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»Ihr habt recht, Siegfried, verluftet Euch ein wenig daheim über die vacances, wir hocken hier im Nebel, und das drückt.«
Und der alte Sütterlin schob das Glas zurück und starrte über den Tisch, an dem er und Siegfried zu Nacht gegessen hatten, in die Dunkelheit, die aus allen Ecken kroch. Im eisernen Ofen zischten die nassen Kohlen, und die einzige brennende Lampe, die über dem Wirt zum ›Schwarzen Lamm‹ pendelte, warf ihren zitternden Lichtkreis nicht weiter in die große, leere Gaststube, als ein ausgestreckter Arm reicht. Nur zuweilen, wenn die Tür ging und die Magd hinter dem Schenkverschlag kramte, fuhr sie neugierig aus dem Zylinder.
Siegfried faltete die Serviette zusammen und blieb die Antwort schuldig. Sütterlin erwartete auch keine. Die dichten, weißen Brauen malten tiefe Schatten in sein Gesicht, die Augen verschwammen in den Höhlen, und als er nun die Pfeife wieder zwischen die Lippen schob, wußte Siegfried, daß er kein Wort mehr sprach bis auf den Gutnachtgruß.
151 Die Küchentür spielte wieder, und wieder hüpfte die Flamme aus dem Glas, aber es war nicht die Magd, die hereinkam. Frau Amélie stand plötzlich vor ihnen, mit nebelschweren Kleidern, als brächte sie die graue Finsternis mit herein, die mit feuchten Fingern an den Scheiben hinstrich.
»Bon soir, Vater,« sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter, ihn auf die Stirn zu küssen.
»Tiens, 's Amélie, sitz ab,« entgegnete er, aber keine Überraschung sprach aus seinen Worten. Er sah sie kaum an.
Sie setzte sich neben ihm auf die Bank. Siegfried wollte aufstehen und sich entfernen, doch sie blickte ihn mit ihren traurigen Augen an und sagte:
»Non, Monsieur Siegfried, bleibt nur sitzen. Es ist nur wegen der ›Fanfare‹. Sie ist aufgelöst, Vater. Es gibt keine mehr. Heut hat's der Gendarm dem Nandi avisiert.«
»Sie hat fünfundvierzig Jahr bestanden. Ich bin noch einer von den ersten. Nach der Viehheit vom letzten Sonntag ist's kein Wunder.«
Das sagte der Alte ruhig, wie zu sich selber, ohne die Pfeife aus dem Munde zu nehmen.
»Ja, und der Vogel liegt im Spital,« warf Siegfried ein.
»Und Ferdinand hat für den Karrer-Sepple Kaution offeriert, aber sie haben's nicht akzeptiert,« setzte Amélie hinzu.
»Tiens, tiens,« bröselte Sütterlin zwischen zwei Zügen.
Da fing Siegfried einen Blick der Frau auf, der ihn um etwas bat. Diesmal stand er auf, deutete ihr leises 152 ›mais vous vous dérangez‹ richtig und ließ sie allein mit dem Vater.
Und als seine Schritte über ihnen im Flur tönten, lehnte sie die Backe an den grauen Flaus des Vaters und fragte:
»Willst du mir das beiseite machen, père?«
Ihre Hand tauchte in den Schal, in den sie tief eingehüllt war.
»Qu'est-ce que c'est, Amélie?«
Die gehäkelte, grüne Börse klirrte leise, als die Frau sie vor ihm auf den Tisch legte.
»Es ist meine Ladenkasse, es sind achthundertachtzig Livres und zehn Sous.«
»Achthundertachtzig Livres und zehn Sous,« wiederholte er mechanisch, und jetzt war ein Zittern in seiner Stimme.
Seine Blicke kamen aus der Ferne zurück, wo sie so lange geweilt hatten und tasteten über das nebelfeuchte, blonde Haar der Tochter, fanden den Weg zu ihrem Gesicht und senkten sich in ihre Augen. Lange saßen sie stumm beieinander. Ganz dicht, aber ihre Arme lagen ruhig, sie umfaßten sich nicht und wußten nichts Zärtliches zu tun.
Endlich deutete er mit dem Pfeifenrohr auf sein halbleeres Glas.
»Trink, Amélie, t'as froid.«
Da merkte sie erst, daß sie zitterte, und langte nach dem Wein. Er sah ihr ruhig zu, wie sie trank.
»So, und jetzt geh heim und gib acht, es ist schlüpfrig.«
»Bon soir, Vater.«
Sie war aufgestanden, vorsichtig, um sich nicht an der Tischkante zu stoßen, und berührte wieder flüchtig mit ihren kalten Lippen seine kahle Stirn.
153 Da nahm er plötzlich seine Pfeife aus dem Mund, und ein greisenhaftes Zittern bewegte seinen Kopf, als er ihn zu ihr empordrehte und mit tonloser Stimme fragte:
»Ist er ungattig mit dir?«
»Non, non, que penses-tu!«
Sie versuchte zu lächeln.
»Sonst nimm deine Kinder und gang von ihm,« fuhr er fort, ohne auf ihr nein zu hören. »Tu entends!«
Es war ein dumpfes Grollen in dem letzten Wort.
»Non, je reste!«
Ihr Ton war fest, und er nickte und erwiderte, während ein seltsamer Schatten in seine Augen trat:
»Oui, oui, du bleibst bei ihm, bis sie dich tragen aus seinem Haus.«
Wieder blickten sie sich schweigend an. Dann ging eine leise Röte über Amélies Gesicht, und seine Augen wanderten wieder in die Ferne.
Die Küchentüre bewegte sich, er war allein. Vor ihm lag, dicht neben dem aufgestützten Arm, der die Pfeife im Mundwinkel hielt, die Geldbörse. Die Weihnachtseinnahme blitzte durch die Maschen. De l'argent sauvé, geflüchtet vor Nandis streuenden Fingern, er saß lange davor, dann stand er steifbeinig auf und trug es hinauf ins Schlafzimmer. Die beiden Betten, seines aufgedeckt, das der Mutter unbenutzt, leer und kalt unter der Decke, schimmerten im Dunkel, als er das Zündholz anstrich, um das Geld in den alten Schreibtisch zu legen. In der Wirtsstube wurden Stimmen laut, es waren Gäste gekommen, er schloß die Lade, starrte, als das Licht erlosch, noch einmal auf das Bett der Frau, als müßte 154 sie darin liegen, wie sie ein ganzes Jahr dort gelegen, Tag und Nacht, eh sie gestorben war. Sie hatte alles gesehen, was er in den Sekretär getan, was er herausgenommen hatte, die Amélie war ihr einziges Kind gewesen.
»Achthundertachtzig Livres und zehn Sous,« sagte er laut zu dem Bett hinüber; er mußte ihr doch sagen, wie viel es war.
Und ging wieder in die Stube hinunter, setzte sich an den alten Platz, und die Magd kam und brachte den Gästen vom Neuen und lachte und schwatzte mit ihnen und hockte sich zu ihnen und sog auch einmal an einem Glase, das einer ihr hinschob, und regierte alles. Die Lampen brannten, es war hell geworden im Zimmer, der Ofen schnarchte mit rotglühenden Backen, und dann kam Sütterlins Gespan, der alte Dreyfus, und sie spielten ihre Partie Domino, ohne ein Wort zu sprechen, allein an ihrem Tisch, als gehörte die Wirtschaft einem andern oder dem Maidle dort, dessen Brüste in der losen Bluse hüpften, wenn es geschäftig hinausging, Wein und Gläser zu holen. Aber, wenn einen die Lust stach und er die Finger nach ihr zuckte, dann fuhr sie ihm über die Knöchel, daß es knallte, und rief lachend:
»Wollt Ihr gleich! Bas les pattes,, oder ich sag's dem Herrn!«
Der schaute nicht auf, aber der Kecke, der nach ihr gegriffen, der guckte einmal scheu zu ihm hinüber und wurde wieder manierlich. ›Er lugt einem ein Loch in den Leib‹ sagten sie von dem alten Sütterlin. ›Er sieht unter den Boden‹ wisperten die Mägde und wichen ihm 155 aus, aber es war ein stiller Respekt, fürchten taten sie ihn nicht.
Um elf Uhr verließen die letzten Gäste das Haus. Da stand auch Sütterlin auf, sah zu, wie das Rosele auf die Tische kletterte und die Lampen löschte, wartete, bis der Knecht in den Stall hinübergeschlichen war, und ging dann hinter den Mägden die Treppe hinauf. Die Geschirrmagd, die unter dem Dach schlief, lief auf den Socken voraus und schwenkte ihre Laterne. Das Rosele hielt den Kerzenstock, den es in der Hand trug, an den, der auf der Kommode im Flur vor Sütterlins Schlafstube bereit stand, zündete ihn an und bot dem Herrn Gute Nacht.
»Monsieur Siegfried reist morgen um zehn Uhr, mach ihm alles parat,« sagte er noch zu ihr und schlurfte in die Kammer.
Das Mädchen stand noch einen Augenblick vor dem Schrank auf dem Gang, wo der Herr seine Jagdgewehre und Pistolen aufbewahrte. Oben drauf glänzten die Konfitüregläser. Aber das Rosele bezwang sich, schielte nur einmal nach den weißen Töpfen und stieg dann eine Treppe höher. In Siegfrieds Zimmer brannte noch Licht, das warf seinen gelben Schein durch die matte Türscheibe. Das Rosele zögerte noch einmal, plötzlich bückte es sich zum Schlüsselloch und rief leise hindurch:
»Monsieur Siegfried, excusez, braucht Ihr noch etwas?«
Und lauschte mit einem sehnsüchtigen Verlangen in dem roten, von der Kerze golden angestrahlten Gesicht auf die Antwort.
Es war ihm, als näherte er sich, als täte sich die Türe 156 auf, und es hielt die Kerze so ungeschickt in seiner Not, daß ein paar Härchen knisterten und pufften. Aber dann kam die Antwort von drinnen:
»Nein, merci, Rosele.«
Und nichts mehr danach. Nicht einmal der Stuhl wurde gerückt. Kalt und matt glänzte die Glasscheibe, vor der es stand. Da rief es hastig ›Gute Nacht‹ und rannte über den Gang in seine Kammer. Und nun glänzte auch die Glasscheibe seiner Tür auf den Flur hinaus. Aber bald erlosch der Schein, und dann war drüben ein Stuhlrücken, Siegfried tat seine Schuhe vor die Türe, und nun huschte auch hier der Lichtfleck ins Dunkel. Es war still geworden im ›Schwarzen Lamm‹, nur die Katze strich noch lautlos über die Treppen, und in der Küche tropfte der Hahn am Wasserschiff.
Siegfried hatte stundenlang gelegen mit kalten Füßen, endlich kam ein schwerer Schlaf, und als er erwachte, preßte ein eiserner Reif seine Schläfen. Es kostete ihn eine herzliche Überwindung, aufzustehen. Kaum rührte er das Frühstück an und ging dann fröstelnd zur Schule. Es war Rauhreif gefallen in der Nacht, die Dächer weiß, die Gassen klirrten wie von Scherben, und an den Bäumen prunkten glitzernde Nadeln, wehten steif gefrorene Bärte. Der Himmel stand als opalfarbene, von innen heraus leuchtende Kuppel ohne Sonne über dem Städtchen.
Um halb zehn Uhr brach Winghoff den Unterricht ab und verteilte die Zeugnisse. Es waren nur acht Unterprimaner. Siegfried empfing das seine zuletzt.
»Höpfner, es ist ein Weihnachtszeugnis,« setzte Winghoff 157 bei, und als Siegfried es ohne zu lesen – er wäre lieber gestorben – zusammenfaltete, sagte er: »Ein Mensch hat seine Gaben, um sie zu gebrauchen, freilich gehört dazu ein moralischer Wandel.«
»Herr Doktor!«
Das Blut wich ihm noch stärker aus den Wangen. Ein Kribbeln geisterte in seinen Fingerspitzen, ein Brausen war in seinen Ohren.
»Bitte?«
Der scharfe Ton der Frage fuhr ihm wie ein kalter Wind übers Gesicht. Er fand sich wieder. Beinahe ruhig antwortete er:
»Ich bitte Sie um eine Erklärung, Herr Doktor.«
Er hörte, wie es klang, gottlob, nicht zu trotzig.
Winghoff wartete, bis die andern gegangen waren, und kam dicht zu ihm heran. Instinktiv wich er zurück.
»Ich habe Augen, Höpfner, und man hört auch so manches. Verstehen Sie mich?«
»Nein, Herr Doktor.«
»Sie vergessen, daß wir in einem Nest sind. Machen Sie keine Geschichten, lieber Freund. Mit Mädchen und so was. Das Kneipen auch.«
Da schossen ihm die Tränen in die Augen, aber sie liefen nicht über. Es war ihm, als hätte ihm einer einen Kübel Unrat über den Kopf gegossen. Er sah, wie Winghoff ihn kalt musterte, und nahm sich zusammen.
»Ich mache überhaupt keine Geschichten,« stieß er hervor und dachte an das Christinele, das er nur einmal geküßt hatte, als er von Aslach heimgekommen war und den Wein noch spürte. Nur geküßt.
158 »Na, die Details wollen wir lieber lassen. Sie wissen jetzt, daß ich orientiert bin.«
Winghoff nahm seinen Hut und ging.
Er wollte ihm nach, ihn zwingen zu sagen, was er gehört hatte, aber er konnte nicht. Da kam ihm der Gedanke an den Direktor. Er schlug sein Zeugnis auseinander. Von Eisenreiter ein ›Befriedigend‹. Im Deutschen! Und von Winghoff im Lateinischen ein ›Im ganzen gut‹ für die Lektüre und ein ›Kaum genügend‹ für die Grammatik und den Aufsatz. Kolb hatte ihm ›Recht gut‹ gegeben in der Geschichte und im Griechischen ›Im ganzen gut‹. Die Mathematik war ›Noch genügend‹ zensiert, das Französische ›Recht gut‹. Betragen und Fleiß waren das erste als ›Im ganzen gut‹, das letzte als ›Im ganzen befriedigend‹ bezeichnet.
Was würde der Vater sagen? Er wußte es nicht, er wußte eigentlich nie, was der sagte und dachte. Aber das Gefühl, daß sie ihm unrecht taten, brannte ihn wie Feuer, und er ging die Treppe hinauf zum Direktor. Erst als er oben die Klingel zog, fiel ihm ein, wer noch hier wohnte, und er kam sich plötzlich so dumm, so schuljungenhaft vor, daß er am liebsten kehrt gemacht hätte. Aber es war zu spät. Die Magd öffnete, und nun stand er schon vor dem Direktor.
»Sie sind's, Höpfner! Sie sind nicht zufrieden mit dem Ding da, was!« empfing ihn Kolb. Der Junge tat ihm leid in diesem Augenblick.
»Herr Direktor, ich, ich –« er schluckte.
»Nun mal heraus mit der Sprache,« ermunterte ihn Kolb.
159 »Das bin ich ja gar nicht,« fuhr er fort, und es war ihm, als hätte er geschrieen. Kolb rückte die Brille.
»Was sind Sie nicht! Was Sie sind, können wir doch nicht wissen, aber wie Sie sind – und wie Sie sein sollen! Und was Sie leisten sollen! Und Sie können, Höpfner, Höpfner, ich hab's Ihnen schon mal gesagt. Sie können, wenn Sie wollen. Und zum Donnerwetter, Sie werden's auch. Ein Mensch wie Sie, der uns die ganze Prima rausreißen kann, wenn wir im übernächsten Herbst zum ersten Mal Abitur halten! Sehen Sie denn das nicht ein? In der Mathematik sitzt ja wohl ein fauler Kloß, aber auch da bringen Sie ein Befriedigend fertig, wenn Sie sich zwingen. Und im andern, da sollten Sie durch die Bank 'ne Eins rauskriegen! Durch die Bank! Und verlassen Sie sich drauf: Wir machen's, Höpfner. Kommen Sie nach den Ferien zu mir ran, ich werde Ihnen im Lateinischen die Lücken stopfen, und sprechen Sie mal mit Doktor Ledermann, oder nein, ich werde ihn selbst bitten, Ihnen ein bißchen Mathematik nachzufüllen. Ta, ta, ta, reden Sie nicht! Das sind keine Privatstunden. Das gehört zum Ordinarium. Meinen Sie, mit den sieben Burschen, die mit Ihnen ins Examen steigen, wäre was zu holen? Die knobeln ein ›Genügend‹ heraus, der Reihe nach. Aber Sie, Höpfner! Mensch, wenn Sie, ein Deutscher! mir das erste Abitur ruinieren! Denn Sie sind imstand und rasseln durch! Sie brauchen bloß Ihren faulen Tag zu haben, dann ist das Malheur da!«
»Ich bin nicht faul, ich weiß nie mehr, als wenn ich 160 einmal nicht ordentlich präpariert habe. Aber faul bin ich nicht und das, was mir Herr Winghoff gesagt hat, das bin ich auch nicht!«
»Was hat Herr Winghoff gesagt?«
Siegfried schwieg.
»Nun?« drängte Kolb ärgerlich.
»Er sagte etwas von unmoralischem Lebenswandel.«
Wie er sich schämte, als er die Worte wiederholte, sie warfen sich über ihn wie eine ungeheure Last. Er sah alle möglichen Spukgestalten, Szenen, die er flüchtig erblickt, wie einer einem Mädel gierig in die Röcke griff, Zoten, die er gehört, seltsame Träume, die ihn gequält hatten, alles quoll ihm entgegen aus den beiden gräßlichen Worten.
Kolb hatte sich abgewandt, jetzt drehte er sich um.
»Ja, Höpfner, wie ist denn das, Sie sind siebzehn Jahre alt?«
»Ich werde im Mai siebzehn, Herr Direktor.«
»So. Sie sind ein bißchen frühreif. Ich habe mir Ihre Aufsätze durchgesehen. Sie lesen wohl viel. Und da haben Sie wohl auch eine Poussage, nicht wahr?«
Poussage! Wie ihn das Wort anekelte! Er fühlte, daß seine Wangen jetzt brannten.
»Nein, Herr Direktor.«
»Nicht! Ich dachte. Man hat so was von einem Mädchen erzählt, das –«
»Herr Direktor, ich gebe Ihnen mein Wort, ich habe keine – ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«
Ein Lächeln verbarg sich in Kolbs Schnurrbart.«
161 »Na, dann ist ja alles gut. Wenn Sie mir mit Ihrem Ehrenwort kommen, Höpfner!«
Es war ein gutmütiger Spott in den Worten, aber Siegfried tat er weh. Er hätte heulen mögen vor Scham und Schmerz und begann etwas zu stammeln. er wußte nicht was.
»Lassen Sie's gut sein, Höpfner. Wir werden jetzt die Karre in Gang bringen. Kommen Sie nur frisch zu mir. Ich bin für Sie immer da, wenn's wo hapert, und Herr Winghoff ist ein so tüchtiger Lehrer, es müßte merkwürdig zugehen, wenn Sie nicht ein Examen bauten, daß dem Oberschulrat die Augen übergehen. Also stecken Sie das Ding da ein, ich werde Ihrem Herrn Vater direkt noch ein paar Zeilen schreiben. Und nun fröhliche Weihnachten, lieber Höpfner.«
Es war Kolb ganz warm geworden, als er den Knaben so dastehen sah, der mußte nur fest an die Leine genommen werden, dann wurde er einer der besten, die er noch unter den Augen gehabt hatte. Und er schüttelte ihm die Hand, klopfte ihm auf die Schulter und schob ihn gutmütig zur Türe.
Und Siegfried Höpfner ging. Einen Augenblick hatte er geglaubt, es dränge ihn etwas zu dem Manne, der zu ihm sprach, als aber immer nur von der Schule und dem Examen die Rede war, da versagte ihm der Mut; und fast hätte er sogar von seinen Gedichten angefangen und am Ende gar von dem Christinele, um zu erklären, was hinter ihm lag. Und in der Tasche brannte ihn die Nummer des ›Deutschen Dichterheims‹, wo wieder ein Gedicht von ihm abgedruckt worden war. Er hätte 162 es Kolb beinahe gezeigt, beinahe, und jetzt ging er betäubt, müde, wie zerschlagen aus seinem Zimmer.
»Sehen Sie, da ist schon der Baum,« sagte Kolb, als Salome ein Tannenbäumchen über den Gang trug.
Da kam Kläre die Treppe herauf.
Siegfried wollte hastig an ihr vorbei, aber sie rief:
»Guten Tag, Herr Siegfried, haben Sie adieu gesagt?«
»Sieh da, Sie kennen meine Frau,« fragte Georg harmlos.
»Ja, wir sind alte Bekannte, nicht wahr?« lachte Kläre, aber sie erschien unstet, und Georg fühlte eine Spitze aus ihren Worten, für die ihm die Erklärung fehlte.
Siegfrieds Augen blickten an Kläre vorüber, er hätte sie hier und vor ihrem Manne nicht ansehen können. Ihre Worte taten ihm weh. Warum begrüßte sie ihn hier, warum sagte sie, sie wären alte Bekannte! Es war ja etwas zwischen ihnen, das man nicht nennt, und wenn sie so sprach, flog's in alle Winde. Und er haßte auf einmal den Mann, der so auf ihn eingeredet hatte, er haßte sogar die Frau, die – nein, er haßte sie nicht. Nur fort, fort, er gab gar keine Antwort mehr, machte eine ungeschickte Verbeugung und lief die Treppe hinunter wie auf der Flucht. Und da fiel ihm ein, daß er Kläre im Traum gesehen hatte. Im Feld, sie lag unter dem Rosenstrauch im Korn – wie damals am ersten Tag –
›Unmoralischer Lebenswandel‹, spie ihm plötzlich die Erinnerung in das Gedächtnis dieses Traumes und er stürzte, wie vom Fieber geschüttelt durch die Gassen, und oben in seinem Zimmer, da wusch er sich und wühlte den Kopf ins Bettkissen, um das rauhe Schluchzen zu 163 ersticken, das ihn erschütterte. So lag er, bis es ebbte in seinem Innern und eine weiche, getragene Stimmung über ihn kam.
Die blieb ihm auch auf der Fahrt, als der char-à-bancs in den gefrorenen Gleisen polterte, auf dem Wege nach Larg. Vorbei an den Gärten, an der Villa Haury, dem schwarz aus dem weißen Duft der Wiesen tauchenden Teich, bergwärts auf der Römerstraße.
Und als der Wagen die Hügelfirst erreicht hatte, blickte Siegfried zurück. Dort hinten lag, auf der Kuppe, aber tief unter ihm, Dornkirch. Weiße Dächer, graue Mauern, das Münster mit dem stumpfen Turm bäumte sich wie ein riesiges Fabeltier über die niedrigen Dachrücken. Wirr und verwittert, arm und klein lag das Städtchen in der weiten, flimmernden Landschaft. Die Ferne rollte sich auf, Hügel und Kanten liefen übereinander, schimmernde Wälder zogen einher, und wie dunkler, flüssiger Stahl, graue Lichter werfend, schnitt der Fluß ins Tal. Eine silberne, strahlenlose Sonne stand geheimnisvoll in der rauchenden Höhe, und tiefes Schweigen rings, nur die Radbremse schrie, die der Kutscher jetzt anzog, als sie ins Tal hinabtauchten und der Berg über das Dächerhäuflein emporwuchs, langsam, als reckte sich sein weißer, schwerer Leib, um sich dann erdrückend über Dornkirch hinzuwälzen. Noch eine Wegkapelle mit der Gottesmutter in den Dornen darin, dann kam der Wald. Ein Gehänge von glitzernden Schnüren spannte sich von Baum zu Baum, der Rauhreif hatte kristallene Nadeln aus den Ästen getrieben, und wenn der Kutscher mit der Peitsche knallte, begann er sich zu regen, stäubten diamantene 164 Schleier, klirrten silberne Schuppen, schnellten schwarze Zweiglein aus starrem Gefieder, und feucht wehte der Atem des Waldes Siegfried ins Gesicht.
Er zog die Decke enger um sich. Die Sonne trat langsam aus dem Silbertor, das sie sich in den Dunst der Höhe gebrochen hatte, zartes Blau übergoß den Himmel, nun liefen goldene Lichter durch den Wald, streute die Sonne Rubinen aus, klangen die Bäume, sich des Reifes entladend wie leise gerührte Saiten, und ein Wispern und Rieseln ging durch den Forst, daß dem Jüngling ein ehrfürchtiges Grauen über den Leib flog und er am liebsten dem Kutscher zugerufen hätte: ›So halt doch; du fährst ja mitten ins Geheimnisvolle hinein mit deinem plumpen Wagen.‹
Aber der Franzsepp, der sich nach einem Schnaps sehnte, trieb den Gaul und stieß den Kautabak von einer Backe in die andere, ohne aufzuschauen.
Und der Wald blieb hinter ihnen; ins Hügelland hinein, das sich unter der Sonne mit blauen und violetten Schatten in den Mulden und an den Hängen vor ihnen entrollte, trabte der Gaul. Der Reif zerging, von den Tümpeln und Teichen, die rings zerstreut lagen, stieg Gevögel mit klatschenden Flügeln in die Höhe. Verkrüppelte Obstbäume standen vereinzelt auf den Feldern, mit krummen Stämmen, die Zweige zu einem schwarzen Knäuel verstrickt. Am Rande der schwarzen Gewässer hockten klumpige Weidenstrünke, mit Kröpfen und Buckeln, die Stumpen der Gerten steckten wie Borsten in ihren Köpfen, und festgebackener Schnee ließ sie Fratzen schneiden, als blendete sie die kalte Helle. Die 165 Telegraphenstangen sprangen über das weite Feld, rot glühte der gefrorene Draht in der Sonne.
Ein heimlicher Wind pfiff, doch er fuhr so fein durch die Luft, daß die beiden im Wagen ihn kaum im Nacken spürten, aber dem Gaul schauderte das warme Fell. Es war der Biswind, der von Nordosten über die Vogesen fuhr und wie ein Mücklein sang, keine Wehen aufstäubte, keine Äste knickte, keine Kerze löschte, aber Bäume spaltete, wenn er sich in die Ritzen klemmte, und einem das Mark in den Knochen gefrieren machte.
Der Franzsepp schlug die Pelzkappe tief über die Ohren und knurrte:
»Noch eine halbe Stund, dann hat's es. 's ist Zeit, der Bisser bläst einem die Beiner aus. Morgen kracht der Wald.«
Eine halbe Stunde später klang das Brecheis der ausgefrorenen Pfützen in der Dorfgasse unter den Rädern. Die Dunghaufen rauchten, blind lagen die Fenster. Siegfried war so steif, daß es ihm sauer wurde, vom Wagen zu steigen. Und auf einmal war alle Freudigkeit, die ihm auf der Fahrt die Brust geweitet hatte, dahin.
Die Einnehmerei drückte sich neben dem Wirtshaus ›Zu den drei Tannen‹ tief zur Erde. Das Dach war ihr vornübergerutscht, und seine grauen Strohsträhnen stachen spitz aus dem Schnee. Das Adlerwappen über der Türe drohte einem auf den Kopf zu kommen, aber so hing es schon seit zehn Jahren, und der wilde Vogel war noch nicht aus dem Nest gefallen.
Rentmeister Höpfner hatte im Wirtshaus gesessen, als der char-à-bancs die Gasse herablärmte und die Hühner scheuchte.
166 »Beim Eid, da kommt Euer Sohn,« krächzte der Wirt, der, um seinen heisern Hals ein Cachenez, mit geschwollener Backe am Fenster saß.
Einen Augenblick war Höpfner bei den Karten geblieben und hatte, fast ohne zu wissen, was er tat, getrumpft und gestochen. Dann lief ihm eine Röte über den kahlen Schädel und er warf das Spiel zusammen.
»Auf ein ander Mal,« sagte er und knöpfte die alte Wolljacke zu, die er unter dem Lodenrock trug. Dabei schielte er den Mergler und den Riedbauer argwöhnisch an, ob die dazu maulten oder gar grinsten. Aber die suchten schon im Giletsack nach der Zeche und machten ihr stumpfes Alltagsgesicht. Da stülpte Höpfner die Kappe auf, drückte den Daumen auf den Pfeifenkopf, um die glimmenden Funken zu sichern und ging in die Einnehmerei hinüber. Der Junge war da! Ihm saß ein Kloß im Hals, sein Junge war da. Aber nur nicht merken lassen, wie ihm die Überraschung ins Blut gekrochen war, bis sie ihm einen dumpfen Schwall aus der Brust trieb! Sein wirrer, grauer Bart scheuerte den unsauberen Hemdkragen, er knöpfte noch rasch auf dem Flur den obersten Knopf zu mit den verklammten Fingern, aber als er vor der Türe stand, riß er ihn wieder auf. Wenn sich der Bengel seines Vaters schämte – na, so tat er's eben. Und er nahm auch die Kappe nicht ab und stieß die Türe auf, daß sie von selbst den Rückschwung fand und hinter ihm wieder in die Falle schlug.
»Na, da bist du ja, Junge,« sagte er ruhig, beinahe kalt und sah an ihm vorüber.
Siegfried hatte sich an den großen, blauen Kachelofen 167 gestellt, der die eine Wand des düsteren Zimmers füllte. Seine Hände lagen auf den warmen, glatten Kacheln. Der Glanz der Ofenwand huschte über sein blasses Gesicht und übergoß es mit bläulichen Farben.
»Guten Tag, Vater,« antwortete er leise und löste die Hand, sie jenem entgegenzustrecken.
»Schon gut, wärm dich nur an,« brummte Höpfner und trat an das Stehpult, wo seine Bücher lagen, blitzend von Sauberkeit, bedeckt mit seiner klaren, steilen, nur leise flimmernden Handschrift. Die gelben Steuerzettel hin- und herschiebend, als gelte es versäumte Arbeit nachzuholen, blickte er unverwandt auf seine Schreibereien, und dabei brannten ihn doch die Augen danach, dem Jungen ins Gesicht zu spähen.
Um Siegfrieds Lippen hatte es bitter gezuckt, als der Vater seine Hand zurückwies. Da stand er nun wieder, so fremd alles um ihn her, so eng zugleich, stickige Luft, geschwängert mit kaltem Rauch. Und plötzlich sah er sich vor dem Direktor Kolb im Studierzimmer, hörte er die laute Stimme, die ihn rüttelte und peitschte, und in der Tasche brannte ihn das Zeugnis. Und trotzig griff er in den Rock und zog es hervor.
»Vater, mein Zeugnis. Es ist ein Weihnachtszeugnis, du mußt also überall noch was abziehen.«
Das hatte er noch nie gesagt, Höpfner horchte auf: als ob etwas gesprungen wäre in der Stimme des Jungen, gerade so war's gewesen. Unter dem Schirm der Kappe hervor, der seine Augen deckte, blickte er ihn an, wie er vom Ofen her ins Fensterlicht trat. Blaß, schmal, noch blässer als im Herbst, aber mit den langen Wimpern 168 und den feinen Brauen Kättchens. Und jetzt, der verschüchterte, trotzige Zug um den Mund, das war sie ganz. Er sah sie vor sich mit dem Jungen auf den Armen, schlank und blaß, feingliedrig unter den drallen Mädchen und den zerarbeiteten hageren Frauen des Dorfes, wie ein Gottesmütterchen. ›Das Kättche!‹ Der Biswind, der keine Kerze löscht, aber die Menschen ausbläst, hatte es angehaucht, als der Siegfried noch in die Dorfschule ging, und es hatte sich zu Tode gehustet in einem langen Winter.
»Hier, Vater!«
Siegfried legte das Papier auf das Pult, da es ihm nicht abgenommen wurde. Oh, er hatte es gewußt, daß der Vater wieder in den ›Drei Tannen‹ sitzen würde, wenn er heimkam! Er saß wohl jetzt noch darin in seinen Gedanken, bei seinen Trümpfen und dem schwarzen Rotwein, aus dem ein Spiritusgeruch stach. Und da war es ihm auf einmal fast wie eine Lust, daß das Zeugnis nicht anders war. Er blieb neben dem Pult stehen und preßte die Lippen zusammen und wartete.
»Ja so!«
Der Rentmeister schrak auf, suchte den Kneifer aus der Westentasche, setzte ihn auf die geäderte, magere Nase und entfaltete das Zeugnis. Zuerst sah er nichts, las dann und wußte nicht, was er las. Das Kättchen hielt ihn noch fest. Sang nicht auch heute draußen der Wind in den Drähten? Und der Junge war vier Stunden im offenen Wagen gefahren, ohne etwas Warmes im Leib! Seinem ›Kättche‹ sein ›Bubche‹!
Das Blatt zitterte in seinen Händen.
169 »Ja, Vater, so haben sie mir's aufgeschrieben,« stieß Siegfried hervor, als er das Zittern sah und es für Zorn hielt. Sein Trotz war schon wieder geschmolzen. Wenn ihm der Vater jetzt ein gutes Wort gab, fiel er ihm in die Arme. Und er wartete, wartete mit klopfenden Adern.
Nach einer Weile räusperte sich der Rentmeister und legte das Blatt langsam, pedantisch zusammen, schlug es dann noch einmal auf, griff zur Feder, setzte seinen Namen darauf, löschte ihn ab, faltete es wieder zusammen und gab es Siegfried zurück.
»Da!«
Nahm den Kneifer ab, warf ihn aufs Pult und ging an dem Sohn vorbei zur Tür.
»Vater!«
Er antwortete nicht, blickte nicht um, gleich darauf fiel die Haustür hinter ihm ins Schloß. Er ging in die ›Drei Tannen‹.
»Wo habt Ihr den fils?« fragte der Wirt.
Er gab keine Antwort, saß auf dem alten Platz und brütete in den Wein. Als es dunkel geworden war und die Lampen brannten, fuhr er auf und schickte eins von den Frauenzimmern hinüber. Der Siegfried solle zum Nachtessen kommen. Der kam nicht. Er habe keinen Hunger und gehe ins Bett. Da trank er trotzig weiter.
Spät am Abend schlorrte er heim. Es war bitterkalt. An den Fenstern waren eisige Farne in die Höhe geschossen, daß sie wie Milchglas das Licht aufsaugten. Die Klinke brannte ihm in der feuchten Hand. Bettschwer kam er heim, und sein Schnarchen zersägte die 170 langen Stunden bis in den frühen Morgen. Dann verlor es sich, er fühlte, daß er erwachte. Erst war nur der Kopf wach, ein dumpfer Druck in den Schläfen, ein Würgen im Hals, jetzt fuhr ihm das Leben das Rückgrat hinunter, er schlug die Augen auf und jählings saß er aufrecht im Bett und starrte in den grauen Morgen. War nicht der Junge gestern heimgekommen? Und schon streckte er die mageren Beine aus den Decken, langte nach dem Schlafrock, der ihm die Füße gewärmt hatte, fuhr in die ausgetretenen Wollschuhe und tappte, glitschte durch das Zimmer. Erst ans Fenster. Als er die kleine Scheibe aufriß, splitterte das Eis in den Fugen. Ein kalter Hauch lüftete ihm das Hirn.
Ein roter Streif stand am Himmel, wie mit blutigem Finger hingewischt, dort über den Bergen ging die Sonne auf. Der Giebel des Pfarrhauses wuchs hinein, als wollte er in Brand geraten. Und dort, wo gestern noch der Forlenweiher gedampft hatte, lag alles still, grauschimmernd unter den Weiden. Blankes Eis.
Ja, der Junge war angekommen. Jetzt fiel ihm alles wieder ein. Er schnürte den Schlafrock um den Leib, machte kleine Schritte, um die nackten Beine zu schützen und schlurfte zu ihm hinüber. Es war schon ganz hell, ein Glanz, als wäre es hoher Tag. Die Uhr unten in der Dienststube schlug sieben. Nun hatte er die Türe aufgedrückt, kein Laut, er schlief noch. Und innerlich über die knackenden Dielen alle Flüche abfeuernd, die er in seinem Leben unter den Bauern aufgelesen hatte, kam er bis ans Fußende des Bettes.
Siegfried schlief schwer, es war sein dumpfer 171 Morgenschlaf. Höpfner schlotterte vor Kälte, aber minutenlang stand er und labte sich am Anblick seines Sohnes. Ja, gestern hätte er ihm kein Wort gegönnt, da hätte ihm, als er das Zeugnis gelesen, einer Himmel und Erde versprechen können. Keines Wortes war er fähig gewesen. So fraß ihm der Zorn, die Enttäuschung, der Schmerz am Leib. Er war ja so stolz auf seinen Jungen!
Aber jetzt sah er's schon mit andern Augen an. Sie wollten ihn ducken, den Siegfried, den armen Teufel von Beamtensohn, der nur das halbe Schulgeld zahlte und aussah wie ein Prinz. Und er, der zwei Feldzüge hinter sich hatte und ein Rippenstück samt der Chassepotkugel an der Uhrkette trug als Erinnerung an St. Quentin, er hockte hier in Larg und wußte nicht mehr, wie die Welt lief jenseits dieser buckligen Gegend, wo Fuchs und Has einander Gutenacht sagten und die Mistlache in den Gassen stand. Aushalten, Siegfried, noch ein Jahr, noch anderthalb, dann machst du dein Examen und dann – ja, was dann? Er bewegte die Lippen und formte unwillkürlich die Frage, daß sie als ein Räuchlein aus seinem Munde fuhr.
Da drehte sich der Junge mit einem tiefen Atemzuge, und wie der Blitz schoß der Rentmeister aus der Türe, der Schlafrock flog, denn er mußte das Gleichgewicht halten mit den Armen. Die verdammten Babuschen rutschten ihm von den Füßen. Seine haarigen, mageren Beine tauchten ans Licht, das kurze Hemd flatterte. Wie eine Vogelscheuche, die das Fliegen gelernt hat, kam er auf sein Bett zugesegelt, und schlug schwer auf die Matratze.
172 Als Rentmeister Höpfner eine halbe Stunde später, die Mütze auf dem Kopf, in seinem alten Flaus in die Wohnstube trat, war Siegfried noch nicht da. Das ärgerte ihn, es hatte ihn immer geärgert, daß der Junge nicht aus den Federn zu kriegen war, so eine Langschläferei, so eine infame. Er trank seinen Kaffee, der war wieder gallenbitter von Zichorie, das alte Tier, die Urschel, war nicht zu bekehren. Und wie sie wieder in der Küche fuhrwerkte – als ob sie die ganze Dorfmilch zu käsen hätte, so beulte sie das Geschirr.
Er öffnete die Tür und schrie, brüllte in das rußige Loch, wo ein stinkendes Lämpchen unter dem offenen Kamin lange Rauchfäden spann:
»Himmelherrgottsakrament, Urschel, was ist das wieder für ein Radau! Da kann ja der Deiwel schlafen!«
Und schlug die Türe zu, daß die Späne flogen.
Die Pfeife ranzte, verdrießlich sog er an dem zerbissenen Rohr. Horch, der Junge kam die Treppe herunter. Da machte er, daß er in seine Amtsstube kam und hinter die Geschäfte.
Am Tage darauf, da sie in den ›Drei Tannen‹ zu Mittag aßen, wortkarg beide, als genierten sie sich voreinander, brachte der Postbote Kolbs Brief. Höpfner legte ihn neben sich und schielte über jede Gabel voll Sauerkraut grimmig auf das Schreiben. Grade heute, am Weihnachtsabend, rücksichtsloser Kerl, einem den Kopf wieder in die Schulmisere tunken, wenn man's kaum abgespült hatte. Gymnasium Dornkirch stand auf dem Kuvert. Auf einmal fuhr ihm ein lähmender Schrecken durch die 173 Glieder. Wenn sie den Jungen relegierten! Und da fuhr er ihn an, über die Breite des Tisches:
»Da kommt das dicke Ende nach. Rausschmeißen werden sie dich!«
»Was? Wieso?« stammelte Siegfried.
»Nun ja, da liegt doch der Wisch. Consilium abeundi oder so was. Das bißchen Latein hab ich mir ja noch aufgekratzt, als ich mit dir geochst habe, um dich in die Quarta zu bringen.«
»Ja, geochst, verekelt! Gezittert hab ich jedesmal, wenn es Zeit war zu dir zu kommen,« stieß Siegfried wild hervor.
»Junge!«
»Ja, gezittert. Wie du gewettert hast, wenn's nicht gleich ging, mich zum Verrücktwerden hast alles herleiern lassen und mir die Bücher vor die Füße geschmissen, Bücher, aus denen heute kein Mensch mehr lernt. Daher sitzt auch nichts von dem. Verekelt, verekelt!«
Siegfried wußte kaum, daß er mit dem Messergriff auf den Tisch hämmerte bei den Worten. Was er seit Tagen in sich hineingesonnen hatte, rang sich los und stürzte ihm wild aus dem Mund.
Da holte Höpfner plötzlich mit der Hand aus.
»Vater, probier's!«
Klirren und Poltern, aufrecht standen sie, zwischen sich den Tisch mit den rauchenden Tellern. Sie waren allein in der Stube. Der Junge hielt noch das Messer gepackt, der Alte hatte die Linke auf den Tisch gestützt, die Rechte, Finger an Finger am langgestreckten Arm frei in der Luft, halb hinter dem Rücken in ausholendem Schwung. 174 Mitten auf seiner kahlen Stirn bis unter den zerrauften Büschel grauer Haare brannte ein blauroter Fleck.
»Meinst du, ich haue nicht zu wegen dem Messer! Nundedie noch einmal, wegen dem Messer!«
Er war ins Elsässern gekommen, er keuchte und drückte gegen den Tisch, und ballte die Finger langsam zur Faust. Gleich schlug er zu.
Da zuckte Siegfried schnell mit dem plumpen, spitzigen Messer, an das die Bauern Käs und Wurst spießten, nach seinem eigenen Hals.
»Vater, wenn du's tust, stoß ich's hinein,« schrie er mit tonloser, stammelnder Stimme und aschgrauem Gesicht.
Und es überlief ihn kalt, und die blasse Furcht schüttelte ihn, der Vater könnte zuschlagen und er müßte stoßen! Müßte, ob's ihn auch grauste und das kalte Ding an seiner Kehle zitternd spielte.
Der Rentmeister lachte lautlos, mit weitgeöffnetem Munde, ein grinsendes Lachen. Aber innerlich bebte er vor Angst. Am Ende tat er's doch, am Ende doch, und das lähmte ihm den Arm, der immer noch frei in der Luft stand, schwankend in seiner Starrheit, wenn den Alten das wilde Lachen erschütterte.
Da wurde die Tür aufgestoßen, die Magd kam mit Geschirr, und sie tauchten plötzlich wieder auf ihre Stühle, blaß, aneinander vorbeistarrend in der drückenden Stille, in der das Maidle, dumpf auftretend in den dicken Holzschuhsocken, hin- und hergeisterte.
Der Brief lag noch ungeöffnet neben Höpfners Teller. Um sich eine Haltung zu geben, riß er ihn auf und las. Siegfried erhob sich und ging hinaus.
175 Draußen war es windstill. Die Sonne spielte mit durchsichtigen Flören, ließ sich verhüllen und strich sie dann wieder lässig aus dem Gesicht. Die Kirchenglocke begann zu läuten, dünn und greisenhaft. In das dunkle Portal tauchten schwarze Gestalten, die zwischen den Kreuzen des Gottesackers hervorkamen.
Siegfrieds Füße gingen stille Wege. Am Forlenweiher blieb er stehen. Die Binsen starrten aus dem Eis, grau lag die Fläche, Blasen und Buckel, der eingefrorene Kadaver einer Katze und am andern Ufer halbversunken ein Kahn, derselbe, auf dem Siegfried schon vor Jahren ins Unermessene dieses dunklen Wassers gesteuert war, mit Stachel und Schaufel mühsam sich durchs Rohr quälend, das seine grauen Wedel über ihm schwenkte. Gelbe Rosen schwammen um ihn her, und er zog sie an den langen Röhrenstielen ins Boot, langsam, daß ihm die Blüte nicht abgerissen in der Hand blieb. Da lagen sie, ringelten sich wie klebrige Schlänglein mit goldenen Köpfen und raunten ihm Geschichten ins Ohr, die in keinem Märchenbuch standen. Er hatte auch einmal dringelegen in dem schlammigen Wasser, eine Wolke von Kaulquappen um sich her, und die andern hatten ihn tropfend aufs Land gezogen, und der Vater war mit Ohrfeigen über ihn gekommen. Wie heute! Ja, beinahe wie heute!
Aber seine Gedanken blieben nicht bei ihm, sie wanderten, er konnte sie nicht halten, wanderten unklare Wege. Wie Träume, die er lebte und die ihn trugen. Moralisch, was war moralisch! Und Dankbarkeit, das war auch so ein Wort! Mußte er seinem Vater dankbar sein? Für was denn? Und dabei sah er den alten, fremden 176 Mann vor sich und wußte nichts von ihm, als daß er ihn geschuhriegelt hatte, bis er aus dem Dorfe ins Gymnasium gekommen war. Wie stand der wohl zu Gott! Dachte der überhaupt noch so weit – und zur Welt! Der Vater hatte ihn konfirmieren lassen. Von einem Wanderprediger, der die Protestanten absuchte, wie ein Hausierer seine Kunden. Und dem hatte er einmal sein Herz ausschütten wollen zwischen zehn Bibelversen und einem Stück aus dem Katechismus. Er glaube nicht an die Bibel, an die Erschaffung der Welt, und daß Christus der leibhaftige Sohn eines, des einen Gottes sei – und dabei war ihm so bang zumut gewesen, als stünde der Geleugnete, Angezweifelte unsichtbar hinter ihm, und ihm lief der Schauer der Erregung, der heiligsten Spannung über den Leib. Der Pastor aber hatte gesagt: »Beunruhige dich nicht, das wirst du später erfahren und glauben aus deiner Erfahrung, jetzt mußt du mir's glauben und dem geschriebenen Wort, das da ist die Offenbarung.«
Und damit hatte er ihn stehen lassen. Es war drei Jahre her und war doch erst gestern gewesen. Damals hatte er im Dichten von Kirchenliedern etwas wie Beruhigung, wie Glauben gefunden, sein Gesangbuch war vorn und hinten voll gekritzelt, dann war alles verblaßt. Heute packte es ihn wieder an. Die offene Kirchentür hatte ihm die Gedanken hereingelassen. Die Mutter hatte auch in die kleine Kirche gehört, er war dem Vater nachgefolgt in der Konfession. Aber das war doch gar kein Bekenntnis, es drückte ihn, und der Vater, war's dem eins? Im Gymnasium, da hatten sie keine Zeit für ihn, da las er, während die anderen zum Vikar gingen, 177 das Neue Testament in Urtext bei Rotenberger. Und der präparierte sich immer erst, denn er war doch eigentlich nur für die erste Stufe da, aber da er die Stunde gerade frei hatte, so war ihm der ›Religionsunterricht‹ Siegfrieds aufgebrummt worden.
Wie die Gedanken flogen. Jetzt waren sie im Gymnasium und gingen mit ihm die Treppe hinauf. ›Wir sind alte Bekannte‹ lachte eine helle Stimme ihm ins Ohr, und auf einmal brauste eine wilde Sehnsucht, ein süßes, überströmendes Verlangen in ihm auf, er starrte über das graue, blinkende Eis und sah sie drüben am Ufer wandeln und zu ihm herüberwinken. Seine Füße setzten sich in Bewegung. Über das Eis ging er, und als es sich bog und schwankte wie ein federndes Schaukelbrett, als mit leisem Zischen Spalten und Risse aufsprangen und am Ufer ein Klirren und Knistern antwortete, da schlug ihm das Herz, da war er wie einer, der Übermenschliches tut für seine geliebte Frau. Ein Pfiff gellte weit aus der Ferne, aber er hörte nichts, in seinen Ohren war ein anderer Klang.
Der Rentmeister hatte die Finger in den Mund gesteckt und schrill auf den Fingern gepfiffen, als er den Jungen über den grauen Teich laufen sah. Der Weg war zu weit, rufen, ihn einholen konnte er nicht, so war er auf dem Fleck geblieben, dort, wo die letzte Scheuer an der Gasse hockte, und schaute hinüber. Die schwarze Gestalt des Knaben verschwand am andern Ufer hinter dem Gestrüpp.
Ein tiefer Atemzug hob Höpfners Brust. Verdammter Bengel! Aber er hatte ihm unrecht getan. Der Brief 178 enthielt keine Relegation, im Gegenteil, der Direktor sprach darin von Siegfrieds Begabung und daß ihm nur eine stetige Hand fehle, daß er nun alle Aussicht sei, ihn in Gang zu bringen, sie hätten ihre Hoffnung auf ihn gesetzt und ließen nicht locker.
Ja, Talent hatte der Junge, und das Unstete, das Himmelhoch-Jauchzen-Zu-Tode-betrübt, das hatte er von seiner Mutter. Verekelt hatte er gesagt, das Latein verekelt! Ja, weil er Allotria im Kopfe hatte und fest rangehalten werden mußte! Und griff nach dem Messer der Bengel! Wie das Kättchen, das war auch einmal mit der Feuerzange auf ihn losgegangen, als er beschwipst nach Hause kam und es ins Bett reißen wollte. Aber sich selbst metzgen, Donnerschlag, der Junge hätte es getan, in seinem Aug' war ja der Angstblick eines gepeinigten Hundes gewesen! Armer Kerl, da lief er über das Eis, jetzt, da er hinüber war, konnte man wieder aufatmen, aber mit dem Pfiff war Höpfner die Angst ums Leben des Jungen aus dem Munde gefahren, schrill und schneidend, daß ihm selbst noch die Ohren gellten. Jetzt konnte er wieder lachen. Und der Rentmeister lachte, in einer gläsernen Wolke stieg ein rauhes, erlösendes Lachen in den kalten Tag. Dann kehrte er um: der Siegfried kam wieder. Wundes Getier muß man laufen und sich die Wunden lecken lassen, wo's keiner sieht, bis sie nicht mehr bluten.
Langsam ging Höpfner durch die Gasse des armen Dorfes, das doch das reichste war in dieser öden Grenzgegend, wo die Berge zu Hügeln verkümmert waren, der Lehm sich schwer an die Schuhe hing, und die Birnbäume als Krüppel auf den magern Feldern hockten.
179 Als er zu Hause anlangte, stieg der Rentmeister in Siegfrieds Zimmerchen hinauf. Das war noch wie zur Zeit, da er es ständig bewohnt hatte. Er legte den Brief Kolbs auf den Arbeitstisch und ging dann zu seinen Büchern hinunter. Bei dem ersten Datum, das er ausfüllte, fiel ihm ein, daß heute heiliger Abend war. Er hatte es ganz vergessen und doch noch gestern daran gedacht. Ein Baum brannte nicht mehr in der Einnehmerei, seit das Kättchen gestorben war. Hierzulande war das nicht Brauch. Da kam das Christkind durch den Kamin und legte seine Gaben in den Holzschuh, der am Abend in die kalte Asche gestellt worden war. Höpfner bequemte sich auch zu diesem Brauche nicht. Ohne das Kättchen gab es keine Weihnacht. Zehn Mark schob er dem Jungen in die Hand, und er selbst rauchte eine Zigarre, das war ihr Fest.
Es dunkelte, da kam Siegfried heim. Der Vater hob den Kopf nicht von den Büchern und qualmte, daß sein Gesicht verschwand. Auf dem Tische fand Siegfried den Brief. Er las ihn, aber er ward sich kaum bewußt, was er las. Seine frostkalten Finger hatten unleserliche Verse ins Notizbuch geschrieben, an diesen lag ihm mehr.
Nun war es Nacht geworden. Die Urschel mußte kochen, sie blieben daheim. Da, als sie am Tisch saßen, räusperte sich der Alte:
»Nun muksch mal nicht, Junge. Wärst nicht gestorben, wenn ich dir eine gelangt hätte. Ich war schon in der Montur, da bekam ich noch meine Keile.«
Siegfried schwieg.
»Zum Donnerwetter, du kannst doch wenigstens 's Maul 180 auftun. Heute mittag hast du's ja auch können!« schrie Höpfner wütend.
»Laß es gut sein, Vater, es ist vorbei,« erwiderte Siegfried leise.
Die rauhe, grobe Art des Vaters schreckte, verletzte ihn. Da war es wieder, das Fremde, das ihn anblies wie aus einer roheren Welt.
»Dummer Flaps, dann revozier ich eben, und nun trink mal aus, 's ist heiliger Abend,« brummte der Rentmeister und schenkte ihm ein von dem gelben Riesling, der goldene Lichter aus den Gläsern schlug.
Aber Siegfried nippte nur, während der Vater mit Behagen den Edelwein durch den feuchten Bart schüttete. Dann schob er ihm die Weihnachtskrone hin.
»Da – und wenn du kannst, kauf dir Murr in die Knochen dafür, du Tranpeter.«
Zwei Tage gingen ihnen seit dem heiligen Abend in Frieden hin. Jeder spann sich in seine Kreise, wortkarg der Alte, der nichts mitzuteilen hatte, stumm der Junge, dem die Fülle unsagbarer Dinge fast die Brust zersprengte. Aber beiden trieb die Erinnerung an die Stunde, da sie einander auf Messer und Faust gegenübergestanden waren, immer noch verlegene Scheu ins Auge. Zuweilen ertappten sie sich darüber, und ihre Blicke flogen dann hastig in entfernte Winkel.
Eines Morgens brachte der Bote eine Druckschrift für Siegfried und legte sie dem Rentmeister in die Hand. Siegfried war auf dem Teich mit seinen Schlittschuhen. Die klare Wintersonne erhellte die starre, stille Landschaft und schmolz den Reif am Telegraphendraht, daß 181 schillernde Kugeln daran entlangglitten wie Perlen an der Schnur.
Höpfner wog das Kuvert einen Augenblick auf der Handfläche, dann faltete er es auseinander. ›Neue Poetische Blätter‹ nannte sich das Ding, und da, gleich auf der ersten Seite, stand Siegfrieds Name unter einem Gedicht. Der verdammte Bengel! Gedruckt, weiß Gott! Er hielt es auf Armeslänge von sich und las ohne Brille. Was klang da, was zum Donner wußte der Junge von Liebe? Und die triste Miene, die er machte in den Versen und doch 'ne Hitze drin und 'ne Sehnsucht! Aber wie schön es klang, wie weich! Und doch sah er ihn dabei vor sich, mit dem trotzig zurückgeworfenen Kopf, wie am Tage ihres wilden, närrischen Streites. Aber was sollte das alles! Gedichte, dichten überhaupt – die Zinken brach ihm das Leben alle ab, so ein Gegaukel, das half auf keinen grünen Zweig. Haare lassen muß man, und Opfer bringen, na ja, wenn man so was ein Opfer nennen will! Aber, daß er's konnte – ihn hätte man häuten und wenden können, so etwas wäre nicht in ihm gewesen. Das hatte er auch von dem Kättchen, die guckte auch manchmal in den Mond, als hinge da oben eine Glocke mit einer Strippe dran, an der man nur zu ziehen brauchte, um glücklich zu sein und Einlaß zu kriegen in den höchsten Himmel, wo die Engel musizieren.
Und er steckte das Heft in die Tasche. Am Abend sagte er im Wirtshaus zum Lehrer:
»Hab ich nicht einmal in der ›Straßburger Post‹ ein Gedicht von Ihnen gelesen, Herr Hirzbacher?«
»Ich habe zwei Gedichte drucken lassen, Herr Rentmeister, 182 eins auf des Kaisers Geburtstag, das war in der ›Straßburger Post‹, ich habe dem Herrn Schulrat und dem Herrn Kreisdirektor eine Nummer geschickt, und eins auf die Muttergottesfeier in Dornkirch, das hat der Kalender gebracht, und der Herr Pfarrer hat's erlaubt, daß es die Kinder auswendig lernen. Jetzt mache ich noch die Musik dazu, zu beiden.«
Er blähte sich vor Stolz und sah auf den Mergler und den Wirt, die dabei saßen und ihn und sein breitbeiniges Schriftdeutsch bewunderten. Ja, der Schulmeister, das war einer! Der Wirt sagte es zum Mergler und kniff das linke Auge. Ein finaud, ein Siebenhäutiger!
»Wenn er nur nicht so bescheißen tät' bei den Karten,« meinte der Bauer.
Der Rentmeister aber antwortete:
»Nun, dann verstehen Sie ja die Chose. Und nun lesen Sie mal!«
Er kramte die ›Neuen Poetischen Blätter‹ hervor. Als er sie jenem hinschob, reute es ihn schon, aber der Schulmeister hielt das Blatt flugs vor die Augen. Erst kam ihm der Schulmeisterdünkel, aber er besann sich: Den Rentmeister gegen den Strich zu bürsten, so dumm war er nicht.
»Admirable, männlich und weiblich gereimt, und nur ein falscher. Und das hat der Siegfried gemacht? Mein Kompliment, Herr Rentmeister.«
Er stieß sein Glas an das Höpfners und schnalzte mit der Zunge.
Da schrie der Rentmeister. »Unsinn ist's, vermaledeiter,« und schlug auf den Tisch.
183 Als der glattmäulige Kerl ihm das Gedicht lobte, wurde ihm plötzlich die Galle grün.
»Unsinn, Blödsinn, geben Sie her!«
Er stopfte das Blatt in die Tasche und griff nach den Karten.
»Aber aimabler Unsinn, Herr Höpfner, Jugend, Jugend, ah la jeunesse!«
Der Schulmeister tat gerührt.
»Aimabler Unsinn, warum nicht gleich Sirup, überhaupt – Grand, aus der Hand.«
Der Mergler knurrte und stieß den Schulmeister unter dem Tisch an.
Der zuckte leise die Achseln.
»Nichts zu machen, der Herr Rentmeister hat uns das feine Spiel gelehrt, aber die Buben fängt er immer selber.«
Und der Skat begann.
Siegfried fand die poetische Post am anderen Morgen neben seiner Tasse. Ein bißchen zerstoßen in dem fleckigen Kuvert, der Bote hatte sie wenig in acht genommen. Er trug sie auf sein Zimmer und berauschte sich an seinen Versen, die Stimmung, die sie geboren hatte, kam wieder über ihn und ließ ihn alles in rosenfarbenen Schleiern sehen. Es war das erste Gedicht, über dem die Gestalt jener schwebte, die er zu seiner Königin erhoben hatte.
Als er den Vater auf der Treppe hörte, warf er das Blatt hinter die aufgestellten Bücher. Der durfte ihm nicht hineintappen in diese stillen Dinger. Was verstand der davon! Aber vielleicht war's überflüssige Mühe. Auf dem Tische hätte er es liegen lassen können, den Vater interessierte es ja so wenig, der sah drüber hinweg. 184 Wenn nur der Cicero daneben lag, der Wortdrechsler mit seiner pathetischen Entrüstung! Und er packte die Rede gegen Verres, an der er sich gestern geplagt hatte und schleuderte sie auf das alte, verschossene Sofa. Gott, wenn er nur schon wieder in Dornkirch wäre! Er wollte ja gern ochsen, nur fort aus diesem Haus, das ihn zerdrückte! Noch drei lange Tage, dann reiste er ab.
Auch diese drei Tage gingen vorüber, trübe, schneeschwangere Tage. Am Abend vor der Abreise begann es zu schneien, erst in einzelnen Fläumchen, dann stand ein Wind auf hinter den Bergen im Westen, schüttelte die Mähnen der grauen Wolken, die sich aus dem Dunst zusammenballten, und jagte sie über die Felder, daß die weißen Flocken wirbelnd hinter ihnen dreinstoben.
»Kommst du mit?« fragte der Rentmeister und zielte nach den ›Drei Tannen‹.
»Nein, ich bleibe lieber hier.«
»Natürlich. Aber ich nicht. Und wenn du das ganze Jahr, was sag ich, das ganze Leben hindurch hier säßest, du tätest es auch nicht. Da geht einem die Poesie flöten.«
Der Rentmeister war ausfahrend wie immer, wenn ihn etwas plagte. Und es plagte ihn, daß der Junge morgen wieder fort ging. So lange Siegfried da war, fühlte er sich nicht wohl, und wenn der Junge fortging, knuffte ihn etwas, das er wie ein Hund mit Bellen und Beißen abwehrte.
Und sein Ausfall hatte getroffen. Siegfried zuckte zusammen und strebte plötzlich zur Türe.
»Halt, wo willst du hin, Junge?«
185 »Ich? Hinaus, irgendwohin. Nein, nicht in die ›Drei Tannen‹!«
»Dann bleibst du zu Hause.«
Siegfried wollte die Tür öffnen, er erstickte.
»Marsch, in dein Zimmer!«
Der Rentmeister hatte sich vor die Türe gestellt. Er trug einen besseren Rock, es war ja Neujahrstag, der Rock war zu eng geworden, den Bart hatte er sich selbst gestutzt, er war jetzt dicht und buschig, als ein grauer Klumpen hing er ihm um das Kinn. Ein stechender Weindunst ging von ihm aus, er hatte am Nachmittag schon in den ›Drei Tannen‹ gesessen. Als der heiße Hauch ihn traf, wich Siegfried zurück.
Da lachte Höpfner auf.
»Siehst du, Jungelchen, daß du noch parieren mußt! Und das sag ich dir, wenn du nicht ein Zeugnis auf den Tisch legst Ostern, das nur so funkelt, dann, dann,« er wußte nicht wie endigen und fiel mit dem Rücken gegen die Tür. Es war ihm auf einmal ein Schwall in den Kopf gestiegen, als käme er aus dem Keller.
Als er wieder klar sah, war er allein. Da tappte er zu dem alten Sessel und setzte sich stumpf. Ja, war er denn besoffen? Und was hatte er denn dem Jungen gesagt? Die Dämmerung schlich sich ins Zimmer und spann ihn ein. So saß er, bis ein Frösteln ihn zu sich brachte. Es war Nacht.
Am andern Morgen spannte der Tannenwirt den Schimmel ein. Der Schnee lag schuhhoch, weiß war alles, Himmel und Erde, Dach und Dung. Der Schlitten schlich vor die Tür.
186 Siegfried konnte nichts essen, er trank stehend den bittern Kaffee. Der Vater ging rauchend im Zimmer auf und ab. Draußen knallte eine Peitsche, ein Schellengeschirr klingelte vorüber und hielt vor dem Wirtshaus.
»Die kommen zu mir,« sagte Höpfner, als er die Bauern aussteigen sah. Aber die gingen zuerst in die ›Drei Tannen‹. Jetzt schüttete Siegfried den letzten Schluck hinunter und griff zur Mütze.
»Adieu, Vater, bleib gesund,« sprach er, und seine Stimme klang gepreßt.
Da antwortete der Rentmeister, indem er eifrig in seiner Pfeife bohrte:
»Adieu, gesund bleib ich schon. Das bleibt man hier, wenn man nicht in den ersten sieben Jahren stirbt wie deine Mutter. Und das andere, das« – wild fuhr er empor – »ich war auch mal ein fixer Kerl, Siegfried, aber die Politur, die hat der Rost gefressen. Meinst du, ich wäre hier daheim, weil ich hier bis an die Kniee im Dreck steck? Nee, mein Junge, ich hab keine Wurzeln an den Zehen, ich sitz nur fest, reingestampft wie ein Pfahl. Und siehst du, da hab ich nun einen Jungen, der soll mal raus hier, was werden soll er – und – und, – na ja, wenn ich in einer Stadt wär und in Gesellschaft, da hieß es, er kneipt ein bißchen, der Rentmeister, am Stammtisch, im Kriegerverein – aber hier in Larg, da muß es heißen: er sauft. Was soll er denn sonst machen! Meinst du, mein Kram wäre nicht in Ordnung? – Was? –«
»Aber Vater!«
»Nicht in Ordnung! Himmelsakrament, bin ich denn 187 nicht preußischer Beamter! Und da soll meine Kasse nicht in Ordnung sein! Was? Wie? Sie haben mich hierhergesetzt, und ich will hier verrecken, wenn's sein muß, aber nicht dran tippen sollen sie mir – nicht dran tippen! – Na, was stehst du noch da? Der Gaul wartet. Und da – da kommen ja die biederen Steuerzahler, also adieu – geh nur, ich hab jetzt keine Zeit – na, so geh doch, zum Donnerwetter – –. Guten Tag, Monsieur Dantlo. Habt Ihr Eure Taxe, hein?«
Und er wandte sich schroff ab und trat hinter den Verschlag an sein Pult.
Einen Augenblick stand Siegfried noch wie erdrückt von der abgerissenen Rede, die schwer, wuchtig, einem Bergrutsch gleich, mit Poltern und Dröhnen, kurzen Pausen und nachhallenden Schlägen auf ihn eingestürzt war.
Er mußte aufatmen, als gelte es eine Last abzuwerfen und verließ das Zimmer. Gern hätte er dem Vater jetzt die Hand gegeben, versucht, ihn an sich, sich an ihn zu drücken, aber die beiden Bauern standen in der Stube und der Rentmeister blätterte in seinen Registern.
Da ging er und stieg in den Schlitten. Der Wirt winkte von der Treppe, ein Hund blaffte und hinter ihm lag das Dorf.
»Na, habt Ihr's, Monsieur Dantlo?« fragte Höpfner heiser.
»Excusez, aber es hat nicht gelangt. Die Kuh ist mir krepiert und liegt im Kaiweloch. Ich hab's nicht schaffen können. Macht's noch einmal warten, das Gouvernement, Monsieur Höpfner.«
Das kam trocken heraus, es war keine Bitte, nur der nackte Tatbestand.
188 »Bis zum ersten Hornung müßt Ihr zahlen,« antwortete Höpfner.
»Merci,« sagte Dantlo kurz und ging.
Der andere zahlte, und Höpfner blieb allein. Er nahm seine Privatkasse aus dem Schrank, legte einen Zettel mit Dantlos Namen hinein und zählte dafür die Steuerschuld in die Staatsgelder. Es ging wieder nicht anders, wenn er den Bauern nicht wollte pfänden lassen.
Und dann stahl er eine Viertelstunde Zeit und stampfte durch den lockeren, schaumigen Schnee die Bodenwelle hinan hinter dem Pfarrhaus. Von hier aus mußte er den Schlitten erblicken, wenn er am Weiher vorbeifuhr. Er sah ihn. Ein kleines schwarzes Ding, der Gaul ein gelber Fleck. Jetzt hob er sich wie auf einer weißen Woge über den nächsten Hügel und verschwand.
Rentmeister Höpfner zog die Uhr heraus, aber der Schnee hatte ihn geblendet, er konnte die Zeiger nicht erkennen, so brannten ihm die Augen. Als er wieder aufblickte, war es ihm, als tanzten schwarze Flocken in der schillernden Luft. Beim Abstieg glitt er aus und rutschte, die Füße voraus, ein Stück in die Tiefe. Die Füße voraus, wie in der Grabkiste. Er lachte rauh auf und stampfte heim auf sein leeres Haus zu neben den ›Drei Tannen‹ und verwechselte die Tür. 189