Adalbert Stifter
Das alte Siegel
Adalbert Stifter

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Fast zwei Jahre waren seit dem Tode des Vaters wieder verflossen. Hugo blieb in der Stadt rein und stark, wie eine Jungfrau; denn in dessen Busen ein Gott ist, der wird von den Niedrigkeiten, die die Welt hat, nicht berührt. Obwohl er nun schon im vierten Jahre in der großen Stadt war, lag ihm das Herz noch so einsam in seiner Brust, wie einst auf der Gebirgshalde – nur daß es ihn zuweilen, wenn er auf den Höhen um die große Stadt herum schweifte, wie Heimweh überkam, oder wie eine traurige Sehnsucht. Er hielt es für Thatendurst; in Wahrheit aber war es, wenn er so die Landschaft übersah, ein sanftes Anpochen seines Herzens, das da fragte: »Wo in dieser großen Weite hast du denn die Sache, die du lieben kannst?« – – Aber die Sache hatte er nicht, der Mahnung achtete er nicht, und so schleiften die Stunden hin, höchstens, daß er in solchen Augenblicken nieder saß und an seinem Tagebuche schrieb, das sonderbar genug, in lauter Briefen an den todten Vater bestand. Anders wußte sich seine Liebe nicht zu helfen; wie hold Mutterliebe sei, hatte er nie erfahren, und wie süß die andere, davon ahnete ihm noch nichts, oder, wenn man es so nimmt, die Briefe an den Vater sind mißgekannte Versuche derselben.

Zu der Zeit, von der wir reden, übrigte er sich täglich auch ein paar Stunden ab, in denen er die schönen Wissenschaften trieb und Dichter und Geschichtschreiber las. Er las aber nur lauter heidnische Alte. Er hatte einen Mann kennen gelernt, der ein inniger Freund des mit Hugo gleiche Wege gehenden Körner war, von dem ihm damals nicht ahnete, daß er ihn so bald durch den Tod verlieren würde. Dieser Mann war ein schwärmender Verehrer der Sprache der Griechen und Römer und führte Hugo in die Gebiete derselben ein und unterrichtete ihn sogar zum Theile darinnen. Hugo's feste Einfalt, die er auf der Gebirgshalde bekommen hatte, stimmte vortrefflich mit der der Alten, er pries dieselben unsäglich, und sagte: er wolle nun vorerst in dem Reiche derselben verbleiben, bis er es erschöpft und in sein Blut aufgenommen habe. Dann wolle er in das der Neueren übergehen und sehen, was denn diese auf demselben Felde hervorgebracht hätten.

2. Die Kirche von Sanct Peter

Hugo saß eines Tages, wie gewöhnlich, in seiner Stube. Es war eben zwölf Uhr. Er war von dem Spaziergange, den er gerne um zehn Uhr Vormittags machte, zurückgekehrt, und wollte die anderthalb Stunden, die noch bis zu seinem Mittagsessen übrig waren, wie er es alle Tage that, mit Rechnen verbringen. Die zwölfte Stunde war in der Stadt die, in welcher man die eingelaufenen Briefe auszutragen beginnt. An Hugo's Thür ward gepocht, der bekannte Briefträger trat ein und brachte ein Schreiben. Als der kleine Betrag dafür entrichtet war, ging er wieder fort. Hugo sah gleich, daß der Brief nicht von dem Altknechte seines Vaters sei, dem einzigen Menschen, von dem er Briefe zu empfangen pflegte. Das Schreiben war auf nicht gar feinem, nicht gar weißem Papiere, und der Umschlag trug eine nicht gar schöne Schrift. Hugo erbrach das Siegel, und las folgenden Inhalt: »Wenn ihr der junge Mann seid, der so wundersam schöne blonde Haare hat, und sie nicht gar zu kurz aber auch nicht gar zu lange auf seinen Nacken niedergehend trägt, so erfüllet einem alten Manne die Bitte, und seid morgen zwischen zehn und eilf Uhr in der Kirche von Sanct Peter.«

Der Brief hatte keine Unterschrift, und Hugo hielt ihn verblüfft in seinen Händen. Die Schrift war augenscheinlich die eines Mannes, und zwar eines alten Mannes, wie die festen, starken, aber zitternden Züge verriethen. Allein was der Mann von Hugo wollte und warum er nicht lieber gleich zu ihm in die Stube gekommen sei, war nicht zu enträthseln.

»Wer weiß, ob ich auch der Mann mit den wundersamen schönen blonden Locken bin, oder ob es nicht einen andern gibt, der noch wundersamere, schönere und blondere hat,« sagte Hugo lächelnd zu sich, und wäre bald versucht gewesen in den Spiegel zu schauen. Aber der Name, auf den der Brief lautete, war der seine. Und in der That, die Locken, die an den Seiten seiner Stirne nieder gingen, waren wundersam genug. Wenn blonde Locken kräftig sind, und den milden Metallglanz haben, so kann man sich an jungen Menschen kaum etwas schöneres denken. Hugo hatte darunter eine reine Stirne, von zwei geistvollen klaren Augenbogen geschnitten, feines starkes Wangenroth, und die Lippen frisch und kräftig, die noch von keinem Menschen dieser Erde, nicht einmal von einem Kinde geküßt worden sind. Die Augen hatte er von der Mutter, groß und blau. Sie waren so gut, daß, hätten sie sich nicht eben jetzt ins Männliche hinüber verändert, man gesagt haben würde, er hätte sie von einer edlen schönen Frau empfangen. Ueberhaupt sah er viel jünger aus, als seine Jahre waren, und er hatte von manchem aus dem Kriegerstande, die er bei seinen Uebungen kennen gelernt hatte, und die ihn gelegentlich besuchten, einigen Hohn und Scherz zu erfahren, da sie ihn spottweise nur immer den heiligen Aloisius nannten.

Eben, da er so stand, ließen sich klirrende Tritte durch sein Vorstübchen gegen sein Gemach vernehmen. Er riß den Brief, der auf dem Tische lag, an sich, verbarg ihn in der Tasche, und ward so roth, als hätte er eine Schandthat begangen. Es geschahen ein paar nachlässige Schläge an seine Thür, und ohne Umstände trat der Besuch herein. Es war eben so ein junger Mann kriegerischen Ansehens, wie wir oben von ihnen geredet haben. An den Stiefeln tönten die Sporen. Unter einem rauhen »guten Tag, Freund,« legte er den Hut hin, warf sich in den Armsessel, und begann ein Gespräch, das er über den Dienst, über lange Weile, über Theater, Mädchen und Pferde führte. Hugo hörte ihn an, und erwiederte manchmal etwas auf höfliche Weise. Als er endlich fragte, ob sich denn gar nichts neues zugetragen habe, das nur einige Abwechslung in die Zeit bringe, sagte ihm Hugo von dem Briefe nichts, sondern erwiederte, daß sich wahrscheinlich nichts zugetragen habe, was man seiner besondern Aufmerksamkeit werth halten und ihm anvertrauen möchte.

Da Hugo's Bekannte schon wußten, daß er sich in seiner gewohnten Eintheilung der Zeit nicht irre machen ließe, so trat er auch jetzt an den Tisch, und fing auf seinen großen schwarzen Schiefertafeln aus einem Buche zu rechnen an. Der Mann, der zu Besuche da war, nahm seine Pfeife heraus, rauchte, blätterte in einem Buche, und begleitete endlich Hugo aus dem Hause, da dieser den Griffel weglegte und erklärte, daß er jetzt zu seinem Mittagsessen gehen werde. An der Schwelle des Gasthauses, in dem Hugo gewöhnlich aß, trennten sie sich.

Am andern Tage, genau als die Uhr von Sanct Peter zehn schlug, trat Hugo durch das große Thor in die Kirche. Er hatte wohl flüchtig daran gedacht, daß die Bestellung etwa ein Scherz eines seiner Kameraden sein könnte; aber zum Theile stand er mit keinem so, daß dieser Scherz leicht denkbar gewesen wäre, zum andern Theile hatte er sich nichts vergeben, wenn er kam, selbst wenn ein Scherz statt gefunden haben sollte.


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