es doch auch gekannt haben, als er sagte: ›Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‹« wandte ich ein.
»Ja, das war, als er am Kreuz hing.«
»Ja – immer, wenn ein Mensch am Kreuz hängt – manchmal viel, viel länger als einige Stunden – wird er so empfinden«, sagte ich ernst.
*
Wie wir so saßen und sprachen, sagte ich: »Es ist so dumm von mir, daß ich bei dir so schwer sprechen kann.«
»Woran liegt denn das?« fragte er sanft. »Hast du das immer gehabt?«
»Immer!« sagte ich. »Ich bin selbst so ärgerlich darüber.«
»Aber ich habe doch eigentlich eher etwas, das den Menschen Vertrauen gibt, sie veranlaßt, zu reden, sich aufzuschließen.«
»Kannst du verstehen, wie man unter Menschen leidet?«
»Ja, das kann ich verstehen. Aber willst du etwas sagen, das sich auf mich bezieht, so sage es gleich.«
Ich nahm allen Mut zusammen und sagte: »Nicht nur auf dich – auch auf Menschen vielleicht, die ich gar nicht kenne.
Siehst du« – ich sah an ihm vorüber in die Baumwipfel draußen, wo sich die ersten Knospen entfalteten, »ich lebe mein Leben; aber wie sich das auch gestalten mag – es wird immer sehr viel für mich bedeuten, wie ich dich ansehen kann.
Und es wird mir immer sehr schwer sein, wenn ich dich nicht so sehe, wie ich möchte.« –
»Ja, das verstehe ich«, sagte er; »aber ich habe noch nie so ruhig, mit so gutem Gewissen dir gegenüber gesessen wie heute. Das schlimmste ist ja immer, daß man sich selbst noch nicht erreicht hat. Es hat so vieles zwischen mir gestanden. Ich weiß nun, daß ich der Welt zu viel Konzessionen gemacht habe. Und wenn man sich ändert, entwickelt, so geht das natürlich in Etappen – und es bleiben immer Fetzen hängen. Und dann das Studentenleben! Nietzsche hat schon recht: es wird wenig erreicht – viel zerstört. Aber ich gehe jetzt klar und bestimmt auf das Ziel los, das ich erreichen will. Und wir haben doch eigentlich so ähnliche Anschauungen; das ist doch die Hauptsache.«
»Ja – aber ich wundere mich nur, wie wir dabei so verschieden handeln«, fand ich.
»Für eine Frau ist es wohl viel einfacher als für einen Mann.«
»Ja, das ist es vielleicht. Aber weißt du,« sagte ich nun – »wenn ich sage, ich leide an dir, dann denke ich immer: du würdest einfach sagen, es sei nicht nötig, daß ich mir Kummer mache. Das möchte ich ja gerade von dir hören.
Und auch das mit den anderen Menschen – die ich vielleicht gar nicht kenne: der Gedanke, daß sie dem, was mir für das Glück oder die Erhöhung des menschlichen Wesens notwendig scheint, gar nicht entsprechen oder gar widerstreben – das läßt mich unendlich leiden.«
»Aber du sollst nicht nur leiden – du bist doch so zur Freude geschaffen«, widersprach er lebhaft. – »Nein, das habe ich nicht – ist das nicht Sentimentalität?«
»Nein, ich glaube nicht – wenn man die Welt ändern möchte, muß man wohl unter der Unzulänglichkeit der Menschen leiden; ich glaube, Christus und Nietzsche hatten das sicherlich auch. Ich kann nicht einmal wünschen, nicht zu leiden.«
»Nein, das habe ich nicht«, sagte er noch einmal; »eher eine gewisse Kühle, wie Goethe – ich weiß, so wie ich können nur ein paar Menschen sein.«
Ich zeigte ihm ein Bild von Hanna, das sie gerade geschickt hat – und auf dem etwas von dem Neuen, Schönen, Verheißungsvollen, das in ihr Leben getreten ist, sichtbar wird.
»Ja,« sagte er, »sie sieht viel reifer und froher aus als früher.«
»Weißt du,« fiel mir plötzlich ein, »erinnerst du dich noch ihres letzten Besuches im November? Wir waren bei dir und Hedwig – und da sagte Hanna hernach zu mir: ›Er war sehr lieb – aber dabei kommst du gar nicht zu deinem Recht‹.«
»So?« sagte er ein wenig gekränkt – »was weiß sie denn von mir? Und du hast mich auch nie gekannt.«
»Das habe ich wohl nicht«, gab ich zu.
»Du hast mich immer unterschätzt – besonders nach der Seite der Leidenschaft.«
Ich habe es längst als hoffnungslos aufgegeben, etwas gegen dieses Mißverständnis zu sagen, das unser tragisches Schicksal geworden ist. Ich sagte daher nur: »Ja, aber von mir hast du doch auch nicht viel gewußt. Ich habe mich doch nie so ganz geben können. – Nur so ein paar Hilferufe, wenn es gar nicht mehr ging. Und das möchte ich doch so gern lernen, mich ganz unbefangen einem Menschen zu geben, der für mich so viel bedeutet, und den ich doch so –« ich stockte.
Da kam er zu mir. Er zog mich sehr sanft, sehr liebevoll in seine Arme, auf seinen Schoß: »Woran liegt es denn nun?« fragte er weich.
»Ach, ich weiß schon,« sagte ich – »heute bist du so gut – aber dann – nach ein paar Tagen hast du es ganz vergessen.«
»Nein, vergessen nicht,« bestritt er – »aber man hat doch noch andere Sorgen – und du kannst dich nie in einen anderen Zustand hineindenken.
Und wenn du das Grüne liebst – und das ist gerade nicht da –, dann wird es doch nicht besser, wenn du sagst: O, das häßliche Gelb, das mag ich nicht leiden, – sondern indem du so bist, daß das Grüne wieder zum Vorschein kommt.«
»Ja, das ist wahr. Und dann – das Schrecklichste und Unerträglichste in unserer Geschichte war für mich das mit Fräulein von Wendeborn, dies unglückselige Zusammentreffen: daß ich zuerst durch andere Menschen davon erfuhr.«
Er streichelte sanft meine Hände, mein Gesicht: »O, für mich auch.«
»Ja, vorher war es wohl traurig und schmerzvoll – damit kam etwas Häßliches, Erniedrigendes hinein. Und das ertrage ich nicht. Ich muß es heilig halten können.«
»Aber hast du denn einen Augenblick denken können, ich hätte dich mit ihr betrogen?« fragte er.
»Ich habe es wohl nicht klar zu Ende gedacht – einfach aus Selbsterhaltungstrieb,« sagte ich – »ich hätte es nicht ertragen.«
»Nun, das hätte doch nur etwas Lächerliches sein können,« sagte er – »sie hat doch gar nichts von dem, was du hast – sie ist durch und durch unwahrhaftig und kalt – völlig unreparierbar. Und die Geschichte vom Sommer – ach – ich habe Hertha Mauritius seitdem nie wieder gesehen – auch nicht auf der Straße.
Sie ist ganz das Gegenteil von dir: eine plumpe Natur – hart und rücksichtslos, ohne jede Reue.«
Er erzählte dann noch allerhand aus dem Kreise der uns befreundeten Menschen; ich saß neben ihm und hörte träumend zu. Nur als er von dem Fall einer tragischen Verstrickung erzählte – einer jungen Künstlerin, die von ihrem Verlobten zur Vollendung ihrer Studien Geld empfangen habe, den sie nun nicht mehr liebe, da sie ihn heiraten solle – da stahl sich meine Hand in die seine, und ich sagte lächelnd: »Es ist also schon besser, man läßt sich kein Geld geben.« – – –
»Hast du das einen Augenblick denken können, das mit Fräulein von Wendeborn?« fragte er eindringlich noch einmal.
Ich stand jetzt vor ihm – seine Arme hatte er noch um meine Hüften gelegt.
»Weißt du, was ich so fürchte?« sagte er nun lebhaft. »Daß es uns wieder packt!« –
Ich sah ihn an, als ob ich träumte.
»Ja, du unterschätzest eben meine Leidenschaft«, sagte er nachdrücklich.
»Aber das geht mich doch nichts an«, versuchte ich abzulenken.
»So, geht dich das wirklich nichts an?« fragte er zärtlich vorwurfsvoll.
»Ich weiß doch gar nicht, worauf es sich bezieht.«
»Nun, das, was ich fürchte, bezieht sich weder auf die Vergangenheit noch auf die Zukunft –« lächelte er.
»Aber du weißt doch gar nicht, was ich in diesem Jahre erlebt habe«, sagte ich.
»Was du erlebt hast?« fragte er erstaunt.
»Nun, ja – innerlich erlebt –«
»Ach, das kann ich dir ganz genau sagen.«
»Nun, dann werde ich es mir nächstens einmal von dir erzählen lassen«, lächelte ich.
Er mußte gehen. Ich gab ihm beide Hände und sah zu ihm auf: »Bin ich nun heute wieder schlecht zu dir gewesen?«
»Nein, dachtest du das?«
»Nein – aber oft dachte ich es auch nicht – und dann war ich es doch gewesen – – –«
»Ja, früher«, sagte er gedankenvoll.
»Ich habe wohl viel gelernt«, sagte ich.
»Ja, das hast du!«
»Das muß man wohl auch – wenn man das durchlebt!« Ich schauderte. »Aber in diesem Jahr – seit einem Jahr –, da war ich doch, wie ich sein sollte?«
»Ja, das warst du«, sagte er weich, während er zärtlich über meine Augenbrauen strich.
Dann faßte er wieder meine Hände und zog mich näher zu sich: »Wollen wir es noch einmal miteinander versuchen? Wollen wir uns gegenseitig helfen?«
»Ja, das wollen wir.«
Er nahm einen Band Emerson mit, von dem ich ihm erzählt hatte – und ein paar Skizzen von mir, die er Hedwig gern zeigen wollte. – – – – – – – – – – – – –
*
Ich bin wie in einem Märchen: schöner kann es ja gar nicht werden – ich kann nur wünschen, es bliebe so. Ihn so sehen zu können – das ist ja Seligkeit.
20. April.
Es ist so wunderschön jetzt: Jeden Sonntag nachmittag oder abend kommt Robert zu mir – und es ist immer sehr gut zwischen uns.
Als er gestern kam, schalt er, daß ich Hedwig so kostbare Blumen geschickt; aber ich weiß doch, wie sehr sie sich daran freut.
Dann nahm er meine Hände – und suchte den Ring. Die Hartnäckigkeit, mit der er auf diesem Zeichen der Hörigkeit besteht, wenn es zwischen uns gut ist, ist fast rührend. Er gab nicht Ruhe, bis ich ihn angesteckt hatte. Dann hielt er meine Hand lange in der seinen – sah sie an und zog sie leise an seine Lippen.
Seit der Shakespeareaufführung, die er die letzte Woche sah, beschäftigt ihn das Problem »Kleopatra« sehr. Er findet sie königlich; »übrigens wäre jedes Verhältnis zwischen Mann und Frau sinnlich –«
»Sinnlich? Nun ja« – sagte ich – »dann ist jedes menschliche Verhältnis sinnlich. Aber es braucht nicht immer geschlechtlich zu sein.«
Darauf einigten wir uns.
Er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände: »Ach, Kind, du weißt gar nicht, wie schwer es mir wird, so zu werden, wie ich möchte.«
»Das ist schade«, sagte ich.
»Bist du nicht jetzt manchmal zu streng mit dir?« fragte ich.
»Vielleicht –«
»Es gibt ein interessantes Wort eines modernen Philosophen, an das ich oft denken muß, das mir manchmal geholfen hat«, sagte ich. »Der Mensch ist nicht das, was er in einzelnen hohen Momenten zu sein vermag, sondern was er in jedem Moment mindestens ist. Der Wert eines Menschen richtet sich nach der untersten Grenze seines Wesens und Seins. Es ist vielleicht ganz gut, immer daran zu denken.«
Er schalt wieder auf sich selbst.
»Bist du entzückt von mir?« fragte er bitter.
»Manchmal«, lächelte ich.
»Nein, das bist du nicht«, bezweifelte er.
»Aber das weißt du doch gar nicht.«
»Zu meiner Natur paßte ein steter Frohsinn« – er nahm wieder mein Gesicht zwischen seine Hände: »Ein Mann muß doch Energie und Konsequenz haben, nicht wahr – und wo soll ich die hernehmen? Es liegt in keinem von unserer Familie.
Und dann diese halbe Sinnlichkeit: du hast viel mehr sinnliche Frische mit ins Leben bekommen. – Und meine Arbeit über Goethe hat dir doch auch nicht gefallen.«
»Aber wie kommst du darauf?« fragte ich erschrocken.
»Nun, damals im Januar, als ich sie vorgelesen habe –«
Ich besann mich: das war der Unglücksabend im Januar, wo er so ärgerlich sagte: er habe nur Erna Oppenheimer – und ich dann so lange nicht hinging.
»Aber da waren doch so viele fremde Menschen dabei – dann kann ich doch nichts sagen – ich habe gar nicht geahnt, daß du das so aufgefaßt hast! Ich habe mich im Gegenteil sehr über diese Arbeit gefreut. In Wahrheit bin ich doch immer dankbar und glücklich, wenn ich so wieder ein Bewußtsein deiner Überlegenheit gewinne.«
Von Emerson, den ich ihm neulich mitgab, der über Goethe geschrieben hat, und den auch Nietzsche so liebte – ist er nun auch entzückt.
»Nicht wahr, nun könntest du auch öfter einmal lesen, was ich dir bringe«, bat ich, voll Freude und Hoffnung, daß sich nun die so ersehnte Wechselwirkung entwickeln könnte.
»Ja,« sagte er lieb, »mehr als von jedem anderen Menschen.«
Er zog mich bei diesen Worten auf seinen Schoß, lehnte meinen Kopf an seine Brust und suchte meine Lippen – die er küßte.
»Du hast ja geraucht!« sagte ich in meiner Verwirrung.
Es war spät geworden – er mußte gehen – er lehnte noch einen Moment seinen Kopf zärtlich an meine Brust – und ich streichelte sein Haar.
Bis zum nächsten Mittwoch hat er für eine akademische Gesellschaft einen Vortrag auszuarbeiten – am Donnerstag wollen wir uns bei Reichmanns sehen.
Freitag, 24. April.
Das war ein sehr lebhafter, interessanter Abend gestern – auch Hedwig war mit, die sich selten entschließt, zu kommen, da man ihr dort zu wenig musikalisch ist.
Ein junger Geologe, Dr. Schadow, der sehr starke politische und soziale Interessen hat, ein junger Professor der Psychiatrie, von fabelhafter Häßlichkeit, mit dem ich lange über Lillis Krankheit sprach und der mir wenig günstige Aussichten für die Zukunft geben konnte. Eine sehr feine, kluge, zurückhaltende, mir sehr sympathische norddeutsche Offizierstochter – ein Fräulein von Bülow –, ein Typ vornehmer Geistigkeit, wie man ihn in dieser Schicht nicht oft findet.
Aber zu der heißesten Diskussion kam es mit einer Malerin, die ich zum erstenmal dort sah. Sie ist etwa Mitte Dreißig, eine stattliche Erscheinung, hat ein kluges, energisches, aber ein wenig verlebtes Gesicht, das die Spuren starker Leidenschaften zeigt. Regina Schroeder kommt eben aus Paris, wo sie fast zehn Jahre gelebt hat.
Das Reife, Unkonventionelle an ihr zieht mich sehr an – wir fanden uns auch in dem gemeinsamen Interesse für die neue Kunst –, die neue Anschauung, wie sie sich in der Malerei, in der Dichtung offenbart. Wir lieben auch Jakobsen beide sehr – dessen »Marie Grubbe« sie noch mehr als den »Niels Lyhne« schätzt. Sie erklärte, die Frauen ständen überhaupt über den Männern – was ich so allgemein wieder nicht gelten lassen möchte. Ich sagte: »Höchstens vielleicht in dem Sinne, daß das, was man ist, höher ist als das, was man tut.«
Aber dann entwickelte sie eine so rein amoralische Weltanschauung ohne jede sittliche Wertung: eine Frau mit fünfzig Liebhabern auf einmal sei absolut nichts Schlimmes – und es sei lächerlich, diese Dinge der Sinnenfreude so feierlich zu nehmen – so daß ich ihr lebhaft widersprach. Für diese paradoxe Libertinage wollte sie sich merkwürdigerweise auf Nietzsche berufen, der so scharf den Libertin geißelt, der sich sein Lüstchen bei Tage und sein Lüstchen bei Nacht gönnt – und damit ein moralinfreier Geist zu sein glaubt. Ich widersprach ihr sehr lebhaft: ich erinnerte demgegenüber an seinen » Willen zur Verantwortlichkeit«, den der souveräne Mensch sein Gewissen nennt, den man am allerwenigsten im Verhältnis von Mann und Weib, von Eltern und Kindern entbehren kann. »Nein, nur nach seiner Natur leben, damit kommt man im Verhältnis zu anderen Menschen nicht aus,« sagte ich – »und wie sollen denn solche wahllosen Massenverbindungen für die Frau als Mutter durchführbar sein?«
Robert hatte sich zu uns gesellt, hörte sehr aufmerksam zu, beteiligte sich aber merkwürdigerweise wenig an unserem Disput.
»Ach,« sagte Regina Schroeder verächtlich, »ich finde in Deutschland alles so philisterhaft und niedrig – die französischen Zustände sind in jeder Beziehung den deutschen überlegen.«
»Daß man äußerlich oft mehr Grazie und formale Kultur in Frankreich hat, gebe ich gerne zu«, sagte ich wieder. »Aber tiefer betrachtet ist die Philistrosität und Niedrigkeit der Menschen doch leider eine allgemein verbreitete menschliche, keine allein deutsche Eigentümlichkeit.« – – – – – –
*
Als ich so eifrig dafür eintrat, daß die völlig hemmungslose, bedenkenlose geschlechtliche Vermischung kein Ideal – jedenfalls nicht für eine Frau mit gesunden mütterlichen Instinkten – sein könne, als ich mich auch dagegen wehrte, alle Kultur nur einem Lande zuzusprechen – so frei ich von aller nationalistischen Voreingenommenheit zu sein glaube –, sagte Robert aus seinem Schweigen heraus mit sehr lieber Betonung: »Sie deutsches Mädel!«
»Nun, ich will lieber ein deutsches Mädel sein als eine ›freie‹ Frau, die die ›Liebe‹ leicht nimmt. – Das ist doch gerade das beste, daß man die Liebe so ernst und tief wie möglich nimmt«, meinte ich. »Haben Sie denn ganz vergessen, daß nicht die Stärke, sondern nur die Dauer der Empfindung die hohen Menschen macht?«
Regina Schroeder sagte spöttisch: »Mir scheint es direkt eine krankhafte Empfindsamkeit zu sein, die Ehe, die Lebensgemeinschaft zu zweien so hoch zu stellen.«
»Und mir scheint es wiederum nicht gesund oder wünschenswert, als Frau die Liebe so zu mißachten.«
*
Zuletzt war ich ganz müde und traurig, daß eine Frau – eine zweifellos begabte, anziehende Frau, mit der ich sonst manches teilen kann – solche Anschauungen hat. Sie ist ganz Künstlerin, ganz vorurteilslos – das ist sehr schön. Aber so ist es doch nicht richtig – auf diese Weise werden die Menschen sich nicht zu Höherem entwickeln. – – – – –
*
Eben war Robert hier – er erzählte mir noch Näheres von Regina Schroeder.
Sie hat ein sehr reiches, wechselvolles Leben geführt – es scheint, daß sie ihren Anschauungen gemäß gelebt hat. Sie besitzt eine kleine Tochter von fünf Jahren, zu der sie sich offen bekennt.
»Aber man möchte doch wenigstens wissen, von wem man seine Kinder bekommt«, habe ich gestern – ahnungslos – zu ihr gesagt. Hoffentlich weiß sie das wenigstens. Ich habe Sympathie für die Offenheit und Frische ihres Wesens; aber mir scheint, als habe sie sich, aus bitteren Erfahrungen vielleicht, eine zynischere Auffassung angewöhnt – als vielleicht ihrem innersten Herzensbedürfnis entspricht. Denn im Ernst kann ich mir nicht denken, daß der bloße Wechsel, die Mannigfaltigkeit, die Quantität, die doch jedes tiefere Glück ausschließt, einer Frau Genüge tun kann.
Nirgendwo sonst ist so die Qualität alles – die Quantität gar nichts, wie in der Liebe. Sonst müßte ja die ärmste aller Frauen, die Dirne, die den größten Wechsel in der Zahl ihrer Partner erlebt, die Beneidenswerteste, die Glücklichste sein!
Hedwig habe übrigens gesagt, erzählte Robert, »von allen Frauen, die da gestern gestritten haben, hat Irene den mütterlichsten Instinkt«. Dies Urteil hatte ihn sehr gefreut.
Als ich Robert sagte, wie traurig mich solch eine Auffassung wie die von Regina Schroeder mache, sagte er: »Aber du sollst nicht leiden. Ist es nicht viel besser, zu sein wie Natalie im Wilhelm Meister, die ruhig verzeiht und das Beste zutraut? Das Fordern macht nur störrisch und verwirrt – und ein solcher Mensch kann dann gar nichts leisten und werden.«
»Natalie« ist die einzige Frau, auf die ich eifersüchtig werden könnte. Ja, gewiß – dies Zutrauen, dies Vertrauen scheint sicherlich auch mir das Ideal – ich will ja gerne lernen, alles verzeihen und das Beste erwarten – wenn er nur wüßte, wie gern!
Aber mit Regina Schroeder und meinem Bedauern über ihre Auffassung der Liebe hat das doch eigentlich nichts zu tun.
Wir sahen Kunstblätter zusammen an – eine köstliche kleine Radierung von Ubbelohde – und er ließ sich von meinen Arbeiten berichten.
Er nahm meine Hände und hielt sie in zärtlichem Spiel und schalt liebevoll, ich sorge nicht genug für meine Gesundheit. Wir verabredeten einen gemeinsamen Ausflug ins Isartal, damit ich einmal ausspannen muß. Auch von Fräulein von Wendeborn wollte er wieder sprechen – von ihrer unwahrhaftigen Natur. Aber darauf gehe ich gar nicht ein: was soll ich damit? Das stört doch nur. Ehe er ging, bat er:
»Nun sieh mich noch einmal lieb an!«
Und unsere Augen tauchten einen Augenblick warm, innig ineinander. – – – – – – – – – – – – – – –
Es ist alles so schön und friedlich so – ich kann immer nur zittern und hoffen, daß es bleibt, daß es nicht wieder zerstört wird – dies neue, stille, so schwer mit meinem Herzblut erkämpfte Glück!
Ich hätte kaum zu hoffen gewagt, daß es das wirklich noch für uns gäbe: so ohne Qual, ohne alle Ansprüche!
Dienstag, 12. Mai.
Wir haben uns ein paarmal verfehlt – das heißt, ich war so oft aus, daß Robert mehrere Male vergeblich da war, ohne mich zu treffen. Aber ich glaube, es ist für unser Verhältnis im ganzen besser, daß er vergebens kommt, als daß ich vergebens warte – wie früher so oft.
Gestern war nun Gesellschaft bei Hedwig und Robert – außer Regina Schroeder und mir und dem jungen Maler Martin der immer noch unausstehliche Professor Lauber, der Gott sei Dank weit von mir entfernt saß, und ein Professorenehepaar: Professor Winter, ein sehr liebenswürdiger Mathematiker.
Wunderlicherweise war Regina Schroeder sehr weich und entgegenkommend gegen mich – wir vertraten oft dieselben Auffassungen über soziale, politische Probleme – gemeinsam gegen Robert sogar. Hernach setzte er auseinander, daß Jakobsen in »Marie Grubbe« eine religiöse Wirkung habe durch diese erschütternde Gestaltung eines Frauenschicksals – nicht eine rein künstlerische wie Goethe. Er könnte begreifen, daß manche Leute, wie ich zum Beispiel, Goethe haßten. Ich sah ihn traurig erschrocken an: wie konnte er nur so etwas Törichtes und Ungerechtes sagen?! Er merkte wohl, daß ich traurig war und nickte mir dann sehr lieb und tröstend zu – wie einem geliebten Kinde.
Ein Teil der Gesellschaft ging ins andere Zimmer, wo der Flügel steht und Hedwig Beethoven spielte. Auf dem Nachhauseweg kam Robert mit; wir begleiteten erst Regina Schroeder und die anderen ein Stückchen – dann er mich allein nach Hause. Regina möchte mich gerne näher kennen, erzählte er und war sehr entzückt von ihrer reifen, überlegenen Persönlichkeit. Übrigens sollte ich ihn doch nicht immer angreifen. Gegen zwei zugleich könne er sich nicht wehren! Also wenn ich eine andere Meinung habe als er, zum Beispiel heute abend: daß man nicht deshalb »sozialistisch« ist – etwas recht Schlimmes für ihn –, wenn man vielem in unserem öffentlichen, politischen und sozialen Leben sehr kritisch gegenübersteht – es änderungsbedürftig findet –, dann greife ich ihn an! Ebensoviel Sinn hätte es, wenn ich sagen wollte, er griffe mit seiner abweichenden Meinung mich an.
»Aber wie konntest du denn sagen, ich ›haßte‹ Goethe!« sagte ich ganz entsetzt. »Du weißt, ich leide unter manchem in seinem Leben als Mann, weil ich es nicht verstehe, wozu man vielleicht älter und reifer sein muß als ich es bin – oder weil es mir zu konservativ erscheint – aber ›hassen‹! Man leidet doch nur, wo man liebt – oder lieben möchte!«
»So, wo man liebt?« fragte er weich. »Aber wenn man leidet, wird man zerstört, und dann muß man doch hassen.«
»Aber vielleicht lebt man – und leidet nur und versucht es zu überwinden,« sagte ich – »man muß nicht hassen – dann zerstört man ja sich selbst. Übrigens habe ich dir das Gedicht von Maeterlinck aufgeschrieben, das wir neulich zusammen lasen, das du gerne einmal haben wolltest.«
»Wo ist es denn?«
»Ich habe es dir auf deinen Schreibtisch gelegt.«
»Ja – das ist auch Kunst, wenn auch ganz anderer Art als Goethe.«
»Ja – aber in einer sehr wesentlichen Auffassung sind sie ganz eins: daß das Höchste sei, sein Leben zu gestalten – daß das noch wesentlicher ist als alle ›Werke‹. Und du weißt doch, wenn das Goethes Lehre ist, damit bin ich doch gewiß einverstanden. Das scheint mir doch auch das Erste und Notwendigste.«
Wir verabredeten zu Himmelfahrt einen Ausflug ins Isartal – dann waren wir vor meiner Wohnung. Er stand vor mir, streichelte sanft mein Gesicht und hielt meine Hand fest in der seinen.
»Sei gut, Irene!«
»Ja, das bist du auch!«
»Siehst du, wenn du es nur einsiehst«, sagte ich weich.
Er stand noch vor mir und hielt meine Hand – als könne er sich noch nicht trennen – dann beugte er sich abschiednehmend über mich und küßte mich sehr lieb auf den Mund.
Dienstag, 19. Mai.
Am Sonntag ist Robert wieder – wie gewöhnlich – hier gewesen. Ich versuchte, recht heiter zu sein. Es kostete mich einige Überwindung; denn Hedwig hatte mir so zufällig erzählt, daß er jetzt öfters nachmittags davonstürme und spät wiederkomme – ohne daß sie weiß, wo er ist. Ich fürchte, ich weiß es.
Da er ziemlich trocken war, zeigte ich ihm Bilder und Bücher. – Auf Regina Schroeder schalt er dann, wie ich erwartet hatte. Sie habe früher in einer recht bedenklichen Pension gewohnt und ihm viel von Pariser Kokotten erzählt – übrigens verstünde sie mehr von Liebe, als wir beide zusammen.
Ich trat schnell ans Fenster, um ihm nicht zu zeigen, wie weh mir diese Bemerkung tat:
»Liebe?« nennt er das! Sie mag mehr von sexuellem Erleben wissen als wir – sicher mehr als ich. Aber Liebe?!
Er wollte wissen, was mir fehle. Ich wurde sehr böse und ungeduldig, als er etwas sagte von: wir wollten nicht Vergangenem nachtrauern.
Welches lieblose Mißverstehen!
Ich war so unsagbar froh, dem Schicksal so dankbar, daß es war, wie es jetzt war – und er hat mir viele Male bestätigt, daß es gut so ist –, daß ich jetzt so bin, wie er es brauchen kann. Wozu nun diese überflüssige Unterstellung? Wer gab ihm denn Veranlassung dazu?
Diese Enttäuschung tat mir sehr weh. Ich sagte – wohl ein wenig schärfer als sonst –, verletzt durch diese Mißdeutung: »Wenn es nun wieder nicht gut ist, wie ich jetzt bin, dann muß ich es aufgeben.« –
Bei Regina Schroeder wären übrigens die Kunstmappen, die sie von mir entliehen habe, schlecht untergebracht. Ich solle dafür sorgen, daß ich sie wieder bekäme, sagte er. Ehe er ging, streichelte er mich und bat: »Sei doch gut, Irene!«
Ich sagte ernst, während wir unsere Hände zum Abschied hielten und sah ihn voll an: » Ich bin gut – diesmal warst du es, der es nicht war!«
»Diese weibliche Diplomatie, mir die Schuld zuzuschieben!« sagte er ein wenig verlegen, wie mir schien! – – –
Was gäbe ich um gläubiges, blindes Vertrauen!
Je mehr er anfängt, Regina herunterzusetzen, je gleichgültiger er von ihr spricht, je weniger glaube ich ihm. Wie furchtbar ist das – nicht mehr glauben zu können! Alles in mir empört sich gegen eine – Fortsetzung der Qualen vom vorigen Jahr!
Dienstag, 9. Juni.
Von Lilli kommen bessere Nachrichten; das heißt, es ist eine gewisse Beruhigung eingetreten – sie scheint unter den Einfluß einer katholischen Pflegeschwester geraten zu sein – sie betet und hat den Wunsch, zum Katholizismus überzutreten.
Ich war ein paarmal bei ihren Eltern – sie sind ganz unglücklich darüber. Ich verstehe es nicht: ein Mensch, der so gelitten hat, daß er innerlich zusammenbricht – ist es da nicht ganz gleichgültig, wie der Stab sich nennt, an dem er sich wieder in die Höhe richten will?!
Mir ist es gewiß schmerzlich, daß durch diese Katastrophe unsere bisherige innige Geistesgemeinschaft zerstört ist. Aber nicht auf mich kommt es jetzt an. Alles auf den Menschen, dessen Seele die grausame Wirklichkeit nicht ertrug. Wenn ihr die Macht einer ungeheuren Suggestion, wie der Katholizismus sie bietet, die schon auf Stärkere als Lilli so verführerisch gewirkt hat, nun hilft – nun helfen könnte, ihr Leben wieder aufzubauen, es zu ertragen –, wer könnte es ihr wehren? Wer würde ihr das nicht gönnen?
*
Wie seltsam die Schicksale sich kreuzen: während ich Lilli als Kampfgenossin verloren geben muß, empfange ich die Nachricht von Hanna, daß sie glücklich ist. Sie hat den Menschen gefunden, mit dem sie ihr Leben, ihr Schicksal verbinden will. Er ist Komponist, hat eine Musikdirektorstelle im Westen Deutschlands in Aussicht – sie können wahrscheinlich noch in diesem Jahr heiraten.
Wie schön, daß wenigstens eine von uns dreien, die wir ausgezogen, das Glück zu suchen, die Welt zu erobern – das Glück als Frau gefunden zu haben scheint.
Denn ich – ich bin augenblicklich weiter entfernt davon als je.
Von Robert sah und hörte ich acht Tage lang nichts – bei dem jetzigen Stand unserer Freundschaft eine sehr lange Zeit. Hedwig erzählte, er sei einen Tag allein ins Gebirge gefahren. Robert »allein«!
Ich erlag fast darunter.
Als wir uns Donnerstag bei Reichmanns trafen, war Regina Schroeder nicht da. Aber es war wie ein luftleerer Raum zwischen Robert und mir – ich sah ihn an – aber nichts antwortete.
Hedwig, die mich bat, am Sonnabend mit ihr neue Noten durchzusehen, erwähnte, daß er am Tage vorher den ganzen Nachmittag fort war. Er blieb in seinem Arbeitszimmer – ich bekam ihn überhaupt nicht zu sehen. Er habe so sehr mit dem endlichen Abschluß der Rembrandtarbeit zu tun. –
Montag gegen Abend, als ich aus der Stadt zurückkam, stand er plötzlich unerwartet vor meiner Tür.
Ich fragte, als wir bei mir saßen: »Hast du wohl einmal daran gedacht, wie ich in den letzten Wochen gelebt habe?«
»Hoffentlich hast du dich nicht traurigen Erinnerungen hingegeben!« sagte er.
Ich lachte: »O, nein – wie kannst du das denken! Ich habe mir noch nie etwas zurückgewünscht; dazu war das alles zu qualvoll für mich. Aber was ich mir zurückwünsche, immer wünschen werde, das war Ostern – Karfreitag! Das ist das Beste und Schönste, was ich für uns wünschen kann!«
Er sah mich so erstaunt an, als begriffe er gar nicht, was ich meinte. Ist das möglich: besinnt er sich vielleicht kaum auf diese Stunden, in denen er sagte, er habe noch nie mit so gutem Gewissen vor mir gesessen wie an jenem Tag? Wir wollten es noch einmal miteinander versuchen?!
Dagegen sagte er – seltsamerweise –, was ich nun wieder gar nicht verstehe: »Aber du weißt doch, in welcher Gefahr wir immer sind – wie wir uns vor uns selbst hüten müssen!«
»Wir uns?« Im Ernst? Gibt es das wirklich noch? Meint er das in Wahrheit?
Ich denke nie an diese »Gefahr«. – Es ist, als ob man einem Lebendigbegrabenen sagte, es bestehe die »Gefahr«, daß er noch einmal zum Leben zurückkehren könne!!! – Aber außerdem wohl auch: weil ich mir diese Herzensfreundschaft zwischen uns durch solche Martern der Entsagung bei meiner glückshungrigen und sinnenfrohen Natur erkämpft habe – als letzte, einzige Lebensmöglichkeit zwischen uns nach seiner mir unbegreiflichen Verzweiflung – daß ich gar nicht daran denke, man könnte sie aufs Spiel setzen. Und dann hielt er lange Reden, in denen alle meine Sünden von »Heftigkeit« und »mangelnder Diplomatie« wieder aufmarschierten – und es war schließlich so, als wäre ich seine einzige wirkliche Liebe gewesen – und alles andere nur Unsinn und lächerlich.
Wer das glauben könnte!! O, ich weiß, daß es der Glaube ist, der Berge versetzt, der selig macht! Ja, wenn ich ihn einfach fragen könnte – direkt einfach, offen fragen – vielleicht wäre das die Rettung! O, dies Entsetzliche – Unausgesprochene und Mißverstandene zwischen uns! Und mir ist der Mund wie mit eisernen Klammern verschlossen. Eher ginge wohl die Welt unter, ehe ich mir denken könnte, daß ich ihm mein Herz offenbarte.
Gestern erfuhr ich, daß Regina Schroeder mit Hedwig und Robert in der Sezession war – und morgen wollen sie zusammen Shakespeares »Kleopatra« sehen. Und ich – ich kann nicht mehr.
Freitag, 26. Juni.
Nun verstehe ich fast, wie man so krank wie Lilli werden kann – ich kann selbst verstehen, daß man in einem Moment wo es unerträglich wird, ein Ende macht.
Eine ästhetische Todesmöglichkeit – wenn es die gäbe! Ich lese die »Geburt der Tragödie« – diese ergreifend tiefe Deutung des Griechentums und der Musik – diesen heroischen Versuch zur Überwindung des Pessimismus! Aber so wundervoll diese Atmosphäre der Weihe ist, mir vermag sie im Augenblick nicht zu helfen – ich bin am Ende meiner Kraft.
Dieses leise, heimliche Verbluten, dieses unaufhörliche stete Nagen zehrt alle Lebenskraft auf.
Ich leide nur noch – ich halte dem zehrenden Schmerze stand – das ist alles, was übrig bleibt. Robert bleibt, der er ist – und ich kann nicht ohne Schmerz an diesen Menschen denken.
Kann denn das Wunderbare nicht geschehen, daß ich – ihn anders sehe?
Ich sehe beständig zwei Menschen vor mir, die durchaus keine Ähnlichkeit miteinander haben – und die ich doch als einen betrachten soll: einen geistig reifen, seelisch differenzierten, körperlich anziehenden, ungeheuer sensiblen, vielleicht nicht heroischen, sondern oft irrenden und strauchelnden, aber doch vornehmen, im Grunde schwer ringenden Menschen, den ich geliebt – mit all seinen Fehlern und Schwächen – mit dem fordernden Ungestüm erster Leidenschaft, mit der weichen Liebe der Frau allmählich – mit einer mütterlich verzeihenden Liebe am Ende. Und dann sehe ich einen andern vor mir – einen völlig haltlosen Menschen, der jedem Reiz, woher er auch kommt, erliegt, der bedenkenlos, verantwortungslos jeden Moment Frauenleben, Frauenliebe an sich reißt – ohne zu fragen, ohne zu sorgen, wie der andere Teil seine so kurz und stürmisch vorüberbrausende erotische Begeisterung überstehen wird.
Das ist er doch nicht. Das kann er doch nicht sein!
Ich kann verstehen, daß ein Mensch, eine Frau wie Regina Schroeder, Robert fesselt – ich selbst finde vieles reizvoll an ihr –, doch scheint mir auch manches in ihr zerstört und verwüstet zu sein. Aber warum muß denn ein neuer Mensch, der sein Interesse weckt, alles das in Vergessenheit bringen, was zwischen uns gut und schön ist?
Von allem, womit er mir in den Jahren, seit wir uns kennen, weh getan hat – nichts hat so geschmerzt, war so vernichtend wie diese grausame Erinnerungslosigkeit für die Karfreitagstunden – die mir alles das erfüllt hatten, was ich – nach all dem Schweren zwischen uns – für uns beide überhaupt noch wünschen konnte!
Und nun: »Er hat's verwechseln, hat's vergessen können?« Wie soll man das überwinden?
*
3. Juli.
Morgen reise ich zu Hanna, mit ihr ein paar Wochen der Erholung zu verbringen, ehe sie im Winter ihr Schicksal an das ihres Mannes bindet. Wir wollen an die See.
Heute war Robert noch einmal hier, dieser Mensch des unberechenbarsten, ungeheuersten Wechsels. Ein paar Tage vorher war er auch schon hier – wühlte alles auf, was je schmerzlich war – ich weiß gar nicht, warum – aber ich fühle, daß noch irgendein Groll in ihm steckt gegen mich, als habe ich ihm sehr weh und unrecht getan!
Seltsam: er hat doch alles so bestimmt, wie es geworden ist – ich habe mich – so hart, so grausam es war – mit meiner größeren, unerfahreneren Liebe – in alles gefügt, in alles zu finden gesucht. – Er hat neuen Reizen sich zugewandt – wie weit, das weiß ich nicht – kann ich nicht, will ich nicht untersuchen. Und nun ist er es, der Groll gegen mich trägt, als habe ich unser Glück zerstört?? Ich allein? Und ich, die ich keinen anderen Mann auch nur ansah, seiner zu begehren – ich bin es, die ohne Groll nur daran denkt, die Gegenwart, die Zukunft zwischen uns noch so reich, so schön wie möglich zu gestalten – einfach, weil ich es nicht ertrüge, den Mann meiner Liebe nicht mehr achten und verehren zu können?
Ich erinnerte mich, während er so sprach, wie oft er früher gesagt hat:
»Du mußt mich erst verlieren, um zu wissen, was du an mir gehabt hast. Du wirst es noch einmal bereuen.«
Ach, ich brauchte ihn gar nicht zu verlieren – ich habe ja nie begriffen, warum ich ihn verlieren mußte.
Gewiß: ich »bereue«: daß ich so unerfahren war, so ohne jede Vergleichsmöglichkeit meiner absoluten Forderung mit der Wirklichkeit in seine Arme kam. Aber sollte nicht auch er »bereuen«: daß er meine kindische Ungeduld und Hilflosigkeit so tragisch nahm, anstatt sie – mit seiner größeren Lebensreife – zu erkennen als das, was sie war? Müssen wir beide nicht gleichermaßen »bereuen«??
Wie schwer haben es die Menschen miteinander!
Heute nun erzählte er, daß er sich mit Regina Schroeder ganz entzweit habe – die übrigens wieder nach Paris zurückginge, da es ihr hier ganz und gar nicht gefiele.
Und dann bat er, ich sollte ihm versprechen, daß ich nicht nach Paris ginge!
Ob er denkt, daß ich dann auch würde wie Regina??
Aber sie schien ihm doch sehr fesselnd zu sein? Das ist doch sicher, Regina und ich sind so anders geartete Menschen, daß wir immer, auch wenn wir scheinbar dasselbe tun, doch etwas ganz Verschiedenes tun und erleben.
Das verlangte Versprechen konnte ich ihm natürlich nicht geben. Im Gegenteil, mir scheint, es ist Zeit, daß ich meinen alten Plan, nach Paris zu gehen, ausführe. Es wird Zeit, daß ich weiter komme. Nun werde ich, Gott sei Dank!, auch von den Mal- und Zeichenstunden frei. Vorgestern habe ich – mit einem köstlichen Gefühl der Befreiung – bereits meine Weiterarbeit in der Schule zum Herbst gekündigt.
Der Winter soll – endlich, endlich wieder ganz dem Kunststudium gehören. Im Frühjahr läuft auch der Kontrakt ab, der mich an die Wohnung schmiedete – dann bin ich frei von dem Versprechen, das ich den Eltern gab. Und die Welt, das Leben, mein Leben liegt wieder vor mir.