Hermann Stegemann
Die Krafft von Illzach
Hermann Stegemann

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Ein letzter Maifrost war über das elsässische Land gekommen und hatte in den Berglagen die ersten Rebentriebe versengt. Aber warme, wolkige Nächte folgten, und weiche, südliche Lüfte begannen mit einer schmelzenden Zärtlichkeit zu wehen, als müßten sie alles wieder gut machen. Die Kirschbäume steckten ihre weißen Blüten auf, die Pfirsichbäume standen wie rosige Mädchen auf den nackten Rebhügeln, das erste Laub hing als feines Schleiergewebe an den Waldrändern, und über den braunen Eichenwäldern und den schwarzen Tannenforsten des Gebirges erglänzten die grasigen Kuppen schon in sattem Grün.

Dorf und Schloß Niklausen lag in einem Wald von schneeweißen Kirschbäumen begraben. Wenn der Südwind stärker wehte, flogen unzählige Blütenblätter durch die Luft, bedeckten die Straße und drehten sich auf der Schloßterrasse in lustigen, kleinen Wirbeln.

Klaus Krafft von Illzach ging auf der Terrasse auf und ab. Er erwartete seinen Schwager Eggheim. Ein silbergrauer Schimmer glänzte in seinem kurzgeschorenen Haar.

Der Jagdwagen kam langsam die Allee herauf.

Klaus trat in sein Arbeitszimmer zurück und legte noch die Rechnungsbücher beiseite, die die Tische bedeckten. Der Krieg hatte das Kapital angegriffen. Manches Stückfaß, das die Illzachschen Kellereien nach Kolmar und Straßburg geliefert hatten, war unbezahlt geblieben. Von den Morsbronner Pachthöfen war kein roter Sou an Pachtzins eingegangen. Klaus hatte den Pächtern 219 noch erhebliche Summen vorstrecken müssen. Aber diese Verluste wogen leicht gegen die Kieners, der sein halbes Vermögen darangesetzt hatte, um die Krise zu überstehen.

Konrad von Eggheim hatte schon zwei Briefe mit Klaus gewechselt.

Als sie sich nun zum ersten Mal seit ihrer Begegnung in Bern gegenüberstanden, kam etwas wie von einem neuen Zurechtfinden über sie. Es waren nicht mehr die Feldzugserinnerungen um sie her, sie hatten wieder etwas Entfernung zwischen sich gelegt.

Die Begrüßung war kurz, aber freundlich.

»Wie Sie mir geschrieben haben, ist Claudine bereit, zu Ihnen zurückzukehren, Herr von Eggheim. Allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen.«

Konrad neigte leicht den Kopf.

»Claudine kehrt in der Tat zu mir zurück, ich erinnere mich aber nicht, etwas von bestimmten Voraussetzungen geschrieben zu haben, an die diese Wiederaufnahme der ehelichen Beziehungen geknüpft sein soll.«

Er wählte die genau und scharf zugespitzte Fassung mit Absicht, um Klaus aus der Zurückhaltung herauszulocken.

Der Freiherr lächelte ernst.

»Richtig, von den Voraussetzungen schrieben nicht Sie, sondern Claudine. Ich habe meine Schwester seit dem April nicht mehr gesehen. Sie besteht darauf, Straßburg nicht zu verlassen, obwohl die zerschossene Stadt, in der es heute noch nach Brandstätten riecht, gerade kein besonders anziehender Ort für eine Frau ist.«

»Ja, Sie haben recht. Es liegt immer noch etwas von dem Schrecken des Krieges und der Belagerung über der schönen Stadt, aber sie wird aufblühen wie nie zuvor,« versetzte Konrad ernst.

»Und Paris brennt,« fuhr Klaus Krafft bitter fort und starrte dem Rauch seiner Zigarette nach, in der sich die Feuersbrünste der Kommune zu spiegeln schienen. Er 220 hatte in diesem Augenblick ganz vergessen, daß ihm gegenüber ein Deutscher saß.

Die Tuilerien brannten, die Tuilerien, in denen sein Vater den Glanz der Napoléoniden neu hatte erstehen sehen, in denen er selbst noch im Juni des Jahres 1870, als die spanische Frage gelöst schien, aus- und eingegangen war. Er sah sich noch mit Madame d'Aubigny am Arm im Blumensaal, wo am schön bemalten Plafond das Medaillonbild der Kaiserin glänzte und leichtgeschürzte Genien mit Floras Füllhorn an den Wänden entlang eilten. Ein rosiges Inkarnat herrschte in dem wundervollen Saale, als hätte der Maler seine Farben von den Schultern der schönen Frauen gestohlen, die hier auf- und abwandelten. Die rosenfingrige Morgenröte lächelte als Supraporte zu ihnen herab.

Und von all dem ist nichts übrig geblieben als ein schwelender Trümmerhaufen, in dem die Petroleusen nach glühenden Bränden stochern. Paris brennt, ein Feuerkrater steigt aus der Stadt, in der die Flintensalven knattern, Regierungstruppen und Kommunarden sich ohne Gnade morden, während in den schweigenden Forts preußische Besatzungen liegen und Gewehr bei Fuß dem Bürgerkrieg zuschauen, der das tapfere, verstümmelte, von Revolution zu Revolution getriebene Frankreich vollends zu verschlingen droht.

Konrad räusperte sich leise.

Da fuhr Illzach auf und wischte mit der Hand über Stirn und Augen, als müßte er das furchtbare Gesicht verscheuchen.

»Claudine sagte mir, daß sie zu Ihnen zurückkehre. Ich habe meine Schwester nicht gefragt, wie und warum sie zu dieser Sinnesänderung gekommen sei. Ich bin immer noch so sehr Franzose, den Willen einer Frau auch dann zu respektieren, wenn er sich in Widersprüchen gefällt. Es ist aber klar, daß Claudine trotz dieser Einwilligung zurückzukehren, die Sie ihr in ihrer Unterredung vom –«

221 »Vom 17. April,« half Konrad mit ein klein wenig Sarkasmus aus.

»Ja, vom 17. April abgerungen haben, nicht mehr die Frau von früher ist. Ihre Heirat, Herr von Eggheim, wird eine kalte Ehe sein.«

Er blickte Eggheim jetzt voll an.

Konrad erwiderte den Blick der hellen, kühlen Augen ohne Wimperzucken.

»Das Verhältnis meiner Frau zu mir wird nur durch das Maß der Pflichten bestimmt und geregelt, die sie als Mutter und als Herrin des Hauses zu erfüllen hat.«

Seine Stimme schnitt wie ein Messer.

Die schwere Gestalt Klaus Kraffts hob sich im Sessel.

»Pardon, wenn ich interpretiere: Sie entbinden Claudine also ihrer Pflichten als Gattin.«

»Nein, aber ich werde sie nicht in Gefahr bringen, diejenige Pflicht zu verweigern, die aus der Annäherung des Ehemanns hervorgeht. Claudine hat erklärt, sie liebe mich nicht, und ich habe eingesehen, daß etwas Wahres daran ist. Wir werden die Konsequenzen daraus ziehen in unserm Zusammenleben. Richtiger Nebeneinanderleben.«

Als er diese Erklärung abgab, empörte sich etwas in Konrads eigener Brust gegen dieses Sophisma, das aus ihrer Ehe eine Lüge machte. Aber es mußte sein.

Klaus Krafft ging nicht mehr darauf ein.

»Sie werden also vorläufig noch im Lande bleiben,« fragte er.

»Das nicht, ich werde das Elsaß schon in den nächsten Tagen verlassen. Ich habe mich auf Wunsch des Reichskanzleramts bei der preußischen Regierung gemeldet und gehe auf ein halbes Jahr oder länger nach Kassel.«

»Und dann?« forschte Klaus lebhafter, als es sonst seine Art war.

»Dann trete ich in den reichsländischen Dienst.«

»Sie wollen uns also regieren helfen!« kam es ironisch von den Lippen des Freiherrn.

222 »Ich will mein Bestes tun, Sie mit der Neuordnung der Dinge versöhnen zu helfen, auch regieren, wenn es sein muß.«

»Ein kleiner Bismarck, bravo, Herr von Eggheim!«

»Ihr Spott kommt aus einem schwer verwundeten Gefühl, und deshalb tut er mir nicht weh, Schwager Illzach. Glauben Sie, ich könnte stillsitzen, wo es so viel zu tun gibt, wo wir erst aus unserm Dichten und Träumen zum Schaffen und Werken erweckt worden sind? Sehen Sie, Klaus, das ist's auch, was mithilft, daß ich mich in den Konflikt meiner Ehe nicht verbeiße! Ich habe meinen Lebensplan, Klaus, Zweck und Ziel sind mir aufgegangen, ich will dabei sein, wenn's Arbeiten gilt, Arbeiten um der Arbeit, um des Lebens und um des Wachsens willen, das uns plötzlich wie der freigewordene Überschuß von all den Tausenden in die Glieder gefahren ist, die wir da drüben in Frankreich unter dem Boden gelassen haben!«

Er war aufgestanden, wie von Riesenhänden emporgezogen, und hatte vergessen, daß vor ihm einer saß, der wurzellocker geworden war und dem jedes Wort das Herz im Leibe herumdrehte.

Mit belegter Stimme antwortete der Elsässer:

»Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, daß Sie sich hier im Lande niederlassen und in den Staatsdienst der neugebildeten Reichslande stellen wollen. Im Interesse Claudinens hätte vielleicht eine andere Lösung näher gelegen. Aber ich gebe zu, daß Claudine in Baden oder gar in Preußen noch vereinsamter wäre als im Elsaß.«

In Konrads Antlitz prägte sich der entschlossene Zug aus, der seit dem letzten Jahre so reif und männlich hervortrat.

»Das Interesse meiner Frau konnte ich in diesem Falle nicht als ein besonderes und besonders zu behandelndes wahrnehmen, Baron. Ja, ich kann nicht einmal Rücksicht nehmen auf Wünsche Claudinens, denn es handelt sich um Mannesarbeit und -wirken. Übrigens hat 223 Claudine mich nicht in die Lage versetzt, ihr einen Wunsch abschlagen zu müssen. Ich habe ihr bei meinem zweiten Besuch in Straßburg mitgeteilt, daß ich in den Staatsdienst trete und in einem Jahr ins Elsaß zurückzukehren hoffe. Sie hat die Eröffnung kühl, aber ohne Gegenrede aufgenommen. Wenn ich in Kassel eine Hotelwohnung gefunden habe, die sich mit meinen Einkünften in Einklang bringen läßt, werden wir übersiedeln.«

»Und Claudine wird Sie mit dem Kinde begleiten?«

Der ungläubige Ausdruck in Klaus Kraffts Gesicht löste auf einmal ein seltsames Gefühl in Konrad aus. Er fühlte sich in Claudinens Stolz getroffen. Klaus sollte nicht denken, daß sie sich schon auf Gnade und Ungnade ergeben habe. Daß sie sich selbst untreu geworden sei.

Und er erwiderte:

»Sie hat sich vorgenommen, äußerlich meine Stellung und meine Rechte als Familienhaupt voll zu respektieren. Wie Sie sehen, ist auch sie eine Sklavin dieses Begriffs. Aber es ist auch ein gutes Stück Stolz und Trotz darin. Sie will mir zeigen, daß sie Claudine von Illzach bleibt, die durch die schweren Schicksalsschläge dieses Jahres aufgeweckte und zu eigener Persönlichkeit erwachsene Claudine, die neben einem ungeliebten, ihr fremd gewordenen Manne hergeht, ohne sich etwas zu vergeben!«

»Und Sie nehmen das so philosophisch, Eggheim? Mir scheint, Ihnen genügt der äußerliche Sieg, die Kette am Knöchel der Besiegten. Wahrhaftig. Ihr seid Konquistadoren im Stile der Teutonen!«

Klaus Krafft Freiherr von Illzach war vom Stuhle aufgestanden. Ein Abgrund des Empfindens trennte ihn von diesem Manne, der so von Claudine sprach. Er fühlte, wie ihm das schwere Blut in die Schläfenadern drang, daß sie schmerzend klopften. Unwillkürlich ballte er die Faust.

Aber ehe er sie halb unbewußt zum Schlag erheben konnte, legte Konrad von Eggheim die Hand auf seinen 224 langsam steigenden Arm und hielt ihn mit herbem Griff umspannt.

»Ruhig Blut, Schwager Illzach! Ihr hier im Weinland solltet uns besser kennen! Ihr seid vom selben Schlag wie wir dort drüben. Claudine hat sich nicht besiegt gegeben. Sie hat den Kampf aufgenommen, nachdem ich in ihr vermeintliches Asyl eingedrungen bin. Einen Kampf, in dem es um alles geht! Sie liebt mich nicht mehr – sie glaubt es vielleicht nur, daß sie mich nicht mehr liebt, hat mich wohl auch noch nicht so geliebt, wie das Weib den Mann liebt, der ihm ein und alles ist. Aber ich lasse sie nicht. Ich müßte lügen, wenn ich sagte, daß ich nicht ohne sie leben könnte, denn ein Mann hat seine Arbeit, sein Volk, seinen ganzen Tatendrang und erschöpft sich nicht in der Liebe zu einem Weib. Aber ich lasse Claudine nicht, weil ich mit dem Gedanken an sie zum Mann geworden bin, mit dem Gedanken an sie im Feld gestanden habe, weil sie meine Frau ist und das Kind zwischen uns eine lebendige Brücke schlägt. Und erobern, Illzach, das gerade will ich, sie erobern, ohne ihr die Kette an den Fuß zu legen! Frei soll sie, frei muß sie zu mir kommen, oder ich gebe jedes Recht an sie auf!«

»Es wäre besser, ihr ginget heut schon auseinander und machtet der Qual ein Ende! Besser heut als in Jahr und Tag. Claudine hat sich selbst gefunden. Sie wird sich an niemand mehr verlieren.«

Diesmal zuckte Konrads Faust.

»Was heißt sich verlieren! Nur eine Frau, in der das Liebesleben verkümmert, die ist verloren.«

»Und wer sagt Ihnen, Eggheim, daß Claudinens Liebe gerade Sie wählen wird, wenn sie aus dieser Erstarrung ihres Gefühls wieder erwacht?«

Konrad zuckte zusammen. Es war doch etwas Seltsames, tief in den Wurzelgrund alles Wesens Greifendes um die Neigung von Mann zu Weib und um den Besitz einer Frau, denn er spürte, wie ihm Klaus Kraffts Frage einen Schmerz bereitete, der bis ins Innerste 225 drang. Daß Claudine ihn nicht mehr liebte, vielleicht nie geliebt hatte und nun, von diesem grundstürzenden Völkerschicksal mitgerissen, von ihm wegtrieb, das hatte er begriffen, aber daß sie einen andern lieben könnte, einem andern schenken könnte, was ihm gehörte, was sie ihm verweigerte, daran hatte seine Seele keinen Augenblick gedacht!

»Sie werden auf diese Frage keine Antwort verlangen, Illzach,« entgegnete er nach einem tiefen, schmerzhaften Atemholen mit gezwungener Ruhe, »es gibt Möglichkeiten, die keine Erörterung ertragen.«

Klaus Krafft neigte in schweigender Zustimmung den Kopf.

Eine Weile herrschte gepreßtes, von stummen Fragen erfülltes Schweigen. Zu der geöffneten Balkontüre herein schlug ein Wirbel zarter Kirschenblüten. Im leeren Vogesenwald rief der Kuckuck, als wenn alles noch wäre wie vor einem Jahr.

Und war doch alles anders geworden.

Am späten Nachmittag kam Jacques Kiener und mit ihm der Notar des Hauses.

Konrad und Kiener begrüßten sich mit äußerster Zurückhaltung.

Der Notar, ein asthmatischer alter Herr mit den Palmen im Knopfloch und blendend weißer Krawatte, weißem Vatermörder und kleinen noch weißeren Favoriten, trug in seiner Mappe die testamentarischen Bestimmungen, die Klaus Krafft der ältere hinterlassen hatte. Der Clerk, lang, mager, und von einem ständigen Duft nach billigen Regie-Zigaretten umgeben, ging wie sein Schatten hinter ihm drein.

Konrad paßte scharf auf. Zwar waren die gesetzlichen Zustellungen schon lange erfolgt und Einreden von keiner Seite erhoben worden, aber man wollte heute die Erbteilung zu gutem Ende bringen.

Konrad wehrte sich für Claudine und prüfte Rechnungen, Titel und Belege mit der Sachkenntnis des Juristen.

226 Kieners spöttisches Lächeln verschwand. Mit festgeschlossenen Lippen, die jedes unnütze Wort verschmähten, folgte der Fabrikant den Verhandlungen.

Es war Abend geworden, als sie ihre Unterschriften auf das neue Stempelpapier mit dem preußischen Adler setzten, das jetzt in Elsaß-Lothringen vorgeschrieben war.

Mit wuchtigem Schnörkel fuhr Kiener durch das heraldische Wasserzeichen. Dann lud Klaus Krafft zu Tische.

Konrad von Eggheim küßte seiner Schwägerin die Hand. Er saß fremd zwischen den andern, die sich in ihrer ganzen Art sich zu geben und zu reden von ihm unterschieden. Und kaum ein paar Minuten vergingen, ohne daß das Gespräch irgendwo anstieß und plötzlich stockte. Eine peinliche Gezwungenheit lastete auf der Unterhaltung.

»Wieviel Webstühle haben Sie laufen, Monsieur Kiener?« fragte der Notar.

»Dreißig Prozent, sie liefern aufs Lager, ich habe meine Kunden alle dort drüben, und der amerikanische Export ist jetzt auch unterbunden.«

Er hatte mit dem ›drüben‹ Frankreich gemeint. Eine nervöse Handbewegung in der Richtung der Berge hatte es bestätigt.

»Nur dreißig Prozent? Und Ihre Arbeiter?«

»Meine Arbeiter? Für die suchen wir in Belfort Arbeit. Wir bauen dort eine zweite Fabrik. Ich optiere für Frankreich.«

Konrad blickte auf.

»Sie wollen Mülhausen und das Land verlassen, Herr Kiener?«

»Ich will bleiben, was ich bin,« antwortete der Fabrikant.

»Dann müssen Sie nach Frankreich übersiedeln, wenn die Optionsgesetzgebung so geregelt wird, wie es die Reichsregierung verlangt,« entgegnete Konrad.

»Das ist eine Härte,« warf Klaus ein.

»Eine Vergewaltigung ist's,« rief Kiener wild. »Ich 227 kenne keine Reichsregierung, die mir mein Franzosentum nehmen kann und das Recht hier zu leben dazu!«

»Ah, Monsieur, warum sind Sie ein Prussien!« seufzte der Notar und betrachtete Konrad mit einem vorwurfsvollen Blick, während er sich den Mund wischte.

Klaus gab seiner Frau ein Zeichen. Sie erhob sich und legte die Hand auf Konrads Arm.

»Wollen Sie mich auf die Terrasse führen? Es ist ein Abend wie im Sommer,« sagte sie und lächelte ihn mit dem ruhigen, sicheren Lächeln einer schönen Frau an.

Ihre weiche, üppige Schönheit erschien in dem Trauerkleid beinahe durchgeistigt. Konrads Sinne spürten die Wirkung ihrer Nähe, als sie leicht auf seinen Arm gelehnt mit lässiger und dennoch bewußter Unbefangenheit ihre weiche Schulter an ihn schmiegte.

Ein Rausch stieg in ihm auf. Ein Verlangen, sie in die Arme zu schließen und in diesem seelenlosen Weib, für das noch nie ein Gedanke in ihm entbrannt war, die Erinnerung an Claudine zu ersticken, die ihm plötzlich den Atem nahm.

Die Mainacht war von zarten Düften geschwängert. Irgendwo blühte der erste Fliederstrauch. Warme Luftwellen kamen aus der Ebene, und an den Rebhalden blühten gelbe, stark riechende wilde Lilien.

Als Eggheim im Jagdwagen allein durch die wolkige Nacht fuhr, kalt verabschiedet, ohne Begleitung wie ein Geächteter, staunte ihn das dunkle Land gespenstisch an. Er hörte, wie es seufzend atmete und sich nicht finden konnte in sein Geschick. Die Dörfer so still, die Städte wie tot, ganze Straßen mit geschlossenen Läden. ›A vendre‹ stand in Kolmar an jedem dritten Haus. Die Denkmäler elsässischer Generäle, die in der pathetischen Haltung französischer Kunst von den Sockeln und Brunnensäulen blickten, standen starr und fremd, und zwischen den deutschen Beamten und den eingesessenen Bürgern gähnte eine Kluft, über die keine Brücke führte.

Als der Jagdwagen durch die Vorstadt von Kolmar 228 fuhr, klang aus einem sorglich verschlossenen, mit doppelten Läden verriegelten Hause der halbversteckte Schall eines Harmoniums und von einer dunkel gefärbten Frauenstimme gesungen die französische Hymne: ›Soyez clément, mon Seigneur!

Wie eine Klage, wie die Klage des Landes selbst stieg's aus verschlossenen Räumen und zerbrach im Echo der Nacht.

Da dachte Konrad von Eggheim an seine Frau und wurde von einer unendlichen Nachsicht gegen sie erfüllt.

Er reiste schon nach vierzehn Tagen nach Kassel und stellte sich auf dem Oberpräsidium vor. Der Oberpräsident von Möller gewährte ihm einen vierwöchigen Urlaub, um die Übersiedlung einzuleiten und sich in der neuen Umgebung heimisch zu machen.

In der französischen Neustadt fand Konrad nach langem Suchen ein Gartenhaus, das ihm mit seinen französischen Bauformen und den alten, aus der Schere geratenen, aber nur um so schöner gewordenen Anlagen so gefiel, daß er es mietete. Ohne seine Frau zu fragen, ließ er die Ausstattung, die Claudine nach Eggweiler mitgebracht hatte, nach Kassel verfrachten. Tante Seffi, zur rechten Zeit von ihren Gliederschmerzen genesen, nahm sich des Umzuges bis ins kleinste an.

»Die Frau muß ihr Eigenes um sich haben, da hat der Konrad recht. Und wenn's nur für ein Jahr ist. Das mit der Hotelwohnung war eine Garçonidee,« sagte sie zu ihrem Mann und warf ihm die letzten Worte beinahe wie einen Vorwurf hin, als könnte Philibert das geringste für Konrads ersten Einfall.

Konrad fuhr zuerst noch einmal nach Eggweiler, ehe er seine Frau holen ging. Das alte Eggheimsche Haus steckte noch voll von schwerem Familienhausrat, gewaltigen Barockschränken mit gedrehten Säulen und steifen Empiresesseln, Vorhängen und Teppichen. Auch sein eigenes Arbeitszimmer war zurückgelassen worden. Im Gewehrschrank standen Büchse, Drilling und Entenflinte. 229 Die Bücherei mit ihren Scharteken, Vaters historischen Werken und den gelbbraunen Klassikerbänden mußte auch hier bleiben. In Kassel gab es anderes zu tun. Er griff nur einmal hinein, zog den Münchhausen heraus, den Ekkehard und den Faust und seinen alten Freund Don Quichote in der schönen Tieckschen Übersetzung und packte sie ein; genug für ein Jahr.

Als er durch die hallenden Stuben schritt, kam er sich vor wie einer, der ein neues Leben beginnt. Er trat noch einmal auf die Holzaltane hinaus, von der man über das grüne Tal bis Freiburg blickte, sah die Sonne wie einen silbernen Strahlenfächer aus dem verwölkten Junihimmel über die Ebene streifen und weit in der Ferne die blaue Kette der Vogesen als fest und schwungvoll an den Horizont geschriebene Grenzlinie im Blauen stehen.

Er nahm Abschied von Eggweiler, von dem halben Leben, das er hier geführt hatte, nicht mehr Beamter, kein rechter Gelehrter, kaum ein kleiner Gutsherr, der weniger ist als ein rechter Herrenbauer.

Jetzt spürte er erst, wie dieser Krieg und die neue Zeit ihn aus dem eingesponnenen Dasein herausgehoben hatten. Wie er in Saft und Kraft geschossen war!

Leichten Entschlusses zog er die Tür hinter sich zu und ging, seine Frau heim zu holen mit ihrem Kind. Und wie eine heilige Aufgabe empfand er die Notwendigkeit, sie erst wieder zu erobern.

Er fand Claudine bereit zur Reise.

Wieder waren vier Wochen vergangen, seit er sie gesehen hatte, und er suchte vergebens nach einem Zeichen der Veränderung an ihr.

Er konnte nicht entscheiden, ob sie eine Rolle spielte oder ob diese kühle Sicherheit ihm und ihrer Umgebung gegenüber der Ausdruck ihres Wesens war.

Einst war sie von einer heimlichen, leidenschaftlichen Zärtlichkeit gewesen, die sich nur gut zu verbergen wußte, dann scheu und unsicher geworden, beredt in Briefen und stumm und fremd, als er ihr gegenübertrat, heute bannte 230 sie ihn durch die artige Kälte und den meisterhaften Stil, mit dem sie sich stets als Dame gab, in genau abgemessene Entfernung.

Es gab nichts Selbstverständlicheres und Artigeres als den Ton freundlichen Ernstes, mit dem sie ihrem Manne begegnete. Aber diese Art sich zu geben, strahlte zugleich eine eisige Kälte aus.

Als sie sich nach langer, ermüdender Bahnfahrt Frankfurt näherten, um dort zu übernachten, lag schon blaues Dunkel über dem Mainland.

Claudine saß hart in die Ecke des stoßenden Wagens gedrückt. Die Amme war mit dem Kind auf dem Schoß eingeschlafen. Konrad hielt die Augen geschlossen, denn er hatte bemerkt, daß auf Claudinens Stirn die Brauen ein paarmal nervös zuckten, wenn sie sich von seinem Blick belästigt fühlte.

Die schwarzen Föhrenwälder wollten kein Ende nehmen.

Claudine schien es, als führen sie schon seit Stunden zwischen diesen näher und näher rückenden Kulissen dahin. Nun ging es in die Kriegsgefangenschaft . . .

Konrad hatte den Fuß neben ihr aufgestützt und sperrte dadurch mit ausgestrecktem Bein die Tür, die schon manchmal vom Schaffner aufgerissen worden war, daß die feuchte Nachtluft hereinquoll und die ganze dunkle, fliehende Landschaft mit hereinzudringen schien.

Vielleicht fürchtete Konrad, sie könnte die Tür von innen öffnen und aus dem Zug springen.

Ein feindlicher Blick traf den Schläfer.

Aber plötzlich erriet sie, daß er nicht schlief, nur die Augen geschlossen hielt. Hinter dieser Stirn liefen die Gedanken, unter den Lidern bewegten sich die Augäpfel. Im Vollbart erschien deutlich die Linie des fest geschlossenen Mundes.

Er wachte. Auf der Hut vor ihr? Oder um die Hand über sie zu halten? Ah, sie haßte ihn, wollte, mußte ihn hassen, denn er hatte ihr damals den Willen 231 zerbrochen, sie war ihm von St. Niklausen nach Heitersheim gefolgt, sie hatte ihn geliebt, und deshalb haßte sie ihn. Er war verwundet worden. Sie sah jetzt, wie er den linken Arm gezwungen hielt, sie haßte ihn trotzdem. Er hatte den Koffer nicht ins Netz hinaufheben können. Sie hatte ihm helfen müssen . . .

Morgen waren sie in Kassel, morgen!

Der Frankfurter Stadtforst wuchs wie ein ungeheurer Urwald zum Fenster herein. Das flackernde Licht lag wie ein ängstliches Auge auf den schwarzen, starr vorübergleitenden Bäumen.

Wenn sie jetzt die Tür öffnete und hinaussprang, war jeder Kampf zu Ende. Aber sie antwortete auf diesen Gedanken, indem sie sich straff aufrichtete und einen zweiten Blick auf den falschen Schläfer schoß.

Dann schloß sie die Augen. Morgen saß sie in fremden Möbeln unter fremden Menschen. –

Am andern Mittag kamen sie in Kassel an.

Es hatte in der Nacht geregnet. Jetzt schien die Sonne, und über dem ganzen Tal der Fulda hing der Duft blühender Linden.

Claudine hatte ihr Kind auf den Schoß genommen, denn die Droschke war so eng, daß die Amme in ihren breitfallenden Röcken und mit der großen Elsässer Haarschleife keinen Platz hatte finden können.

Konrad war mit seiner Frau allein. Das Kind zählte nicht.

Als es durch die schrecklichen Stöße des Pflasters verängstigt, zu weinen anfing und Claudine es schwebend hielt, um ihm die Erschütterungen zu ersparen, sagte Konrad:

»Wir sind gleich da.«

Als Antwort hob sie das Kind noch höher empor und hielt es wie eine köstliche Opfergabe, schwebend in der Luft.

Sie hatte keinen einzigen Blick aus dem Kutschenfenster geworfen.

232 Nun waren sie angekommen.

Konrad half ihr mit dem Kind aussteigen. Ein kleines einstöckiges Vorderhaus, das von einem großen Torgang wie durchbrochen und ausgehöhlt erschien, dahinter ein Hof mit einem zweiten Tor, und nun stand Claudine vor dem Gartenhaus mit seinem Barockdach, den großen Balkontüren und der geschwungenen, breiten Sandsteintreppe, die dem einstöckigen Hause mit seinen sechs Fenstern Front das Aussehen eines Miniaturpalastes gab.

Die Tujahecken dufteten stärker nach dem Nachtregen, und in den Blumenbeeten liefen die Amseln einher, ohne sich um die Menschen zu kümmern.

»Hier ist's?« fragte Claudine lebhaft überrascht und bereute die Frage gleich wieder.

Als Konrad erwiderte: »Nicht wahr, es ist hübsch?« entgegnete sie kühl: »Sehr hübsch,« und stieg die Treppe hinauf, ohne noch einen Blick an das Haus und den Garten zu verschwenden.

Franz öffnete.

Claudine trat in ihr Zimmer. Einen Augenblick versagte ihr der Atem. Sie hatte ihr Exil, ihre Gefangenschaft im tiefsten Deutschland in Gedanken mit fremden Möbeln, einem grotesken Garçon- oder Philistergeschmack ausgestattet, sich in diese Vorstellung hineingewühlt und beinahe eine selbstquälerische Lust dabei empfunden und stand nun mitten in ihrem eigenen Hausgerät. Ihre Sphäre, die sie so lange entbehrt hatte, alles das, was Claudine von Eggheim umgeben und zu ihr gesprochen hatte, webte um sie her.

Das Kind wog plötzlich schwer auf ihren Armen. Heimweh und zugleich ein Gefühl des Daheims, des Geborgenseins überflutete sie und machte sie müde und weich.

Als sie in Konrads Gesicht die Erwartung, die verhaltene Befriedigung zu einem Lächeln werden sah, das auf ihre Kapitulation zu warten schien, da strafften sich ihre Arme, und mit dem kalten Anstand einer Königin, 233 die keinen Blick und keinen Dank übrig hat, sondern als selbstverständlichen Tribut hinnimmt, was ihr zu Liebe und Ehre getan wird, schritt sie über die Teppiche.

Konrad von Eggheim biß die Zähne aufeinander. Ein schwerer, wilder Herzschlag trieb ihm eine dunkle Blutwolke ins Gesicht. Aber er bezwang sich.

»Bitte, hier, Claudine! Dies ist das Kinderzimmer und nebenan dein Schlafzimmer.«

Er öffnete ihr die Türen. Durch die Fenster strömte der Geruch frischer Erde und blühender Spalierreben.

Über den schwarzen Buchshecken stieg die kupfergedeckte Kuppel einer Kirche empor, und dahinter schwoll grüner Wald auf sanfter Höhe und schloß die Fernsicht.

Claudine setzte das Kind auf sein Bettchen nieder.

Sie war allein mit ihm.

Ihr Mann hatte sich entfernt. Die Dienstboten waren noch nicht eingetroffen. Im Garten zirpten die Meisen, sonst schwieg jeder Laut. Wie auseinandergebrochen, nur ein halbes, kein ganzes Stück stand Claudinens Bett nebenan im Zimmer. Konrad hatte die miteinander verbundenen Bettstellen von einem Schreiner in Freiburg trennen und zwei gesonderte Bettstellen daraus machen lassen.

Ein trotziger Zug grub sich um Claudinens Mund. Als sie im August an Klaus Krafft schrieb, um auf seine Frage nach ihrem Wohlergehen und den ehelichen Verhältnissen zu antworten, erwähnte sie dieses Umstandes auf ihre Weise.

»Wir haben unsere Ehe vorläufig nur von einem Tischler trennen lassen,« schrieb sie mit bitterer Selbstironie.

Sie lebte einsam neben ihrem Manne her. Es war eine kalte Ehe.

Aus einem jungen Paar, das sich vom Leben tragen ließ, waren zwei Menschen geworden, die in stillem, stummem Kampfe ihre Kräfte maßen.

Nie würde er sie erobern, nie!

234 Eggheim war von seinen Amtspflichten voll in Atem gehalten.

Er arbeitete sich nicht ohne Schwierigkeiten in die preußischen Verhältnisse ein. Das straff Zugeschnittene des dienstlichen Verkehrs, die hart an Pedanterie streifende aber rückhaltlose Hingabe verlangende Auffassung des Beamtenberufes und manches andere mußte nicht nur erlernt, sondern auch innerlich verarbeitet werden.

Dem Süddeutschen mit der demokratischen Lebensführung, mit der mehr Persönlichkeit duldenden Menschlichkeit ging manches wider die Natur. Aber immer wieder riß ihn der gewaltige Antrieb, der in diesem herben, staatsbildenden Preußentum steckte, mit sich fort.

Zu Hause fand Konrad keine Gelegenheit, sich die Erfahrungen und die kleinen, mit dem Dienst unlöslich verknüpften Konflikte vom Herzen zu reden.

Die Brücke des Verständnisses war abgebrochen.

Doch er war so ehrlich sich zu sagen, daß Claudine in diesem Zwischenzustand noch mehr litt als er. Viel mehr. Er wollte mit der neuen Zeit und den neuen Verhältnissen fertig werden, sie stand fremd vor fremden Türen und begehrte nicht, hindurchzugehen.

Zu den Pflichtbesuchen hatte sie sich, ihrem eigenen Versprechen getreu, ohne Einrede bereitfinden lassen. Aber ihre Zurückhaltung hatte so etwas Land- und Ortsfremdes, daß ein gesellschaftlicher Verkehr von vornherein unmöglich wurde. Auch nach dem Ablauf der tiefsten Trauer trat sie aus dieser Zurückhaltung nicht heraus.

Der Winter schlich mit weichen Schneefällen und grauem, grämlichem Regen hin.

Da erkrankte das Kind.

Als Konrad mittags vom Präsidium nach Hause kam, lag es schon in dämmerndem Fieberschlaf, ganz eingefallen im Gesicht, den Kopf tief in die Kissen gebohrt, daß das Kinn in die Höhe gereckt erschien und unter den Lidern ein verglaster Schimmer der Augäpfel aufglänzte.

235 Es war das erste Mal, daß eine Krankheit in ihre Ehe trat.

Claudine hatte ihrem Mann die Jungfer mit der Botschaft ins Vorzimmer entgegengeschickt. Er wußte, daß sie Franz zu einem Arzt gesandt hatte.

Sie stand von dem Bett auf, als Konrad leise eintrat. Er legte die Hand leicht auf ihre Schulter und drückte sie sanft wieder auf den Bettrand, denn die Hände des Kindes zuckten unruhig nach Claudinens Fingern. Es lag im Bett der Mutter.

Nun blickten beide, Konrad und Claudine, stumm auf das kleine Geschöpf, und Konrad sah Runzeln auf seiner geröteten Stirn, als plagten es schon schwere Gedanken.

Er stand hilflos vor dem Krankenlager, wußte nicht zu raten, spürte nicht einmal seine Gefühle in starke, erschütternde Schwingung versetzt – mehr erstaunt und fassungslos, als ergriffen, blickte er auf das entstellte Bild.

Claudine hielt die kleinen zuckenden Hände und feuchtete ihm zuweilen die trockenen, schmerzlich gekrümmten Lippen. Aber während nebenan die Amme schluchzte, als läge ihr eigenes Kind schon im Sterben, blieb die Mutter ruhig und gefaßt, tat ihre Pflicht mit instinktiver Hingabe und vorsätzlicher Treue, aber ohne im Innersten erschüttert zu sein.

Endlich kam der Arzt.

Konrad ging ihm entgegen.

Franz hatte vor der Türe Doktor Crébillons gewartet, bis dieser von seinen Krankenbesuchen nach Hause zurückgekehrt war, und ihn bewogen, sogleich noch vor dem Mittagessen zu kommen.

Ein älterer Mann, mit schwarzen, lebhaften Augen. Claudine war durch den französisch klingenden Namen bestochen worden, als sie im schnell herbeigeschafften Adressenverzeichnis nach Ärzten gesucht hatte.

Er sagte gleich zu Eggheim, daß der nasse, trübe Winter den Kindern arg zusetze, und ging dann zu der kleinen Kranken.

236 Zum ersten Mal wurden Konrad und Claudine als Gatten angesprochen, nicht getrennt, sondern als gebundene Einheit über das Schicksal ihres Kindes befragt und belehrt.

Der weiche, klumpige Schnee, der auf den hohen Taxusbüschen lastete, warf einen grellen Blendschein in das Krankenzimmer.

Als der Arzt das kleine Wesen abdeckte, sah Konrad den rosigen, runden Leib nach innen gezogen, daß die Brust hoch gewölbt hervortrat.

Claudine hielt dann die brennende Kerze, mit der Doktor Crébillon dem Phinele in die starren Augen leuchtete. Das Flämmchen stand wie gebrochen in den blicklosen Sternen.

Die Untersuchung war zu Ende.

Der Arzt trat in die Fensternische. Langsam folgten ihm die Eltern.

Erst Konrad, dann, als Doktor Crébillon zu ihr hinüberblickte, als wartete er auf sie, Claudine.

Das Kind lag wieder mit gerunzelter Stirn in schlafähnlichem Zustand. Ruhiger wie es schien, aber flüchtig atmend.

Weder Konrad noch Claudine fürchteten für sein Leben.

Der Mann verspürte nur tiefes Mitleid mit dem Würmchen, das schon leiden mußte, und die Mutter war aus ihrer Ruhe geschreckt, weil sie die Hilfe des Arztes hatte anrufen müssen und nun Sorge und Liebe mit ihrem Manne teilen mußte. Sie fürchtete die Berührungen im unvermeidlichen Gedankenaustausch mit ihrem Manne.

Es war ihr Kind, und nur ihr Kind!

Der Arzt begnügte sich, seine Anweisungen für die Pflege und die Behandlung zu geben. Er tat es mit einem großen, nur zuweilen durch leichtere Wendungen und kurze Trostsprüche gemilderten Ernst.

Vom gelblich verfärbten Schnee fiel ein Widerschein auf Claudinens blasses Gesicht.

237 »Fassen Sie Mut, gnädige Frau! Wir werden es an nichts fehlen lassen, und in Kindern steckt ein großer Lebenswille. Ich spreche heute abend nach einmal vor.«

Auf dem Flur fand er sich mit dem geübten Blick des Arztes rasch zurecht, öffnete die Tür zu dem Zimmer, in dem er die Wohnstube vermutete, und bat Konrad, ihm zu folgen.

»Ihr Töchterchen ist leider kränker, als ich Ihrer Frau Gemahlin gestehen darf, Herr Regierungsrat.«

Die Worte waren ruhig und ohne Nachdruck gesprochen, aber sie fielen wie Keulenschläge auf Konrad nieder.

Ungläubig starrte er den Arzt an.

»Es liegt ja so still, die erschreckenden ersten Symptome sind ja alle gewichen,« versuchte er laienhaft und doch sein bißchen Kenntnis medizinischer Terminologie zusammenfassend, zu erwidern.

Einen Augenblick besann sich Doktor Crébillon, dann faßte er den Entschluß, dem Manne alles zu sagen.

»Sie sind fremd hier, Herr Regierungsrat, und Ihre Frau Gemahlin scheint eine jener fein organisierten Naturen zu sein, die sich meisterhaft verschließen. Ich möchte nicht, daß wir, wenn die Krankheit eine schlimme Wendung nehmen sollte, von der Katastrophe überrascht würden. Ich muß Sie vorbereiten, und Sie, Herr von Eggheim, haben zu entscheiden, ob Sie Ihre Frau auf den schlimmsten Fall vorbereiten oder es der Vorsehung anheimgeben wollen, was geschieht und wie sie es trägt.«

Es war nicht die bürgerliche, deutsche Wohnstube, in der sie weilten, sondern Claudinens Stübchen, halb Boudoir, halb Musik- und ein klein wenig Kinderspielzimmer.

Konrad blickte sich unwillkürlich darin um, als könnte er sich dann auch innerlich besser zurechtfinden. Und plötzlich packte ihn die Angst um Claudine, die größer war, als die Sorge um das Kind.

Er trat auf den Arzt zu, faßte seine Hand, und seine Stimme hatte einen dumpfen, befehlenden Klang, beinahe wie in den Nachtgefechten der Dordogne, als er sagte:

238 »Herr Doktor, das Kind darf nicht sterben!«

Der Arzt wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick bewegte sich die Tür, Claudine erschien auf der Schwelle.

Überrascht, argwöhnisch vom Arzt zu ihrem Mann blickend, in dessen Zügen noch die große Angst mit der männlichen Fassung um die Herrschaft rang, blieb sie auf der Schwelle stehen.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau, daß wir hier eingedrungen sind. Ich räume sofort das Feld. Ja, das Haus ist wohl noch von dem französischen Baumeister du Ry gebaut. Damals ging der Park noch bis an die Straße. König Jérôme hat es einer Freundin geschenkt. Aber die Devise ›Morgen wieder lustik‹ verlor schon nach ein paar Jahren die Giltigkeit. In so feuchten Wintern, wie der heurige, sind die alten schönen Bauten mit ihrem einzigen Wohngeschoß leider nicht die gesundesten. In der Touraine ist das etwas anderes.«

Er hatte die Lage gerettet.

»Erlauben Sie mir die Frage: Sind Sie Franzose, Herr Doktor?« fragte Claudine lebhafter als sonst, und eine feine Röte stieg in ihr blasses Gesicht.

»Doch nicht, gnädige Frau, ich bin Kurhesse. Mein Name? Gewiß, der klingt und ist französisch. Und französischer Abkunft bin ich allerdings. Wir sind ein paar hundert Refugianten hier in Kassel, aber längst Deutsche geworden. Erst Kurhessen, dann Mußpreußen und nun Preußen und Deutsche.«

Claudinens flüchtige Wangenröte war längst erblichen.

Der Arzt empfahl sich.

Die kleine Phine lag still, ein Eisbeutel kühlte das dunkle Köpfchen, die verhängten Fenster ließen kein Licht herein. Alles schlich auf den Fußspitzen.

Konrad ging in seiner Schlafstube auf und ab. Der Teppich erstickte seinen Schritt. Phine durfte nicht sterben. Sie nahm mehr als ihr eigenes Leben mit, wenn 239 sie starb. Er war fremd an Krankenbetten. Der Vater war an einem Herzschlag gestorben, die Mutter hatte er im Sarg gefunden, als er aus dem Staatsexamen nach Hause gerufen wurde.

Im Krieg waren Tod und Sterben in anderen Gestalten und übermenschlichen Gesichten an ihn herangetreten. Da hatte auch er anders gefühlt und gedacht als heute.

Er konnte es ihr nicht sagen. Das Kind lebte ja noch. Es konnte nicht sterben. Ein so kleines Flämmchen brennt länger, als eine flackernde Lohe.

Um Claudine nicht argwöhnisch zu machen, ging er täglich auf den Glockenschlag ins Bureau. Dort grub er sich in die Arbeit, und die hielt ihn fest, bis ihn am dritten Tage gegen sieben Uhr eine unnatürliche Unruhe befiel.

Der Akt über die Schulverwaltung von Großalmerode lag zäh und störrisch unter seiner Feder. Von schulpflichtigen Kindern, von Kindern, von kleinen Kindern war darin die Rede. Zahlen, Sterbetabellen, Krankheitsberichte, Klagen über mangelhafte, ungesunde Schulräume wuchsen lebendig aus den gelben Bogen, und er sah wieder die kleine Phine mit dem Eisumschlag auf den feinen, dunklen Haaren in Claudinens Kissen liegen – er stand auf, schloß den Gashahn und tappte aus dem Zimmer.

Wässeriger Schnee trieb in den Straßen, die Laternen hatten bunte Aureolen aufgesteckt, das Gartenhaus lag unheimlich groß und fast erdrückt von der Last des geschweiften Daches zwischen schwarzen, vom Schnee abgeschatteten Baumkulissen.

Er fand Claudine wie immer am Krankenbett.

Das Kind lag ruhig, nur den Kopf so unnatürlich nach hinten gereckt. Alle Versuche, es anders zu betten, waren fehlgeschlagen. Die Eisstückchen klirrten, als Claudine den Beutel wechselte. Das Fieber war nicht gestiegen.

240 Als Konrad sich tief über Phine bückte und das spitzgewordene Leidensgesicht im matten Kerzenlicht sichtbar wurde, quoll plötzlich die große Liebe und Zärtlichkeit in ihm auf, die bisher in ihm geschlafen hatte. Sein Kind! Ihr Kind, das zwischen ihnen die Hände hielt, das geheimnisvoll und unberührt von allem, was geschah, den Weg zur Welt gefunden, während er im Felde gelegen und der Tod seine große Ernte gehalten hatte!

Es hatte kaum die ersten Schritte machen können, seine Sprache war nicht zwanzig Wörter reich, aber es war ihr alles, war Haft und Halt ihrer Ehe. Auf einmal überwältigte ihn diese erschreckende Erkenntnis! Nein, Phine durfte nicht sterben!

Diesmal las Claudine in den Zügen ihres Mannes etwas, das sie in einer unheimlichen Ahnung erschauern ließ. Sie hatte schon lange nicht mehr in Konrads Zügen gelesen, fand ihn verändert, die Züge tiefer gegraben, den Charakter herausgemeißelt, der früher noch in weiche Formen eingebettet lag, und sah jetzt den Ausdruck einer qualvollen Angst und eines tapferen Willens darin.

Da legte sie die Hand auf seinen Arm. Zum ersten Mal, seit sie wieder unter einem Dache wohnten, berührten sie sich, und dann bat sie leise, mit ihrer schönen, gefestigten Stimme:

»Was ist, Konrad? Sag mir alles!«

Er winkte ihr, ihm zu folgen.

An der Türe begegneten sich ihre Augen. Sie hatten beide denselben aus der Tiefe steigenden Blick. Der Alltag war versunken.

In Claudinens Zimmer brannte die große Alabasterlampe.

Konrad blieb am Kamin stehen.

Das Antlitz seiner Frau war von der durchsichtigen Blässe der Ampel. Der kühne Schwung des Profils fiel ihm wieder auf. Auch die schmale Gesichtsbildung, die in den letzten Tagen wieder stärker hervortrat.

241 Sie bemerkte seine prüfenden Blicke. Ihre Brauen zuckten.

Da holte er Atem und dachte daran, daß er sich und ihr die Wahrheit schuldig war.

»Wir sind uns noch nicht wieder näher gekommen, Claudine. Aber ich bitte dich, vergiß das jetzt, denn es handelt sich um das Kind.«

»Ich denke an nichts anderes als an das Kind,« entgegnete sie, und eine unzeitige Hoffnung, die selbstsüchtig in ihm aufgeflackert war, während das kleine Leben da drüben zu schwinden drohte, fiel in sich zusammen.

Ja, sie dachte nur an das Kind! Er sah es an ihrem Gesichtsausdruck, hörte es am Ton, am ungeduldigen, Antwort heischenden Ton ihrer Stimme.

Er schämte sich und konnte doch dies tolle, unnatürliche Gefühl der Eifersucht nicht sofort ersticken, das plötzlich in ihm aufbäumte.

Aber dann wurde er seiner doch Meister, und auch in ihm lebte nur noch der Gedanke an die todkranke Phine, als er erwiderte:

»Das Kind ist kränker als wir glauben.«

»Kränker – als – wir – glauben? – Wie krank ist das Kind?«

In der letzten Frage brannte ihre ganze leidenschaftliche Angst und Liebe. Er hörte einen Mutterschrei heraus, dessen er sie nicht für fähig gehalten hätte.

»Sterbenskrank, der Arzt gibt wenig Hoffnung.«

»Sterbenskrank? Wenig Hoffnung? – Aber doch noch Hoffnung! Sag's – doch noch Hoffnung!«

Halb ihm zugekehrt, halb zur Tür gewandt, bereit hinauszustürzen, stieß sie die Worte hervor.

Er zögerte einen Augenblick und fuhr dann traurig fort:

»Das wird er uns heute abend noch selbst sagen müssen.«

»Ja, das muß er!« antwortete sie hart und wandte sich zur Tür.

242 »Claudine!«

Die Hand auf der Klinke, blickte sie über die Schulter zurück.

Er streckte ihr die Hände entgegen. Seine Stimme war heiser vor Erregung.

»Wollen wir nicht zusammen zu ihm gehen? Kann sein, daß es nicht am Leben bleibt, was soll dann werden, wenn wir uns nicht wiedergefunden haben?«

»Es darf nicht sterben, es kann nicht sterben, mein Kind darf nicht sterben!«

Noch klang der verzweifelte Schrei in zitternden Schwingungen durch das Zimmer und rief in. stummen Gebäude des Pianos ein seltsames Echo wach, da Claudine schon lange verschwunden war.

Konrad von Eggheim ließ die leeren Hände schwer herabsinken. Ein Wind war aufgestanden und wehte vom Habichtsberg ins Tal. Statt der Flocken fielen Tropfen, silberner Regenschauer prasselte an die Scheiben. Noch vier Monate, dann war seine Zeit abgelaufen. Noch vier Monate in Kassel und dann? Nein, sein kleines Mädele durfte nicht sterben, sein Mäusle, sein kleines, das ihm zuletzt so oft zwischen den Beinen durchgelaufen war, gehen lernen wollte! Es mußte leben, leben, für sich selbst, für ihn, für Claudine, für ihn und Claudine!

Spät am Abend kam Doktor Crébillon. Er sah in Claudinens Gesicht, daß sie vorbereitet war, las aber auch ihren Unglauben darin. Er kannte das. Und dabei war's ein erlöschendes Leben, zu dem er gerufen worden war. Der Puls ein flatterndes Fädchen, das Gehirn schon von der tückischen Krankheit zermürbt, der Tod im Gewand seines Zwillingsbruders, des Schlafes, heimlich ans Lager geschlichen.

In tiefer Betäubung lag die kleine Phine und schlief in den Tod.

Zwei Kerzen standen auf ihren Silberfüßen, und ihre gelben Lichter zitterten leise.

243 Claudine blickte den Arzt an. Ohne Tränen, ohne Bewegung, ihre ganze Seele in den fragenden Augen.

Sie kauerte an der andern Seite über das Bett gebückt.

Konrad sah, wie ihre Lippen sich vor Schmerz spannten. Er stand am Fußende, sah sie, das Kind, den Arzt, alles wie wenn er dabei nur kühler, unbeteiligter Zuschauer wäre, aber das Herz zerschlug ihm fast die Brust im harten Stoß.

Nach einer Weile zuckte der Arzt traurig die Achseln und ergriff Claudinens Hand, schob das Händchen des Kindes hinein und hielt beide eine Weile so fest.

Dann richtete er sich auf und winkte dem Vater.

Claudine hatte noch nicht begriffen, nicht begreifen wollen, was die zarte Handlung und dieses Zurücktreten des Arztes vor den Eltern bedeuten sollte.

Konrad wußte, daß sein Kind jetzt wieder aus der Welt ging.

Er trat leise heran, der Arzt machte ihm Platz. Drüben stand Claudine. Zwischen ihnen das Bett und das Kind. Lag noch ein Händchen wie verloren auf der Decke, und nach diesen erkaltenden, unruhigen Fingern, die im Leben nichts hatten halten können, griff Konrad von Eggheim, als müßte er sich daran anklammern, und über dem fremd gewordenen Antlitz des sterbenden Kindes mischte sich der unterdrückte Atem der beiden Menschen, die in diesem Augenblick, von einem ungeheuren, stummen Schmerz zerrissen, nichts mehr von sich wußten, als daß ihr Kind, ihr einziges Kind sich von ihnen löste und starb.

Mitternacht war vorüber, da stand der letzte Odem still. Draußen fuhr der Tauwind in heftigen Schauern einher.

Konrad wagte nicht sich zu rühren, um seine Frau nicht aufzustören.

Sie lag noch auf den Knieen, den Arm über das Kind geworfen, den Kopf neben es ins Kissen gedrückt und 244 starrte mit toten Augen auf das plötzlich klar und friedlich gewordene Gesicht.

Der Arzt trat leise herzu, begnügte sich aber, das Händchen zu fassen, das Konrad noch umspannt hielt, und das Erlöschen des Pulses festzustellen. Auch er wollte die Mutter nicht aufschrecken. Besser – sie fand sich selbst zum lauten Schmerz zurück.

Konrad begleitete Doktor Crébillon zur Tür.

Sie ließen sie halb offen. Auf dem Flur standen sie flüsternd, und Konrad ließ sich belehren, was nun zu tun sei. Sein Hirn war wie ausgeräumt.

Claudine verlor die stumme, tränenlose Starrheit ihres Schmerzes nicht. Sie bettete ihr Kind zum letzten Schlaf. Miteinander legten sie es in den kleinen, honiggelben Sarg.

Am dritten Tag wurde Josephine von Eggheim an der Halde der Aue bestattet.

Klaus Krafft war noch zum Begräbnis zurecht gekommen. Auch sein Anblick schmolz Claudinens starren Schmerz nicht.

Die Amme reiste ab und weinte wie eine Mutter um das Phinele.

»Sie kann weinen,« sagte Claudine in mühsamer Gedankenarbeit zu sich und neidete ihr die Tränen.

Acht Tage blieb Klaus Krafft in Kassel. Sie gingen spazieren in den einsamen Anlagen der Aue, die von frischen Frühlingswinden getrocknet wurde, und saßen in matten Gesprächen im still und leer gewordenen Hause.

Wenn Konrad in das Präsidium ging, tat er es mit dem Bewußtsein, daß jede Stunde ihn vor eine Katastrophe stellen konnte.

Er hatte Doktor Crébillon gefragt, ob er Claudine nicht der unnatürlichen Erstarrung ihres Schmerzes durch eine Aussprache entreißen sollte. Aber der kluge Blick der schwarzen Augen schien ihn zu fragen, ob nicht besondere Gründe diesen unter der Oberfläche spielenden Kampf erklärten, und als der Arzt sagte: »Ich weiß 245 nicht, ob ich dazu raten soll, ein langsames Auftauen ihrer erstarrten Seele wäre mir lieber,« da ließ er den Gedanken fallen.

Am 15. März erhielt er seine Versetzung ans Bezirkspräsidium nach Kolmar. Das war eine Überraschung. Zum ersten Mal trieb ihm wieder etwas das Blut durch die Adern.

Claudine nahm es teilnahmlos auf.

Am 1. April verließen sie die Stadt. Es war vier Wochen nach dem Tode ihres Kindes.

›Lasset das Phinele ruhig dort schlafen. Die Erde hält überall gleich warm. Wenn ihr nach zehn Jahren zurückdenkt, ist's nur noch eine verklärte Erinnerung, die euch überallhin begleitet. Will sagen, wenn ihr selber euch wieder zueinander gefunden habt. Denn das steht noch vor euch.‹

So schrieb Tante Seffi an Konrad von Eggheim.

Er wagte noch nicht, seiner Frau den Brief zu zeigen.

Ruhig war sie an die Vorbereitungen des Umzuges gegangen. Für die Stellung, die Konrad im Elsaß bekleiden sollte, bekundete sie kein Interesse.

Zwischen ihnen weitete sich die Kluft, und niemand war da, sie zu füllen. Sie lebte planlos neben ihrem Manne her.

Der Tod des Kindes hatte den Kampf geendet. Sie waren einander nicht mehr nahe genug, um die Waffen zu kreuzen.

Am Tag vor der Abreise war Claudine auf den Friedhof gegangen und hatte das nackte Grab mit den ersten Frühlingsblumen geschmückt.

Als sie wenige Stunden vor dem Antritt der Fahrt noch einmal hinausging, trat Konrad stumm zu ihr, um sie zu begleiten.

Einen Augenblick zögerte sie, schien auf den Gang verzichten zu wollen, besann sich und ließ es geschehen, daß er neben ihr herging.

246 Es war das erste Mal seit dem Tode des Kindes, daß Konrad ihr seinen Willen aufzwang.

Sie wechselten ein paar Worte und standen am Grab in stillen Gedanken. In beiden schwieg etwas in dieser Stunde. Keine Klage, keine Anklage, nichts gestaltete sich. Es war ein wunschloses Anerkennen geschehener Dinge und vollendeten Lebens.

Spärliche Sonne sickerte durch graues Fasergewölk. Von der Wilhelmshöhe funkelte die Krone des großen Springquells im schräg fallenden Licht.

Es war auf dem Rückweg. Da bemerkte Konrad auf einmal, daß Claudine geweint hatte. Wo und wann, wußte er nicht zu sagen. Aber Tränenspuren hingen an ihren Wimpern. Sie konnte weinen. Er tat, als sähe er es nicht, und hätte sie doch so gern in die Arme genommen und gesagt: ›Wein dich aus, Frau, ich bin ja da!‹

Und sie ließen Grab und Stadt hinter sich. Die Bergstraße stand schon in weißen Blüten, der Frühlingshimmel hatte seine Schäfchen ausgetrieben, und von silbernen Lichtern durchleuchtet stand der Münsterturm über dem ruhenden Land, als sie Straßburg entgegenfuhren.

Auf dem Bezirkspräsidium in Kolmar wurde Konrad mit einer Nachricht empfangen, die mit einem Ruck eine neue Straße vor ihm öffnete.

Der Präsident begrüßte ihn mit den Worten:

»Packen Sie Ihre Möbel gar nicht aus, Herr von Eggheim. Sie erhalten auf 1. Juli die Kreisdirektion von Dornkirch.«

Da stürmte er durch die hallenden Gänge und den Garten der Präfektur, über das Marsfeld und durch die stillen, toten Gassen ins Hotel ›Zu den zwei Schlüsseln‹ und trat voll Eifer und Lust vor seine Frau und rief:

»Herrgott, Claudine, jetzt hab ich erst, was mir gefehlt hat: keine Aktenbüffelei und kein Pergamentenkram mehr, sondern eine lebendige Tätigkeit, ein 247 Schaffen fürs Volk – jetzt fang ich erst an zu leben! Ach was Leben – Schaffen, Wirken muß es heißen!«

Wie ein Sturm war es über den Mann gekommen. Er hatte vergessen, daß er zu einer Frau sprach, der diese Worte fremd ins Ohr klangen.

Claudine schwieg. In dem kalten Gastzimmer, das so nieder und abgenutzt aussah, stand sie selbst kalt und fremd. Im Elsaß, aber auch hier nicht mehr daheim!

Konrad hielt inne. Ein Schatten legte sich auf seine Züge und deckte die Farben der Erregung.

Eine peinvolle Stille schwamm im Raum. Der schwere, müde Hufschlag des Pferdes, das den Omnibus durch die Einfahrt zog, fiel in das lähmende Schweigen.

Auf einmal wußten beide, daß die Stunde der Aussprache gekommen war.

Claudine wandte ihm ihr blasses Gesicht zu. Sie maßen sich mit prüfenden Blicken.

Und der Mann begann:

»Wir sind jetzt allein, Claudine. Wir zwei, die miteinander fertig werden müssen.«

»Oder auseinandergehen,« warf sie trotzig ein. Aber die Einrede kam aus unsicher flackerndem Gefühl.

»Oder auseinandergehen,« wiederholte er ruhig. »Ganz recht. Aber das Auseinandergehen ist nicht so leicht.«

»Warum nicht?«

Diesmal war sogar ihr Blick unsicher.

»Weil es ein Sichselbstaufgeben wäre, Claudine.«

Da neigte sie sich vor, und ihr Blick, ihre Stimme, ihr ganzes Wesen wurden hart und klar.

»Ich bin mit dir gegangen und habe darauf gewartet, daß sich etwas entscheide. Du weißt, daß ich dich nicht liebe. Aber ich habe das Kind gehabt. Das Kind hätte nicht sterben dürfen und ist doch gestorben.«

In ihrer Stimme zitterten ungeweinte Tränen.

Konrad atmete schwer.

»Ja, das Kind! Auch ich habe gemeint, daß es nicht 248 sterben dürfe. Heute könnte ich eher sagen, es hat sterben müssen, wenn es nicht wie Blasphemie klänge!«

»Sterben müssen!« schrie sie auf und trat dicht vor ihn hin.

Tief und dunkel war seine Stimme, als er antwortete:

»Ja, Claudine, sterben müssen. Es hat uns zusammengehalten, hab ich gesagt. Das war ein egoistischer Schluß. Dazu sind Kinder nicht da, daß sie den Eltern als Bindemittel dienen. Um ihrer selbst willen leben sie. Die arme kleine Phine hat sterben müssen, damit wir frei werden. Heute sind wir frei in unseren Entscheidungen. Braucht keins mehr an das Kind zu denken. Es hat den Platz geräumt. Du hast gewartet, daß sich etwas entscheide? Das Schicksal hat entschieden.«

»Nein, nein, nichts hat es entschieden,« entgegnete sie leidenschaftlich. »Niemand ist frei geworden in seinen Entschlüssen. Das Kind, das ich dort in Kassel habe begraben müssen, ist heute stärker als je.«

Er verstand sie nicht, aber eine unruhige Hoffnung wurde in ihm wach.

»Was willst du damit sagen?« fragte er leise.

Sie kämpfte eine Weile, dann siegte ihre innerste Natur.

»Ich will damit sagen, daß ich dir etwas schuldig geworden bin, denn du hast ja das Kind auch geliebt.«

Als sie diese Worte gesprochen hatte, wußte sie, daß sie sich in seine Hand gegeben hatte.

Konrad von Eggheim fuhr sich über die Stirn, damit die Bewegung verborgen blieb, die ihn plötzlich erschüttert hatte. Er unterdrückte sie und erwiderte gelassen, indem er sein Herz bezwang:

»Das raubt dir nichts von deiner Freiheit, Claudine. Das nicht. Ich bäte dich heute noch, diese Ehe aufzulösen, wenn es nur das wäre. Aber du hast mir heute noch einmal gesagt, daß du mich nicht liebst. Und ich gebe zu, daß wir seit jenem Wiederfinden in Straßburg 249 so neben einander herleben, als liebtest du mich nicht, richtiger, als liebten wir uns nicht. Und das ist ein Betrug, ein Selbstbetrug ist's, ist Trotz, feindseliges Sichwehtun, aber keine offenbare Wahrheit! So gehen wir nicht auseinander! Tausendmal lieber will ich von dir hören, daß du mich hassest, daß ich dir Abscheu einflöße, als dieses – ›Ich liebe dich nicht!‹«

Sie trat ganz dicht zu ihm heran, warf den Kopf in den Nacken, preßte die Arme mit krampfhaft geballten Fäusten nach hinten, daß ihre Brust sich straffte, federnd von trotzigem Widerspruch, und entgegnete:

»Nun denn ja, ich hasse dich!«

»Du lügst, Claudine,« erwiderte er ruhig. »Wie kannst du mich hassen! Vergiß einmal alles, was um uns her vorgegangen ist, und frag dich, ob du mich wirklich hassest! Du hättest andere Waffen als Worte, um mir zu beweisen, daß du mich hassest! Du hassest nicht mich, sondern all das, was zwischen uns getreten ist. Aber auch du bist nicht mehr die Claudine von früher. Auch du willst heute härter angefaßt sein vom Leben. Du bist gewachsen, wie ich gewachsen bin in dieser eisernen Zeit. Und ich, ich glaube dir nie, daß du mich hassest, glaube dir nicht einmal mehr, daß du mich nicht liebst. Entfremdet hast du dich mir, das ist alles.«

»Und das ist genug,« versetzte sie herb.

»Es ist nicht genug, weil du die Probe darauf noch nicht gemacht hast. Siehst du, Claudine, an dem Tage, an dem ich erfuhr, daß das Kind verloren war, da hab ich plötzlich auch gefühlt, daß wir zusammengehören, daß ich mit dir ein Leben bilde. Das Kind fiel vom Baum wie eine Frucht, aber der Baum sind wir, du und ich, den reißest du nicht mehr in zwei Teile. Und wenn du dich nicht mehr mit mir freuen, nicht mehr mit mir denken, trauern und hoffen kannst, so kannst du doch auch nicht mehr ohne mich leben. Versuch's, ich gebe dir gern den Weg frei. Du hast gehört, daß ich nach Dornkirch gehe. Begib dich, bis alles geregelt ist, nach St. Niklausen 250 oder nach Straßburg, leb ohne mich, ohne das Kind, und du wirst spüren, ob ich recht habe!«

Sie schwieg.

Da ergriff er ihre Hände und hielt sie fest. Aber mit dem Griff weckte er in ihr die Kraft des Widerstands.

»Ich kann ohne dich leben, ich lebe ja ohne dich, neben dir, dicht neben dir lebe ich ohne dich, und das ist tausendmal schwerer, als wenn ich zu Hause bei den Meinen wäre. Du wirst mich nicht erobern. Schließ die Finger noch fester! So fest du kannst, es ist alles, alles umsonst!«

Er ließ sie los. Seine Stimme klang voll und schwer:

»Du hast recht. Neben mir mußt du leben. Hass' mich, wenn du kannst. Ich kann's ertragen und kann warten!«

»Du wartest umsonst.«

Aber als sie ihm die Antwort entgegenschleuderte, blickte sie aus seinen Augen plötzlich das Kind an, und schluchzend warf sie sich in den Stuhl und winkte ihm zu gehen. 251

 


 


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