Hermann Stegemann
Die als Opfer fallen
Hermann Stegemann

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I.

Es war am Patronstage des Gaus. Das Städtchen duftete wie ein Rosengarten in der Mittagssonne. Das feierliche Hochamt war vorüber, die Straßen hatten sich geleert, und aus den geöffneten Fenstern drang der Lärm der hastig Tafelnden, die sich zur großen Prozession bereit machten. Die Sonne lag breit auf den Dächern und spielte auf Girlanden und Triumphbogen, fing sich im Messinghelm eines Pompier, daß ein feuriger Brand im Metall aufflammte und bog die zahllosen Rosenblättchen, die das höckerige Pflaster mit einem bunten Teppich deckten, zu winzigen Muscheln und Kähnen zusammen. Die Luft wallte spiegelnd in den Gassen, in purpurner Bläue wölbte sich der Himmel über dem alten Städtchen, und helle Rauchfähnlein stiegen aus den spitzen Kaminen kerzengerade, zierlich gedreht, hoch und höher empor, bis sie im Blau sich unter den kreuzenden Schwalben verloren. In den Hecken, die den alten, längst zugeschütteten Wallgräben folgten, lärmten die Sperlinge und schrieen den Triumph des Tages aus. Der Lindengang an der verwitterten Stadtmauer stand in Blüte, und der 2 zarte Wohlgeruch schwebte zu den Fenstern des alten Kollegiums hinauf, die von der Mauer herabschauten. Da öffnete sich ein Pförtchen der Stadtwehr, ein weißes Kleid wehte über die ausgetretene Schwelle, und Kläre ließ das knarrende Schloß leise zufallen, um kein Echo zu wecken in dem verschlafenen Gebäude. Die Mittagsglocken hatten ausgeläutet, noch ein Nachhall, dann schwieg alles bis auf das Gelärm der Vögel. Der Lindengang lag einsam.

Kläre huschte unter die Bäume und atmete rasch, wie einer großen Gefahr entronnen. Eine Weile schaute sie über die Hecke in die Ferne, wo die Vogesen ihre mächtigsten Gipfel trotzig aufreckten, dann blinzelte sie in die Vorstadt hinunter, ein Häuflein rotbrauner Dächer, das sich unten am Fluß um die alte Brücke scharte. Der Kern des Städtchens lag auf dem Hügel und zog mit neuen Straßen den grünen Bergrücken hinauf. Kläre atmete durstig die Sommerdüfte und haschte in jähem Spiel nach den Hagrosen, die aus den Rebgärten zu der Hecke empordrängten. Dichte grüne Büsche, mit Knospen und entfalteten Rosen bunt überschüttet. Es war ihr, als müßte sie einen Zweig mit den rosigen Blüten als Symbol Dornkirchs in der Hand tragen bei ihrem ersten Gange durch das Städtchen, in dem sie nun leben sollte. Aber nur lose Blütenblätter blieben zwischen ihren Fingern; da schritt Kläre eilig weiter, mit einem erwartungsvollen Lächeln im Gesicht, lässig herabhängenden Händen, ohne Sonnenschirm, ohne Handschuhe, im weißen Kleid und weißen Hut, mädchenhaft schlank, nur flüchtig den Boden berührend mit ihren kleinen Füßen. Die Sperlinge stoben 3 vor ihr auf, jetzt war die Lindenallee zu Ende, sie stand vor dem Tore.

Das war heute ein Tor aus Dornröschens Schloß. Die modrigen Balken verschwanden unter Buchengrün, Blumenkörbe schaukelten über Kläres Haupt, und als sie aus dem Dunkel des Torwegs in die Kreuzgasse spähte, die ihren Blumenteppich vor ihr aufrollte bis zu der fernen Kirche hin, da glaubte sie leibhaft ein Märchen zu erleben und schritt wie im Traume weiter, die Gasse entlang, zwischen den Häusern und Brunnen hin, an den Blumenaltären vorbei, über Rosen und Buchs, unter bunten Girlanden, staunte und hatte ein verklärtes Lächeln für alles ringsumher.

Vor der Mairie stand der alte Polizeidiener Vogel, um ein Auge auf den großen Altar auf dem Platz zu haben. Die Kerzen brannten schon, und der Wind, der zuweilen die Schleier der wächsernen Madonna lüftete, konnte das Prunkstück gefährden. Vogel stand mit krummem Rücken, die Hände in den Schoßtaschen des Uniformrockes und nickte mit dem Kopfe, als wollte er einschlafen. Die Sonne spiegelte ihm bunte Farben und Strahlen vor, daß ihm das Wasser in die Augen trat. Noch hing ihm ein Tropfen vom Mittagswein im Schnauzbart, aber in der Kehle kratzte ihn schon wieder der Durst. Mit tränenden Augen starrte er auf die Mutter Gottes im Dornhag des Marktbrunnens.

Auf einmal ging's ihm kalt das Rückgrat hinunter. Er tat einen lauten Schnaufer und suchte die Fäuste aus den auswärts gedrehten Taschen zu zerren. Heiliger Sankt Josef, die Liebe Frau war vom Brunnen gestiegen. Sie kam auf ihn zu, weiß, schneeweiß und 4 zehntausend Engel um sie her in der tanzenden Sonne! »Gegrüßet, gegrüßet,« weiter kam er nicht, denn ein farbiger Nebel lief um ihn her; und da blies er durch den grauen zerschlissenen Schnauz, als wäre er unter Wasser gewesen, drehte sich um und war mit zwei Schritten in der Portierloge, wo seine Frau just dem Maire den Schuh glänzend rieb, mit dem Monsieur Schicklé in eine Pfütze getreten war.

»Herr Maire, die heilige Mutter Gottes in den Dornen ist verwacht,« schrie er heiser und riß die Mütze vom kahlen Schädel, mit der andern Hand winkend und wehend, als käme die Gebenedeite hinter ihm drein.

»Vogel, seid Ihr beim Hagel schon vor der Prozession im Brand!« schnaubte der Bürgermeister.

»Herr Maire, ich bin nicht toll und nicht voll, luget selbst, wie sie in ihren weißen voiles vom Brunnen steigt.«

»Imbécile,« antwortete Schicklé und ging durch den Flur unter das Portal.

Vogel stapfte hinter ihm her, zwei kleine Schritte, dann blieb er stehen. Auf der Schwelle der Loge, die Breite des Flurs zwischen sich und dem Maire. Hinter ihm hatte sich seine Frau aufgepflanzt, die Wichsbürste in der Hand, das blaßgraue, magere Gesicht von furchtsamer Erwartung verklärt.

»Charles, du bist ein Stück von einem Ochs, das ist gewiß, aber es ist alles möglich, und ein Wunder ist halt ein Wunder.«

Er kehrte sich nicht um, sondern fuchtelte nur mit der fettigen Dienstmütze hinterwärts und bröselte:

5 »Halt's Maul, Alphonsine, der Herr Maire sieht's justement, er druckst schon am Vaterunser.«

Da wandte sich der Maire um und sagte laut, daß es im Flur hallte:

»Vogel, Euch hat der Gückel gebissen. Aber Ihr seid exküsiert. Elle avait bien l'air de la Sainte-Marie-aux-Epines, la petite!«

Und er sah noch einmal der schlanken, weißgekleideten Gestalt nach, die um den Marienaltar herumgegangen war und nun in der Ferne den Blicken entschwand. Im Buchengrün und Hagrosengerank aber stand noch unbeweglich im Glanz der Sonne und der Kerzen die Patronin von Dornkirch, die Gottesmutter im Dornhag und wartete der Prozession.

»Charles, was hab ich dir gesagt? Ein Stück von einem Ochs,« giftete die Frau und riß ihrem Mann zornig die Mütze weg, die er immer noch beschwörend hinter dem Rücken schwenkte, fuhr mit der Wichsbürste über Tuch und Kokarde und schlug sie ihm mit einem Ruck fest auf den kahlen Schädel.

»Nundefuddernom de foudre, Alphonsine, jetzt hat's geschellt,« schnaubte der sergeant de ville und fuhr herum. Aber ehe er ausholen konnte, um seiner Ehehälfte den Dank zu erstatten für die Zurechtweisung, rief der Maire:

»Keine Bêtisen, Vogel! Geht 's Glöckle läuten, das hat noch nicht geschellt.«

»Das ist dein Glück, Alphonsine,« knurrte Vogel und schob sich aus der Türe. Halbwegs auf der Treppe zum Dachstock zerrte er die Mütze von den Ohren, setzte sie zurecht, 6 die Kokarde über der Nase, und packte dann oben auf dem Dachstocke das Glockenseil, als müßte er die großen Kirchenglocken bei einem Stadtbrand läuten. Das Ratsglöcklein, das den Gemeindrat zum Aufzug in der Prozession rief, wimmerte und schrie ein paar grause Töne, bis Vogels Mut verkühlt war und er gelinder an dem fettigen Seil zupfte. Dann fielen die Kirchenglocken ein und nun die Pompiermusik und bald darauf die ›Fanfare‹. Die Gassen, die so vereinsamt gewesen, füllten sich mit Menschen und wurden laut und lebhaft.

Kläre war erschreckt zusammengefahren, als hoch über ihr die Kirchenglocken erdröhnten, das Portal, an dem sie eben vorüberschritt, feierlich aufging und wie ein Blutstrom ein roter Teppich, von unsichtbaren Kräften aufgerollt, aus dem Dunkel der Kirche heranschoß und langsam die breiten Stufen herabglitt, bis dicht vor ihre Füße. Jetzt bewegten sich Lichter und weiße Gewänder unter der Kirchtüre, eine große blaue und gelbe Fahne schwankte heraus, getragen an silbernem Gestänge, und die Orgel ertönte mächtig in das Läuten der Glocken.

Einen Augenblick war Kläre fassungslos stehen geblieben. Es schien, als wollte sie über den Teppich die Stufen hinauf und in die Kirche schreiten, dann wandte sie sich zur Seite, rannte unter den Bäumen hin auf einen schmal ins Gras des Kirchplatzes getretenen Pfad und suchte einen Ausweg. Sie kannte sich nicht aus, nur daß das Münster auf dem äußersten felsigen Rand des Hügels erbaut war, Tal und Stadt beherrschend, das hatte sie gestern gesehen, als sie in der Abenddämmerung mit dem Pariser Eilzug angekommen war.

7 Jetzt stand sie am Abhang, wieder eine Dornhecke, Hagrosen und Schwarzdorn, und unten an der Talstraße ein paar Dächer, eine Brücke über den Fluß und jenseits des blanken Wassers ein Bahndamm und ein rußiger Bahnhof. Und da war endlich ein Treppengang. Zwischen den Hecken führte er steil hinab. Sie sprang zwei, drei Stufen auf einmal, eine Kehre rechts, eine Kehre links, und schrie plötzlich hell auf.

Etwas Blinkendes vor ihr, ein Stoß, ein Prall, sie fühlte sich gefaßt, getragen und schloß die Augen.

»Sapristi noch eins, das will gelernt sein,« keuchte eine atemlose Stimme, und als Kläre sich hastig aufrichtete, sah sie in ein lachendes, bärtiges Gesicht, unter einem großen, gelbglänzenden Helm mit einem feuerroten Federbusch.

»Ach, wie bin ich erschrocken!« stammelte sie, aber ihre Lippen zuckten schon in hellem Lachen, während ihr Herz noch rasend klopfte.

»Mille fois pardon, Mamsell, aber wenn ich sie nicht embrassiert hätt, lägen wir miteinander zwanzig Stapfeln tiefer auf der rue de gare,« antwortete der Pompier und drückte den schweren, klassischen Helm wieder in die Stirn. Kläre wurde rot, doch lachen mußte sie auch und entgegnete:

»Ich danke Ihnen sehr, aber wir waren beide arg pressiert.«

Sie hatte ihre Unbefangenheit schon wiedergefunden. Ihre Augen blickten ihn voll an, sie konnte nicht anders, als jeden, der frisch mit ihr sprach, so voll anschauen, daß er sein Bild in dem dunklen, klaren Blau schwimmen sah.

8 Da rückte er sich zurecht:

»Jetzt bin ich gar nimmer pressiert, mademoiselle.«

Kläre bog den Kopf zurück. Ein Gefühl ihrer Würde überkam sie bei seinen dreisten Worten, obgleich sie sich nicht im geringsten beleidigt fühlte.

»Aber ich! Et disez madame, monsieur!«

Kaum hatte sie die französischen Worte ausgesprochen, fiel es ihr zweifelschwer aufs Herz: Sagt man ›disez‹ oder ›dites.

Da erwiderte er ungläubig, kleinlaut, galant, alles war in dem Ton, den er anschlug:

»›Madame‹ dites-vous? Das glaubt nur ein Blinder. Mais enfin – auch ich bin ja marié et père de famille.«

Dann machte er Honneur, auf französische Art, die Hand wagrecht, mit erhobenem Gelenk an den Helm haltend, einen ernsten, respektvollen Eindruck in den Augen, und schloß:

»Noch einmal mille fois pardon, madame.«

Kläre nickte hochmütig, und sie gingen auseinander, der Pompier treppauf, die junge Frau die Stufen hinunter, auf die Bahnhofstraße, die still und ungeschmückt im Schatten des Kirchhügels lag, von dem Glocken und Trompeten schallten.

Hier unten fand Kläre sich leicht zurecht. Während sie schnell an der Schmiede vorbei die Straße gewann, die zu dem Lindenwall hinaufführte, rief sie sich die Einzelheiten der seltsamen Begegnung zurück und entdeckte dabei nachträglich allerlei Züge, die ihr vordem entgangen waren. Ein ungewöhnlich sympathisches Gesicht war es 9 gewesen, nicht mehr ganz jung, in dem spitzgeschnittenen dunklen Bart ein paar weiße Fäden. Und wie kräftig er sie an sich gedrückt hatte! Sie spürte es ordentlich noch. Und nach Zigarettentabak hatte die Uniform gerochen. Ach Gott, Zigaretten, wenn sie nur wieder mal eine hätte! Aber woher? Georg rauchte ja nur seine schreckliche, qualmende lange Pfeife und dicke, schwarze Zigarren. Himmel, wenn er sie jetzt suchte! Er war sicher schon lange aufgewacht und kramte nun die ganze Wohnung nach ihr aus. Eine schöne Wohnung in dem alten Kloster. Nicht einmal eine anständige Dienstwohnung hatte ein Gymnasialdirektor in so einem dreckigen elsässischen Nest! In einem alten Nonnenkloster mit ellendicken Mauern, wo die Sonne kaum über das Fenstergesims kletterte, da hausten sie nun, und der Lärm erst, wenn Schule war! Na, schrecklicher als sie es sich vorstellte, konnte es nicht sein.

Sie mußte langsam gehen, denn die Straße stieg jäh hügelan. Schon lief statt des niedern Häuserkranzes, wo arme Tagelöhner wohnten, die alte Stadtmauer neben ihr her. Zerklüftet, grün übermoost, aber ungebrochen. Als sie an dem kleinen Tor ankam, das halb zerfallen nur Fußgängern Durchlaß bot, zögerte sie. Sollte sie hier hindurch? Sie erinnerte sich, daß Georg sie gestern abend durch diese Pforte geführt hatte. Da hatte eine trübe Laterne gebrannt, und sie waren in eine finstere Gasse gekommen und – nein, es waren noch ein paar Winkel gewesen, sie fand am Ende den richtigen Weg nicht und dort oben sah sie ja die Fenster des Klosters über die Mauern glänzen, noch hundert Schritte und sie 10 stand vor dem Pförtchen, aus dem sie sich vor zehn Minuten, oder war's gar eine halbe Stunde, hinausgestohlen hatte.

Aufatmend erreichte Frau Kläre die Schwelle. Aber vergebens tastete sie nach einem Drücker, einem Schlüssel. Ein rostiges Schlüsselloch gähnte sie an. Sie stemmte sich gegen das schwarze Holz, es wich und wankte nicht. Ratlos stand sie eine Weile und wagte nicht sich umzusehen, aus Furcht, es könnte sie jemand bei ihrem kindischen Tun beobachten. Und dabei hörte sie die getragene Marschmusik und ein unruhiges Lärmen und Laufen aus dem Dächergewirr vor ihr höher und heller aufbrausen, als kochte das ganze Städtchen von Leben und Jubel. Und sie stand hier draußen ausgesperrt vor der grauen Mauer unter den blühenden Linden, ein Summen und Dröhnen von schwärmenden Bienen um sie her und die zitternde, flimmernde Glut der Mittagssonne.

Mit den Fäusten schlug sie gegen die Türe, aber nicht einmal ein Widerhall antwortete. Nun blickte sie sich doch um. Durch das kleine Tor rannten ein paar weißgekleidete Kinder, hastig, als fürchteten sie zu spät zu kommen. Eine Wolke eiliger Tauben flog rauschend von der Vorstadt her über den Wall. Kläre wußte, daß sie den Weg zum Portal des Klosters in der Scherbengasse leicht hätte erfragen können, aber Trotz und Scheu hielten sie zurück. Hier wollte sie hinein, nicht durch das kleine, nicht durch das große Tor und mitten durch das Gewirr des Festes. Sie trat zwei Schritte zurück und rief zu den Fenstern hinauf. Schlafstube, Wohnzimmer, Salon und Küche lagen hier und schauten über die Lindenkronen 11 in das weite Tal, aber die Fenster waren geschlossen, ihre Stimme klang nicht an das Ohr der Magd, die hinter den roten Vorhängen in der Küche saß.

Da kam ihr ein Gedanke. Sie lief und las eine Hand voll Kiesel auf unter den Linden und begann nach dem Küchenfenster zu werfen. Ebensogut hätte sie nach dem Mond zielen können. Die Steine flogen nach allen Richtungen, sogar hinter sich schleuderte sie sie in blindem Ungeschick. Dabei mußte sie wieder lachen.

»Wenn Sie erlauben, helfe ich Ihnen, Fräulein!«

Kläre war gar nicht überrascht, nicht einmal befangen.

»Ach ja, bitte, so ein großer Junge, so ein junger Herr mein' ich, kann das viel besser,« antwortete sie lachend und außer Atem und drückte dem Helfer die letzten Steine in die Hand.

Er wurde rot und wieder blaß, preßte die Kiesel in der rechten Faust und zog mit der linken das weiße Strohhütchen, indem er sich ungelenk verbeugte und sagte:

»Mein Name ist Siegfried Höpfner, mein Vater ist Rentmeister in Larg.«

Kläre war's, als wäre sie in der Tanzstunde. Wie rührend ritterlich der Bengel war mit seinen fünfzehn oder sechzehn Jahren. Sie machte einen neckischen Knix.

»Danke, aber nun bitte, Herr Siegfried, wecken Sie mal den Drachen dort hinter den roten Gardinen. Ich muß hier hinein.«

Er wurde wieder rot und spürte, wie ihm das Herz klopfte, halb war's Ärger, weil sie ihn nicht voll nahm und seinen Vornamen zauste, halb ein beengendes Glücksgefühl, daß sie's tat. Und im Überschwang sandte er 12 drei, vier Kiesel auf einmal mit kräftigem Wurf gegen das Küchenfenster. Ein Prasseln, Klirren und Scherbeln, Kläre stieß einen erstickten Schrei aus, oben aber fuhr der schwarzhaarige Kopf ihrer Salome aus dem Fenster und eine schrille Stimme rief:

»Herrschaft noch eins, was für ein dreckiger Wagges ist das wieder gewesen!«

»Um Gottes willen, still, Salmele! Ich bin's. Mach auf!«

»Jesses Marie, Ihr sind's, Madame, jetzt wird's mir nimmer besser,« zeterte die Magd und schlug das Fenster zu. Eine Scherbe löste sich und sprang vor Kläre und dem Schützen in den Staub.

»Darin haben Sie Übung, das sieht man,« versuchte Kläre zu scherzen, indem sie leicht auf die Scherbe trat. Doch als sie sein unglückliches Gesicht sah mit den dunkeln Augen, die sie so schwärmend anblickten, da reichte sie ihm die Hand und fuhr fort: »Es war aber sehr lieb von Ihnen. Adieu, Herr Siegfried.«

Die Türe ging widerwillig knarrend auf, Salmeles rotbackiger Wuschelkopf erschien in der Öffnung, Kläre legte einen Finger auf den Mund, nickte dem Jüngling bedeutsam zu und eilte hastig an der Magd vorüber, durch den langen finstern Gang und über den kleinen Hof, wo im abgestorbenen Lindenstrunk ein paar Geranien blühten, ins Schulhaus.

Als sie die steinerne Treppe zum ersten Stock hinaufflog, hörte sie schon Hansjürgens Geschrei und jetzt ihres Mannes mächtige Stimme.

»Kläre, bist du's, zum Donnerwetter, wo hast du gesteckt! 13 Das fängt ja wieder gut an. Wenn das mein Feiertag sein soll!«

»Aber Georg, da bin ich ja schon. Schrei doch nicht so, denk doch mal, am Feiertag, und du hast doch so schön geschlafen!«

»Der Deiwel hat geschlafen, aber nicht ich. Gestern abend kommst du an, halbtot wie du sagst, und heute läufst du schon das ganze Nest ab. Und an deine Stellung, und wie sich sowas ansieht, da denkt dein Kindskopf auch nicht.«

Georg Kolb stand auf dem Podest zum zweiten Stock und schlug bei jedem Wort auf die gedrehte Eichenkugel, die das Treppengeländer krönte, daß es schallte.

»Aber du hast ja so recht. Daran hat er nicht gedacht, der Kindskopf,« schmeichelte Kläre und blieb schwer atmend auf der letzten Stufe stehen, ihm von unten in die Augen blickend.

»Gut, daß du's einsiehst,« antwortete er, aber sie sah, daß sein zornmütiges, rotbraunes Gesicht sich entwölkte. Er drückte die Brille mit Daumen und Mittelfinger dichter vor die Augen.

»Gott, Georg, du hast ja auch schon eine Masse weißer Haare, sogar im Schnurrbart.«

Es war Kläre noch nie so stark aufgefallen. Der buschige Bart auf der Oberlippe war ergraut, und das dichte schwarze Haupthaar, das widerborstig keiner Bürste gehorchte, silbern gesprenkelt.

»So? Na, in den sechs Wochen, die ich hier Strohwitwer gespielt habe, bin ich's nicht geworden,« brummte er, ließ sich von ihr am Arm nehmen und in den Korridor führen, den Hansjürgens Geschrei erfüllte.

14 »Aber Georg, das wäre doch nur nett von dir, denk mal: vor Sehnsucht,« plauderte sie lustig, immer bemüht ihn abzulenken und zu zerstreuen und rieb dabei die Backe am Ärmel seines schwarzen Rockes trotz des Geruches nach kaltem Tabaksrauch, der ihr stechend in die Nase kam.

»Übrigens hast du auch gesagt. Wer ›auch‹?« fragte er kurz.

»Ach, das erzähl ich dir später, jetzt kommt erst der Schreihals dran, der muß aber bei Salome bleiben, der kann nicht mit zum Fest, nicht wahr?«

Sie waren schon in Georgs Arbeitszimmer. Hansjürgen lag auf dem abgenutzten Teppich und schrie, daß man ihm in den Leib sehen konnte. Dabei trommelte er mit den Absätzen der kleinen Schuhe auf den Boden, und um ihn her flatterte ein Haufen zerrissener Hefte, auf deren vollbeschriebenen Seiten die roten Fehlerstriche leuchteten. »Na, du hast ihn ja prächtig beruhigt. So nett hat Papa mit Bubi gespielt, gelt!«

Sie hockte sich zu dem Kind. Es war schon verstummt und machte jetzt Anstrengungen auf die Füße zu kommen, die eben das Laufen gelernt hatten.

Und Kläre ergriff eines der Hefte und schleuderte es hin und her, daß es raschelte und rauschte wie von vielen Flügeln. Da krähte Hansjürgen hell auf. Kolb stand auf der Schwelle und sah auf sie nieder.

Er hatte vor einer Viertelstunde, als er aufwachte von Hansjürgens Geschrei und seine Frau in allen Ecken suchte, gewettert und geflucht, sich wieder einmal einen Narren gescholten, der mit grauen Haaren das junge Ding in 15 blinderVerliebtheit und weichherziger Großmut vom Totenbett ihres Vaters weg geheiratet hatte, aber jetzt war alles vergessen. Als ob er sie immer um sich gehabt hätte, als ob er sich nicht satt sehen könnte an ihrem schlanken Leib, ihrer Kindlichkeit und dem Kinde, das ihr Schoß geboren hatte, kaum daß sie sich dessen bewußt worden war. Und nun hatte er sie hier, losgelöst von der Basenschaft und dem Getratsch ihres Heimatstädtchens an der Pfälzer Grenze. Ade, Ladenburg, hier war sie seine Frau, ohne daß jeder die Vorgeschichte kannte, seine Jugendfreundschaft mit dem Seminardirektor Brettschneider, seine Patenschaft, und wie ihn die Kläre Onkel genannt hatte, bis sie seine Frau wurde.

Die Schulgewaltigen in Straßburg hatten ihm das Kommissariat der vom Progymnasium zum Gymnasium erhobenen Anstalt in Dornkirch mit dem Bedeuten übertragen, daß er hier, wo es eine feste Hand und geraden Sinn brauche, besser am Platze sei als in einer größeren Stadt. Zum Donner ja, er wußte, er war ihnen zu derb, zu rustikal, er hatte das Maul ohne ein Schloß dazu auf die Welt gebracht. Sein Vorgesetzter griente, als er ihm Glück wünschte zur Berufung, und meinte, der Direktortitel werde bald nachfolgen. Der Alte war froh gewesen ihn loszuwerden, der liebte laute Worte und hartköpfige Gesellen nicht. Und andere hatten ihm ihr Beileid ausgedrückt, weil er ins Exil gehe, nach Dornkirch, ins entlegenste Vogesental, wo jeder Preuß noch den Stank der Hölle mit sich brachte, wie die Hinterwäldler glaubten.

Was scherte ihn jetzt all das! Hier und nirgends anderswo. Und die Kläre, die strich schon durch das Städtchen 16 wie ein Vogel, der nisten will und – Herrgott im Himmel droben, jetzt war sie sein, und das sollte ein Leben werden, ein Schaffen, es hielt ihn nicht länger an der Türe, er ging hin und packte seine kleine Frau um den Leib, schwenkte sie hoch und stellte sie auf die Füße, indem er den Mund in ihr volles braunes Haar wühlte, das in krausen, goldigglühenden Fäden das zarte Gesicht umspielte. Der Junge hing sich an ihr weißes Kleid und zerrte an den gestärkten Falbeln.

Kläre hielt noch das Schulheft in den Händen, mit dem sie den Buben ergötzt hatte.

»Schorschle, du zerdrückst mich ja,« pustete sie und machte sich klein in seinen Armen.

»I wo, das hältst du aus,« antwortete er lachend.

Da machte sie sich frei, zog ein ernstes Gesicht und fragte: »Sag mal, heißt es eigentlich vous disez oder vous dites

»Aber Kläre, schämst du dich nicht! Was nützt dein guter Akzent, wenn du das nicht weißt,« entgegnete er. »Dites natürlich.«

Sie verzog den Mund, sie hatte sich also wirklich blamiert.

Und auf einmal fragte sie: »Sind die Hefte noch von früher oder von hier? Und kennst du einen Siegfried Höpfner?«

»Nanu, woher kennst du denn meine Obersekunda?«

»Ich, ach, weißt du, ich habe den Namen gehört. Auf der Post, ich habe nämlich eine Karte geschrieben. An Tante Frida. Und da war ein junger Mensch, der Beamte, der nannte ihn Siegfried Höpfner.«

17 Das war wieder einmal flott herausgeredet und ausgeschmückt. Ihr Witz machte ihr so Vergnügen, daß sie ihren Mann glücklich lächelnd anschaute.

»Du, das ist sonderbar,« urteilte Georg mit gerunzelten Brauen, »der Junge wird doch keine postlagernden Liebesbriefe empfangen.«

Mit roten Backen wandte sie sich ab:

»Unsinn, was du dir wieder zusammenreimst. So ein ekliger Schulpedant. Und wenn schon, laß ihn doch . . . .«

»Kläre, rede nicht! Nun wollen wir erst Kaffee trinken, dann ziehst du dich an, ordentlich, Handschuhe und Schirm und was zum Umnehmen. Der Kleine geht mit Salome auf den Lindenwall, da ist er gut aufgehoben.«

Er sagte es mit seiner lauten Pädagogenstimme, und Kläre ging.

»Komm, du Süßes!«

Im Nu hatte sie Hansjürgen auf dem Arm und rannte lachend aus dem Zimmer.

Kolb ließ Hansjürgens Schlachtfeld wie es war und setzte sich an den Schreibtisch, um das Protokoll der letzten Konferenz zu überlesen. Aber er war nicht bei der Sache. Klang Kläres Stimme, dann horchte er jedesmal auf. Wie still es während der sechs Wochen gewesen war, die er hier allein gehaust hatte, wurde ihm heute erst recht deutlich. Still und einsam. Als Hansjürgen an die Türe polterte und ihn zum Kaffee rief, klappte er eilig das Buch zu, wie ein Schüler, der Nachsitzen gehabt hat, und packte seinen Jungen beim Wickel. Kläre konnte kaum noch still sitzen, doch Georg blieb unerschütterlich. 18 Es sei noch zu früh. Nein, die Prozession sähe er sich nicht an, da könnten sie sich nicht als müßige neugierige Gaffer an der Kreuzgasse aufstellen, und an ein Fenster waren sie nicht geladen worden, weil Kläre noch nicht am Ort gewesen war; erst mußten Besuche gemacht werden.

»Aber das ist ja schrecklich, zu Hause war das ganz anders,« klagte Kläre.

Ungeduldig schob er die Tasse zurück.

»Darauf gebe ich gar keine Erklärung, das ist zu kindlich,« erwiderte er gereizt.

»Wieso denn?« sagte sie patzig.

»Dort, wo dich jeder kannte. Wenn wir nun von hier nach Ladenburg versetzt worden wären, kannst du dir denn die Sache nicht logisch umkehren?«

»Logisch, logisch!«

Wie sie das Wort haßte. Sie stand auf und räumte das Geschirr ab. Auf der Schwelle, mit dem Kaffeebrett in den Händen, die Tür mit dem Fuße haltend, daß sie nicht zuschlug, rief sie:

»Was nützt mir deine ganze Logik, wenn ich nichts davon hab!«

Da mußte er lachen.

»Nun mach dich nur fertig. In ein paar Wochen bist du in Dornkirch zu Hause wie in Ladenburg.«

»Wie in Ladenburg!«

Sie warf den Kopf zurück und lachte auch. »Nein, das glaub ich doch nicht,« kicherte sie dann und ließ die Türe hinter sich zufallen. Wie in Ladenburg, wo sie in den zehn Gassen und hundert Häusern jeden Stein kannte 19 und alle Welt Direktors Klärle verwöhnt hatte, wo sie jung gewesen war, sie dachte an die Briefchen, die ihr die Seminaristen geschrieben hatten, an die Konditorei hinter der Kirche, an den ›goldenen Sternen‹, wo sie den Vater so oft abends abgeholt hatte, – wie in Ladenburg, nein, so würde sie in Dornkirch nie zu Hause sein, das wußte sie besser als Georg. Aber sie unterhielt sich bei dem Gedanken und erwog, was ihr Dornkirch noch bescheren könnte. Dabei fiel ihr die Begegnung an der Kirche ein und ob die Kaufleute auch nett waren, mit dem gräßlichen Haushaltungsgeld ging's jetzt ja wieder los – – Endlich war es Zeit zu gehen.

Im Stadtwäldchen war eitel Lustbarkeit. Die Kirchenfahnen und Reliquien ruhten längst wieder an den Altären, der kirchlichen Feier war genug getan, der Abend des Patronstages gehörte weltlichen Freuden. Hinter den schwarzblauen Bergen sank die Sonne in einem Feuermeer in die Tiefe. Die Scheiben von Dornkirch brannten und leuchteten in purem Gold und ein roter Schein lief über die Täler, färbte den Fluß und den Wald, daß das Wasser wie dunkler Wein dahinfloß und die Bäume violette Blätter trugen.

Die ›Fanfare‹ spielte. Auf dem großen Wagen, mit dem die Bierfässer herausgefahren worden waren, hockten die Musikanten eng gedrängt, nur die große Trommel hatte nicht mehr Platz gefunden und der Pauker lief mit dem ungeschlachten, buntbemalten Instrument immer noch um das Gefährt herum, um einen Standpunkt zu finden, von dem er den Stab des Dirigenten sehen konnte. Das wollte ihm nicht gelingen, so oft er auch schon den Wagen 20 umkreist hatte. So hieb er denn aufs Geratewohl auf das Kalbfell, und das gab dem Walzer, den sie bliesen, etwas Kriegerisches und Aufregendes. Auf dem Kutschbock hatten sie die grüne Vereinsfahne aufgepflanzt. Die goldene Lyra an der Spitze funkelte, und die weißroten neuen Seidenschleifen, die an der Leier befestigt waren, flatterten im Abendwind. Wenn eine Bewegung den schweren Wagen erschütterte, klirrten die Medaillen am Fahnenschaft. Auf der leeren Deichsel ritten ein paar Kinder den Walzertakt, daß die Röcke flogen. So oft sie herabgescheucht wurden, sie kamen immer wieder wie die Spatzen in die Erbsen.

»Weißt du, Kläre, eigentlich hätten wir wegbleiben sollen. Es ist kein Mensch von uns da. Und die Kerle gucken einen an, als wollten sie sagen: Ist das eine Frechheit!«

»Ja, aber warum denn?«

»Die sind hier unter sich. Fehlt nur noch die Marseillaise,« brummte Kolb.

Sie gingen den Waldpfad an den langen weißen Tischen und Bänken entlang. Dicht gedrängt saßen die Dornkircher und tranken. Andere lagen auf dem Waldboden und am Wiesenhang, hemdärmlig, die Frauenzimmer in hellen Kleidern, alle heiter und guter Dinge. Da und dort flackerte ein vom Wein erhitztes Stimmengewirr auf, dann rannte einer von den Pompiers herbei und tat, als müßte er löschen. Die goldenen Lichter des Abends zuckten über sie hin, und von den Matten schwoll der Duft des Emdes. Wo die Gruppen spärlicher wurden, scheue Pärlein saßen und die Musik nur noch leise klang, da zirpten die Grillen.

21 »Außer dem Gendarm seh ich keinen einzigen Deutschen, und der sitzt dort hinten auf dem einsamen Aussichtsbänklein und tut, als wäre er gar nicht vorhanden.«

Kolb zog seine Frau unwillkürlich immer weiter weg von dem Festtreiben.

Er ärgerte sich über sich selbst. Er hätte Kläre widersprechen sollen, als sie gestern abend erklärte, das Fest müsse sie besuchen, von dem schon die Glocken am Tage vorher eine halbe Stunde lang Kunde gäben. Aber er hatte wirklich im Augenblick selbst nicht daran gedacht, daß da Zurückhaltung geboten war. Erst jetzt kam ihm diese Erkenntnis, und er schritt schneller aus. Kläre blickte heiter in das bunte Gewühl. Am liebsten wäre sie an einem Tisch gesessen, wo es recht lustig zuging. Dann wünschte sie im Grase zu liegen und in die Sonne zu blinzeln, etwas Süßes im Munde und ein paar nette Menschen um sie her.

Auf einmal wurde sie still. Sie waren schon weit ab von den andern. Der Wald lichtete sich, ein reifes Kornfeld wuchs hinter einer Hecke auf, die Grillen zirpten betäubend. Vom Lärm der Fröhlichen, vom lauten Klang der ›Fanfare‹ drang kaum noch ein verlorener Nachhall hierher.

Kläre war stehen geblieben und ließ die Hand aus dem Arm ihres Mannes gleiten.

»Ich setze mich ein bißchen, so hier am Rand ins Korn.« Sie sprach ganz leise, wie für sich und warf ihre Mantille ins Gras und den Schirm dazu.

»Kläre, was fällt dir ein! Komm, dort hinten treffen wir auf die Landstraße, da gehen wir bequem zurück ohne noch mal an dem Juchhei vorbei zu müssen.«

22 Aber sie hörte nicht, erklomm den Rain und drängte sich in das knisternde Korn.

»Kläre, so eine Unvernunft, und noch in die Frucht hinein!«

Er haschte nach ihr, aber sie hatte sich schon niedergekauert in die Ähren, die Hände unter dem Nacken gekreuzt und schaute in das ersterbende Farbenspiel des Himmels. Eine Grille, die erschreckt verstummt war, fing wieder an zu zirpen, ganz dicht an ihrem Ohr.

»Kläre, was ist das für eine kindische Schrulle! Gleich kommst du mit.«

»Laß mich liegen, nur ein paar Minuten, geh ein bißchen weiter, ich möchte mal so liegen dürfen, es sieht's ja niemand.«

Das kam leise, müde von ihren Lippen, wie vor dem Einschlafen. Und das traf eine weiche Stelle, Kolb kannte den Ton von langer Zeit, er gab nach.

»Fünf Minuten, nicht länger. Ich gehe hundert Schritte und wieder um. Hoffentlich kommt niemand und sieht die Frau Direktor da strauchdieben.«

»Wer sollte denn kommen?«

Er hatte die Worte nicht gehört, sie fielen wie im Traum von ihrem Munde, der dabei sehnsüchtig lächelte. Sie schloß die Augen. Das bunte Farbenspiel blieb unter ihren Lidern gefangen, am Himmel losch es langsam aus.

»Strauchdieben,« murmelte sie nach einer Weile. Das Wort hatte ihr gefallen. Dann lag sie und atmete tief. Das gedrückte Korn knisterte unter ihr, unermüdlich geigten die Grillen. Sie hörte Georgs entfernte Schritte und 23 plötzlich ein Geräusch hinter der Hecke, eine Bewegung wie von einem Tier. Da erschrak sie und richtete sich hastig auf, ihr Herz hämmerte, eine große Angst überfiel sie und laut rief sie den Namen ihres Mannes.

»Warum rufst du denn? Hier bin ich ja. Komm doch.« Es war auf einmal dunkel geworden, sie sah alles anders, große Schatten, und es war als atmete dieses Dunkel warm und hörbar. Jetzt sah sie Georg auf dem Feldweg stehen, seine Gestalt schien riesengroß und wuchs schwarz über die Äcker in den hellen, schimmernden Himmel. Aber sie konnte nicht aufstehen, nicht zu ihm hin, sie saß aufrecht, mit aufgestützten Händen und rief noch einmal, sie glaubte zu schreien, aber es klang ganz leise.

Da kam er die paar Schritte zurück.

»Nun muß ich dir wohl noch auf die Beine helfen,« sagte er mit gutmütigem Spott und zog sie in die Höhe.

»Ach Gott, Schorschle, da ist was gewesen hinter dem Busch, ich bin furchtbar erschrocken,« versetzte sie kleinlaut.

»Ein armer Has, der sein Nachtquartier sucht,« antwortete er und schlug mit ihrem Sonnenschirm auf die Heckenrosen. Nichts regte sich. Sie gingen weiter. Der zerfurchte Ackerweg mündete in die alte Römerstraße, die quer über den Hügel lief, entfernte Täler und Kastelle verknüpfend. Kolb erklärte das seiner Frau.

»Sieh mal,« begann er in gesetzter Rede, »wie solid das noch ist. Weiter nach Süden findet man stellenweise noch den harten Fliesenbelag. Hier haben römische Troßkarren Staub gemahlen, bis die Alemannen die Grenze überschwemmten. Dornkirch war unzweifelhaft eine 24 römische Niederlassung. Die Kirche steht auf den Fundamenten einer Wachtburg. Es war wohl auch ein wichtiger Punkt in der großen Talsenke; hier herum hat sich Cäsar mit den Galliern und den Germanen des Ariovist geschlagen, genau läßt sich das nicht bestimmen. Die Hauptschlacht war ja mutmaßlich weiter nordöstlich, zwischen Thann und Ensisheim. Auch später hat's hier noch manchen Strauß abgesetzt. 1870 ging's stiller zu. Da rückten die Franzosen, als sie von den großen Schlägen bei Wörth und Spichern hörten, gleich aus und konzentrierten sich rückwärts. Hier müssen sie mit der Bahn und auf der großen Landstraße vorbeigehastet sein, was das Zeug hielt. Konnten auch nichts Gescheiteres tun, sie standen in der Luft, so 'ne verzettelte Division. Hätten sie hier stand gehalten, wären wir ihnen am Ende noch über die Hucke gekommen aus dem Schwarzwald heraus. Viel später, im November bin ich dann mit hier durch nach Belfort. Nachts, in einem Regen und einem Dreck, daß einem die Augen und die Stiefel volliefen. Ich hab das Nest gar nicht gesehen, nur an den Bahndamm erinnere ich mich, an dem wurde gerade bei Pechpfannen geflickt, und an der Brücke hatte sich der Train verfahren. Da krochen wir über und unter den Wagen durch. Das sei für die alten Knickstiefel von der Landwehr Wegs genug, meinte einer von der Etappe. Na, dem hat's unser Alter besorgt. Die Brücke war frei, ehe eine Stunde um war. Was nach uns kam, marschierte durch verschüttetes Mehl und kam mit Teigstiefeln ins Biwak.«

Er lachte behaglich vor sich hin und drückte Kläres Arm fester. Da fuhr sie auf.

25 »Sag mal, du hast wohl gar nicht zugehört! Du döst ja,« sagte er erbost und versuchte ihr ins Gesicht zu blicken.

»Doch, die ganze Geschichte von den Römern und vom Krieg, ich hab alles gehört.«

Sie beteuerte es eifrig und bog den Kopf zurück, damit er ihr die Überzeugung, daß sie wahr gesprochen, vom Gesicht ablesen könne. Doch es war schon zu dunkel geworden, er sah nur das feine Oval und tat das übrige dazu, den Blick der Augen, ein ganz klein bißchen schielend, wenn sie so den Kopf auf die Seite neigte, um ihn anzublicken, und das Grübchen in der linken Backe.

»Das wär auch noch schöner. Jetzt, wo wir gerade in dieses Nest gekrochen sind, sechzehn Jahre nach der großen Zeit,« grollte er leise.

»Wenn's einem nur gefällt in dem Nest!«

Kläre hatte es hastig hervorgestoßen.

»Nanu, du warst doch so entzückt davon heute mittag.«

»Ja, das war ich, aber, Gott, man weiß doch nicht.«

Sie brach ab und ging stumm weiter. Georg Kolb nagte am Schnurrbart und starrte auf die schwarzen Dächer, die sich vor ihnen mit scharfen Linien wie aus Papier geschnitten in den klaren Nachthimmel erhoben. Vom Waldsaum auf der Höhe blitzte ein flüchtiges Rotfeuer und zuckte einen Augenblick über einem dunklen Teich, der in einer Mulde dicht vor ihnen schlief. Die Musik war verstummt. Die Straße senkte sich, ein Rinnsal gurgelte im Graben, sie näherten sich dem Städtchen.

»Was ist das?« fragte Kläre.

Vor der Stadtmauer, abseits der Straße, lag ein Haus 26 in einem gepflegten Park. Ein Gitter zog an ihnen vorüber, die großen Fenster warfen ihren Lichtschein über schwarzschimmernde Beete.

»Da wohnt der Besitzer der Spinnereien, Herr Haury. Die Fabriken am Kanal. Wenn man von unserm Schlafzimmer ins Tal hinunterschaut, sieht man sie.«

»Wer's auch so schön hätte, da läßt es sich besser aushalten. Der kann doch mal weg, wenn er will, nach Paris und so.«

Ihre Stimme klang lebhaft, sie war wieder Leben und Bewegung und wandte den Blick nicht von den erleuchteten Fenstern, so lange sie am Parkgitter entlanggingen.

»Ja, so gut haben wir's eben nicht. Dafür haben wir aber vieles andere, Kläre.«

Wenn Georg nur jetzt nicht eine Rede begann über feierliche Dinge. Gewöhnlich fing er so an. Sie konnte jetzt nichts hören von Lebensaufgaben, von der besonderen Pflicht, die jeder Deutsche hier hatte, und ging unwillkürlich rascher. Aber Kolb schwieg.

Sie kamen an niederen Häuschen vorbei, an einer Schenke, Gassen stießen zusammen, sie waren im Städtchen und stiegen die Rosengasse hinan. Es war alles wie ausgestorben, nur die Juden saßen auf den Bänken vor ihren Häusern, und an einem Brunnen standen zwei Mägde und füllten die Eimer.

»Da kommt Menzel, der Kreisbote, und holt Wasser. Der Mann hat sieben lebendige Kinder.«

Im Lichtschein der Laterne hatte Kolb den kleinen Mann erkannt, der mit seinem großen Eimer zum Brunnen ging.

27 An der Ecke der Rosengasse und der Kreuzgasse mußten sie inne halten vom jähen Aufstieg. Die breite Kreuzgasse duftete nach welkenden Blumen und Weihrauch. Ein schwerer Geruch wie in einem Sterbezimmer, wo die Blumen gehäuft liegen.

»So, nun sind wir zu Hause, noch über den Rinnstein und am ›Ochsen‹ vorbei, dann sind wir in der Scherbengasse.« Er hatte das Gefühl, als müsse er seine Frau über den Augenblick wegtrösten. Da wurde es plötzlich hell über ihren Köpfen, ein Knall kam aus der Höhe, sie blickten auf, und Kläre flüsterte:

»Leuchtkugeln.«

Am Wald brannten sie ein Feuerwerk ab, eine Rakete war über das Städtchen geflogen, langsam, lautlos sanken die stillen, bunten Lichter auf die schlafenden Dächer. Keine zweite erschien, nur ein fernes Knattern verriet, daß draußen noch andere Feuerkünste gelöst wurden. Dann wurde es ganz still.

Georg und Kläre waren stehen geblieben. Er mußte lächeln über ihr glückliches Staunen.

»So, nun hast du noch was Extraes gehabt,« scherzte er, und sie gingen die Scherbengasse hinunter. Da war die lange, weiße, im Dunkel schimmernde Mauer des Gymnasiums mit den vielen kleinen Fenstern. Kolb schloß die Türe auf. Als die Schelle anschlug, erschien das Salmele mit der Küchenlampe auf dem obern Podest.

»So, bis nachher, Kläre, ich geh noch mal in den ›Ochsen‹, das gehört hier zu den heiligen Gebräuchen.«

Hansjürgen schlief fest. Der Duft der Lindenblüte kam zu den offenen Fenstern herein. Kläre lehnte sich hinaus. 28 Am Himmel war geschäftiges Treiben von zarten Wolken, durch die die Sterne blinzelten. Das Rauschen das Wassers an der Kanalschleuse war deutlich zu hören. Unten in der Vorstadt ein paar verlorene Lichter, dahinter zerfließende, dunkle Weite. Und jetzt ein funkelnder Wurm, der sich rotäugig, mit blanken, gelben Schuppen durch das Tal wand, der Pariser Eilzug, der drüben Felder und Straßen schnitt und hinter den Häusern verschwand, einen grünen Phosphorschimmer im Gefolge.

Aus den Lindenkronen stieg's süß empor, Kläre glaubte Schritte zu vernehmen und beugte sich über das Gesims, um den Fahrweg überschauen zu können. Ein schmaler Schatten wandelte dort, blieb stehen, und wenn sie sich nicht täuschte, blickte jemand zu ihren Fenstern herauf. Aus dem Gewölk sickerte stärkere Helle, da trat sie schnell zurück. Das hätte ja doch fast ausgesehen, als spielte sie in einem Stelldichein mit. Aber die schwermütige Stimmung war von ihr gefallen, und nach einer Weile spähte sie vorsichtig noch einmal hinunter. Jetzt hatte sich ihr Blick geschärft. Die schlank emporgeschossene Gestalt, das Strohhütchen – das war ja Siegfried, ihr Drachentöter. Mit einem Lächeln, das ihr Gesicht ganz morgenfrisch erscheinen ließ, ging Kläre in die Küche. Da war eine Fensterscheibe ausgeschlagen, eine zweite hatte einen Sprung.

»Salmele, das müssen wir gleich machen lassen, eh's der Herr sieht.«

Das Salmele lachte über das gutmütige Gesicht. In Bestellungen und Sachen, die den Herrn nichts angingen, wußte es Bescheid, schon von Ladenburg her.

29 Als eine Stunde später mit lautem Lärm ein Trupp Vorstädtler, die vom Waldfest kamen, den Lindenweg hinabzog, verwob Kläre ihre wilden, lustigen Stimmen in ihren ersten Traum, und Hansjürgen, den sie in alter, übler Gewohnheit aus seinem Bettchen zu sich genommen hatte, wühlte die Nase tiefer in die Spitzen ihres Hemdes. Sie schlief mit nackten Armen, denn die Abendsonne hatte im Zimmer genistet und warm und wohlig ging der Atem der Sommernacht. 30

 


 


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