Hermann Stegemann
Die als Opfer fallen
Hermann Stegemann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V.

Unruhig ging Frau Amélie von einem Zimmer ins andere, stand bald hinter dem Ladentisch und bediente die Kunden mit der gewohnten freundlichen Güte, die sie fast als Schenkende erscheinen ließ, und trat dann wieder auf die Schwelle, um die Gasse hinunterzuspähen. Aber er kam nicht. Frostfäden überspannen mit silbernen Netzen das Pflaster, die Adventglocken läuteten vom Münster, und in der Winterstille dröhnte der dunkle Hall des alten Geläutes in ihren Ohren, daß ihr das Blut in den Schläfen hämmerte. Drüben bei Brunschwigs saß Mamsell Ernestine hinter den Doppelfenstern und nähte. Ob die vielleicht wußte, wo er war? Sie war gestern in Mülhausen gewesen und hatte Zutaten zu ihrer Schneiderei eingekauft, vielleicht war sie Ferdinand begegnet.

Aber Amélie scheute sich, sie zu fragen. Eben, als sie die Türe wieder schloß, kam der Notar um die Ecke der Scherbengasse, und noch ehe er die Richtung quer über die Gasse auf das Haus zu genommen hatte, wußte sie, daß er den Caissier suchte.

Da ging sie hastig durch das Wirrsal der 118 Weihnachtswaren, das ihr kaum einen Weg freiließ, und eilte, vor ihm in das Kontor zu gelangen. Der Kommis saß über den Büchern und kaute an einem Apfel. Es roch nach Zigarettenrauch und feuchten Kleidern.

»Monsieur Louis, habt Ihr Ordres für den Notari?« fragte sie noch atemlos vom Aufstieg.

»Non, madame,« erwiderte er gleichgültig und würgte an einem großen Bissen.

Ehe sie noch Klarheit in ihre Gedanken gebracht hatte, stampfte Maître Ramspacher herein.

»Ach, Madame Amélie, quelle chance! Comment allez-vous?« röchelte er und setzte sich mit einer entschuldigenden Gebärde auf den nächsten Stuhl.

»Ihr solltet die Stiege nicht so hinaufspringen,« antwortete Amélie und vergaß ihre Angst, als sie ihn mühsam nach Atem ringen sah.

Er winkte abwehrend mit der Hand. Nach einer Weile sagte er:

»Springen, Madame Amélie! Das gibt's nicht mehr mit einhundertzwanzig Kilo.«

»Und noch dazu um nichts, car Ferdinand est absent!«

»Absent! Ihr wollt mich posieren machen! Nous avons des comptes à régler.«

Er knöpfte den Mantel auf und suchte in der Tasche des schwarzen Rockes nach Briefschaften.

Da trat sie dicht zu ihm.

»Pour sûr, qu'il est absent. Aber er muß jede Stund heimkommen.«

»Ja, wo steckt er denn wieder, der nigaud?« fragte der Notar und lachte geräuschvoll.

119 Amélie schwieg, zuckte die Achseln und bemühte sich zu lächeln.

»Ta–ta–ta,« machte Ramspacher und klopfte ihr mit der Brieftasche auf den Arm. »Ihr müßt ihn fester am Bändel halten, Amélie, die Sinniger sind immer die ersten gewesen, wo in Dornkirch andern die Nester herunterkeijen.«

Jetzt bemerkte er den Kommis, der durch das Gitter der Schalterkasse grinste und die roten Ohren reckte, um kein Wort zu verlieren.

»He, Louis, mon garçon, sitzet ein wenig auf Eure Ohren, sonst wachsen sie Euch noch zu Scheuertoren an,« rief er mit seiner fettigen Stimme und erhob sich mächtig vom Stuhl. Louis knickte zusammen. Die Frau erschrak, und als fürchtete sie, der Notar möchte etwas Feindliches tun, ergriff sie seine Hand und flüsterte:

»Kommt morgen wieder, oder nein, der Nandi kommt zu Euch. Er ist in großen Affären nach Mülhausen,

»Ja, ja, dem Nandi seine Affären –« er brach ab. Früher hatte die Frau den Scherz nicht übel genommen, jetzt zuckten ihre Lippen, und die Finger, die auf seiner Hand lagen, waren kalt wie Eis

»Allons, allons, macht Euch kein bös' Blut, Madame Amélie. Der Nandi ist mir gut für die billets, zahlt er heute nicht, zahlt er morgen. Und wenn er seine Lust gebüßt hat, kommt er Euch wieder, vous le savez bien.«

Seine Stimme hatte keinen Klang, wenn er leise sprach, es war ein tonloses Glucksen, das zum Lachen reizte, aber Amélie hörte nur den freundlichen Zuspruch heraus.

120 »Merci vielmals, Monsieur Ramspacher,« erwiderte sie und ließ es geschehen, daß er seine dicken Finger einen Augenblick in die Öffnung ihres Ärmels schob und ihren Arm streichelte.

Auf der Treppe drückte er noch einmal zärtlich ihre Hand und blickte sie mit schwimmenden Augen an.

»Er ist ein imbécile, der Nandi. Das Amélie Sütterlin ist das sauberste Maidle von Dornkirch gewesen und heut noch – ha, si j'osais!«

Die dicken, glatten Wangen seines rasierten Gesichtes hatten sich noch dunkler gefärbt, die grauen Tränensäcke hingen voll dumpfer Wünsche.

Da sagte Amélie ruhig, mit einem sanften Lächeln:

»Pensez donc, Monsieur Ramspacher, ich hab vier Kinder. Und es ist mehr als genug, wenn eins von uns beiden nebenaus geht.«

»Compris, compris, Amélie, Ihr seid ein modèle von einer Frau. Und ich bin ein alter Schaute. Ja, wenn sell nicht wär, qui sait!«

Noch einmal tat er zärtlich, aber diesmal harmlos und gebändigt.

»Oui, qui sait,« nickte da die Frau mit einem schelmischen Zucken der Lippen, das ihr mageres Gesicht plötzlich verjüngte und sie mädchenhaft erscheinen ließ im Halbdunkel des Treppenhauses. Und der Notar stieg langsam, jedesmal fest auftretend, die Stufen hinab, immer noch vor sich hinmurmelnd, daß sie es hören konnte: »Ein modèle von einer Frau, aber wenn sell nicht wär, qui sait!«

Dann rief er noch ein letztes Bonjour hinauf und öffnete 121 die Haustür. Und die Rolle, die über das Gewichtsseil lief, quiekte hinter ihm drein wie ein getretenes Ferkel.

Noch eine Stunde, und es litt die Frau nicht länger im Hause. Sie schickte die Magd zu den Kindern, die in der Wohnstube tollten, und überließ der Therese, die während der strengen Geschäftszeit zur Aushilfe kam, den Laden.

Es war zwischen Tag und Dämmer, als sie bloßen Kopfes die Rosengasse hinunterging. Um diese Zeit war das Café Mousson leer. Amélie durchschritt rasch den Saal und öffnete die Tür neben dem Büfett, wo das Trepplein mündete.

»Bleib oben, ich bin's,« rief sie und tastete sich die schmalen Stufen hinauf in die Kaffeeküche.

Josephine hatte sich die Haare gebrannt und stand noch im Leibchen und Korsett, die Bluse in den Händen, unter der Hängelampe, die den dunklen, fensterlosen Raum erhellte.

»Du bist's, Amélie, das ist ja ein Mirakel,« begrüßte sie die Frau.

Amélie sah die runden, weißen Arme und die feinen Spitzen des Hemdes, und ein Schwall von Bitterkeit stieg ihr zum Munde. Es war bald dreißig Jahr, das Phinele, aber noch war sein Fleisch voll und sein Gesicht glatt.

»Ja, Phinele, das ist auch ein Mirakel. Und jetzt sag mir, weißt du, wo der Nandi ist?«

Josephine hatte die Bluse wieder über den Stuhl gehängt.

»So komm doch erst in die Stube, Cousine,« antwortete sie und ging voraus.

122 In der Stube brannte Feuer und gaukelte über das gewichste Parkett, blitzte in den alten, bauchigen Möbeln und scheuchte das Tageslicht, daß es fahl an den Fenstern hinzog auf der Flucht vor der Flamme und dem Dunkel in den Ecken und Winkeln des überfüllten Zimmers.

»Ich habe keine Zeit, Phinele, vite, sag mir, ob du's weißt.«

»Ich? Du bist einmal kurios! Mir sagt er's nicht.«

Sie war vor den Stehspiegel getreten, obwohl sie kaum ihre Gestalt spiegeln konnte im Zwielicht, und steckte die Haarkämme anders. Der Feuerschein lief über ihren seidenen Unterrock und glänzte auf ihren Armen.

»Allons, Phinele, mach nicht die Kuh mit mir! Siehst du, es macht mir nichts, daß er dir nachstreicht. Du weißt ihn zu nehmen und vom Rock zu klopfen wie Mehl. Du bist's nicht, die mir ins Nest tritt. Aber sag, weißt du, wo er hin ist?«

Da drehte sich Josephine um.

»Er hat mir nichts gesagt, aber Ernest, Monsieur Haury, meint, er wäre nach Basel, des affaires an der Börse, oder so etwas.«

Nur einen Augenblick war sie verwirrt gewesen, als ihr Haurys Vornamen entglitten war, aber sie hatte sich rasch wieder gefaßt und ruhig weitergesprochen.

»Voilà, ich hab's kommen sehen.«

Die Worte fielen schwer von Amélies Lippen. Nach einem kurzen Schweigen raffte sie sich auf.

»Merci, Phinele, ich geh jetzt wieder. Wenn er zuerst zu dir ins Café kommt, schick ihn heim. Er geht, wenn du ihn kommandierst.«

123 »Ça, oui,« lachte das Mädchen.

Ein scharfer Klingelton kam aus dem Nebenzimmer.

»Deine Mutter. Was macht sie?« fragte Amélie, während sie in die Küche gingen.

»Oh, wie immer. Man legt sie an, und sie sitzt den ganzen Tag in ihrem Sessel und macht keinen Mucks. Nein, lieber nicht,« fuhr sie fort und hielt Amélie zurück, die unwillkürlich einen Schritt ins Zimmer hinein getan hatte. – »Sie kennt dich doch nicht. Sie ist jetzt ganz verkindischt, und der Doktor meint, das könn' noch lang gehen.«

»Pauvre femme,« sagte Amélie, und dabei dachte sie an jene, die gelähmt, ein Haufen Elend, im Sessel saß, und an sich selbst!

»Sie weiß ja von nichts, das ist ein Trost,« versetzte die Tochter. »Den Vater hat's anders geworfen vor zwei Jahren, wo er den Brand gehabt hat im Bein und hat müssen daran hingehen.«

Ein kalter Ernst lag auf ihrem Gesicht.

»Bon soir, Phinele, ich find den Weg, das Café ist ja noch leer.«

Amélie war schon auf der Treppe, da rief ihr Josephine nach:

»Wart, noch eins!«

»Was ist?« fragte die Frau, und ihre Stimme klang erregt.

»Nichts von deinem Nandi,« erwiderte das Mädchen spöttisch. »Aber, daß du's weißt und für dich behältst: Es ist aus zwischen uns.«

»Zwischen uns?«

Amélie stieg die Treppe wieder hinauf.

124 Da stand Josephine Mousson noch mit nacktem Hals und nackten Armen, ein wildes Schluchzen, Zorn und Schmerz in der Kehle, das sie nicht niederwürgen konnte, und starrte die Frau mit großen, angstvollen Augen an.

»Mon Dieu, Josephine, was ist dir!«

»Amélie, Amélie, il me quitte!«

Es war ein Schrei aus einem Herzen, das lange geschwiegen hatte und niemand wußte, dem es sich anvertrauen konnte. Und das brach jetzt aus mit einer furchtbaren Gewalt. Die nackten Arme klammerten sich um Amélies schmale Schultern, das zuckende Gesicht wühlte sich an ihre Brust, und so standen sie, und die Frau hielt das Mädchen umfaßt und starrte still über die schönen, kunstvoll gebrannten Haare in die unruhige Flamme des Ofens, die zu ihnen herübergaukelte.

»Il me quitte, Amélie, ich hab es schon lange gespürt und mich gewehrt und es nicht sehen wollen. Er hat mir alles versprochen, er hat keine andere gehabt, und ich hab ein Jahr ums andere gewartet und gemeint: er macht's wahr, er heiratet mich. Und jetzt ist's aus. Il me quitte, Amélie, il me quitte!«

Und wieder schluchzte sie in wütendem Weh, das sie sehüttelte und ihr die Zähne aufeinander schmiedete, fliegende Schauer über den Leib jagte und die nackte Brust und die blanken Arme mit eisigem Atem kühlte. Als Amélie ihr sanft über den Nacken strich, war es ihr, als glitten ihre Finger über rauhen Schorf.

»Grein dich aus, schrei's dir herunter, was du da drin verstockt sitzen hast, armes Maidle, sie machen's alle gleich, die Männer, de sauvages - va!«

125 Und aus Amélies Augen liefen zwei Tränen und krochen in das Haar des Mädchens, wo sie funkelnd sich verloren.

»Moi Madame Haury, das Phinele Mousson, quelle idée!« lachte es krampfhaft, und dann fing es an zu wimmern, und seine Arme lockerten sich, es drohte langsam auf den Boden zu gleiten.

Die schwachen Kräfte der Frau hielten die Fassungslose fest, und Amélie zog mit dem Fuße den Schemel heran und setzte sich vorsichtig nieder, ohne das Mädchen aus den Armen zu lassen. Das Weinen wurde leiser, die Tränen flossen leichter. Lang hingeworfen lag Josephine in Amélies Schoß, und von dem selbstbewußten Mädchen war nichts mehr übrig als ein schluchzendes, müdes Geschöpf, das sich von der Frau, die ihren Mann bei ihm gesucht hatte, wiegen und trösten ließ.

Sie sprachen nicht mehr, Amélie hatte die Augen geschlossen und wartete ruhig mit schmerzendem Rücken, hörte das Feuer auf dem Herd und drüben im Ofen knistern und sah durch den Wimpernspalt rote, zuckende Lichter.

Das Mädchen lag jetzt unbeweglich und weinte nicht mehr, nur zuweilen erschütterte ein wildes Schluchzen seinen ganzen Leib. Und auch das wurde seltener, und dann ein tiefer Atemzug und Josephine richtete sich in die Höhe.

»Amélie,« stammelte sie.

»Still, Phinele, c'est fini maintenant.«

Sie verschloß ihr den Mund mit der Hand und lächelte ihr tapfer zu.

126 Oui – fertig,« antwortete es mit vom Weinen heiserer Stimme und stand auf.

»Brauchst du mich noch?« fragte Frau Amélie.

Da schüttelte das Mädchen den Kopf.

»Nein, jetzt nicht mehr.«

Ein verschämtes, dankbares Lächeln quälte sich um den zuckenden Mund, in den die Zähne rote Male gebissen hatten.

»Eh bien, auf ein ander Mal,« nickte ihr Frau Amélie zu, und auch um ihre blassen Lippen zuckte der Schatten eines Lächelns.

Dann tastete sie sich hastig die Treppe hinab. Als sie auf die Gasse trat, lag eine weiße Decke auf dem Pflaster, und große Flocken, ganze Fetzen lockeren Schnees sanken zwischen den Häusern zu Boden. Sie blickte überrascht in die Höhe, in ein graues, lautloses Gewimmel, das die Luft erfüllte und die Dämmerung mit herabbrachte aus der Höhe. Schon nistete er sich feucht und kühl in ihr bloßes Haar.

Da kam ihr der Gedanke, Ferdinand sei heimgekehrt, eine Stunde war sie gewiß fortgewesen. Pour sûr, er war da. Er mußte da sein, und mit heißen Backen lief sie heim und trat die ersten Stapfen in den weichen Schnee. An der Ecke wandte sie noch einmal den Kopf. Im Café Mousson brannten die Gasflammen. Josephine ließ gerade die Rouleaus herab.

Auch im Basar Sinniger zirpte das Flämmchen, und im Hintergrunde des Ladens verbreitete eine Lampe, die nur an großen Tagen angezündet wurde, ein mildes Licht. Amélie stampfte die Schneestollen von den Absätzen und 127 fragte die Therese, ob ihr Mann gekommen sei. Als das Mädchen verwundert über die Frage den Kopf schüttelte, fiel ihre ganze Aufregung in sich zusammen. Stumm ging sie zu den Kindern, bündelte das Phinele, schneuzte den Jacqui und sah dann im Kontor nach, ob alles wohl verschlossen war. Der Kommis hatte Feierabend gemacht. Sie war allein. Vom Aktenschrank glänzte Ferdinands Pompierhelm.

Zwei Tage krochen ins Land, der Schnee lag fußhoch, und jetzt fuhr der Eiswind mit scharfem Besen darüber hin und glättete die Fläche, stäubte diamantene Wehen auf und häufte an den kahlen Hecken rings um die Stadt glitzernde Hügel. Eine kalte Sonne malte bläuliche Schatten in die weiße Landschaft und hing funkelnde Eiszapfen an die Dachtraufen.

Da kam Ferdinand Sinniger heim. Am Abend mit dem letzten Schnellzuge, der in Dornkirch nur hielt, wenn jemand dort ausstieg. Am Bahnhof war außer dem Beamten kein Mensch. Ferdinand fror in seinem leichten Überzieher. Der Wind sang in den Telegraphendrähten und blies ihm durch die Kleider. Alles erschien ihm fremd, als wäre er Jahre fortgewesen. Und dann überkam ihn ein de- und wehmütiges Gefühl. Siebentausend Livres hatte er an Differenzen verloren und das Leben in Mülhausen – er schüttelte sich.

Die Stufen, die zur Kirche hinaufführten, waren vereist, das Geländer brannte in den Händen. Mühsam stieg er aufwärts. Aber oben besann er sich eines andern und bog am Rathaus links ab in das Pfarrgäßlein und ging ins Café Mousson. Es fiel ihm nicht bei, daß es zwölf 128 Uhr geschlagen hatte, und betreten stand er vor der Türe, die ihn nicht einließ. Nur die Klingel gab einen kurzen Laut von sich, wie aus dem Schlaf geschreckt.

Da klang über ihm ein Fenster.

»Wer ist's?«

Er erkannte Phineles Stimme, und auf einmal kehrte all sein Mut zurück. Ah, quelle chance! Er war doch recht gegangen, und das Blut lief ihm plötzlich leicht durch die Adern.

»Ich bin's, Phinele. Mach auf, ich bin wie ein lebendiger Eiszapfen.«

Im Schein der Laterne erkannte er nur etwas Weißes am Fenster, aber er malte sich aus, daß das Phinele dort oben stand im Nachtgewand und warm vom Bett, und er wiederholte:

»Mach auf, ich komm directement vom chemin de fer.«

Da antwortete ihre Stimme:

»Vas t'en cousin. Du trägst deiner Frau den Schlaf weg.«

Und das Fenster wurde geschlossen.

Wütend schlug er gegen die Türe, daß die Schelle schrill aufschrie und dann noch lange hinter ihm drein gackerte, als er gehorsam gegangen war. Er drehte sich noch zwei Mal um. Das Fenster blieb dunkel.

Seine Finger waren steif, als er daheim die Haustüre aufschloß. Fast wäre er über die Warenkisten gestolpert die neu angekommen waren.

»Nundefudder,« murmelte er und rieb sich das Knie. Und tastete leise weiter.

129 »Nandi, bist du's?«

Der Ruf traf ihn mitten in der Finsternis des Flurs. Kein Lichtschein auf der Treppe. Einen Augenblick raste sein Herz, so war er erschrocken. Als wäre er irgendwo gewesen, wo ihn die Stimme seiner Frau nicht hätte erreichen können, als hätte sie schlafen müssen und ihn nicht hören können. Und da kam's über ihn! Er hatte ihr den Schlaf weggetragen, drei Nächte lang.

»Ja, Amélie, ich bin's,« antwortete er und blieb stehen.

»G'schwind, daß du die Kinder nicht verweckest.«

Ein Lichtschein fiel die Treppe herab. Er sah sie oben stehen, sie war noch nicht im Bett gewesen, und er wußte, ohne daß sie es sagte: sie hatte ihn drei Tage und in die Nächte bis zum letzten Zug erwartet.

Sie ging vor ihm her ins Zimmer.

»Willst du ein' Kaffee, du bist ja ganz gefroren?«

»Nein, Amélie, ich bin nur froh, daß ich daheim bin,« erwiderte er mit einem unsichern Versuch zu scherzen.

Da setzte sie das Lämpchen, das sie noch in der Hand hielt, ab, denn der Arm zitterte ihr plötzlich. Aber als er nach ihr griff und sie an sich ziehen wollte, wie um Abbitte zu tun, bog sie sich zurück und streifte seine Finger von ihren Schultern.

»Non, Nandi, das braucht's nicht mehr.«

»Amélie, je te prie!«

»Das wievielte Mal? Dein Beichtzettel reicht schon lang nicht mehr.«

»Aber wenn's das letzte Mal ist, Amélie!«

Sie lachte, beinahe herzlich, er nahm's dafür und faßte sie kühner wieder an den Schultern.

130 »Komm, Alte, laß uns unterschlüpfen. Es ist aus, so wahr als ich leb.«

Und ehe sie sich wehren konnte, zog er sie an sich und küßte sie. Da nahm sie mit hartem Griff seinen Kopf in beide Hände und blickte ihm in die blinzelnden Augen und sagte langsam mit zuckenden Lippen, aber ruhig, ganz ruhig:

»Laß mich, Ferdinand, ich erwarte ein Kind.«

»Schon wieder! Himmel und Erde!« stieß er hervor und ließ sie los und trat von ihr zurück. Und dann heftig: »Hast du denn noch nicht genug!«

»Ferdinand!«

Aber er hatte das Wort schon bereut.

»Allons, sei gut, ich bin ein monstre, komm, Amélie.« Er überwand die Abneigung, die nach ihrem Bekenntnis in ihm aufgezuckt war, und wollte sie wieder umfassen. Sie wich ihm abermals aus, blaß wie der Tod, und als er nicht nachließ, da schlug sie ihm plötzlich mit der Hand ins Gesicht.

Mit einem gurgelnden Schrei fuhr er zurück.

Auch ihr war ein Schrei aus der Brust zur Kehle gestiegen, aber er starb in ihrem Munde. Der Schlag war von ihrer Hand gekommen, aber sie wußte nicht, wer sie geführt. Nun stand sie regungslos, mit gebogenen Schultern, unfähig zu denken, nur mit dem dumpfen, wehen Gefühl: du hast ihn geschlagen, jetzt schlägt er wieder. Und in ihrem Schoß spürte sie die erste Bewegung, ein Klopfen, ein Stoßen, das ihr sagte: du hast nicht gelogen, du hast's gewußt, es ist an dem, ich bin unterwegs.

Und mit einem Male brach all ihr Zorn, ihr Wehren, 131 ihr Schmerz um den Mann, den sie ins Gesicht geschlagen, wie er's verdiente, in einem wilden Schluchzen zusammen, und sie hing sich an ihn und strich die Backe, die sie getroffen, und achtete nicht mehr auf Wirtshausdünste und auf das, was ihr sagte, daß er wieder draußen gewesen war, sie wieder betrogen hatte – das Kind zwang sie zu ihm hin und ihre eigene Schwäche.

Er riß ihre Arme los und ging an ihr vorbei ins Schlafzimmer. Seine Wange brannte, es zuckte ihm in den Fäusten, und dazwischen fühlte er sich so klein, so schwach, daß ihm jedes Wort versagte. Er lag schon, das Gesicht zur Wand gekehrt, da löschte Amélie das Licht. Als sie um drei Uhr aufstand und dem Phinele zu trinken gab, schlief er fest. Sie hatte kein Auge zugetan.

Der Morgen kam, und Amélie geschäftete schon im Hauswesen, da hob sich Nandi aus den Federn. Der Kopf war ihm schwer, er wußte nicht recht, wie er sich benehmen sollte. Die Frau ließ sich nicht vor ihm sehen, so lange sie es vermeiden konnte. Als sie einander trafen, es war im Laden, blickten beide weg.

Ferdinand stürzte sich in die Arbeit, er besänftigte den Notar, löste die verfallenen Wechsel ein, strich Geld in die Sparkasse, legte Obligationen und Depots in den Arnheim, schwatzte mit den Bauern, die zu Markt fuhren, und saß abends am runden Tisch im Café Mousson, wo ihm das Phinele kein gutes Wort gönnte. Zwischen Haury und ihm aber war eine kalte Feindschaft entstanden, die sich unter der alten Gewohnheit des Zusammenhockens mühsam verbarg. Zuweilen ging er auch in den ›Ochsen‹, ins Vereinslokal der Fanfare. Das lag 132 im ersten Stock in den Hof hinaus. Er führte die Vereinskasse, und seit er Caissier war, fehlte es nie an Geld. Das ist einer, der Nandi, der legt einem goldene Eier in die Caisse, rühmten ihn die andern, und dann ließ es seine Eitelkeit nicht zu, er buchte wieder hundert Franken ›d'un anonyme‹ und wenn er hätte das Geld aus der Caisse d'Epargne nehmen müssen.

»C'est d'un anonyme, in einem gelben Kuvert ist's eingelaufen,« erzählte er, und sie taten, als glaubten sie ihm und blinzelten ihn an und sagten:

»Ja, Nandi, wenn wir dich nicht hätten! Dir lauft's Geld ins Haus wie dem Bäck die Schwabenkäfer.«

Aber jetzt hatte er genug davon. Das war ein Amt, das ihm nichts eintrug, das riß ihm das Loch nur größer im Sack. Und es ging bergab, er wollte es nur nicht Wort haben vor sich selber. Nur nichts merken lassen, die Frau nicht, die andern nicht, das ganze Städtle nicht. Er brachte die perte schon wieder ein, es war ja nicht das erste Mal. Und da war es ihm wie ein Glücksfall, wie ein gutes Vorzeichen, als die Fanfärler ihn fragten, ob er ihr Präsident werden wolle. Der alte gab ab, der scheute die Sorge und die Schikanen, mit denen das gouvernement hinter den Vereinen her war, aber der Ferdinand Sinniger, der war der rechte, der drückte den Sou nicht breit in der Tasche und ließ sich das Maul nicht verbieten von der Schwobenregierung. Voilà un président, sagten sie und trugen ihm die Wahl an. Erst im ›Ochsen‹, dann daheim en députation; drei Mann, der Confiseur Strohl, der das Piston blies, machte den Sprecher.

133 Es war im Salon. Ferdinand stand an das Piano gelehnt, eine Hand auf der Politur, die andere im Giletschlitz, wie das Napoleonfigürchen, das auf der Konsole thronte.

Amélie hatte den Wein gebracht und füllte die Gläser.

Nandi schielte zu ihr hinüber und ärgerte sich, als er ihr Gesicht so stumpf und teilnahmlos sah.

»Eh bien, j'accepte,« sagte er und zog die Hand aus der Weste. »Und ihr seid nicht an den Lätzen gekommen. Da ist meine Hand.«

Sie schlugen ein, sie stießen an und da faßte Ferdinand plötzlich sein Weib um den Leib und sagte in seiner alten lustigen Art:

»Was gilt's – am Maitag tanzen wir im Rosengarten miteinander um den Bändelebaum – madame la présidente.«

Ihre Finger bemühten sich seine Hand zu lösen, sie versuchte den Gästen ein heiteres Gesicht zu zeigen.

»Prends garde, Nandi, wer vor dem Neujahr von der Kilbe redet, der wünscht sich das Wetter ins Korn.«

Der alte Spruch sollte wie ein Scherz klingen, aber dem Mann verdarb er den Wein.

»Bêtisen,« lachte er rauh und gab sie frei.

Am letzten Adventsamstag wurde Ferdinand Sinniger zum Präsidenten der Dornkircher Fanfare gewählt. Jeder im Städtchen hatte ihm seine Stimme gegeben. Nur auf einem Zettel stand statt eines Namens: ›Vive la France, merde la Prusse!

Der Zettel wurde stillschweigend herumgereicht. Er kehrte bei jeder Wahl wieder seit dem Kriege, und niemand 134 fragte danach, wer ihn geschrieben. Sie lasen ihn still und warfen ihn dann ins Feuer. Und wenn einer auf den Hof hinunterging und am Gastzimmer vorbeikam, wo die Deutschen an ihrem Stammtisch saßen und der Gendarm klirrend hinter einem Glas Bier saß, das dicke Buch zwischen den Uniformknöpfen und die Augen forschend auf die Flurtüre gerichtet, an der die Fanfärler vorüberschlorrten, dann packte die Hofgänger ein Übermut, ein wilder, ungestümer Zorn, und sie ballten im Dunkel die Faust zu den Fenstern hinauf und wünschten die roten Hosen ins Land und die Revanche.

Am Sonntag nachmittag zog die Musik und ein Trupp passiver Mitglieder hinterher vom ›Ochsen‹ vor das Haus des alten Präsidenten. Die Fahne wurde dem alten Herrn abgefordert, und unter den rauschenden Klängen eines kurzschrittigen, französischen Marsches marschierten sie rund um das Städtchen auf Umwegen dem Hause Ferdinand Sinnigers zu.

Es war ein heller Wintertag, aber die Sonne wärmte, ein Föhnwind saugte am Schnee, rundete alle Kanten, verbrämte die Dächer mit gelben Krusten und lockte die verschnörkelten Hecken und die schwarzen Tannen aus der Vermummung. Es ging sich weich, am Lindenweg jagte Haurys Schlitten schellenklingelnd an dem Zuge vorüber. Die beiden Töchter des Fabrikanten saßen darin, hohe Pelzmützchen mit roten Pompons auf dem dunklen Haar. Mit einer ritterlichen Bewegung schwenkte der porte-drapeau die Fahne, daß die grüne Seide flog, die Medaillen klirrten und die rotweißen Bänder flatterten.

Kläre hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt und sah 135 auf den bunten Zug. Es war ein Ereignis. Als der Schlitten vorbeischoß und die roten Kummete mit den Türkenschweifen glänzten, das weiße Bärenfell den bräunlichen Schnee noch mißfarbener erscheinen ließ, da blickte sie unmutig drein. Wer's doch auch so hätte! Aber auf einmal kam ihr der Gedanke, daß sie das heute ja auch haben konnte, Frau von Wernecke hatte sie ja auch zu einer Schlittenfahrt eingeladen. Sie hatte absagen wollen, Frau Eisenreiter zuliebe, die ihre Hilfe zur Fertigstellung der Weihnachtspakete für ihre Armen erbeten hatte. Eine mächtige Meringuentorte war in dem Korbe des Confiseurlehrlings gewesen, der im Collège heute die Pastetchen abgegeben hatte. Und von der bekam Kläre sicher so viel sie wollte. Aber jetzt, da sie die Töchter Haurys ins Tal hatte fahren sehen, war die Lust, es ihnen gleichzutun stärker als die Lockung der Torte, und sie schickte das Salmele vom Fleck weg ins Turmhaus und ließ Frau Eisenreiter sagen, sie könne erst gegen Abend kommen. Dann ging sie, die Ohren noch klingend von Musik, ins Studierzimmer, wo Georg über den Weihnachtszeugnissen saß, und strich um ihn herum, bis er fragte, was ihr fehle.

»Mir? Nichts, mir fehlt doch nie was. Aber sag mal, ist es dir arg, wenn ich dir den Jungen hierlasse? In den Schlitten kann ich ihn doch nicht mitnehmen. Und Frau von Wernecke meinte, morgen sei's vorbei, da liefe das Wasser auf der Straße, bei dem Wind sei das immer so.«

»Geh nur, Kläre, du bist ja froh, wenn du von uns los bist,« antwortete er bitter.

136 Das kränkte sie, denn den Verdacht hatte sie nicht verdient. Immer sagte er etwas, an das sie gar nicht gedacht hatte.

»Dann bleib ich eben hier,« sagte sie schroff und ging.

Kolb wollte gleichmütig weiter arbeiten, aber er kam nicht wieder zur Ruhe. In Gedanken ging er ihr nach, sah sie drüben am Fenster sitzen mit brennenden Lidern und einem grämlichen Zug um den Mund, hörte sie seufzen und fühlte, wie sie sich sehnte und auf ihn schalt, innerlich immer weiter wegrückte von ihm, immer weiter. Und da legte er die Feder hin und stand auf. Die Füße waren ihm schwer, die Kniee schmolzen unter ihm. Ein dumpfer Druck saß ihm auf der Brust. Es war wohl das Wetter, das ihm das Blut eindickte. Er öffnete das Fenster.

In der schattigen Scherbengasse leckte die Sonne nicht an der Schneedecke, aber hundert Füße hatten sie zertreten. Ein Schwall ferner Musik schlug mit dem warmen Wind zu ihm herein. Seine Brille lief an, aber er sah über den Dächern und den zerfressenen Schneefirsten zarte, weiße Lämmerwölkchen zu vielen Tausenden dahinjagen in unendlicher Höhe, als wäre der Frühling hinter ihnen mit einem Blumenstecken. In acht Tagen war Weihnacht. Weihnachten in Dornkirch. Mit einem Ruck warf er das Fenster zu und ging hinüber in die Wohnstube.

Kläre saß in ihrem Zimmerchen.

»Ich denke, du bist schon fort,« sagte er, und es gelang ihm, seiner Stimme den Ton harmloser Verwunderung 137 zu geben, so daß auch ihr mißtrauisches Ohr keinen Tadel, keine Stichelei heraushörte.

»Ja, meinst du – ich dachte –«

»Der Junge bleibt bei mir. Nachher nehme ich ihn mit, Salome kann ihn ein bißchen in die Sonne fahren. Also viel Vergnügen, Kläre.«

Rasch, um nicht weichmütig oder übellaunig zu werden, seine Stimme schwankte noch ungewiß, ging er ins Schlafzimmer und trat an Hansjürgens Bett. Er schlief in den Kleidern. Als Georg sich über ihn bückte, öffnete er gerade die Augen, machte ein blödes Gesicht, runzelte die Stirn, als müßte er sich besinnen, wo er denn eigentlich sei und begann dann zu lachen. Da packte ihn Kolb am Wickel und lief ins Studierzimmer. Im Bücherschrank hatte er einen Elefanten aus Tuch, mit roter Schabracke und roten Ohren, der sollte erst am heiligen Abend seinen Einzug halten, aber er kramte ihn heute schon heraus und stellte das Ungetüm, das über einen Schuh hoch war, vor Hansjürgen auf den Teppich. Erst wich der Tropf ängstlich zurück vor dem Rüsseltier, doch als Kolb dem Plumpsack einen Fußtritt gab, daß er die vier Beine in die Luft streckte, ohne einen Laut zu tun, ohne zu beißen oder auch nur zu strampeln, da faßte das Kind Mut und warf sich über das mißhandelte Geschöpf mit den zwei Schwänzen, um es nicht mehr aus den Armen zu lassen.

Einen Augenblick zögerte Kläre, die gekommen war, Adieu zu sagen, aber Georg winkte ihr zu gehen, ehe Hansjürgen auf sie aufmerksam wurde. Da zog sie leise die Türe hinter sich zu und ging.

138 Auf der breiten Vortreppe, die zu der Unterpräfektur führte, stand der Polizeidiener Vogel an einer der beiden Säulen des Portals und salutierte. In dem hallenden Korridor kam ihr Assessor Drexler entgegen.

»Pardon, gnädige Frau, ist ihnen vielleicht Herr von Wernecke begegnet?«

Kläre verneinte erstaunt, hörte noch, wie er etwas wie ›fatal‹ zwischen den Zähnen murmelte und stieg die Treppe hinauf.

Frau von Wernecke war in Hut und Jacke, fertig zur Ausfahrt, aber sie schien zerstreut und gar nicht zu wissen, warum Kläre kam. Kläre war verletzt. Da sagte Frau von Wernecke:

»Ich muß Sie sehr um Entschuldigung bitten, liebe Frau Direktor, aber ich weiß nicht, ob wir gleich fahren können. Mein Mann braucht den Kutscher, und ich bleibe lieber hier, bis die Sache vorbei ist.«

Das Balkonfenster stand offen. Über dem Portal lagerte der Balkon auf den beiden Sandsteinsäulen. Das Schild mit dem kaiserlichen Wappen glänzte am Geländer und die nackte Fahnenstange reckte sich über die Gasse.

Frau von Wernecke war hinausgetreten, und Kläre folgte ihr unwillkürlich.

Die Kreuzgasse lag still im schmelzenden Schnee. Eine kleine Lawine stäubte vom Dach über ihnen und schlug unten auf die Stufen. Aus der Ferne, aber langsam näher kommend und immer greller tönend, klang Marschmusik.

»Der Bürgermeister!« sagte Frau von Wernecke und beugte sich über das Geländer, um das Wort dem Assessor zu zurufen, der auf der Schwelle stand.

139 Kläre erblickte Monsieur Schicklé und neben ihm Haury. Sie waren aus der Rosengasse in die Kreuzgasse eingebogen. Schicklé war stehen geblieben und hatte mit einer Frau, die aus einem Fenster in Sinnigers Haus schaute, gesprochen, es mußte Frau Sinniger sein, jetzt kamen sie näher.

Vogel lief ihnen entgegen, mit den Armen schlagend, die breite Lederscheide des halblangen Säbels zwischen den Beinen.

Der Assessor war ins Haus zurückgetreten.

Während der Polizeidiener dem Maire einen Bericht erstattete, ging Haury weiter. Er hörte nur mit halbem Ohre auf Vogels Kauderwelsch. Jetzt zog er den Hut und grüßte zu den Damen hinauf. Frau von Wernecke neigte nach ihrer reservierten Art den Kopf, Kläre nickte kaum merklich, aber die Farbe vertiefte sich in ihren Augen.

In diesem Augenblick trabte der Kreisdirektor durch das Tor. Hinter ihm der Gendarmeriewachtmeister, klirrend und gleißend auf seinem schweren, prustenden Gaul.

Über Frau von Werneckes Gesicht zog eine zarte Röte, sie lächelte ihrem Manne zu, lachend grüßte er mit der Peitsche.

»Siehst du, Lisbeth, ich hab ihn. Nun ist die bewaffnete Macht komplett.«

Lisbeth von Wernecke hatte ihren Gleichmut wiedergefunden, sie wollte den fremden Augen kein Schauspiel geben und trat vom Balkon zurück.

»Reiten Sie hinten herum in den Hof, Wachtmeister, aber bleiben Sie im Sattel! Wo ist Rotenhahn?«

140 »Hier, Herr Kreisdirektor.«

Der Fußgendarm pflanzte sich vor dem Reiter auf.

»Gut, treten Sie in den Flur. Den Ortspolizisten werden wir uns vom Herrn Bürgermeister ausbitten. Ah, da sind Sie ja, Herr Bürgermeister! Meine Herren!«

Wernecke lüftete den Hut und stieg ab. Der Kutscher hatte das Pferd schon am Kopf und führte es beiseite.

Schicklé, Haury und der Kreisdirektor standen auf der Straße. Kläre konnte jedes Wort verstehen, das gewechselt wurde. Aber sie war zerstreut, dazwischen klang näher und näher die Musik, aus den Nebengassen kamen Kinder geschossen, aus den Fenstern nickten schwarze Köpfe, und jetzt schob sich aus dem Giebelfenster des Sinnigerschen Hauses ein buntes Tuch, fiel und rollte sich auf und schlug als geschwänzte, mit Quasten spielende rotweiße Fahne in den Wind. Die Sonne stürzte sich darauf und entzündete einen purpurnen Brand in den elsässischen Farben.

»Bitte sehr, Herr Bürgermeister,« tönte Werneckes Stimme höflich aber scharf, »die Erlaubnis zum Umzug ist nicht eingeholt worden. Es sind gestern schon Rufe laut geworden, die nicht geduldet werden dürfen. Auch sind die Herren wiederholt verwarnt worden. Der Zug kommt mir nicht hier vorbei.«

»Pardon, Herr von Wernecke, wenn ich mich einmische, aber die ›Fanfare‹ denkt gar nicht so weit. On s'amuse tout bonnement.«

»Herr Haury, Sie verzeihen, aber ich habe Befehle. Und die Regierung sieht diese Amüsements denn doch etwas 141 anders an. Oder schließt die ›Fanfare‹ nicht etwa grundsätzlich Deutsche aus ihrer Mitte aus?«

Die letzten Worte klangen laut über die Gasse, denn Wernecke hatte die Stimme erhoben, um die Musik zu übertönen, und die war jetzt jäh verstummt.

Frau von Wernecke war wieder auf den Balkon getreten. Kläre erschrak, als sie plötzlich neben ihr erschien. Aber sie blickte nur flüchtig auf und horchte auf Haurys Antwort. Der biß einen Augenblick die Zähne zusammen, dann erwiderte er kurz:

»Die Statuten sind wie Sie sagen, Herr Kreisdirektor. Vor zwanzig Jahren war man auch so unter sich ohne Paragraphen. Aber ich darf Sie nicht hindern, Sie sind im Amt.«

»Impertinent!« stieß Frau von Wernecke hervor und griff hart ins Geländer.

Aber Wernecke lachte nur und entgegnete:

»Ja, ja, Zeiten ändern sich. Ich habe die Ehre, Herr Haury!«

Es schien, als zögerte der andere, Kläre sah, daß sich sein Gesicht färbte, dann hatte er sich wieder in der Gewalt, grüßte, grüßte auch zu den Damen hinauf und schritt langsam die Gasse hinunter, ohne umzuschauen.

»Herr Kreisdirektor, Sie werden sehen, es ist nichts. Ich sage ihnen, daß sie aufhören.«

Und Schicklé ging rasch durch das Tor, um den Zug, der draußen um die Mauer schwenkte, aufzuhalten.

Nun stand Wernecke allein auf der Gasse im mehligen Schnee. Da rief Lisbeth leise hinunter:

»Fritz, tu die Peitsche weg!«

142 Er blickte auf, sah dann auf die Reitpeitsche, mit der er mechanisch die Stiefel geklopft hatte und entgegnete:

»Du hast recht, paßt sich nicht.«

Und warf die Gerte in den Flur.

Eine Zeitlang war es still. Die Kirchenuhr schlug in das Schweigen.

»Aber Lisbeth, wie ist mir denn« – Wernecke schnippte mit den Fingern – »du, pardon, die Damen wollten doch ausfahren!«

»Nein, nein, bitte nicht,« wehrte Kläre ängstlich.

»Aber ganz im Gegenteil. Der Schlitten ist ja angespannt. Lieber Assessor, bitte, holen Sie doch die Damen! Vogel, sagen Sie, der Schlitten soll vorfahren.«

Und der Assessor kam ihnen auf der Treppe entgegen, auf dem Hof klangen die Schellenbänder, und als sie auf die Gasse traten, hielt der alte Prunkschlitten mit den verblaßten Goldleisten und den Empire-Adlern, die steif auf den großen Laternen hockten, schon vor dem Portal. Der Kutscher hatte eine Mütze aus Fuchspelz auf, von der ein roter Lappen herabhing. Den Pferden schauderte die Haut in der dunstigen Luft.

Da lief Kläre wieder die Lust mit der Angst davon, und sie konnte nicht schnell genug in den Schlitten kommen. Aber Frau von Wernecke stand noch auf dem Schlittenrand, einen ernsten, fragenden Blick auf das Gesicht ihres Mannes heftend, als wie aus einer andern Welt ein lautes Geschrei durchs Tor fuhr und Paukengedröhn und schrille Trompetenstimmen, ein Trampen und Drängen, ein klirrender, jauchzender Hall.

Hochauf stiegen die Gäule, und Frau von Wernecke 143 taumelte und hielt sich im jähen Fall am Hals ihres Mannes. Im Kreise drehten die Pferde das Gefährt, laut auf schrie Kläre, dann lag sie unter Decken und Fellen, kopfunter, kopfüber, und der Schlitten stand. Der Assessor riß sie in die Höhe und aufs Trottoir. Ihr Schrei hatte Musik und Lärm übertönt und war wie ein scheuer Vogel die Gasse hinabgeflogen. Haury war umgekehrt und rannte zurück.

Aber schon quoll aus dem dunklen Tor der bunte Zug mit der grünen, violett schimmernden Fahne, brannten die Instrumente in der Sonne, glänzten die goldverschnürten Uniformen und die rotbordigen Käppis und schmetterte, unbesorgt um reinen Ton, wenn's nur rauschte und klang, schwelgend im verbeulten Blech, die Musik der ›Fanfare‹, Clairons und Tambours ihren kecken, französischen Marsch.

Der Kutscher gab den Pferden die Köpfe frei, und der leere Schlitten stäubte die Kreuzgasse hinab.

»Rotenhahn,« rief Wernecke, und der Assessor gab sein Kommando weiter.

Der Gendarm erschien auf der Treppe, er hatte das Gewehr fertig zum Schuß.

»Meine Frau,« schrie der Kreisdirektor dem Assessor zu, dann stand er mitten auf der Straße, und gegen ihn heran drängte der Zug. Sie hatten in allen Schenken am Wege Einkehr gehalten, die Gesichter quollen rot aus den Kragen, der Fähndrich schwenkte die schwere Fahne, daß die Luft rauschte. Die Musik brach ab, das Bombardon und die große Trommel klappten nach.

Der Bürgermeister war außer Atem, blaß vor Aufregung. 144 Der Hut war ihm im Gedränge des Tores, wo er die Halbtrunkenen vergebens hatte stellen wollen, verloren gegangen.

»Allons, en avant, was gibt's da vornen,« schrieen die hinten im Zuge. Aber der Tambourmajor und die Clairons, die an der Spitze marschierten, drückten rückwärts. Die Reihen der Musiker kamen durcheinander, die Fahne schwankte über einem Knäuel schreiender, heiserer Menschen, und von allen Seiten lief's herzu, als wäre Dornkirch eine Millionenstadt.

»Nun, Herr Bürgermeister!« empfing Wernecke Schicklé, der barhaupt, die grauen Haare mit Schweiß verklebt, zu ihm trat.

Der zuckte die Achseln.

Da reckte sich Wernecke und rief mit seiner hellen Stimme:

»Ich erkläre den Zug für aufgelöst! Die Fahne wird sistiert!«

Und er wies auf die funkelnde Lyra, die den Fahnenstock krönte. Eine große blauweißrote Krawatte leuchtete grell herab von dem goldenen Zierat. Im ›Schwarzen Lamm‹ hatte sie einer daran befestigt.

Eine kurze Stille, in die nur ein Trunkener lachte, dann schrie alles wild durcheinander. Aber sie fanden sich nicht mehr zum Tritt, zum Takt zusammen, es war ein Zerfließen, ein Wogen, ein Drängen, hierhin, dorthin, Wernecke stand noch frei, neben ihm der Maire.

Der Assessor suchte vergeblich Frau von Wernecke ins Haus zu ziehen: »Nein, ich bleibe hier,« antwortete sie tonlos und stand an die Mauer gelehnt, wo sie ihrem

145 Manne aus den Armen geglitten war. »Nehmen Sie sich der kleinen Frau Kolb an,« setzte sie ruhig hinzu.

»Unnötig,« erwiderte er, aber er konnte nicht fortfahren, nicht sagen, daß Kläre eben von Haury angesprochen worden war, denn jetzt winkte der Kreisdirektor, und der Gendarm stieg die Vortreppe herab, um die Fahne zu holen.

Da sagte der Maire:

»Excusez, Herr Kreisdirektor, der Vogel soll gehn, das chokiert sie weniger.«

»Meinetwegen.«

Und Wernecke winkte Rotenhahn:

»Halt, der Ortsdiener.«

Es war stiller geworden, die Fanfärler drängten sich um die Fahne. In diesem Augenblick kam Sinniger, in Hemdärmeln, wie er vom Weinabfüllen geholt worden war, die Gasse heraufgerannt.

Vogel zögerte, aber Wernecke wiederholte: »Na vorwärts,« und der Maire sagte laut, damit alle es hörten:

»Geht, versorgt den Fahnen, der Karrer-Sepple gibt ihn Euch gern.«

Ein wildes Lachen kam aus dem Haufen.

»Den Vogel soll der Gockel picken,« schrie der Fahnenträger und steckte die Stange fester ins Bandelier.

Langsam setzte sich Vogel in Bewegung. Sein Adamsapfel ging den faltigen Hals auf und ab, er hatte den leeren Schlucken, und die Beine waren ihm wie zerschlagen.

Zwei Schritte vor dem Trupp, der sich jetzt still und finster um die Fahne ballte, blieb er stehen und wandte 146 sich um. Die runzelige Hand tastete zitternd nach dem Mützenrand, und den krummen Rücken gerade ziehend, salutierte er den Bürgermeister und den Kreisdirektor und druckste mit schwerer Zunge:

»Um's Verrecken – aber ich kann's nicht, ich müßt's auf der Suppe fressen, so lang als ich leb.«

»Schlapper Kerl!« schrie unwillkürlich der Assessor.

Der Maire aber sagte hastig:

»Gehen wir selband, Vogel,« kniff die Augen, als gälte es einen Schmerz zu verbeißen und ging auf die Fahne zu. Wernecke schwieg.

Aber da streckte Vogel, der bei dem Ruf Drexlers zusammengefahren war, den Arm aus und faßte Schicklé am Rockschoß.

»Nix für ungut, Herr Maire, aber jetzt gang ich allein.«

Und er blies durch den zerfransten Schnauz, zog die Füße aus dem Schnee und drängte den Tambourmajor und den Clairon beiseite. Sie stießen ihn zurück, er glitschte und knickte ins Knie und stand wieder fest.

»Voyons, ihr Herren, ihr habt's gehört. Ich sei ein lâche und jetzt muß ich den Fahnen haben oder es ist ein Lug, daß ich die Medaille hab für die Crimée und Solferino. Also gebt ihn her!«

Mit einem Betteln in der Stimme begann's, ein rauher Schrei war das Ende, und er zerrte den Säbel, brachte ihn nicht aus der Scheide, ließ ihn stecken, fuhr mit den Fäusten ins Gedränge, und vor seinem fahlen Gesicht, seiner taumelnden Schwachheit wichen sie auseinander, daß freier Raum ward zwischen ihm und dem porte-drapeau.

147 »He, was ist mit dem Fahnen,« schrie der Nandi Sinniger, der jetzt herangekommen war.

Und als hätte der Ruf dem Fähnrich gegolten, lüpfte der plötzlich die Stange aus dem Bandelier, packte sie samt dem Tuch, und ehe noch einer wußte, was es galt, fuhr der schwere Schaft durch die Luft, und die Lyra blitzte und traf den Weibel dröhnend aufs Haupt. Er warf die Arme in die Höhe, die Mütze flog, die Leier brach klingend ab und Vogel sackte dumpf aufs Gesicht. Das schwarze Blut stand ihm im Schnauzbart und verbrannte den grauen Schnee.

Einen Augenblick, dann riß die Tat alles nach sich. Der Gendarm war mit einem Satz heran, der Wachtmeister saß plötzlich, den Säbel blank, mit dem Gaul mitten im Gedränge und schon stob's in alle Gassen, flog durch das dunkle Tor, was da laufen konnte, nur ein kleiner Trupp, die nächsten an der Fahne, standen wie gelähmt und starrten auf das Blut und die zuckenden Beine in der schäbigen Uniform. Der Karrer-Sepple hielt die Fahne noch krampfhaft gepackt, und die Seide trank den schmutzigen Schnee. Die blauweißrote Krawatte aber lag neben dem Alten, zierlich geknüpft leuchtete, schwebte sie wie ein farbenprächtiger Schmetterling über dem blutigen Kot.

Und in das Entsetzen läuteten die Adventsglocken, die die Vesper ansagten, riefen mit dunklen Stimmen über die Dächer, und die Töne schwollen dröhnend gen Himmel, wo die weißen Lämmer die wolligen Bäuche ängstlich aneinanderrieben, bis sie als graue Herde ihre Gestalt verloren und in gedrängtem Zuge die weiße Sonne auslöschten.

148 Lisbeth von Wernecke kauerte im Schmutz und raffte den Kopf des Niedergeschlagenen in ihren Schoß. Der Maire trug die Fahne ins Haus, zwischen den Gendarmen schritt stumpf der porte-drapeau. Wernecke hob die Schleife auf, der Nandi die abgebrochene Leier. Dazu war er just recht gekommen. Dann trugen sie Vogel in die Kanzlei.

Kläre Kolb aber war willenlos in Haurys Arm gegeben: »Mein Gott, wie gräßlich« hatte sie gesagt, aber wie hypnotisiert auf das Schreckliche gestarrt. Als Frau von Wernecke niederkniete, wandte sie sich mit einem Schauder ab. Dann ließ sie sich von Haury nach Hause führen. Er war blaß, sie sprachen kein Wort, nur gefragt hatte er, wie sie sich fühlte, und sie hatte geantwortet: »Bitte, fragen Sie nicht!« Da flüsterte er »à vos ordres, madame«, aber sie fühlte den Druck seines Armes, und in beiden zitterte die Erregung nach, sie atmeten schneller und ihre Hände brannten.

Als Haury zurückkam durch die Kreuzgasse, ging der Kreisarzt an ihm vorbei zu dem Verwundeten. Frau von Wernecke hatte die Pritsche des Kutschers hereinschaffen lassen. Vogel lag noch mit geschlossenen Augen, ein Rasseln in der Kehle, über dem Schädel schwoll ein blauer Wulst wie der Kamm eines Truthahns, und aus den Nasenlöchern tropfte immer noch das schwarze, stockige Blut. Ein Dunst von Blut und Wein und Schweiß und schlechtem Tabak braute in der Stube.

Habermeier war dabei, ihn zu untersuchen, der Assessor stand daneben, da ließ Vogel die Kinnlade fallen und zog die Augenlider hoch, mit trüben Blicken um sich schauend.

149 »Na, Vogel, da sind Sie ja wieder. Sind ein braver Kerl,« schnarrte Drexler und bückte sich zu ihm, so widerlich ihm der Anblick war. Ein Rasseln, ein Rülpsen und »leck mich« bröselte der Alte und schluckte wieder und drückte die Augen ein.

»Was meint er?« fragte der Assessor den Arzt.

Da raunte ihm Habermeier mit einem grimmigen, lautlosen Lachen zu: »Das können Sie im ›Götz von Berlichingen‹ nachlesen, wo er das Fenster zuschmeißt, und nun bitte, Frau von Wernecke und ich besorgen die Sache besser allein.«

Lisbeth von Wernecke war rot geworden.

»Wir müssen seine Frau holen,« sagte sie leise und ging hinaus, ein Waschbecken mit blutigem Wasser in den Händen.

Einen Augenblick blieb sie aufatmend unter dem Portal stehen, ein feiner Regen sickerte in den Schnee.

Da trat Wernecke, der mit dem Bürgermeister und Sinniger zusammensaß, zufällig aus der Amtsstube. Rasch kam er auf sie zu, faßte ihren Kopf und küßte sie flüchtig im Schutz der Säulen auf die welke Wange. Ohne ein Wort, schon war sie wieder allein, aber sie schritt mit behenden Schritten, die Schüssel wie eine Hochzeitsgabe hoch erhoben in den Händen, durch den Flur. Und der Ekel, mit dem sie so hart gekämpft hatte, war vergessen, ihr Herz ging stark und voll, und ein weicher Zug löste ihren strengen Mund. 150

 


 


 << zurück weiter >>