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24. November.
Nun ist das, was schon so schwierig und traurig war, durch einen grausam-unseligen Zufall schauerlich kompliziert worden. Wir waren beide gut und sanft miteinander, wie man mit Leidenden, Verletzten sein muß, denen man wohltun, ihr Leid nicht unnötig vermehren will. Und da ist plötzlich etwas geschehen – was noch nicht bis zu meinem vollen Begreifen durchgedrungen ist – wahrscheinlich, weil ich noch nicht fähig bin, es aufzunehmen.
Ich ging vorgestern am Nachmittag zu Lilli; ich schuldete ihr lange den Besuch und wurde wie immer hocherfreut aufgenommen. – Die neue Kur mit dem neuen Professor scheint wirklich bei ihr Wunder zu wirken. Ich habe sie lange nicht so frisch gesehen. Auch Dr. Walker war da – er hatte etwas Verschlossenes, Verbittertes an sich, das ich bisher nie bemerkt habe. Ich sah ihn betrübt an – in seiner einfachen, natürlichen Menschlichkeit war er mir immer so sympathisch, daß mich diese Verwandlung, dieser fremde Einschlag schmerzlich, peinlich berührte.
Als ich gegen Abend nach Hause ging, bat er mich um die Erlaubnis, mich begleiten zu dürfen. Ich versuchte, mich freundlich und herzlich mit ihm zu unterhalten. Er ging eine Weile darauf ein – dann sagte er: »Was halten Sie von der neuen Freundin von Professor Braunwald?«
Ich starrte ihn an, als ob er irrsinnig geworden sei – und vergaß in meinem Entsetzen überhaupt darauf zu antworten.
»Sie ist eine elegante, schlanke Erscheinung, eine junge Schauspielerin, so viel ich weiß. Ich traf die beiden neulich in einer Weinstube abends.«
Er hatte versucht, es mir als eine gleichgültige, gesellschaftliche Nachricht zu übermitteln – ich nahm alle Selbstbeherrschung, allen Stolz zusammen und sagte: »Ja, ich hörte von ihr – sie soll sehr begabt sein.«
Meine eigene Stimme kam mir ganz fremd und unnatürlich vor. Ich versuchte noch ein paar Worte über Lilli zu reden – – –
Ich bat ihn an der nächsten Haltestelle der Bahn, mich jetzt allein zu lassen – ich wollte das letzte Stück Weges fahren, da ich mich zu ermüdet fühlte. Er ließ mich schweigend und traurig gehen. Ich hatte nicht die Kraft mehr, etwas zu erwidern: hier gibt es keine Verständigung. – – – – –
Daß diese Mitteilung einer liebenden Besorgnis, wie er sie versteht, entspringt, fühlte ich wohl. Aber daß Liebe, meine Liebe zu Robert aus diesem Wege mir nicht aus dem Herzen gerissen werden kann – so, wie er es vielleicht glaubt und hofft – das weiß ich auch.
*
Gegen Abend des nächsten Tages, als ich mich eben halb mechanisch fertig gemacht hatte, ins Theater zu gehen – um mich mit Gewalt aus meinem wie gelähmten Zustand zu reißen – kam Robert. Ich ging ihm ruhig und ernst entgegen und sagte ihm, was Dr. Walker erzählt hatte.
»Ja, das ist richtig, ich war mit ihr dort,« sagte er, »ich würde es dir mitgeteilt haben, selbstverständlich – aber gerade in den letzten Tagen sind wir nicht dazugekommen – es war zum erstenmal, daß ich sie so sprach; sie wollte einen Rat von mir.«
Ich saß in unendlichem Schmerz neben ihm, der zu groß war, als daß ich ihn auch nur durch ein einziges Wort hätte äußern können. Schweigend, ohne einen einzigen Ton der Erwiderung, hörte ich seine Erklärung an. – – – – –
Er nahm eine meiner Hände nach der anderen in die seine und suchte den Ring – er sah mich traurig an, als er ihn nicht fand – dann zog er mich sanft neben sich auf den Diwan und lehnte seinen Kopf an meine Schulter: »Du bist der vornehmste Mensch, den ich überhaupt kenne« – sagte er und küßte mich auf den Mund.
*
Robert kam vom Arzt, der ihm sehr ernstliche Vorhaltungen gemacht hat – auch seine Schwindelanfälle und seine Herzbeklemmungen sehr ernst beurteilt. Er soll ein halbes Jahr Urlaub nehmen, um sich ganz zu erholen. Ich sehe, daß er leidet – er sieht unbeschreiblich gequält aus. Lange schon habe ich gefürchtet, daß er mit seinen doppelten Aufgaben an Universität und Volkshochschule zu viel Last aufgebürdet bekommen hat. Und nun die Gemütserregungen – Glück und Kummer durch unsere selig-unselige Liebe.
Aber daß es so trostlos, so schwer und hoffnungslos ist, wie er es manchmal schildert – das kann ich doch nicht glauben. Er wurde ganz böse, als ich diesen leisen Zweifel, diese Hoffnung zu äußern wagte!
So traurig, so erschüttert ich von allem bin: wenn ich ihn so leiden sehe, werde ich ruhiger.
Er ist doch der am meisten Leidende von uns beiden – so groß auch meine Qual jetzt sein mag.
»Ich habe doch wirklich nicht nur an mich und meine Freude gedacht – bei dieser Lösung jetzt«, sagte er bitter. »Und ich bin doch gewiß für sinnliches Glück empfänglich.«
Montag, 3. Dezember.
Zu seinen Vorlesungen bin ich nicht gegangen – das war mir schon immer schwer – und jetzt natürlich erst recht.
»Warum kommst du nicht?« fragte er, als er den anderen Tag hierher kam.
Ich saß ihm ruhig gegenüber – erzählte ihm von meiner Arbeit, daß ich das Gefühl habe, doch vorwärts zu kommen – gab ihm ein Kissen in den Rücken – bis er diese höfliche, kühle Ferne zwischen uns doch nicht mehr ertrug und mich zu sich auf den Diwan holte: »Deine lieben Hände muß ich wenigstens haben« und meine Arme um seinen Hals schlang.
»Diese Nacht habe ich wieder so laut nach dir gerufen, daß Hedwig, die nebenan schläft und sich sehr um mich sorgt, aufstand, um zu fragen, was mir fehle und warum ich denn nicht nach ihr gerufen. Sie ist ordentlich eifersüchtig darauf.«
»Dazu hat sie doch wirklich keine Ursache«, meinte ich.
»Soll das Krieg bedeuten?« fragte er.
Ich mußte fast lächeln: »Ach nein, das soll nicht Krieg bedeuten.«
Er zog meinen Kopf ganz fest an seine Brust: »Liebe Irene!« – – – – – – – – – – – – – – –
Im Theater hat man in diesen Tagen eine viel besprochene neue Inszenierung des »Faust« gegeben, die Robert sich angesehen hatte, und von der er erzählte.
Und dann waren wir, ehe wir uns versahen, wieder in unserer Debatte über das Faustproblem.
»Siehst du, was mich daran quält, ist: es kommt gar nicht zum Ausdruck, daß auch Faust leiden muß für das, was er so egoistisch-gedankenlos einem anderen Menschen zugefügt hat. Sie ist doch ein unreifes, törichtes Kind und er der reife Mann, der genau wissen konnte, was er tat. Dies grausige Mißverhältnis: daß sie zugrunde geht, während er sein Leben ungestört weiter lebt – muß doch für jeden sittlich empfindenden Menschen als moralische Ungeheuerlichkeit erkennbar werden.«
»Das ist aber eine ganz unkünstlerische Betrachtungsweise«, sagte er erregt.
»Darin hast du vielleicht recht – aber dies ist eben nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine menschlich-sittliche Frage – und darum kann man mit der bloßen abstrakten ›künstlerischen‹ Beurteilung dies Problem nicht lösen.« – –
*
»Dies ist übrigens das dümmste, was wir machen können«, sagte er nachher. »Das ist doch kein neutrales Gebiet für uns beide.«
»Warum nicht« – sagte ich ein wenig hochmütig – »ich habe dich noch nie für einen Faust gehalten und mich nicht für ein Gretchen.«
»Ach, wie kannst du nur den Faust so auffassen, Herzblatt«, sagte er dann plötzlich ganz weich.
»Faust hat Gretchen doch wirklich geliebt – und sie ist kein Kind, wie du meinst – sondern ein Weib – und all das Unglück dabei hat eben der Teufel verursacht, und hernach bekommt Faust den Vergessenheitstrank. Zum Schluß wird doch trotz allem das Leben bejaht – was doch ganz in deinem Sinne ist.«
»Welch ein Unglück,« sagte ich ein wenig ironisch, »daß nicht auch Gretchen diesen Vergessenheitstrank bekommt, der sie mit einem Schlag aus aller Not errettet. Nein, auf diesen bequemen Vergessenheitstrank, der ohne sittliche Anstrengung von aller Qual und Schuld erlöst, wird ein Wesen, das Gretchens Geschlecht angehört, wohl nie rechnen können, fürchte ich. Sie wird Heilung und Befreiung wohl auf anderen Wegen suchen müssen!« – – – – – – –
*
Ich sagte Robert, wenn wir denn jetzt so traurig wären, müßten wir um so liebevoller gegen unsere nächsten Menschen sein: Agathe, Hedwig, Lilli. Er habe doch zum Beispiel immer noch seinen Beruf, seine eigene Weltanschauung – und andere Menschen – und mich, wenn er mich haben wolle. Agathe aber zum Beispiel habe nichts als ihn – und ihn habe sie nicht. Wenn es uns jetzt schlecht ginge, wollten wir wenigstens sorgen, daß die anderen es ein wenig besser hätten – darin liege dann auch vielleicht ein wenig Glück. Er horchte auf, meinte, wir müßten uns nun bald einmal wieder ganz in Ruhe sprechen können – und wie es wohl zu machen wäre, daß wir zusammen arbeiteten. Das ist eine Phantasie von ihm – von Anfang unseres Zusammenseins an, die ich gar nicht verstehe: man kann zusammen genießen, nachschaffen, in geistige Schöpfungen, in Kunstwerke oder Ideenwelten eindringen – das, was ich mir zur Annäherung unserer so verschiedenen Welten immer so sehnlich gewünscht habe.
Aber produzieren – selber geistig schaffen – ich kann mir nicht vorstellen, wie man das zu zweien ernsthaft machen kann.
Ich mahne ihn nun selber, zu gehen; ich weiß, daß Hedwig sich sorgt, wenn er in seinem jetzigen Zustand so lange ausbleibt.
Montag. 10. Dezember.
Donnerstag nach der Vorlesung bat er mich, doch noch mit zu Hedwig zu kommen, da er so eilige Arbeiten zu erledigen hatte und nicht mit zu mir konnte. Ich war nicht recht geneigt: ich fühle, daß Hedwig angesichts der ungeheuren Stimmungsschwankungen ihres Bruders unwillkürlich mich damit in Verbindung bringt. Ich fühle mich jetzt nicht fest, nicht stark genug, um mich einer so kritischen Prüfung auszusetzen. Gerade in ihrer Gegenwart kommt mir der große Gegensatz zwischen der frohen, hoffnungsvollen Zeit des Sommers und der jetzigen Hoffnungslosigkeit und Resignation – bei ihm – die ich leider noch nicht besitze – doppelt bitter zum Bewußtsein.
Denn ich: ich kann namenlos leiden, so daß ich mir den Tod als Ende der Qual wünsche – aber resigniert sein – das kann ich nicht. Solange noch ein Atemzug in mir ist, werde ich nicht aufhören können »zu hoffen und zu begehren«. Und ich wollte nur, ich könnte von meinem Blut in das seine hinüberströmen lassen – wie würde uns das beiden wohltun!
Ich ging daher lieber Freitag zu ihr, wo er, wie ich wußte, in der Vorlesung war – aber auch so kam es nur zu einem gequälten Gespräch: die alte herzliche Freundschaft ist fort.
Von diesem Zusammensein kam ich sehr unglücklich nach Hause: ist unser Bemühen, es als Freunde miteinander zu versuchen, nicht doch nur unnütze Quälerei? Ich verbrannte alle Blumen – alle Andenken aus unserer schönen Zeit und packte die beiden Ringe – den von unserer Hochzeitsreise und den mit der Tränenperle – fort. Wenn ich denn allein sein muß, scheint es mir besser, ganz frei – ohne all diese alten Bindungen und Hemmungen zu sein, die nur lähmen.
Als ich gestern aus meinem Malkursus kam, traf ich Robert einige Häuser vor meiner Wohnung.
»Ich war eben oben bei dir – Hedwig hat mir erzählt, du seiest so fremd und förmlich gewesen – was soll das denn heißen? Soll das Abbruch bedeuten?« fragte er beunruhigt.
»Ja!« sagte ich.
»Nun sei so gut, geh ein bißchen mit mir – ich kann nicht noch einmal die Treppen steigen – es wird mir so schwer – aber komm noch mit – wir gehen in ein Café.«
Er nahm mir meine Bücher ab. »Es wird dann nicht leichter für uns sein – und wir können doch so viel voneinander haben.«
»Ach, weißt du,« sagte ich, »wenn wir nicht seelisch-menschlich so verschieden wären, dann hätten wir uns überhaupt nicht zu trennen brauchen – die physiologische Verschiedenheit, von der du so oft sprichst, hat mir noch nie Herzweh gemacht.«
»Gewiß, wir sind Menschen zweier Kulturen – du stehst ganz in der neuen – aber übersiehst die alte. Ich habe die alte und verstehe doch die neue – und daher kommen manchmal die Widersprüche in meinem Wesen. Aber wir sind uns gerade von großem Wert. Nur du hast geistig gar nichts mehr von mir genommen, seit wir uns nahe stehen – und ich so viel von dir.«
Weil ich fühlte, daß unsere Naturen, unsere Persönlichkeiten sich manches geben, manches austauschen könnten, habe ich mir in den ersten Jahren unserer konventionellen Bekanntschaft doch immer gewünscht, daß wir uns näher, innig, seelisch, freundschaftlich näher kommen möchten. Aber von dem Augenblick an, wo ich ihm sinnlich angehörte, habe ich mich geistig fast ganz gegen seinen Einfluß abgeschlossen.
Das ist doppelt seltsam, weil ich doch immer gewußt habe: »überhaupt lernt man nur von dem, den man liebt – der unserer Persönlichkeit gemäß ist.« Merkwürdig!
»Und du hast nie von dir gesprochen – jetzt fängst du manchmal an«, warf er mir mit Recht vor.
Wir gingen in eine Konditorei und fanden eine bequeme Ecke, in der man unbeachtet reden konnte.
»Ach Liebe, ich habe jeden Tag – jede Stunde Sehnsucht nach dir – ich habe es mir aber immer versagt, zu dir zu kommen – und jetzt bin ich ein paarmal in einen Laden gegangen, um nicht zu dir zu gehen – und stand doch schließlich vor deiner Türe. Und wenn ich bei dir bin, will ich auch deine Arme um mich herum haben, und wenn es dann einmal wieder eine ganze Szene wird –!«
»Ich denke, es wird wohl einiges dazwischen stehen, was das verhindert«, sagte ich.
»Ich entbehre auch das sinnliche Glück bei dir so. – Aber wie hast du dich nur so in mir irren können!«
»Ich habe mich nicht geirrt!« sagte ich fest, überzeugt. »Ich muß das volle Bewußtsein auch deiner seelischen Liebe für mich haben, um vollkommen glücklich zu sein – so wie ich es zum Beispiel auf unserer Reise so wundervoll hatte. Nein, nicht daß du mir ›sinnlich nicht genügst‹, ist schuld daran. Du kannst dich wirklich nicht beim lieben Gott beklagen: einen Menschen, der dich liebt, hast du schon – aber du zerstörst es dir selbst. – Denk' an das Wort, das du selbst so oft gesagt hast: ›Wer nicht die Welt in seinen Freunden sieht‹.
Du hast nie Zeit für uns – das ist unser Unglück. Ich habe dich, weiß Gott, lieb gehabt und liebe dich noch.« – –
»Ich möchte mich noch nicht von dir trennen«, bat er. »Gehst du noch ein bißchen mit durch den Englischen Garten?«
Es war ein entzückender Winterabend – die Wiesen und Bäume weiß bereift und Vollmond darüber. Wir wanderten in liebem Gespräch miteinander. Er sprach von Agathe – dem unlösbaren Problem seines Lebens, an dem alles andere scheiterte. Er wollte sie als Schwester – aber auf sie als Mann angewiesen sein, sei furchtbar.
» Eine Schwester hast du nun schon«, neckte ich und sah lächelnd zu ihm auf.
Er schlang zärtlich seinen Arm um mich: »Gott, dein lieber Humor – damit hat man sich doch selber wieder. Wenn Agathe doch auch einmal so lachen könnte!«
Und wir gingen sehr froh, sehr lieb auseinander.
So kann man doch leben.
12. Dezember.
Gestern gab es große Schwierigkeiten, als er sich nach seiner Vorlesung frei machen wollte, um noch mit mir zusammenzusein. Er mußte sich gewaltsam losreißen, so wurde er von allen Seiten in Anspruch genommen.
»Das hat aber Mühe gekostet!« sagte er, als er kam.
»Ich weiß ein sehr einfaches Mittel«, sagte ich.
»Mißhör' mich nicht, du holdes Angesicht: ich wollte dich doch sprechen.« –
»Ich ging doch so schnell voraus, weil ich deinen ›Befehl‹ dazu hatte.«
Er lachte über den »Befehl«.
»Was wolltest du mir denn eigentlich sagen?« fragte ich.
»O, nichts Materielles, nur Ideelles. Du beschäftigst mich im Wachen und im Traum – aber das merkst du alles gar nicht. Die stete Berührung mit einer so ganz anderen Natur und einer so ganz anderen Weltanschauung ist furchtbar aufreibend für mich.«
»Schade, daß ich so wenig davon merke, daß ich dich so intensiv beschäftige«, sagte ich.
»Nun lachst du spöttisch«, klagte er.
»Nein, ich lache nicht – es tut mir im Gegenteil sehr leid, daß du alles weggibst, wie du sagst – und ich bekomme es doch nicht.«
»Ihr Frauen seid die größten Verschwender. Ich gebe überhaupt zu viel Gemütskräfte fort – auch an Agathe – und nun erst an dich!
Kannst du gar nicht begreifen, daß es mir in meinen leidenschaftlichen Schmerzen um dich, durch dich manchmal ein Bedürfnis war, mit Erna Oppenheimer oder anderen ein frivoles Gespräch zu führen?
Siehst du, für meine Natur ist es wohl leichter, einen Menschen zu haben, der weniger bedeutend ist und mich weniger liebt als du, der sich aber vollkommen in meine Natur versetzen kann. Ich kann verstehen, daß Goethe seine Köchin geheiratet hat.«
»Dann ist das wohl für –.«
»Schwächlinge« – fiel er mir ins Wort.
Ich ging sehr ernst und böse zur Seite: »Du weißt, daß ich das nicht sagen wollte.«
Er legte den Arm um mich: »Ich meinte es nicht böse.«
»Dabei kann man als Frau nicht leben.«
»Aber ich leide so darunter. Ich könnte doch zu Hause eine Frau haben, die viel einfacher wäre und viel konventioneller – und wir beide könnten doch innig geistig und zärtlich befreundet sein.«
»Also mit der einen unterhält man sich, lebt man sein seelisch-geistiges Leben – und von der anderen bekommt man die Kinder? – so wie in Griechenland?« fragte ich entsetzt. Ich danke – ich möchte ein ganzes menschliches Verhältnis.«
»Aber ich habe jetzt Sehnsucht danach – durch die Liebe zu dir ist etwas in mein Wesen gekommen, was ich früher gar nicht so kannte. Aber wenn ich bei dir bin, erwacht so stark das sinnliche Verlangen nach dir, bin ich gar nicht lieb, nicht zartfühlend genug – und dazu das schmerzliche Bewußtsein, daß du nicht mit mir zufrieden bist –«
Er hatte seinen Arm längst um meine Hüfte gelegt und mich dicht an sich gezogen – wie wir da wanderten. – Ich versuchte, mich frei zu machen – aber es war nicht leicht.
»Bei dem bisherigen Verhältnis ging unsere Freundschaft zugrunde – und da opferte ich lieber das Sinnliche, um das Geistige mit dir zu haben«, meinte er. »Und aus dieser geistigen Berührung unserer Naturen kann man vielleicht mehr für das Leben lernen als aus wissenschaftlichen Werken.« –
»Weißt du,« fragte er hernach – »daß Goethe sich einmal gewünscht hat, eine Frau zu sein? Er hätte sich gewiß auch mit Wohlgefallen lieben lassen.«
»Und mir nimmst du es übel, daß ich es wollte!« sagte ich.
»Du bist sicher zu sehr Weib für mich – ich bin selbst eine zu weibliche Natur«, fand er.
»Ja natürlich – das weiß ich schon lange«, bekannte ich.
»Dann ziehe doch auch die Konsequenzen daraus!«
Er zog meinen Kopf an seine Brust – und sein lieber Mund näherte sich dem meinen. Ich machte mich – mit Schmerzen – los.
»Dumme liebe Irene, dumme liebe Irene!« sagte er weich.
»Aber nun müssen wir wohl zurück!« sagte ich.
»Ach, bleib doch noch ein wenig«, bat er.
Wir gingen weiter.
»Aber wie du denken kannst, das wäre Liebe, was Faust für Gretchen hat, das verstehe ich nicht – er begehrt sie – ja – aber – Liebe!« sagte ich.
»Ja, ja, du hast recht – aber weißt du – nun wollte ich, wir hätten uns vorher getrennt – es ist mir so schrecklich, das denken zu müssen!«
»Aber ich habe es ganz lieb gemeint«, beruhigte ich ihn.
»Siehst du,« sagte er, ehe wir uns trennten – »nun haben wir doch auch etwas voneinander gehabt!«
Wir gingen beide mit sehr frohem Herzen nach Hause.
Er hat recht: kompliziert war unser Verhältnis immer – aber nun erst!
Freitag, 14. Dezember.
Als ich gestern aus meinem Malkursus kam, fand ich ihn auf der Straße auf mich wartend.
»Wo treibst du dich denn herum?« fragte ich heiter.
»Ich habe hier auf jemanden gewartet« – sagte er feierlich.
»Auf wen denn?«
»Auf dich, du Schäfchen.«
Wir sahen uns in die Augen und lachten beide.
»Eine volle Stunde habe ich gewartet – ich war schon eine Stunde früher frei.«
»Das finde ich sehr unvernünftig«, schalt ich.
»Ich wollte dich nur sehen, einen Moment sprechen. Komm doch heute nachmittag zu Hedwig!«
Wir gingen ein kleines Stück zusammen – ich erzählte, daß ich von meinem ersten selbstverdienten Gelde mir ein hübsches Eßgeschirr gekauft hätte – ich freue mich so über jedes Stück, wodurch in meine bescheidene Häuslichkeit etwas mehr Behagen kommt.
»Ach, das hättest du doch lassen sollen,« sagte er enttäuscht – »ich muß dir doch zu Weihnachten etwas schenken.«
Ich lachte: »Dann muß ich dir ja auch etwas schenken. Was wünschst du dir denn?«
»Von dir wünsche ich mir – daß ich recht gesund werde!« Wir blieben voreinander stehen, da wir uns verabschieden mußten.
»Du bist übrigens großartig,« sagte ich, »jetzt behauptest du, du wolltest das Geistige – und dabei bin ich es gewesen, die von Anfang an gebeten hat, wir wollten uns etwas Gemeinsames schaffen. Und dabei war der Diskussionsabend über Goethe bei Reichmanns – bei dem du mich am liebsten ausgeschlossen hättest, weil ich deine Auffassung nicht stören sollte, eher eingerichtet als unsere gemeinsame Nietzsche-Lektüre, und zwei- dreimal, dann war es wieder aus. O, es ist herrlich!«
Er lachte – konnte aber nicht widersprechen.
»Das sind doch die einfachen Tatsachen.«
»Es gibt aber keine Tatsachen – sondern nur Interpretation von Tatsachen«, versuchte er sich zu retten.
Wir gaben uns die Hand und gingen ein paar Schritte mit verschlungenen Händen.
»Nein, ich komme heute nicht zu Hedwig; ich habe auch sehr viel zu arbeiten«, entschied ich mich.
»Gut, dann komme ich morgen zu dir.« –
Ich ging sehr froh nach Hause.
18. Dezember.
Als ich Dienstag zu Hedwig kam, um mich nach ihrem Ergehen zu erkundigen, war die junge Schauspielerin da, auf die Dr. Walker den Verdacht hat, daß sie Roberts jetzige Freundin sei: ein Fräulein von Wendeborn. Er hatte mit ihr eine Rolle durchgesprochen – die sie spielen soll – er versteht es ja so ausgezeichnet, Dichtungen lebendig zu machen. Ich kann sehr gut begreifen, daß sie sich von ihm helfen lassen möchte. Sie ist sehr hübsch.
Er begleitete sie – ich fand, es dauerte entsetzlich lange, bis er wiederkam. Er hatte mich gebeten – und Hedwig ebenfalls – ich möchte zum Abend dableiben.
Es wurde nicht viel Frohes aus dem Zusammensein – mich hatte die Anwesenheit dieses Menschen, von dessen Existenz ich auf so unerwartete Weise damals Kenntnis erlangt hatte, sehr bedrückt – und ihn machte unser Zusammentreffen wohl auch befangen.
Wir retteten uns schließlich in die Musik: ich bat Hedwig zu spielen und war dankbar für die starke künstlerische Kraft, mit der sie Beethoven vortrug. Mir scheint, sie hat an menschlichem wie künstlerischem Vermögen in diesem Jahr unendlich gewonnen. Ein wenig der Fremdheit, die sich in den letzten Monaten zwischen uns angesammelt hat, schwand, als sie meine Freude und Dankbarkeit sah.
Aber in mir hat die Musik alles aufgewühlt. Musik kann ich nur ertragen, wenn ich glücklich bin – sonst bin ich hilflos ihr gegenüber, sie zerreißt und zerwühlt mich vollkommen – untergräbt meine Widerstandskraft. Ich kann verstehen, daß Orpheus mit ihr die wilden Tiere zähmt.
In den nächsten Tagen will ich nach Berlin zu Hanna, um das Fest bei ihr zu verleben, sie in ihrer Einsamkeit zu trösten. Als Robert mich heimbegleitete, fragte er, wann er vor der Abreise noch einmal heraufkommen könne.
»Er fürchte sich davor, wie jemand, der einen unredlichen Bankrott gemacht habe.«
Ich war so aufgewühlt durch die Begegnung, und dies Wort schmerzte mich sehr.
»Hast du denn das?« fragte ich traurig.
Nun wurde er ganz böse: »Wie ich denn so etwas denken könne – ich wisse doch alles, wie es um ihn in Wahrheit bestellt sei.«
21. Dezember.
Morgen früh geht es nach Berlin – auch ein paar andre deutsche Städte, Kassel, Leipzig, Dresden mit ihren Galerien – die schönen Rembrandts in Kassel besonders, die Robert auch sehr liebt – will ich mir ansehen, die ich noch nicht kenne. Ich brauche starke, neue Eindrücke – ein Gegengewicht gegen die Belastung der letzten Tage.
Robert war heute noch einmal bei mir: ich hatte in der Nacht qualvoll wach gelegen – und wieder einmal unter der Unstäte und Unberechenbarkeit, der Willkür seiner Natur gelitten. Wie war es möglich, daß all die Heiterkeit und der Frohsinn unserer letzten Unterhaltungen plötzlich geschwunden und diesem gedrückten, unfreien Wesen Platz gemacht hatte?
Ich versuchte, ihm etwas davon zu sagen. Er lag müde auf dem Diwan und hörte mich an.
»Kannst du dich nicht zu mir setzen?« bat er.
»Ein Leben, das nur sich selbst und anderen zur Qual sei, habe keine Berechtigung«, meinte ich. »Wenn man leben wolle, müsse man es auch so gestalten, daß man sich jedenfalls nie vor sich selber zu schämen habe.«
Ich erinnerte ihn an Goethes Wort: »Wahrhaft hochachten kann sich nur, wer sich nicht selbst sucht.«
»Komm doch her«, bat er noch einmal.
Ich kam dann, er richtete sich auf und lehnte seinen Kopf an meine Brust.
»Ja, ja, du hast recht, Martin hat auch so gedacht. Weißt du, du hast den Geist, die Gesinnung meines liebsten Freundes – und die Gestalt von meinem Mütterchen – die ich außer dir wohl von allen Menschen am liebsten gehabt habe – da wirst du mir schon etwas bedeuten.«
»Schreibst du mir nun auch lieb?« bat er.
Ich streichelte sein Haar: »Ja – ich schreibe dir – aber du bitte zuerst.«
»Ach, ich fühle mich so zu Hause bei dir – nun war es doch gut, daß ich heraufkam.«
Und er zog mich ganz zu sich und küßte mich dreimal sehr zärtlich auf den Mund.
»Das kannst du doch nicht denken, daß ich dich nicht lieb hätte,« sagte er ganz entrüstet, »ich könnte dich doch gar nicht mehr entbehren.«
Beim Fortgehen zog er mich noch einmal in seine Arme und wollte mich noch einmal küssen – ich wandte den Kopf ab – und so küßte er mich auf den Hals.
»Ich darf dir doch danken für diese Stunde bei dir, Liebe«, sagte er warm.
8. Januar.
Nun liegt die Reise schon wieder hinter mir, die mir ein stilles, wehmütiges Zusammensein mit Hanna bescherte. Wir haben beide im letzten Jahr einen geliebten Menschen verloren: und ich weiß nicht, was schwerer ist: durch den Tod – unwiderruflich – ein für allemal – oder durch das Leben, wo man ihn tausendmal wiedergewinnen, ihn tausendmal wiederum verlieren kann.
Die veränderte Umwelt tat mir sehr wohl – ich sah Dresden, Leipzig und Kassel und freute mich fast in alter Freudefähigkeit an der Kunst dort.
Ich habe noch nicht viel Lebenskunst, ich weiß es. Aber so viel habe ich wenigstens, daß ich weiß: ich will um keinen Preis unterliegen. Langsam zugrunde gehen an einer unseligen Leidenschaft – an einem unlösbaren Konflikt – das will, das will ich nicht. Nur eins begehre ich daher jetzt vom Leben: ein tapferes Herz!
Als wir Sylvester feierten, Hanna und ich – die in unserem stillen Zusammenleben allmählich von dem Glück und Leid dieses Jahres erfuhr, dachte ich mit schauderndem Rückblick: ob wohl das schwerste Jahr meines Lebens nun hinter mir liegt?!
Die Ferien mit ihren neuen, starken künstlerischen Eindrücken und Hannas milde mitverstehende Sympathie hätten wirklich eine Beruhigung und Stärkung werden können; sie haben dennoch an mir gezehrt und gezerrt durch die quälende Sorge um ihn. Der versprochene Brief von Robert kam nicht – obwohl ich Hedwig zu Weihnachten einen Gruß sandte. Erst bei der Rückkehr nach München wurde mir ein Brief von ihm, der erst nach meiner Abreise in Berlin eingegangen war, ausgehändigt.
»Obwohl du mir nicht geschrieben hast« – begann er.
Ich bin ganz verwirrt: Wir hatten doch abgemacht, daß er zuerst schreiben sollte?!
In dem Brief schreibt Robert, er habe doch den Groll gegen mich nicht ganz überwinden können, weil ich ihm eigentlich bei unserem letzten Zusammensein den freundschaftlichen Rat gegeben habe, sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen.
Bei diesem Zusammensein, für das er mir so herzlich dankte, von dem er fand, es sei doch gut gewesen, daß er heraufgekommen?! Ich habe ihn doch aufrütteln wollen aus seiner dumpfen Verzweiflung und Selbstverachtung – ihm im Gegenteil gesagt, das Mittel zur Überwindung sei, so zu handeln, daß man Freude an sich selber haben könne!
Nie hätte ich zu ihm in dem Sinne sprechen können, den er nun hineinlegt!
Diese mir ganz unfaßliche Mißdeutung, auf die ich nach unserem liebevollen Auseinandergehen gar nicht gefaßt war, macht mich ganz mutlos. Welch ein trauriger Beginn für das neue Jahr!
Gestern kam er nun selbst.
»Warum hast du mir nicht geschrieben?« fragte er sogleich.
Er nahm meine Hände und wollte sie festhalten; ich zog sie ihm fort.
»Ach, sei doch gut gegen mich,« bat er dann – »du mußt das doch verstehen können – eigentlich hast du mir gesagt, daß mein Leben völlig wertlos sei.«
Ich fand kein Wort der Verteidigung gegen diese ungeheuerliche Umdeutung meiner Meinung.
Seine Arme schlangen sich um mich herum und zogen mich dicht neben ihn, während er meine Hände zuweilen küßte.
»Du bist ein lieber, vornehmer Mensch – aber du bist eine schreckliche Qual für mich.«
»Willst du mich denn wirklich durchaus los sein? Willst du es nicht noch mit mir versuchen?« fragte er.
»Versprich mir, daß ein Ja ein Ja, ein Nein ein Nein sein soll!« bat ich ernst.
»Ja, das kann ich dir versprechen!«
»Aber die ganze Wahrheit.« –
»Auch wenn sie dich ärgert oder kränkt?«
»Auch dann – seiner Mutter kann man alles sagen!«
»Ja, du hast recht, einer solchen Mutter kann man auch alles sagen. Wirst du dann auch den Ring wieder tragen, wenn ich dir das verspreche?«
»Ja, das will ich.«
Aber ich tue es nicht gern – es ist ein Opfer für mich – ich verstehe nicht, wie er darauf solchen Wert legen kann.
20. Januar.
Das Schwierigste in dieser Zeit sind die Besuche bei Hedwig. Das alte herzliche Vertrauensverhältnis ist gestört. Wenn ich in meiner Arbeit – im Verkehr mit anderen Menschen mein geistiges Gleichgewicht habe: in Roberts und Hedwigs Häuslichkeit kommt mir das, was zerstört ist, am bittersten zum Bewußtsein. Ich kann ihr nicht sagen, wie ich leide – warum ich nicht in der Lage bin, sie mit fortzureißen zu froherem, tatkräftigerem Leben. So hält sie für Entfremdung, was nur Kummer ist. Nichts ist so geeignet, meine mühsam gewonnene Gelassenheit zu erschüttern, nichts zerstört so meine Ruhe und Fassung Robert gegenüber, wie solch ein Zusammensein, legt mir dann immer den Gedanken völligen Bruches als letzten Ausweg nahe.
Aber als ich ihm, als er kam, sagte, wie mich jetzt dies Zusammensein mit Hedwig quäle, daß ich nur mehr noch den Ausweg der völligen Trennung wisse, machte ihm diese bloße Andeutung schon Herzschmerzen. Er holte mich in seine Arme und schalt sehr lieb über meine Unvernunft und Ungeduld – und ich ließ mich ausschelten und sagte gar nichts mehr.
»Sieh,« sagte er endlich, »Fräulein von Wendeborn habe ich neulich gesagt, sie müsse dich kennenlernen, damit sie wisse, was ein Mensch sei. Ich möchte dich doch nie verlieren – und das ist nun das Seltsame, daß ich den andern etwas sein kann – und du mir.«
Er saß jetzt vor mir – und ich stand vor ihm, während er meine Arme um seinen Hals – die seinen um meinen Leib gelegt hatte: »Du weißt nicht, wie ich oft zu kämpfen habe, daß ich nicht über dich herfalle – du hast es einem Manne doch unmöglich gemacht.
Das ist doch etwas Neues, unser Verhältnis – und wenn du dir nicht zutraust, etwas daraus zu machen – ich traue es mir zu.«
»Ich würde in dieser schweren Zeit so gerne einen Menschen hier um mich haben, der mir nahesteht, wie Hanna zum Beispiel«, sagte ich.
»Aber du hast mich doch,« sagte er ein wenig gekränkt, »du brauchst doch gar keinen anderen.«
Es war kalt in der Wohnung – die kleine Hilfe, die meinen Haushalt ein paar Stunden besorgen hilft, hatte wohl nicht genug eingelegt.
Nun ließ er es sich nicht nehmen, den Ofen neu für mich zu heizen, damit ich es warm und behaglich haben sollte.
Unter seinen lieben Worten, seinem fürsorglichen Wesen heute, dämmerte es mir wie die Ahnung eines großen Unrechtes, das ich durch meine Heftigkeit und Ungeduld begangen.
Wie seltsam: als er mich leidenschaftlich begehrte, fehlte mir oft in seinem Wesen die Güte, die Fürsorge. Nun, wo die Leidenschaft zurückgetreten ist – gleichviel durch welches tragische Mißverständnis –, nun hat er die verständnisvolle Zärtlichkeit, die mich – mit dem sinnlichen Begehren damals vereint – zum seligsten Menschen auf der Welt gemacht hätte!
3. Februar.
Ich gehe jetzt am liebsten zu Hedwig, wenn ich Robert in seinen Vorlesungen weiß. Heute erzählte sie mir, daß seit kurzem Verhandlungen wegen einer ordentlichen Professor in Leipzig schweben – während er hier erst außerordentlicher Professor ist. Es würde also in mancher Hinsicht eine Erleichterung für ihn bedeuten. Und vielleicht, dachte ich einen Moment erleichtert, wäre es auch ganz gut für uns, getrennt zu werden – und so beide zur Ruhe zu kommen. Es ist doch alles zu wund in uns, als daß wir uns viel positives Glück geben könnten.
Aber dann wurde doch das andere Gefühl stärker in mir: die Furcht, ihn zu verlieren, ihn ganz hergeben zu sollen – der namenlose Schmerz – und die Selbstvorwürfe, daß ich immer noch zu viel gefordert, anstatt nur zu geben. Wie ich oft noch scharf und bitter gewesen – wie ich ihm viel mehr hätte sein können, wenn ich nachsichtiger, geduldiger hätte sein können. Daran gedacht, gütig und geduldig zu sein, hatte ich wohl; aber es war nicht immer gelungen.
Ein heißes Gefühl fast noch nie erlebter Seligkeit durchströmte mich in all dem Schmerz: das Bewußtsein seiner Überlegenheit zu gewinnen – nicht nur auf ästhetischem Gebiet, wo ich es ja immer genossen habe – nein, zu erkennen, wie er auch an menschlicher Reife und Klarheit des Denkens mir um manches voraus ist – daß ich vieles gut zu machen habe, was ich durch Unverständnis versäumt – und der glühende Wunsch, es möchte noch nicht zu spät sein.
20. Februar.
Hedwig war krank. Sie hat sich hinlegen müssen am Tage nach einer angeregten kleinen Gesellschaft – bei welcher der mir sehr sympathische junge Maler Martin mein Tischherr war. Ich ging hin, um mich nach Hedwigs Befinden zu erkundigen, konnte sie aber selbst nicht sprechen, da sie noch mit Fieber zu Bett lag.
Robert war da, und wir sprachen lange und liebevoll miteinander.
»Wenn du glaubst, weil ich die sittliche Klarheit gehabt habe zu erkennen, was notwendig ist, wäre ich auch schon fertig damit, so irrst du sehr!«
Er nahm meine Hände: »Da fehlt ja etwas!« Ich sah ihn an: »Willst du den Ring nicht tragen?« bat er. – »Du tätest mir solche Liebe damit!«
»Vielleicht!« sagte ich.
Dieser Kampf um den Ring ist vielleicht symptomatisch für uns: ich ertrüge das Tragen des Ringes nur als ein seiner ganzen Liebe bewußter Mensch. – Aber nun – in dieser Zeit, wo unsere volle Liebe zersplittert ist, wo wir mühsam, mit Schmerzen suchen, etwas Neues zwischen uns zu schaffen, das uns vereinen und froh machen könnte – was soll da der Ring – der nur als ein Zeichen wirklicher innerer Gemeinschaft froh machen könnte?!
Warum quält er mich damit? – Es erweckt nur Kummer und Bitterkeit in mir: Hohn, daß ein Stückchen Gold etwas vorspiegeln soll, was nicht da ist. Ich fühle es jedenfalls nicht mehr.
27. Februar.
Vor ein paar Tagen ging ich noch einmal, nach Hedwigs Gesundheit zu fragen. Sie lag noch zu Bett – und ich ging sogleich wieder, nachdem ich meine Blumen und einige Noten abgegeben hatte, für die sie sich interessierte, als ich hörte, daß gerade Fräulein von Wendeborn da sei, mit der er Rollen besprach. Ich kämpfte tapfer alles nieder und las zur Stärkung, zurückgekehrt, in Nietzsches »Fröhlicher Wissenschaft«. Er sagt darin, wenn man den Ausbruch der Leidenschaft unterdrücke, unterdrücke man allmählich auch die Leidenschaft selbst.
Als ich gestern Hedwig aufsuchte, war sie zum erstenmal wieder auf und so herzlich warm gegen mich, wie seit langer Zeit nicht. Fräulein von Wendeborn war da. Und da er neulich mein Fortgehen so übel vermerkt hatte, zwang ich mich, zu bleiben.
Aber zwischen ihr und mir sind gar keine Berührungspunkte – der einzige, den wir vielleicht haben, ist etwas so Schmerzhaftes, daß man nicht daran rühren kann. So blieb ich wohl fremd und zurückhaltend.
Wir – das heißt eigentlich nur Robert und ich – kamen wieder in eine lebhafte Debatte über Faust. Hedwig, die gewohnt ist, in geistigen Fragen ihres Bruders Gedanken nachzudenken, sagte ganz fassungslos: »Aber ich verstehe gar nicht, daß du den Faust so auffassen kannst!«
»Es ist vielleicht ganz gut für dich, daß du so denkst«, sagte ich. »Aber es ist eigentlich ganz unnütz, darüber zu sprechen.«
Der Gegensatz zwischen Menschen, die nur ästhetisch genießen und denen, die die Welt verändern wollen, ist eben nicht zu überbrücken.
Robert wurde sehr heftig im Kampf gegen meine Auffassung.
»So heftig ist er nur bei Irene«, sagte Hedwig zu Fräulein von Wendeborn, die ziemlich schweigsam diesen Debatten zuhörte.
Sie ging dann vor mir fort – und er begleitete mich später ein Stück nach Hause.
»Du darfst nicht immer Faust so angreifen – damit greifst du doch auch mich an.«
Diese Identifizierung finde ich nun wirklich ebenso naiv wie gewaltsam: dann darf ich also überhaupt nicht mehr sagen, was ich denke, wenn er sich immer persönlich gekränkt fühlt – und in so wichtigen Fragen, die mir für die Entwicklung neuer Glücksmöglichkeiten zwischen Mann und Frau so bedeutsam scheinen!
»Kann ich dich morgen sehen?« fragte er.
»Wann bist du frei?«
»Zwischen vier und sieben.«
»Gut, ich erwarte dich dann.«
»Sei gut, Liebe!« bat er.
»Ich bin gut!«
4. März.
Es ist der Jahrestag des 4. März – der Tag, an dem wir uns gelobten, beieinander auszuhalten in guten und bösen Tagen.
Das Gefühl, wie wenig die Entwicklung, die unsere Liebe genommen, dem entspricht, was ich damit als Aufgabe auf mich genommen habe, was ich noch jeden Tag zu verwirklichen bemüht und bereit bin, machte mich unsäglich traurig – besonders als ich merkte, daß er an diesen unseren geistigen Vermählungstag gar nicht gedacht hatte. Er, der so viel Wert auf Ringe und sonstige äußere Zeichen der Verbindung legt!
Und da ich leider diese Traurigkeit nicht ganz verbergen konnte, so wurde er ganz hilflos.
Er habe doch manches von mir gelernt – und könne viel hilfreicher und gütiger gegen andere Menschen, besonders gegen Agathe sein. Ich sei nun verzweifelt, weil ich Gold gesucht und nur Kupfer gefunden habe. Aber andere Menschen, Fräulein von Wendeborn zum Beispiel, seien mit dem Kupfer zufrieden. – – – – – – – – – – – –
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Ich hatte das Gefühl, als werde mir unter den Händen alles verstellt – – so ist es doch gar nicht. Aber ich fühle nicht die Kraft, mich gegen seine Auffassung zu wenden, mich zu wehren.