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VIII.

München, 10. August.

Meine erste Schweizerreise liegt nun schon seit acht Tagen hinter mir; ich bin sehr froh, daß ich die einsame Fahrt in ein anderes Land – trotz aller Bedenken – gewagt habe.

Die tiefen, reichen, schönen Eindrücke der Natur, die neuen Menschen, die Hoffnung auf engste Geistesgemeinschaft – das alles hat meiner durch so viel Kummer um einen Menschen gepeinigten Seele unendlich wohlgetan.

Seit ich jenen Brief erhalten habe, der mir zeigt, daß es auch für mich irgendwo eine geistige Heimat gibt, bin ich so viel stärker, sicherer in mir wieder geworden. Also auch für mich gibt es nicht nur Leid und Kummer, Mißverstehen und Verlassenheit auf der Welt!

Ich weiß nun wieder: ich brauche nur ein wenig echte Kunst um mich zu spüren – und ein Entzücken steigt in mir auf – ein Lebensgefühl, als besäße ich das Schönste und Köstlichste der Erde – als könnte es niemanden geben, der so froh ist wie ich – als lägen alle Schätze der Welt vor mir ausgebreitet – als ruhte alle Harmonie in mir – und ein Ton ließe sie erklingen. Als bildete ich mit den Besten und Tiefsten eine natürliche Einheit.

Bin ich nicht reich? Die ganze Welt gehört mir – soweit ich mich ihrer bemächtigen, sie verstehen, genießen kann.

Die Hoffnung habe ich mir nun wieder zurückerobert – oder nein, das ist vielleicht nicht richtig: was tat ich denn Großes dazu? Sie ist gekommen, unmerklich und leise – gütig – ohne alles Verdienst – wie der junge Morgen, der Frühling, die Natur selber – eines Tages wachte ich auf – und sie war da! – – – – – – – – – – – –

*

Eine plastische Gruppe in der Sezession fesselte mich besonders, geht mir in Gedanken immer noch nach: ein Mann und ein Weib in engster Verschlingung. Ich glaube, nie würde eine Frau die Liebe darstellen, wie diese Gruppe von Exter. Das ist allein der gewalttätige physische Rausch – den wir Frauen nicht nur meinen, wenn wir von Liebe sprechen.

Aber ist es nicht ein Verhängnis – für die Entwicklung von Kunst und Liebe auf der Welt, daß gerade die Frau, deren Liebesfähigkeit vergeistigter, entwickelter, vertiefter ist, um so seltener dazu kommt, ihre reichen Fähigkeiten zu betätigen, so zu beglücken, wie nur sie zu beglücken verstände?

»Von allen meinen Fähigkeiten ist die des Schmerzes die einzige, die ich ganz erschöpft habe.« Soll das als unabänderliches Gesetz für jede höhere Entwicklung gelten? Denn die Frau soll ihre Individualität gerade aufrecht erhalten gegenüber dem Mann, den sie liebt – dem sie als Weib also sich selber hingeben und unterwerfen möchte. Sie braucht daher Größe am Mann – um sich dem Größeren ergeben zu können.

Eine reine Seligkeit könnte also der Frau nur erstehen, wenn der Mann ihrer Liebe wirklich ein absolut »Übergeordneter«, ein »Gott« wäre. Wo sich aber einer höher entwickelten Frau gegenüber dieser liebliche Traum, dieses selige Wunder nicht dauernd festhalten läßt, da sind wir dann immer mitten in der Tragödie, »welche zerreißt, indem sie entzückt«.

Aber wir brauchen Frauen, die stark genug als Persönlichkeit sind, um in diesem Konflikt nicht zu erliegen. Die groß von der Liebe denken – trotz alledem – und sie darzustellen vermögen. Aber wie wenige sind das noch! Wenn man an die Elliot denkt – sie, die doch selbst liebte – ein so seltenes, seltsam-schweres Schicksal hatte in der Liebe – wie eng scheint sie oft, trotz dessen, in den Banden enger puritanischer Moral zu stecken. George Sand – vielleicht – und Bettina – und Rahel und Caroline – und Frau von Staël – diese wunderbare Mischung französischen und germanischen Wesens in der »Corinna«.

Aber in der »Corinna« verletzt es immer, daß sie zugrunde geht, stirbt an ihrer Liebe. Man bekommt Mitleid mit ihr. Und nicht Mitleid soll man haben dürfen – sondern Ehrfurcht. Ehrfurcht auch vor dem Weibe, wenn es geliebt hat, wenn es geliebt worden und der Geliebte es verlassen hat – wenn sie Persönlichkeit ist. – – – – – – –

*

»Es soll nie jemand denken dürfen, mir ginge es nicht gut« – daran habe ich mich in diesen furchtbaren Monaten immer gehalten. Mir müssen alle Dinge zum besten dienen.

Ich will mein Schicksal lieben lernen.

Größer zu werden als alles Leid, das uns treffen kann – dieser heiße Wille war es allein, der mich rettete – das Einzige, was ich noch wußte – als letztes – das Rettungsseil, das ich ergriff – als ich verzweifelt am Boden lag und – um Barmherzigkeit bat.

So tief war ich gebeugt – – –

Als mir selbst die Gnade, die Barmherzigkeit verweigert wurde – da wußte ich plötzlich – da verstand ich. Wer konnte dies Letzte verweigern??

Was hatte ich getan: von einem Armen leidenschaftlich gefordert, er solle mir ein Königreich schenken! Der Arme, dem ich durch mein heißes Bitten seine Armut doppelt bitter zum Bewußtsein gebracht hatte. Von da an kam der Umschwung, ging ich langsam, langsam den Weg der Genesung. – –

*

Mir geht jetzt so oft Lillis schmerzliche Klage durch den Sinn: warum man allein ist und bleibt auf der Welt? Ja, mir kommt jetzt oft die Furcht, ob wir nicht, je entwickelter, zugleich immer einsamer sein werden? Ob nicht die »Liebe« – die Hinneigung zum andern – überhaupt aufhört und nur noch die Persönlichkeit bleibt?

Eine tragische Perspektive scheint mir – besonders für die Frau.

Denn das weiß ich, so jung ich bin, soviel mir an Reife noch fehlen mag: von all den Persönlichkeiten, die ich kenne – persönlich oder geistig – es ist keine da – der ich meine vollkommen opfern, hingeben, unterwerfen könnte. Einen »Gott«, ein absolut übergeordnetes gibt es nicht mehr für uns – nicht mehr für mich. Was soll denn aber werden – für das Zusammenleben der Menschen? Für Mann und Weib?

Durch dies Erlebnis mit Robert ist mir alles in Frage gestellt worden innerlich, wie durch ein Erdbeben, das weite Strecken in Trümmer legt. Meine schwere, einsame Kindheit – in trotzigem Ringen gegen Anschauungen verbracht, die nie die meinen werden konnten – war glücklich bei alledem in der inneren instinktiven Sicherheit einer Lebensaufgabe: ich war Künstler – ich wurde Künstler. Und dann – ganz ebenso sicher und seltsam früh aus tiefsten, noch unbewußten Erlebnissen heraus: das. was ich wollte, mußte der Frau – dem leidenden, benachteiligten Geschlecht, dem ich angehöre, irgendwie zugute kommen.

Ich begriff sehr früh, daß ich Schulung, Erfahrung, starkes, eigenes Erleben brauchte, um auch für andere sichtbar, wirksam machen zu können, was ich innerlich erstrebte. Denn die Seele wird erst – im Erleben der anderen Seelen.

Und dann kam die Liebe – und hat mit ihrer Zerstörung auch den Glauben an meine Fähigkeit zur Künstlerschaft, zur Mitarbeit an der Welterlösung tief erschüttert.

Nun suche ich nach meinem Ziel.

Aber vielleicht – dieser rasende Schmerz, der mich jetzt durchwühlt, die Schauer, die mich rütteln – vielleicht sind das die Frühlingsstürme, die den Boden lockern und fruchtbar machen zu neuem, innerlichem Wachsen, Blühen und Frucht tragen?

»Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes. Ich zweifle, daß der Schmerz verbessert – aber ich weiß, daß er vertieft«, sagt mein bester Freund – der einzige bisher, dem ich mich in gewissem Sinne beugen kann. (Aber auch er ist kein »Gott«, kein Absolutes für mich – auch ihm gegenüber gibt es Ablehnungen dessen, was für mich nicht richtig ist.)

Noch verwirrt mich oft die Fülle meines heißen Lebensdranges – wohin wird er mich am Ende locken?

Ich zweifle nicht, daß ich meinen Weg wiederfinden werde – ich weiß, daß mein Weg da ist in der Welt –, aber wo wird er sein? Was wird das Stärkste sein?

Als ich mich bestimmen ließ, den geraden Weg der technisch-künstlerischen Weiterbildung zu verlassen, geschah es im vollen Bewußtsein dessen, was ich tat. Ich wußte, auch dies war der Weg zu mir – zu einem tieferen Selbst, als ich es allein gewinnen konnte. Ich ging den Weg mit gutem Gewissen – auch vor meinem innersten Wesen.

Denn nicht die Vollendung äußerer künstlerischer Technik ist es, die ich suche. Ich will das Leben in all seinem Reichtum, seinen tiefsten Tiefen erfassen. Alle rein artistische Kunst, alle bloßen Formen und Formeln bedeuten mir nichts. Weder in dem ästhetischen noch ethischen Teil des Lebens. Es soll sich immer der tiefste Gehalt mit der edelsten Form durchdringen. – Daher liebe ich Klinger – wie ich Nietzsche liebe – alles, was Künstler und Denker und Weltgestalter – dieser größte Typus des Künstlers überhaupt – zugleich ist.

In aller Kunst ist es für mich die Seele des Menschen, was sie für mich interessant macht – das Psychologische, die »Seelenzustände«. Garborg, Jakobsen, Nietzsche, Knut Hansum – wenn ich ein Dichter wäre, möchte ich ihnen gleichen, das Feinste, Letzte, Seltenste für die wenigen, die es verstehen, sagen können. Denn mehr könnte ich mir nicht wünschen – wenn ich einmal zu dem Werk reife, das ich schaffen möchte – schaffen muß, wenn ich mein Leben erfüllt sehen will – nichts will ich, als daß man froh und dankbar davor weilen sollte, innerlich gestärkt und bereichert: ein Künstler, ein Mensch!« – – –

13. September.

Ich muß mich doch hüten, zu früh zu triumphieren: der Übermut der Genesung, der mich manchmal ergreift – ist er vielleicht nur ein Schein? Werde ich eines Tages wieder zurückfallen in die alte Qual und merken, daß das alles nur künstlich war?!

Vor ein paar Tagen hat Robert mich besucht. Er war bis jetzt verreist – mit Agathe im Engadin. Nun hat er mich nach der Rückkehr sogleich aufgesucht, wie er sehr nachdrücklich hervorhob. Ich stand noch unter dem Eindruck seines unfrohen Briefes, den ich in der Schweiz erhalten – und war zurückhaltend und befangen.

Er erzählte mir von seiner Reise – dann sprachen wir von Klingerradierungen, die wir beide lieben – von dem tiefen Eindruck, den die Sezession auf mich gemacht. Er will mit mir hin – ich soll ihm meine Lieblinge zeigen. Er denkt jetzt an eine neue Arbeit über Goethe, da er den Rembrandt endlich sobald wie möglich zu beenden hofft. Mir ist dies freundlich-höfliche Gespräch, hinter dem ich gar keine innere persönliche Beziehung spüre, eine Qual, und so kam ich in meiner Hilflosigkeit in einen leichten, spöttischen Ton, der mir an sich wenig natürlich ist.

»Du mokierst dich wohl über meine geistreiche Unterhaltung?« fragte er. »Aber ich bin sehr elend, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.«

»Das ist es nicht – ich mokiere mich nicht – aber – wenn wir uns im Grunde doch nichts mehr zu sagen haben – was hat dann das ganze für einen Sinn?«

»Ich hätte dir schon manches zu sagen,« sagte er nun in ganz verändertem weichem Ton, »aber es will sich noch nicht gestalten. Wenn du ein Mann wärst, könntest du mir mit deiner Natur sehr viel sein – aber so! Ich leide so – das Leben ist zu scheußlich!« sagte er gequält. »Wie einen das Leben so äffen kann – so jung habe ich mich nie gefühlt wie in den Wochen! Und gleich darauf so alt! So greisenhaft alt!«

Ich stand jetzt ihm gegenüber – die Arme auf die Sessellehne gestützt und sah zu ihm herüber – an ihm vorbei.

»Und ich finde das Leben doch schön – trotz alledem – und ich meine, wenn man weiß, daß man auf andere Menschen wirken kann, wie du, daß man große Menschen versteht und etwas schaffen kann, wodurch auch andere sie verstehen lernen – dann hat man kein Recht, sich arm zu fühlen, das Leben scheußlich zu finden. Das ist doch vielleicht das beste, was man überhaupt haben kann.«

»Ja, ja,« sagte er, ein wenig getröstet, »wenn ich mich zur Arbeit setze – dann strömt es mir nur so zu. Und ach, wenn ich dann denke, was alles hätte werden können!«

»Aber dann ist es doch um so notwendiger, wenigstens das zu gestalten, was noch werden kann«, sagte ich.

»Ich wäre oft gern zu dir gekommen«, sagte er warm – es war, als würde etwas wach in ihm, das lange geschlafen hatte.

»Ich kann mein Leben leben,« sagte ich nun nachdrücklich, »das ist ganz so, wie ich es brauche – was mich quält, das ist nur die Leere, die Fremdheit zwischen uns.«

»Ach, wenn du das denkst«, protestierte er. »Aber Freundschaft – wenn du das wirklich könntest?!« –

Ich fragte sehr ernst: »Bin ich nicht ganz so ruhig und anspruchslos gewesen, wie du es verlangtest? Hätte ich irgend etwas anders machen können?«

»Nein, Irene, nein,« gab er zu – »aber Freundschaft?« zweifelte er noch immer.

»Wir wollen doch nicht so an dem Wort hängen,« sagte ich ernst, »aber soviel ist sicher: ich bin schon glücklich, wenn ich nur weiß, daß, so verschieden wir beide sein mögen, jeder auf seine Art etwas wert ist. Aber – dies Bewußtsein habe ich nicht immer.«

Er sah mich wie befreit an: »Ja, du hast recht – laß mich nur etwas haben vor mir selber – jetzt diese neue Arbeit –«

»Laß mich!« das ist ja immer seine Bitte gewesen. Aber seiner Natur gegenüber – dieser Natur gegenüber, die so am Leben, an sich selbst leidet – ist es da nicht fast lieblos und brutal, von Kraft und Lebenslust zu sprechen?!

Ich komme mir irgendwie beschämt vor – als hätte ich in Gedanken ein Unrecht an ihm begangen – ohne zu wissen, weshalb, wodurch. Es stimmt wohl etwas nicht in meiner Rechnung.

27. Oktober.

Robert ist in den letzten Wochen verschiedene Male vergeblich hier gewesen – erst beim viertenmal hat er mich angetroffen.

Er sei zu mir geflüchtet – vor Hedwig, die zum erstenmal vielleicht etwas von irgendeiner mysteriösen Frauenaffäre zu spüren bekommen hat, die sich jetzt in den letzten Wochen abgespielt zu haben scheint. Er deutete allerlei an – halb, unklar – von Torheiten, die eine Frau gemacht habe – irgendwie müssen sie sich auf der Reise jetzt getroffen haben – »es käme im Grunde auf die Geschichte mit der Sängerin heraus.« – Ich kann daraus nichts Rechtes entnehmen – viel oder wenig – alles oder nichts – wie ich will. – Aber ich bringe es nicht fertig, auch nur mit einem Wort zu fragen.

Dazu ist alles zu schwer für mich.

Wenn er mich braucht, um zu beichten, sein Herz auszuschütten – ich will es ihm nicht verwehren. – Er soll sagen, was zu sagen ihm Bedürfnis sein mag. Aber noch tiefer hineindringen, ihn gar erst noch auffordern dazu – dazu reicht meine Kraft nicht aus.

Aber ich finde mich nicht zurecht: kurz vor der Reise war da noch jene – andere?

»Und Fräulein von Wendeborn?« fragte ich schließlich.

»Sie hat ein Engagement in Königsberg angenommen,« sagte er – »wußtest du das nicht?«

*

Woher sollte ich das wissen? Glaubt er, ich spüre ihm oder ihr nach?!

Er hat wohl keine Ahnung – wie mich diese halben, dunklen Andeutungen quälen. Aber ich bringe keinen Laut davon über meine Lippen.

Aus meinem Wesen soll er nicht mehr entnehmen können, ob es mich freut – oder ob ich vielleicht tagelang, nächtelang leide – leide – wie ein Mensch nur zu leiden vermag.

Ich litt unaussprechlich danach – ich verstand zum erstenmal, was Nietzsche den »großen Ekel«, die »große Verachtung« nennt.

Nein – so kann ich das Bild des Mannes, den ich liebte, den ich liebe, nicht ertragen. Er »sündigt« immer – mit schlechtem Gewissen – ohne Freude, ohne stärksten Zwang – scheint mir – einfach aus Schwäche; das macht alles so verworren und freudlos.

Der Mann, den ich meinte, den ich lieben muß, weil es das Schicksal so fügte, war ein Mensch, eine Persönlichkeit, die mit all ihren Schwächen meiner wert – mir in manchem überlegen war. Aber dies – dies Grauenvolle – Unfaßbare – dies Herz- und Seelenlose – zu diesem Wesen gibt es für mich keinen Zugang.

Und wenn ich hundert Jahre alt werde – das werde ich nie, nie verstehen. Wie soll das je ertragbar werden für mich?

Das eine weiß ich: nie könnte ich es ertragen, daß meine Liebe schimpflich, schmählich untergehen sollte in der Verachtung. – Was sich auch in unserm Verhältnis wandeln mag – das eine muß bleiben auf jeden Fall – unbedingt, um jeden Preis: ich muß es heilig halten können.

*

10. November.

Hanna hat jetzt in Berlin durch ihre Arbeit einen Kreis von Menschen gewonnen, die sie sehr anziehen. Wenn ich recht verstehe – ist da auch jemand, der im Mittelpunkt ihres Interesses steht. Ich würde mich so für sie freuen, wenn sich ihr Schicksal als Frau erfüllte. Sie ist so ganz dafür geschaffen, die mitverstehende, alles mittragende Gefährtin eines Mannes zu sein.

20. Januar.

Lange hatte ich keine Zeit zum Schreiben. Meine Arbeit nimmt mich jetzt sehr in Anspruch – ich bin eifrig dabei, neben den Malstunden, die ich zu geben habe, weiter zu studieren; mir ist – als hätte ich in dem einen Jahr ein Jahrzehnt versäumt. Zu Weihnachten war ich bei den Eltern, die ich beide frisch und heiter fand – zu Neujahr bei Lilli, die immer noch in ihrem Sanatorium am Bodensee ist.

Wie sie an meiner inneren Entwicklung – trotz ihres eigenen nervösen Zustandes – teilnimmt, das ist bewundernswert – es gibt vielleicht keinen Menschen, der mich so ganz innerlich in sich aufgenommen hat wie sie.

Ich kann rückhaltlos zu ihr sprechen – und sie faßt alles ohne jede Verzerrung auf: weder sieht sie Robert entstellt, weil ich so an ihm, durch ihn leide – noch mich etwa aus Freundschaft zu verklärt. Sie versteht den schweren Kampf, den ich um meine innere Befreiung führe. Aber sie ist gewiß, daß ich allmählich gewinnen werde. Es hat sie tief erschüttert – aber sie hat den festesten Glauben an mich.

»Das brauchen wir gerade – das brauchen wir gerade – was du werden sollst«, meinte sie.

Dies Zusammensein hat mich sehr gestärkt – ich weiß nun wieder ganz, welche Pflichten ich habe: daß es dann eben nötig ist, heroisch zu leben, wenn es nicht »glücklich« sein kann. Tapferkeit muß nun die höchste Tugend sein. Ich wagte nicht mehr kindisch und verwegen in dieser Neujahrsnacht – wie noch in der vergangenen – zu fragen, ob wohl das Schwerste meines Lebens schon hinter mir liege. Nun weiß ich schon, daß es immer wieder Neues, bisher Ungeahntes, »Schwerstes« gibt.

So kam ich gekräftigt und erfrischt nach München zurück. Und ich weiß gar nicht, warum wieder einmal die Fäden abgerissen sind. Was dazwischen ist. Er hätte eigentlich keinen Menschen außer Erna Oppenheimer, behauptete Robert neulich mißgestimmt. Also alles Gute zwischen uns, was vor der Reise war, hat er wieder vergessen!

Diese neue Enttäuschung hat mich sehr geschmerzt –. Ich ging nicht mehr zu Hedwig; entschuldigte mich mit Arbeit und Influenza.

5. März.

Er kam – gestern – ganz unerwartet – es war der Jahrestag des 4. März. Nun war wieder alles da in ihm: Interesse, Wärme, Sehnsucht nach einer lieben Freundschaft zwischen uns.

Wie gut könnte alles zwischen uns sein, wenn ich nur diesen mir unbegreiflichen ewigen Wechsel in ihm ertragen könnte. Wenn mir nicht von meiner stetigen, zäh ausdauernden Natur aus jeder Zugang zu dieser mir unheimlichen Labilität fehlte!

Er nahm meine Hand, hielt sie und küßte sie: »Laß uns doch gute Freundschaft halten!«

Ich sagte ein wenig kühl und spöttisch: »Gerne!«

»Nicht diesen Ton, Irene!« bat er.

»Nun,« sagte ich nun ernster – »ich bin schon zu allen guten Taten bereit – aber nach dem, was ich in diesem Jahr zu sehen bekommen habe –!«

»Aber siehst du denn nicht ein, daß dieses Jahr notwendig war für uns?« fragte er.

Ich sehe es natürlich nicht ein, daß etwas so Grauenvolles notwendig war – aber ich hütete mich, es zu sagen.

»Und dann mußt du unbedingt auch wieder zu uns kommen«, bat er. »Wir haben dich beide so sehr vermißt in den letzten Wochen – aber du darfst nicht mehr so fremd und abweisend gegen mich sein wie das letztemal.«

Das war der Abend, wo er meinte, er habe nur Erna Oppenheimer. Warum sagt er denn solche Torheit?

»Ja, da war ich sehr gereizt.« –

»Ja, heute bist du lieb –.«

»Aber nun versprich mir,« bat er zum Abschied, »daß du nicht etwa nur zu Hedwig kommst, wenn ich abwesend bin – wie du das oft getan hast. Richte dich so ein, daß auch ich dich sehen kann: ich möchte doch so viel als möglich von dir haben, mit dir zusammen sein.«

Das war ein anderer 4. März als der vom vorigen Jahr. Nun, was an mir liegt – ich will das meinige tun.

19. März.

Vor einigen Tagen kam eine Nachricht, die mich tief erschüttert hat, die ich immer noch nicht in ihrer furchtbaren Wirklichkeit fassen kann: erst ein Telegramm von Lilli – und dann ein Eilbrief ihrer Mutter, die augenblicklich bei ihr ist: ich möchte mich sofort erkundigen, ob der Maler Petermann, – der Künstler, den sie verehrt und geliebt hat – gestorben sei? Lilli behauptet, ganz bestimmt zu fühlen, zu wissen, daß er in Todesgefahr sei. Natürlich ist keine Rede davon – er lebt, ist nicht einmal krank – mir graut! – –

Schon die letzten Methoden des Arztes: alle Bücher wurden ihr fortgenommen – keine Briefe sollte sie erhalten – keine Besuche – nur still zu Bett liegen – im verdunkelten Zimmer – waren mir unheimlich.

Ich schrieb damals sofort an Lillis Mutter, daß mir dies als sicherstes Mittel erschiene, es zum äußersten zu treiben – wenn mir ein Arzt das verschreiben würde, mich so ganz hilflos nur meinen Gedanken und Empfindungen überantwortete, dann würde ich in vier Wochen ganz gewiß verrückt sein. Heute kam ein Brief der Mutter – es sind buchstäblich vier Wochen! –: man habe Lilli in eine geschlossene Anstalt überführt! Tobsuchtsanfälle! Lilli! Dies schöne, strahlende Geschöpf! Ich sehe sie noch immer vor mir in dem weißen Cheviotkleid, das sie den Sommer vor zwei Jahren, der ihr Glück und Unglück wurde, mit Vorliebe trug. Sie ging wie schwebend in ihrem Glücksrausch, wie auf Wolken wandelnd. Mit leuchtenden blauen Augen – einem seligen Lächeln um den schöngeschwungenen Mund.

Und dann kam der Absturz – um so jäher, furchtbarer. Nicht in erster Linie seine Verlobung mit einer anderen – die er ihr in so zarter, vornehmer Weise mitteilte – nicht das traf sie am tiefsten. – Wir hatten das kommen sehen, daß sich sein Herz für die andere, Sanftere, Reifere entscheiden würde. Aber daß Lilli von seiner Vergangenheit erfuhr – daß dieser Idealmensch von heute – und das scheint er auch mir heute noch zu sein –, daß er selbst einmal genau so banal und grausam mit den Frauen der ärmeren Schichten, mit ihrem Herzen gespielt hatte, wie irgendein brutaler Rohling – das begriff sie, das ertrug sie nicht – das warf sie um.

Seitdem fand sie nicht mehr die Kraft zu ihrer Arbeit: die Kraft zur Überwindung fehlte ihr – zu ihrem Verhängnis. Und nun dies Ende.

Ende? Ich stehe wie vor einem furchtbaren Geheimnis des Lebens: wie muß es sein: zu leben und zu wissen, daß man zu diesen Ausgestoßenen, den Narren, den Unzurechnungsfähigen gehört!

Lilli – ich kann es nicht fassen. –

*

Dr. Waßmann, den ich so gern hatte – ich freute mich immer, ihn bei Reichmanns oder bei Robert zu treffen – hat eine Weltreise angetreten.


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