Hermann Stegemann
Die Krafft von Illzach
Hermann Stegemann

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Am 18. Dezember schrieb Tante Seffi an Konrad, daß Claudine endlich Nachricht von ihrem Bruder habe. Er sei mit dem Patent als Major an die Spitze eines Bataillons gestellt worden und habe bei Orléans gefochten.

Konrad erinnerte sich der flüchtigen Bemerkung, die Klaus Krafft in ihr großes Gespräch von St. Niklausen gestreut hatte. Damals hatte er kein Ohr gehabt dafür, heute wußte er, daß jene Bemerkung schon einen festen Entschluß bekundet hatte.

Konrad konnte diesem rücksichtslosen Einsetzen der Person seine Bewunderung nicht versagen. Schrieb doch Josepha, daß Illzach an eine Wendung des Waffenglücks nicht mehr glaube, daß er aber zu denen gehören werde, die bis zum bittern Ende das Feld hielten.

Doch der Brief erzählte von Orléans, und das war schon lange her. Das Jahr war abgelaufen. Die Fluren starrten von Schnee, der Nordwind klirrte in den Wäldern, und Glatteis spiegelte auf den Straßen. Der Brief war lange unterwegs gewesen.

Er hatte Konrad in Vesoul erreicht, wo General von Werders Hauptquartier lag.

Es war ein grauer, frostglitzernder Tag.

Konrad hatte wieder unendlich viele Anweisungen des Generalkommandos an die französischen Ortsbehörden übersetzt und stand mit dem Brief in der Hand am vereisten Fenster. Auf der Gasse stampften ein paar Ordonnanzgäule, gegenüber, im Café du Commerce saßen drei Dragonerleutnants und streckten die Beine. Die Häuser lagen wie ausgestorben unter dem grauen Himmel.

147 Nun waren schon wieder Monate vergangen, seit er seine Frau verlassen hatte. Ihre Briefe waren kurz und selten. Sie lagen manchen Tag im Postbeutel, ehe sie den Weg zu ihm fanden. Einer hatte ihn anscheinend überhaupt nicht erreicht. Anfangs hatte Konrad das Ende des Krieges nicht erwarten können. Jetzt machte er sich gar keine Gedanken mehr darüber, wann dieser Feldzug enden könnte. Der Krieg war ihnen allen schon ins Blut übergegangen. Eines war gewiß: Man würde einen Tag länger das Feld halten als der Feind. Mit einer seltsamen Unruhe hatte Konrad den ersten Brief Claudinens durchforscht und ihn enttäuscht und doch erleichtert in die Brusttasche geschoben. Damals war das vierzehnte Korps noch kreuz und quer durch das Burgundenland gezogen und hatte vor Dijon und Vesoul gefochten. Jetzt lag der Stab wieder in Vesoul, aber der Zickzackfeldzug war plötzlich zum Stehen gekommen. Die Ahnung schwerer Entscheidungen hing in der Luft.

»Eggheim, bitte zum Gefangenenverhör!«

Hauptmann von Eggheim fuhr auf, schob den Brief Josephas in den Waffenrock und folgte dem Oberstleutnant ins Nebenzimmer.

Eine Stunde später flogen die Befehle des kommandierenden Generals, die die engere Versammlung der deutschen Truppen befahlen. Aus den Wäldern des Westens wälzte sich, wie aus dem Boden gestiegen, eine französische Armee gegen den Ognon auf Belfort zu, um die Festung zu entsetzen und die Verbindung der vor Paris und bei Le Mans fechtenden deutschen Armee zu zerschneiden. Von hunderttausend, von zweihunderttausend hatten die Gefangenen gefabelt.

Noch lag alles unklar, aber das Land schien in dumpfer Erwartung zu beben, erschauernd schmiegte sich der graue Himmel dicht an die Erde.

Sächsische Batterien rasselten über das holprige Pflaster von Vesoul. Die badische Division rückte nach Vallerois.

Am Tage darauf lief Gewehrfeuer durch die dunklen 148 Gehölze, die sich als schwarze Flecken aus der weißen Landschaft heraushoben.

Eggheim schrieb eine Feldpostkarte an seine Frau. Er hatte alle Konflikte eingesargt. Nur sie grüßen, nur an sie denken!

Wieder wurden Gefangene eingebracht. Sie wußten von vierzigtausend Mann, die schon dicht in der Nähe stünden. Die schwarzen Wälder schienen nähergerückt, als wollten sie Vesoul umklammern und das deutsche Heer erdrücken.

»Vierzigtausend? So viel haben wir zur Not, wenn wir uns vor Belfort legen und den letzten Mann heranziehen, der ein Gewehr tragen kann,« sagte Oberstleutnant von Chelius zu Konrad, als sie vom Verhör kamen. »Aber die Kerle lügen. Vierzigtausend Mann hier bei Vesoul, sechzigtausend bei Villersexel und dort herum – das glaubt der stärkste Mann nicht,« fuhr er fort, während er die Protokolle sichtete.

»Es kann aber doch stimmen,« erwiderte Konrad. »Wenn man die Berichte vergleicht, die Brigade- und Divisionsbezeichnungen zusammenstellt, an die Zweiteilung der Loirearmee denkt, so ist dieser Marsch einer Armee von hunderttausend Mann unter Bourbaki doch durchaus glaubhaft.«

»Na, wir werden's ja sehen, sehen oder spüren – 'n Morgen Eggheim.«

Der Oberstleutnant ging zum Vortrag beim Kommandierenden.

Und bald hier, bald dort knatterte am 5. Januar in der verschneiten Landschaft der spröde Lärm der Gefechte. Im Hauptquartier waren die Mienen noch ernster geworden. Als General von Werder am Abend mit harter Stimme, das hagere Gesicht von der Spannung aller Muskeln zur strengen Maske erstarrt, die Dispositionen für den 6. Januar diktierte, da wußte jeder, daß die nächsten Tage mehr und Schwereres als Raufereien und Gefechte mit vereinzelt das Feld haltenden Mobilgarden und Freischaren bringen würden. Wie eine große Flut 149 schwoll es heran, langsam, zähflüssig. Wie in dunkler Nacht am Strand des Meeres war nur ein Brausen, ein dumpfes Murren zu hören, aber schon ging ein erkältender Luftstrom voraus, und im Generalstab des vierzehnten Armeekorps erstarrten die Mienen.

Als Konrad über die steinerne Brücke ritt, die das Colombinenflüßchen überspannt, brachen aus dem niedrigen grauen Himmel schwere weiße Flocken und sanken hastig, wie verängstigt auf das schon tief verschneite Land. Die Hufe klumpten sich voll Schnee, der Gaul kam trotz der Eisstollen auf der überfrorenen Straße ins Rutschen. Schwarze Marschkolonnen zurückgehender Truppen zogen sich von allen Seiten nach Vesoul. An den Waldrändern hing Pulverrauch.

General von Werder erwartete den Feind.

Am 6. Januar stampfte Eggheim mit dem Stabe hinter dem Durgeonbach Schnee. Der Himmel hatte sich aufgeklärt, aber der Hauch gefror in den Bärten. Nicht nur der Stab, sondern auch der letzte Trommler wußte, was es galt. Sie warteten auf den Feind. Und der schob sich schwerfällig tastend, bald hierhin, bald dorthin greifend, wie ein ungeheurer Wurm heran, um die kleine Armee zu erdrücken, die Belagerung von Belfort zu sprengen und dann durch die Trouée ins Elsaß und nach Baden sich hinein zu wälzen. Die Offiziere ließen die Meinung von dem Vorstoß nach Süddeutschland unwidersprochen, obwohl sie eher an eine Linksschwenkung Bourbakis glaubten, wenn diesem die Entsetzung Belforts glücken sollte. Aber der Gedanke, der Feind könne ins Elsaß und über den Rhein rücken, goß den badischen Musketieren und den preußischen Landwehren Eisen in die Knochen.

Konrad hatte die veränderte Psyche dieses Krieges wohl erkannt. Er hatte an sich selbst erprobt, wie auf den jubelnden, beflügelten Rausch der ersten Kriegswochen eine stillere, gefaßtere Stimmung eingekehrt war. Aber dieser Winterfeldzug, der in der toten Landschaft mit grimmiger Entschlossenheit ausgefochten wurde, war 150 eine gewaltigere Lebensschule als der rasche Siegeslauf auf den grünen Fluren des Elsasses und an der Mosel.

Langsam schwand der Tag.

Im Süden schossen weiße Streifen auf und sanken als ballonförmige kleine Wolken hinter die dunklen Wälder. Der dumpfe Schlag der Geschütze fiel schwer und träg in die Winterstille. Ein Krähenschwarm ruderte eilig nach Osten.

Als die Dämmerung anbrach und rasch in Nacht überging, war die Stellung hinter den Durgeon unangegriffen geblieben.

»Man könnte nervös werden, wenn es was nützte,« sagte Chelius zu Eggheim, während sie nach der Stadt zurücktrabten. Kavallerie mußte vor, um der Ungewißheit ein Ende zu machen.

Spät in der Nacht ritt Konrad mit einer Husarenschwadron auf dem Wege nach Noroy le Bourg. Der Vollmond schien. Die Bäume schossen schwarze Schatten über den Schnee. Kristalle sprühten wie Diamanten auf der bläulichweißen Fläche. Mit offenen Augen träumte die weiße Nacht. Nur der Atem der Pferde und das leise Klirren der über die Mäntel geschnallten Säbel tönte in das feierliche Schweigen.

»Eine wundervolle Nacht, man sieht wie am Tag,« sprach der Major und dämpfte unwillkürlich die Stimme.

Konrad gab keine Antwort. Seine Augen, seine Sinne waren nicht minder angespannt als die des Kommandeurs, aber seine Seele genoß unabhängig davon den Zauber dieser silbernen Nacht. Er dachte an seine Frau. Dachte an sie, wiegte sie in Gedanken, sah sie, von den Prüfungen der Mutterschaft geschwächt, vor schlimmen Botschaften zitternd und von innern Kämpfen verzehrt, in den niedrigen Zimmern des alten Memminger Hofes umhergehen und in die weiße, schweigende Nacht horchen.

Schwarze Gehölze schoben sich heran, von bläulichen Schatten erfüllte Mulden taten sich auf, eng aneinander gedrückte, verhutzelte Häuser hockten zu einem finstern Dorf geballt am Weg – weiter trabten die Reiter.

151 Der Mond stieg höher und stand nun silberglänzend am stahlblauen Himmel, der am Horizont von zitternden Sternen flimmerte.

»Wenn sie schon über Villersexel hinausgestoßen sind, hat's der Teufel gesehen,« fluchte der Major und spähte angestrengt nach vorn.

Seine Ekläreure huschten in der Ferne wie schwarze Mäuse über den Schnee.

»Das ist unmöglich. Junge Truppen marschieren nicht schnell,« antwortete Konrad.

Es geht wieder eine Geländewelle hinauf. Ein Gehölz, vom Mond durchschienen, steht wie verzaubert, schwarz und silberglitzernd auf der Höhe.

Von links streicht ein Weg durch die Mulde. Ein Späher kommt zurückgejagt. Die Schwadron schließt auf.

Ein paar Minuten später sieht Konrad von Eggheim in südlicher Richtung einen schwarzen Heerwurm durch den Schnee tasten. Weit weg, kein Geräusch dringt bis zu ihm her; langsam kriecht die dornige Raupe durch die verschneiten Felder gen Osten. Vom nächsten Hügelrand starren rote Fensteraugen aufgestört herüber.

Zwei Offizierspatrouillen spritzen davon.

Da zerreißt ein Schuß die Stille der Nacht, und zwanzig andere knattern nach. Aus dem verzauberten Wald auf der Hügelkuppe sprüht das Heckenfeuer der Franktireure.

Ein Husar, drei Pferde stürzen. Eine Karabinersalve fegt ins Holz. Die Patrouillen kommen zurück, noch einmal vergleichen die Offiziere die Karten, dann geht der flinke Ritt heim nach Vesoul. –

Die französischen Heeressäulen wälzen sich weiter. Wie blind und taub tastet der schwarze Riesenwurm sich durch den Schnee.

Das Bataillon Klaus Kraffts ist auf einem verschneiten Waldweg ins Stocken geraten. Festgefahrene Artillerie stopft die Enge, durch die sich der Weg ins Tal zieht. Von hinten drängen die Truppen nach, denn die beißende 152 Kälte dringt durch Mark und Bein. Ein hohler Husten läuft durch die Reihen.

»Lassen Sie die Leute nicht aus den Gliedern treten, sonst werden wir aus der Reihe gedrückt und das Bataillon verkrümelt sich.«

Illzach gibt die Mahnung von Kompagnie zu Kompagnie weiter. Sein Pferd stolpert und rutscht auf dem übereisten Wegrand, als er nach vorn reitet, um Bahn zu brechen. Schon haben sich übermüdete Soldaten in den Schnee gleiten lassen. Wie Schlafwandler treten andere auf der Stelle, um sich warm zu halten. Die Kartonsohlen der englischen Schuhe sind verschlissen und bretthart, durch leinene Hosen pfeift der Biswind, und die Dysenterie jagt bald hier, bald dort einen armen Teufel hinter die nächste Hecke.

An der eingeschnittenen Enge, wo der Weg ins nächste Tal gleitet, stecken ineinandergefahrene Wagen und Protzen.

Illzach treibt sein Tier auf den steilen Hang und blickt sich um. Der Gaul pfeift; wenn er den Atem aus der kranken Lunge stößt, schüttelt es den Reiter im Sattel.

Dort drüben im Osten liegt Belfort, dahinter streicht der große Talweg zwischen Vogesen und Jura ins Elsaß und die Rheinebene. Dort drüben . . . aber tausend Wälder recken sich verzaubert und sperren den Weg. Eisklirrend fegt der Ostwind durchs Gehölz.

Klaus Krafft hört das Fluchen und Hämmern nicht mehr, das aus dem verstopften Engpaß herauftönt. Die bleiche Mondlandschaft rollt ihre unendlichen Flächen vor ihm auf.

Sie fiebern, sie fluchen, sie hungern und fechten, sie kranken und sterben – umsonst, alles umsonst! Aber obwohl er es weiß, wird auch er nicht aufhören zu marschieren, bis das Schicksal erfüllt ist. Dort drüben das Elsaß! Zehn Kilometer bis Belfort und dann keine Meile mehr bis ins Altkircherland!

Unten reißt sich die Protze aus dem Knäuel, ein 153 Brotwagen überschlägt sich mit zerbrochener Achse wie ein auf der Flucht erschossener Hase – der Weg ist frei.

Da wendet Illzach den Gaul und wirft den Mantelkragen zurück, daß ihm der Biswind ins Genick fährt. Er hebt das Käppi und winkt der Spitze seines Bataillons.

»Vorwärts, Kinder!«

Und als er sie vorbeiziehen sieht, sind wirklich Kinder unter ihnen, Knabengesichter neben bärtigen, vom Leben gezeichneten Männern, jeder dumpf und stumpf weitermarschierend und doch alle von einer grenzenlosen Hingebung beseelt, kaum fähig das Chassepot oder die Büchse richtig in Anschlag zu bringen, hungernd und frierend, aber zusammengehalten von dem verzweifelten Willen, zu marschieren, das Vaterland zu retten.

In der Ferne knattert Gewehrfeuer. Niemand schaut auf. Stumpf und dumpf, langsam, mit Stockungen, aber zäh, wie im Traume sich vorwärts tastend, kriecht der Heerwurm nach Osten.

Und der Mond erbleicht, und zarte Dünste heben sich aus dem zerschnittenen, von sumpfigen Gründen durchzogenen Land. Die Wälder verschwinden in Nebelgewändern, graue Dämmerung sinkt auf die müden Kolonnen. In Dörfern und Winkelstädten fallen sie ein, wie verflogene Vögel, die bleischwer aus der Luft herabstürzen.

Das Bataillon Illzachs fand erst gegen Morgen Ruhe. Als es in Croissant le Bourg einrückte, stand der Nebel rostgelb vor den Türen der niedrigen Häuser und verschluckte jedes Geräusch. Der Train war nicht nachgekommen, die Proviantkolonnen klebten noch an der Bahnlinie, nur ein paar Brotwagen konnten geleert werden, und mit dem harten Zwieback unter den Zähnen krochen sie ins Stroh.

Ein Brigadestab suchte Unterkunft in dem überfüllten Nest. Zwei Schwadronen afrikanischer Jäger kamen noch zuletzt und fanden kein Quartier mehr. Die Reiter hatten die Gäule am Zügel führen müssen, denn 154 die kleinen arabischen Pferde waren auf dem verharschten Schnee zu Dutzenden gestürzt. Frierend tappten sie mit zitternden Flanken und erloschenen Augen die Dorfgasse entlang und rissen sich mit gierig bleckenden Zähnen die Strähnen aus den langen Schwänzen. Als sie zusammengedrängt hielten, stieg eine Dampfwolke von ihnen auf.

Die braunen Gesichter ihrer Reiter waren aschfahl. Vor acht Tagen waren sie von Algier in Marseille angekommen und irrten jetzt, von Kälte geschüttelt, in diesem zerhackten Bergland zwischen verschneiten Gehölzen, gefrorenen Sümpfen und übereisten Flüßchen, wo sie nicht aus noch ein wußten.

Der Nebel stieg, es begann zu schneien. Die Kälte ließ nach, aber die Flocken sanken schwer und dicht und begruben das Dorf.

Um sieben Uhr dröhnte Geschützfeuer von Norden her. Der Nebel zerriß in Fetzen, der Schneefall verwehte im Wind, und blaßblauer Himmel trat hervor. Es war neun Uhr, als das Bataillon alarmiert wurde. Heißes Kaffeewasser hatte den trockenen Zwieback angefeuchtet, ein Hauch von Farbe erschien in den abgemagerten Gesichtern. Auf den tiefverschneiten Wegen strebten sie dem Kanonendonner zu, stumm, ohne Ordnung und Zug in den Gliedern, die Gewehre nach Belieben tragend, mit wunden Füßen, aber immer dem großen Pferde folgend, auf dem vornübergebückt der junge Kommandant saß, der an jeder Schneewehe, an den Bahnübergängen, in den Waldschneisen und wo sonst der Marsch stockte, winkend das rote Käppi hob und mit seiner ruhigen, ein wenig traurig klingenden Stimme rief:

»Vorwärts, Kinder! Sie warten auf uns!«

Weit hinter ihnen kamen wie Gespenster in ihren weißen Kapuzmänteln auf den weißen ausgehungerten, unsicher tretenden Araberpferdchen die afrikanischen Jäger.

Klaus Krafft von Illzach wußte nun, daß es nicht mehr nach Osten, sondern auf den Kanonendonner zu nach Norden ging.

155 Schon füllten sich die Wege mit heranstrebenden Bataillonen. Eine Mitrailleusen-Batterie quälte sich über die verschneiten Äcker. In den Gehölzen, die immer dichter und größer wurden, fiel der Schnee in Klumpen von den Bäumen. Ein Adjutant gab Auskunft: Bei Villersexel tobte blutiges Gefecht.

Gegen zwölf Uhr wurde das Bataillon auf einer Straße, die quer zur Marschrichtung lief, angehalten. Vor ihnen eine waldige Höhe, von der das wütende Tack-Tack des Chassepotfeuers herabklang.

Da fluteten plötzlich zurückgeworfene Kompagnien von den Höhen herab, eine Wolke von Ulanen erschien auf dem Hügelfirst und schor in einer Schwärmeattacke den Kamm.

Chassepotfeuer schlug aus dem Talgrund an der Höhe empor, aber schon waren die schwarzen Reiter wieder hinter der Hügelwelle verschwunden.

Auf allen Wegen krochen dunkle Kolonnen heran. Die Sonne blendete auf dem gefrorenen Schnee, fettiger Pulverrauch strich in breiten Schwaden über die Höhen.

Zu Fuß ging Klaus durch die Reihen der müden, frierenden, hungernden Truppe und mahnte zum Ausharren.

»Bald kommen wir dran, dann wird uns schon warm werden! Wir wollen in Villersexel Quartier haben! Ihr werdet die Preußen schon auslogieren, das weiß ich!«

»Was tut man nicht um ein warmes Bett, mein Kommandant,« rief ein schlagfertiger Junge, und zum ersten Mal lief ein Gelächter durch die Glieder.

Es war vier Uhr. Orangefarbene Dünste sogen die Sonne an sich, die sich zu einem strahlenlosen Purpurball rundete. Im Ognontal brauten die ersten Nebel.

Da krönten drei französische Batterien die Hügelkette und schleuderten ihre Granatsalven nach Villersexel. Schwarze Kolonnen quollen aus den Gehölzen.

Kurz darauf traf der Befehl zum Angriff auch das Bataillon Illzach. Klaus Krafft zog den Degen. Dicht aufgeschlossen, damit die jungen Soldaten den Offizieren 156 nicht aus der Hand gerieten, erstieg das Bataillon die sanfte Höhe, hinter der Villersexel im Tal des Ognon kauerte. Das große Pferd zog wieder vor ihnen her, wie auf den langen, qualvollen Märschen.

Eine Zeitlang ging es durch lockeres Gehölz, dann traten sie ins Freie. Dort lag Villersexel wie verzweifelt angeklammert im blutigen Schein der Feuersbrünste, Dach über Dach von der Höhe zum Fluß hinabsteigend, Brücke und Schloß, dahinter ein schwarzes, vom Schnee reingefegtes Gehölz. Wie eine ungeheure Blutblase zerplatzte die Sonne am Horizont; farbensprühende Abendglut ging so schnell in verblassende Dunkelheit über, daß Villersexel plötzlich nur noch als bleicher Schatten sichtbar war, über dem sich violett leuchtende Rauchwirbel drehten.

Klaus Krafft wandte sich im Sattel um. Dicht geschart wogte das Bataillon hinter ihm drein. Die Offiziere vor der Front, mit steil drohendem Degen, die Fahne schwer und schlaff in Falten hängend, halb erstarrt von gefrorener Feuchte, die Truppe schon mit gebrochenen, aus der Ordnung geratenen Kompagnien, keuchenden Atems, stumm, ungeschickt, ohne Schützen, ohne Reserven, ohne Sprungkraft und soldatischen Schneid, aber wie von einer einzigen Woge getragen und geschoben mit geisterhaft blassen, trotzigen Gesichtern, langsam, schwerfällig, aber unaufhaltsam.

Über verharschten Schnee wogte das Bataillon. Gefallene hatten die Fläche mit schwarzen Punkten bestreut. Vor ihnen rauchte das vom Getöse würgender Straßenkämpfe widerhallende Villersexel.

Klaus Krafft, Freiherr von Illzach setzte sich aufrecht im Sattel, damit man ihn besser sähe. Das Pferd ging im Schritt. Er hob den Degen, den dünnen blanken Stahl steil, mit leichter Neigung nach vorn, um die Richtung anzugeben. Dorthin!

Dorthin, wo im Straßenkampf verbissen Deutsche und Franzosen mit Bajonett und Kolben rauften, wo beizender Rauch brennender Häuser von Funken leuchtete, wo 157 Granatgarben rücksichtslos in Freund und Feind wetterten, wo in fünf engen Gassen auf einmal der ganze große Krieg seine Wut zu verströmen schien, als gäbe es nichts mehr auf der Welt als dieses krieggepeitschte, Blut und Brand dampfende Villersexel!

Illzach ritt ruhig, zum Sterben ruhig darauf zu. Sein Herz klopfte nicht rascher, keine Ekstase wiegte ihn in wonnevollem Rausch. Keine Sehnsucht hob ihn über sich hinaus. Nicht Sieg, nicht Ruhm, nicht Aufstieg des Vaterlands lockte ihn ins Feuer. Er zog mit seinen fünfhundert Milizen in den Kampf, weil die Widerstandskraft Frankreichs noch nicht verbraucht, das bittere Ende noch nicht gekommen, das Schicksal noch nicht erfüllt war.

Der letzte Tagesschein zerfloß in einem fahlen Bernsteingelb, das den Schnee und den Himmel mit gleicher Leichenfarbe malte.

Die ersten Kugeln schlugen in die schwarze Front. Versprengte, die aus Villersexel zurückgeprallt waren, warfen sich keuchend, mit den fahrigen Gesten von Berauschten, Aufnahme heischend in die dunkle Masse und rissen das Bataillon zu einem regellosen, von der Hüfte aus abgegebenen Feuer hin. Aus der wogenden Front fegte es blind über die Angriffsfläche.

Wie ein Hagelsturm pfiff der Bleiregen, und das große schwarze Pferd des Kommandanten krachte, ins Kreuz getroffen, plötzlich in den Schnee, seinen Reiter rückwärts schleudernd.

Im gleichen Augenblick fuhr, von links flankierend, eine kurze scharfe Salve in die Kolonne und riß eine klaffende Lücke.

Wilde Schreie schrillten aus der stürzenden Masse, und ehe sich Klaus Krafft erheben konnte, wogte das Bataillon, von einer zweiten Salve zerrissen, zurück.

Im langen Mantel, in schweren Stiefeln, zerschlagen vom Fall, rannte er, überholte sie und warf sich ihnen entgegen. In dem seltsamen Abendschein, der alles in Licht und Schatten schied, erschien er größer als sonst.

158 »Halt, halt! Für Frankreich, für Frankreich, vorwärts, Kinder!«

Und sein Käppi auf den Degen spießend, es hoch in die Luft, ins zuckende Zwielicht geisternden Schnees und qualmender Brände reckend, rief er mehr bittend als befehlend sein Bataillon zum Sturm.

Sie stockten, sie schoben sich zusammen, wie ein einziges Stöhnen ging es durch die Reihen, und der großen dunklen Gestalt mit dem erhobenen Arm und dem langen Degen nach, auf dem verloren das Käppi tanzte, stürzte, wälzte sich, was noch stand und atmete, in verzweifeltem, blindem, regellosem Anlauf hinein nach Villersexel ins zerfleischende Nachtgefecht.

Und in diesem feurigen Ofen brannte zur Schlacke, was von Klaus Kraffts Bataillon noch übrig war. Eine Kompagnie preußischer Landwehr schleuderte die Trümmer im Straßenkampf rechts und links, raffte hundert Gefangene hinweg und zog sich wieder die steile Gasse hinauf ins Dunkel.

Erloschen der letzte Sterbeglanz der Sonne, versiegt der Farbenrausch der Dämmerung.

Klaus stürzte. Ein Kolbenhieb zerbrach seinen Degen und fuhr ihm über die breite nackte Stirn. Aber zwischen Parade und Schlag hörte er hinter sich noch einmal das wilde, rauhe, atemlose ›Vive la France!‹ neuer Bataillone.

Wie ein furchtbarer Todesschrei, von der Verzweiflung erpreßt, klang's um ihn her, dann brauste es wie Meeresrauschen in seinen Ohren, flimmerte purpurne Glut vor seinen dunkelnden Augen, und schwerfällig stürzte er zu Boden.

Im roten Schein der Feuersbrünste wälzte sich der Kampf über ihn hin.

Aus dumpfem Dämmer kehrte er zurück in schwankendes Bewußtsein. An seinen Gliedern kroch der Frost empor. Er lag auf dem Rücken im Winkel einer vorspringenden Haustreppe. Ein unerträglicher Geruch von Träbern quoll neben ihm aus einem Kellerloch. Es war 159 Nacht, brüllende, flammende Nacht. Zuerst erwachte sein Ohr, dann stieg das Bewußtsein höher, er spürte, daß er steif auf gefrorenem Schnee lag, er besann sich, daß er aufstehen mußte. Sein Bataillon! Und dann ein Gefühl grenzenloser Ohnmacht.

Im würgenden Handgemenge wälzte sich ein versprengter Trupp, Feind und Freund im Klumpen geballt, die Gasse hinab, über ihn hin. Tierisches Schreien, Sterbeächzen, dumpfer Fall, vorüber. Gigantische Schatten tanzten, vom brennenden Schlosse geworfen, an den Häusermauern. Wie ausgelaufene Augenhöhlen starrten die Fenster.

In St. Niklausen war jetzt stille Zeit. Feuer knisterte in den Kaminen, die Reben schliefen im Schnee, in den Kellern brauste der junge Wein. Seine Kinder waren in St. Niklausen, die Kinder und Amélie . . . die schönen rosigen Schultern seiner Frau glänzten sanft im Schein des Feuers . . . Und Claudine? Claudine . . . Er besann sich, wollte sich besinnen . . . versuchte den Kopf zu heben, spürte die Kälte höher und höher steigen und wußte auf einmal wieder, daß er auf der Gasse in Villersexel lag, hörte den betäubenden, der Hölle entstiegenen Ohrengraus der Schlacht und sah über den schwarzen Dächern einen harten, steingrauen Himmel stehen. Er sank, versank, unendlicher Fall trug ihn hinab.

Über ihn stürzte dieser erbarmungslose Himmel und mauerte ihn ein.

Als Klaus Kraffts Augen sich wieder öffneten, glänzte eine weiße, mit Blumen bemalte Zimmerdecke über seinem Kopf. Eine Schneekompresse lag auf seiner Stirn.

Drei Tage waren vergangen.

Bleischwer ruhten seine Glieder auf der Matratze. Irgendwo tickte eine Wanduhr.

»Erkennen Sie mich?« fragte eine sanfte Frauenstimme.

»Nein,« murmelte er matt, aber dann wurde das galante Blut seines Vaters in ihm lebendig, und er fuhr 160 mit einem Lächeln fort, das seine ernsten, festen Züge liebenswürdig verklärte: »Nein – aber vielleicht ein Engel!«

Die junge Frau errötete unter den schwarzen Haarwellen, daß ihr weißes Gesicht ganz übergossen schien.

»Verzeihung, mein Kommandant, Sie können mich ja gar nicht kennen. Ich wollte nur wissen, ob Sie das Bewußtsein wieder erlangt haben.«

»Gewiß, Madame, das habe ich wiedergefunden,« entgegnete er und verstärkte die Stimme.

»Ach, ich zweifle doch noch ein wenig daran,« versetzte sie lächelnd und entfernte mit leichten Händen die Kompresse.

Da richtete er sich mühsam auf.

»Sie zweifeln?«

»Ich zweifle, denn wie könnten Sie mich sonst einen Engel nennen!«

Ihre Augen standen voll Licht, und die Koketterie war so naiv, ihr Wesen so artig, daß er eine ihrer kleinen, kräftig modellierten Hände ergriff und sie wortlos küßte.

Und danach wurde ihm klar, daß er in dumpfem Schlaf gelegen und nur zuweilen wie im Halbschlummer helle Stimmen gehört hatte.

Dann erfuhr er alles. Seit dem Treffen waren drei Tage verflossen und das Städtchen noch von Verwundeten überfüllt. Die letzten Brände kaum gelöscht. Auch von großen Gräbern erzählte ihm Madame Hortense Charpentier, in denen die kleinen französischen Soldaten lägen, und von anderen, in die man die starken, großen Preußen gebettet habe. Aber die Preußen hätten Villersexel nicht erobert, selbst aus dem Schloß Grammont hätten sie weichen müssen, und am andern Tage hätten sie keinen Angriff mehr gewagt, obwohl alles darauf gefaßt gewesen sei. Zwei Tage hätte Bourbaki hier gewartet, und als sie nicht kamen, marschierte er ihnen nach. Nun sei die große Armee schon weit fortgezogen und treibe die Preußen vor sich her.

161 Zwei Tage gewartet? Also zwei Tage verloren! Klaus begriff und schwieg.

Man schrieb den 12. Januar. Klarer Frost stand vor den Fenstern, der zerschossene Giebel eines gegenüberliegenden Hauses ragte schwarz, von neuen Schneeleisten verbrämt, in den glashellen Himmel.

Klaus Krafft fragte nach dem zwanzigsten Armeekorps, aber die kleine Frau wußte weder von Korps noch von Division oder Brigade etwas. Sie kannte nur Soldaten.

»Mein Mann ist in Besançon. Er organisiert die Mehllieferungen,« erzählte sie beiläufig, und es sollte klingen, als läge Besançon am Ende der Welt.

Klaus wollte aufstehen, aber sie beschwor ihn, liegen zu bleiben. Der Arzt habe von einer Gehirnerschütterung gesprochen.

»Sie töten sich, Kommandant! Sie waren ganz erstarrt, als ich zum ersten Mal herüberkam und Sie sah. Meine Cousine hat sieben Verwundete im Haus, zwei Preußen sind auch dabei, mit Bärten, ach, die wahren Menschenfresser, aber sie sind jetzt ganz artig, und da helfe ich pflegen.«

Sein Kopf war noch schwer, eine verharschte Hautwunde lief im Haar, und merkwürdig empfindlich; jeder Ton hallte darin wieder; und seine Glieder so steif in den Gelenken, daß sie ihm nicht gehorchten. Er ergab sich in sein Schicksal.

»Aber morgen stehe ich auf,« sagte er lächelnd und freute sich, als sie stolz auf ihre Überredungsgabe seine Kissen glättete.

Spät am Abend klopfte es.

»Himmel, der Doktor,« flüsterte Hortense und huschte zur Wand. Dort hing ein roh befestigter Vorhang herab. Mit Staunen sah Klaus dahinter ein zackiges Mauerloch, roh mit der Sappe durchschlagen, wie sie im Häuserkampf gemacht worden waren, um die Preußen aus dem Ort zu treiben. Noch einmal lächelte sie ihm zu. Ihr helles Gesicht glänzte aus dem dunklen Versteck, dann 162 fiel der Vorhang, und die Kerze flackerte im Luftzug hoch auf. Er war allein.

Der Arzt war ein halb erblindeter Greis, der von der Hauswirtin zum Bett geführt werden mußte. Doch nun faßte er mit sicherem Griff den Puls des Kranken und sagte:

»Wenigstens einer, der ohne Schaden davonkommt. Aber sie sind auch nicht alle solche Riesen.«

»Bin ich morgen oder spätestens übermorgen marschfähig, Doktor?« fragte Klaus.

»Sie wollen fort?« warf Madame Grégoire ein und warf einen suchenden Blick umher. Er las in ihrem müden Gesicht, dessen traurige Augen und früh verwelkte Farben von dem Leid ihrer Witwenschaft erzählten. Ihr Mann war seit den ersten Bandenkämpfen, die im Oktober die Franche Comté aufgewühlt hatten, als Franktireur verschollen.

»Ich muß. Wo finde ich die Armee, Doktor?«

Unter den grünen Gläsern blickten die matten Augen ins Leere, und die gekrümmte Gestalt aufrichtend, den rasierten, faltigen Mund erst noch einmal schmerzlich zusammenpreßend, antwortete der alte Mann mit tonloser Stimme:

»Die Armee, Kommandant? Die Armee? In den Wäldern, im Schnee, dort, irgendwo dort, wo sie zugrunde gehen wird.«

Er schwieg, niemand antwortete. Ein Geruch von Wachholderdämpfen war ins Zimmer gedrungen. Aus der Ferne tönte das Kreischen und Knarren schwerer Fuhrwerke auf gefrorenem Schnee.

Da raffte sich der Arzt zusammen, besann sich und fuhr fort:

»Bleiben Sie ruhig noch ein paar Tage liegen, Herr von Illzach. Man sagt, daß der General von Werder hinter die Lisaine zurückgegangen ist. Schlägt die Armee noch einmal, so wird es so wie so erst in ein paar Tagen sein können.«

163 »Ich zähle darauf, zur rechten Zeit zu kommen,« erwiderte Klaus Krafft mit seiner ruhigen Gelassenheit.

»Sie sind ja in der besten Pflege. Meine Besuche sind an diesem Bett nicht mehr nötig.«

Der alte Herr lächelte schattenhaft und suchte tastend die Hand des Kranken.

»Man hat mich hinter dem Ofen hervorgezogen, und ich tue, was ich kann,« setzte er zur Entschuldigung hinzu, drückte mit seiner weichknochigen Greisenhand Klaus Kraffts Finger und ließ sich von Frau Grégoire wieder hinausführen.

An der Schwelle wandte er sich noch einmal um.

»Haben Sie Madame Charpentier heute morgen schon gesehen? Sie ist mir auf der Treppe begegnet. Sie hat Ihnen auch Ihren zerbrochenen Degen aufbewahrt.«

Klaus erwiderte ein paar verlorene Worte und sah die Hausherrin mit einem nachsichtigen, schwermütigen Lächeln umherblicken, als suchte sie jemand, der sich den Spaß gemacht hat, ein wenig Verstecken zu spielen.

Als die Tür ins Schloß gefallen war, setzte Klaus sich aufrecht. Der Kopf war noch nicht frei, aber er atmete schon leichter. Das Blut lief ihm rascher und voller durch die Adern. Und nun wußte er auch, daß er nicht hinter seinem Bataillone, seinem Regiment, seiner Pflicht und dem Schicksal der Armee zurückbleiben durfte, daß er alles mitleiden würde bis zum bitteren Ende.

Die Kerze brannte tief, goldbraune Schatten füllten das Zimmer.

Da bewegte sich der Vorhang an der Wand, und der blasse, schwarzhaarige Kopf Hortense Charpentiers erschien in den Falten.

»Sind sie wirklich fort?«

»Wo kommen Sie her, wo flüchteten Sie hin und warum?« fragte er zurück und dämpfte unwillkürlich die Stimme.

Sie huschte ans Bett und erzählte dicht zu ihm herabgebückt, daß ihn der frische Duft ihres Haares umwehte, 164 wie in der furchtbaren Nacht drüben in ihrem Hause die Preußen hinter Matratzenverschanzungen sich gegen alle Angriffe verteidigt hätten, bis die Sappeure dieses Loch geschlagen und die Mobilgarden ihnen in den Rücken fielen.

Sie hatte es nicht mit angesehen, war mit Marie und den Kindern ihrer Cousine im Weinkeller gesessen, während das Haus von Schüssen und Schlägen, Geschrei und Stöhnen widerhallte, und erst hervorgekrochen, als der Morgen bleifarben herabschien.

Sie hatte Marie vorausgehen lassen und gewartet, bis die Toten beseitigt und die Verwundeten weggebracht oder gebettet waren. Gestern noch hatte man drüben verbrannte Leichen aus dem Erdgeschoß der Mairie gezogen.

Ihre Erzählung war die eines Kindes, das schreckhafte Spukgeschichten berichtet. Sie war halb auf den Rand des Bettes geglitten, und Klaus Krafft legte den Arm um ihre Schulter und blickte ihr mit einem halb spöttischen, halb gerührten Lächeln in das erregte blasse Gesicht, in dem der Mund feucht und rot schimmerte.

»Wenn Ihr Gemahl wüßte, was seine kleine Frau alles aussteht,« sagte er leise mit sanfter, ein wenig väterlicher Zärtlichkeit.

Sie warf den Kopf in den Nacken.

»Charpentier – o, der macht in Besançon sehr gute Geschäfte!« entgegnete sie gleichmütig.

Er mußte lachen, und dann zog er sie an sich und spürte, daß sie mit einem tiefen Atemzug nachgab. Er küßte sie auf den roten, zuckenden Mund.

Blitzschnell entwand sie sich ihm, glättete das Kissen, drückte ihn hinein, blieb einen Augenblick mit gefurchter Stirn und geschürzten Brauen vor seinem Bett stehen, drohte, daß sie nie wieder kommen werde, wenn er nicht artig sei, und zerdrückte dann mit spitzen Fingern das Licht.

»Gute Nacht, Herr Kommandant.«

»Gute Nacht, Hortense.«

Durch das zackige, in die Brandmauer geschlagene 165 Loch huschte sie davon. Er hörte den Mörtel unter ihren Sohlen knirschen, als sie sich in ihre Wohnung zurücktastete.

Am nächsten Tage versuchte Klaus aufzustehen. Vom Fenster aus sah er in die verwüstete Gasse. Dichter Nebel sperrte den Ausblick in das Tal.

Mit glänzenden Augen erzählte Hortense ihm von dem großen Siege, den er am 9. Januar habe erfechten helfen. Eine Proklamation Gambettas hatte aus Bordeaux den Weg auch nach Villersexel gefunden, und wer sie las, sah plötzlich die Schlacht im Licht eines großen Sieges. Klaus Krafft unterlag im ersten Augenblick selbst dieser flammenden Sprache, die wie starker Wein funkelte und erwärmte. Aber dann sagte er sich, daß der Erfolg die Armee zwei Tage stillgebannt hatte und daß selbst heute noch, fünf Tage nach dem Treffen von Villersexel, die Ostarmee ihre erste Aufgabe, die Entsetzung Belforts, nicht gelöst habe. Wie hatte der alte Mann gestern geantwortet auf die Frage nach der Armee? Irgendwo dort im Osten, in den verschneiten Wäldern und Schluchten, wo die Erinnerung an eine größere Armee spukte, die auch in Eis und Schnee zugrunde gegangen war.

Hortense Charpentier brachte ihm einen schönen roten Fez mit langwehender Quaste, der einem gefallenen Zuavenkorporal gehört hatte. Sie setzte ihm selbst den weichen Filz vorsichtig auf den Kopf, über den noch die breite Schwellung des Kolbenhiebes lief.

»Drückt er nicht? Himmel, wie gut er Sie kleidet, Kommandant!«

Er mußte lachen.

»Kleine Schmeichlerin!«

Sie ließ es geschehen, daß er den Arm auf ihre runde Schulter legte und, auf diese zarte Stütze vertrauend, in der Stube auf- und niederging.

Und dann mußte er sie besuchen. Über die Gasse, in allem Anstand. Sie kroch durch das Mauerloch, und er mußte warten, bis sie rief, daß alles zum Empfang 166 be

Eine alte Magd öffnete.

Im kleinen Wohnsalon wartete Hortense Charpentier mit dem Anstand einer großen Dame auf den Besuch des Kommandanten Klaus Krafft Baron d'Illzach. Die Möbel waren zerstoßen, ein Glasschrank ganz zertrümmert und die Vorhänge von Kugeln zerfetzt. Aber Hortense hatte ein Kleid mit einem kleinen Ausschnitt angezogen. Von seidenen Rüschen umgeben, leuchtete die weiße Haut ihrer Brust aus der schwarzen Krause. Die beiden Locken, die aus dem kunstvoll aufgesteckten Haar hervorquollen und rechts und links auf ihren Achseln lagen, rollten sich frisch gekräuselt.

Klaus Krafft half ihr mit einem Gefühl dankbarer Zärtlichkeit gern bei ihrer unschuldigen Komödie, die ihn eine Weile die ganze Wucht und Schwere dieser tragischen Stunden vergessen ließ.

Als er das Haus zu sehen wünschte, in dem ein Dutzend Fünfundzwanziger sich stundenlang gegen alle Anstürme gehalten hatten, erblickte er im Wohnzimmer das Ölbild eines beleibten Herrn in reiferen Jahren mit langen Favoriten à la Jules Favre, einem selbstgefälligen Lächeln und vielen Berlocks an der dicken Kavalierkette.

»Ist das Herr –«

»Ja, das ist Herr Charpentier,« vollendete die junge Frau hastig, wie auf einem Fehltritt ertappt, und setzte dann mit einem trotzigen Ton hinzu:

»Aber wir haben keine Kinder.«

Das klang nach einer Genugtuung, und Klaus Krafft vergaß seine überlegene, zurückhaltende Ruhe und blickte ihr mit einem starken Aufleuchten in die dunklen, zärtlichen Augen.

»Frankreich braucht Kinder, Hortense!«

Sie speisten zu zweien, und nachher erschien der Etappenkommandant, ein alter Gendarmerieoffizier, der Neuigkeiten von der Armee brachte. Sie stand vor dem Feinde, sollte immer noch Boden gewinnen und werde 167 morgen eine entscheidende Schlacht liefern. Das Hauptquartier befinde sich bei Héricourt.

Er sprach mit erhitzten Gebärden, sah im Geiste schon den großen Sieg und berauschte sich an seinen Worten.

Klaus erhob sich.

Hortense las den Entschluß, den er soeben gefaßt hatte, in seinen Zügen.

»Sie dürfen nicht fort, Kommandant!« rief sie ängstlich.

»Im Gegenteil, ich darf nicht hier bleiben,« erwiderte er leise, mit einem feinen Doppelsinn.

Erst als der Gendarmeriekapitän ihm versprach, einen Schlitten aufzutreiben, der ihn morgen früh ins Hauptquartier bringen werde, ehe es noch recht tage, gab er nach, aber er zog sich zurück, ging zur Ognonbrücke hinunter, sah das Schloß Grammont ausgebrannt auf der Höhe des verschneiten Parkes liegen und fand endlich auch eine Poststelle, wo er einen Brief an die Basler Adresse Kieners aufgab.

Seit die Loire-Armee in zwei Teile gebrochen war, hatte er nichts mehr von St. Niklausen gehört. In den qualvollen Märschen und Gegenmärschen, dem chaotischen Ostwärtsfluten der zur Ostarmee gestempelten lockeren Heeresmasse durch die Täler und Schluchten der Franche Comté war jede Verbindung mit der Außenwelt verloren gegangen.

Er schrieb nur wenige Zeilen. Daß er morgen wieder zur Armee stoße und daß er vielleicht mit dieser Armee den Fuß ins Elsaß setzen werde. Als er das schrieb, wollte er glauben, daß das möglich sei.

Danach besuchte er noch einige Lazarette, fragte nach seinem Regiment, fand auch ein paar Schwerverwundete seines Bataillons, die ihn aus erdfahlen Gesichtern teilnahmlos anstarrten, und ging dann nach Hause.

Die Nacht kam. Klingender Frost ließ alles erstarren, an den Fenstern schossen phantastische Eisblumen auf. Und Klaus dachte an die Hunderttausend, die in 168 den Wäldern und in ausgesogenen, geleerten Dörfern kampierten, Knaben, die der Tornister erdrückte, Männer, die noch nie ihr Bett vermißt, die das Soldatenhandwerk erst kennen gelernt hatten, als Gambetta die Massenerhebung verkündete – und ihn fror auf seinem warmen Lager.

Da huschte es noch einmal herein durch das Loch, das die Sappe gebrochen.

»Hortense!«

»Mein Kommandant!«

Und plötzlich warfen sie sich, von einer lebenshungrigen, leidenschaftlichen Stunde überwältigt, die Arme um den Hals, und er zog die bebende, in Tränen und Küssen rasende kleine Frau mit einem brennend wehen Abschiedsgefühl an sich, als müßte er in ihr die Vergangenheit, Frankreich, das ganze farbige Leben noch einmal umfassen und besitzen.

Beim ersten grauen Morgenschimmer reiste er ab.

Ein Schlitten, von einem mageren, spatkranken Pferd gezogen, trug ihn durch die Wälder. Wie zur Wolfsjagd fuhr er dahin, über Crevans und Saulnot scharf nach Osten, dann rechts ab über Vernoy, bis sie bei Aibre auf die Armee und die große Straße Besançon-Héricourt-Belfort stießen.

Der erste Schlag schweren Geschützes kam aus der Ferne, wo die Luft dicht und grau über den weißen, schwarz gefleckten Hügeln stand. Die Straße war mit Armeefuhrwerken bedeckt. Auf spiegelndem Glatteis quälten sie sich mühsam fort. Auf einer Seitenstraße zog ein Mobilgarden-Regiment heran. Nachzügler mit erfrorenen Gliedmaßen, die Auszehrung im abgemagerten Gesicht, schleppten sich im fußhohen Schnee, und wieder durchfuhr Klaus Krafft die Erinnerung an die große Armee, die in Rußland ihr Grab gefunden hatte.

Aber er mußte ans Ziel kommen. Er war auf den Nachtrab des achtzehnten Armeekorps getroffen. Der Donner des schweren Geschützes erschütterte die Luft. 169 Eine weiße Scheibe erschien am Himmel, der klare Tag glitzerte über dem verwunschenen Land.

Es wurde zehn Uhr, bis Klaus sich durch die aufmarschierenden Truppen des achtzehnten Korps durchgedrängt hatte. Da gab er den unnützen Versuch auf, in diesem auf Meilen in die Breite gezogenen Schlachtfeld sein Bataillon, sein Regiment, Brigade oder Division zu suchen. Er meldete sich als Freiwilliger bei dem dritten Zuavenregiment, auf dessen Regimentsstab er getroffen war, stieg ab und trat bei dem ersten Bataillon ins Glied. Madame Hortensens Zuavenfez hatte seine Wahl entschieden.

Vor einem Hügel, der wie ein Maulwurfshaufen im Flußtal der Lisaine lag, sprühten die Geschützsalven der Preußen.

»Nehmen Sie mein Glas, Kamerad, und sehen Sie hin, sie haben den halben Wald rasiert und Barrikaden daraus gebaut.«

Klaus reichte dem graubärtigen Kapitän der zweiten Kompagnie den Feldstecher, durch den er die feindliche Stellung gemustert hatte. Jetzt fand er sich mit bloßem Auge zurecht. Er sah das weiße, schneegefüllte Tal, die verschanzte Stellung des Feindes, den geschlängelten, von kropfigen Weiden abgesteckten Lauf des Flusses, die dunklen Rauchballen, die schon über unsichtbaren Batterien hingen und die eigenen müden, frierenden Truppen, die im offenen Waldbiwak bei vierzehn Grad Kälte den Morgen und die Schlacht erwartet hatten.

Eine große Rauchsäule wie von brennendem grünem Holz stieg auf und quoll als leuchtende Spirale in die klare Luft. Gleich darauf erhob sich von einem weiter links gelegenen dunklen Berg das Gebrüll schweren Belagerungsgeschützes. Gewaltige Sprenglagen schmetterten in das Dorf und auf die Straße, auf die Klaus vom Rand des Gehölzes hinabblicken konnte.

»Wie heißt das Nest?« fragte er und wies auf das Dorf, in dem französische Infanterie die Gassen füllte.

170 »Byans,« antwortete der Kapitän und gab das Glas zurück. Die Hand zitterte.

Drei Batterien trabten an. Die Protzen pflügten den hohen Schnee tief auf, die Gäule taumelten, im scharfen Wind flogen blitzende Schneekristalle und streuten eine bunt leuchtende Gloriole durch die Luft. Gleich darauf stieß das erste Geschütz seine Flammengarbe aus.

Es war hohe Zeit, denn schon hatten die preußischen Geschütze, die irgendwo an dem verdammten Maulwurfshügel verdeckt standen, das Gehölz unter Feuer genommen, und ihre ersten Granaten fegten in den Wald, aus dem die Zuaven jetzt zum Angriff heraustraten. Klaus Krafft hatte ein Chassepot ergriffen. Diesmal schnürte ihm etwas die Brust, daß er keinen Atem mehr unter den Rippen fand, als er mit den andern über das blanke Schneefeld gegen den feuerspeienden Hügel anlief. Schweiß stand ihm auf der Stirn, feucht klebten die Finger am eiskalten Gewehrschloß.

Der Schnee spritzte, keuchende, gellende Schreie um ihn her und ein Gefühl des Verlorenseins, das er als truppenführender Offizier noch nie gekannt hatte! Vorwärts!

Auseinandergefächert wie ein weggeworfenes Kartenspiel stürzte das Bataillon in aufgelösten Gruppen vorwärts und brach schon nach zweihundert Metern unter dem Bleihagel und dem lähmenden Gefühl dieses Verlorenseins auf dem weißen, blanken, endlosen Feld zusammen. Auch das zweite kam nicht weiter.

Vor dem Mougnothügel, dem der Angriff gegolten hatte, verfolgte Hauptmann Möschke, der hier das Landwehrbataillon Ortelsburg kommandierte, den Gang des Gefechts.

»Ich kann mir nicht denken, daß das mürbe Fußvolk den Anlauf durchführt, da, sehen Sie nur!« schrie er dem Stäbler ins Ohr.

Er beschrieb einen Bogen mit der Hand, und Konrad von Eggheim sah die langen zerfaserten Schützenschwärme, die eben noch flink aus dem Gehölz ins freie 171 Feld vorgeprallt waren, über die weite Fläche zerstreut. Nein, die kommen nicht weiter. Zuaven! In ihren wallenden blauen und roten Uniformen, die trotz der Entfernung auf dem weißen Schnee deutlich zu erkennen waren, deckten sie tot, verwundet oder niedergebrochen den Hang.

»Auch die dort tun uns nicht weh!« gab er zurück und zeigte auf eine Batterie, die zerschmettert am Waldrand lag. Durchgehende Gespanne pflügten das Feld.

Als er nach einer Weile wieder durch das Glas blickte, brach sich die zweite Woge, die gegen den Mougnot anbrandete, am Feuer der Landwehren und rollte ins schützende Gehölz und nach Tavez zurück.

Konrad von Eggheim ritt nach Héricourt zurück, um Bericht zu erstatten. Der Donner der Geschütze brüllte, und die Sonntagsglocken schwiegen. In den strohgefütterten Schützengräben lagen die Landwehrleute und geizten mit der Munition. Pioniere rissen mit langen Haken das Eis der Lisaine auf, das immer wieder neu zusammenschoß. Die Sonne sank als glühender Ball, und der schweflige Rauch der schweren Positionsgeschütze von Mont Vaudois strich in gelben, würzigen Schwaden über die abgekämmten, im Abendschein wie Bronze glühenden Wälder.

Eggheim konnte sich eines Schauers menschlichen Mitgefühls nicht erwehren, wenn er daran dachte, daß die müde, hungernde französische Armee in diesen Schneewäldern biwakieren mußte. Als er in der Nacht um zehn Uhr den Weg zurückritt, flimmerten Tausende von Sternen am stahlgrauen Himmel. Der Schnee knirschte, in den Drähten sang der Wind.

Gestern hatte ein Brief den Weg zu ihm gefunden. Wieder war's nur ein Brief Tante Memmingens. Er war am 5. Januar geschrieben und enthielt unter vier Seiten unwichtiger Mitteilungen versteckt den Satz: ›Claudine wird Dir nun erst wieder schreiben, wenn sie das Bett wieder verlassen hat. Wir erwarten jeden Tag 172 die Geburt eines kleinen Eggheimle und Deine Frau ist tapfer dabei, wenn sie auch seit drei Tagen viel zu leiden hat. Doktor Meermagen sagt, es sei kein Grund zu ernsten Besorgnissen vorhanden. Wäre der Krieg nicht, so ging natürlich auch einer Frau manches leichter.‹

Konrad las zwischen den Zeilen. Er ahnte, daß Claudine in Gefahr schwebte, wußte, daß sie in Schmerzen lag, nein geschwebt hatte, gelegen hatte – denn heute war Sonntag der 15. Januar und zehn Tage vergangen, seit dieser Brief den Weg zu ihm gesucht hatte! Er hatte nicht antworten können. Keine Zeit gehabt dazu. Nicht einmal den Gedanken fassen können, und wenn er es jetzt in dieser einsamen Stunde überlegte, so kam er auch zu dem Schluß, daß er keine Antwort hätte schicken können. Denn wer wußte, wo ihn der Bescheid auf die Frage erreicht hätte, ob Claudine lebte?

Er riß sich zusammen. Im Hauptquartier wog die Luft wie Blei. Aber wie aus Erz geschmiedet blickten die Gesichter. Der General diktierte den Tagesbefehl. Eggheims Bleistift flog. Aus dem Bewußtsein getilgt Weib und Kind.

Und wieder zurück zum Mougnot. Der Schrei verendender Rosse schallte schaurig durch die Nacht.

Morgen fiel die Entscheidung.

Der Mond war nicht mehr zu sehen. Gegen Morgen füllte dichter Nebel den Talkessel von Héricourt bis zum Rande. Irgendwoher kam französisches Artilleriefeuer durch den undurchdringlichen Dunst. Heiser kreischten die Mitrailleusen, rote Streifen furchten das Grau.

Geisterhaft nahte der Tag. Durchfroren hockten die Ortelsburger hinter den Schneewehren. Heute!

Um neun Uhr zerriß der helle Schrei der Clairons wie jauchzender Hahnenkraht die schwelende Luft, und noch einmal schwoll im verzweifelten Andrang französische Infanterie mit entfalteten Fahnen und schlagenden Tambouren gegen die dunkle Kuppe. Bataillon auf Bataillon, Regimenter, Brigaden!

173 Am Brückenkopf von Héricourt rasselte die Preußentrommel und rief das Horn. Kaum zwei Glieder tief lagen die Landwehren am Mougnothügel, eine dünne Linie, hinter den Baumleibern.

Konrad von Eggheim biß die Zähne zusammen. Huit, huit, pfiff's um ihn her, der Gaul keilte und stieg.

»Herunter, Eggheim, wir brauchen Ihr französisches Wischiwaschi vielleicht noch, wenn uns die Kerle im Wurstkessel haben,« schrie ihm der Hauptmann ins Ohr.

Konrad stieg ab. Die froststarren Füße traten gefühllos in den Schnee, er taumelte.

Neben ihm schlug ein Unteroffizier lang hin, trommelte mit den Fersen einen Wirbel und lag still.

Schneeklumpen klatschten von den Bäumen, wie weiße Fahnen wehten sie herab im plötzlich feucht blasenden Südwest. Der Pulverrauch stank schärfer nach Schwefel, verzerrt erschienen die Gestalten der Leute im stechenden Glanz des zerstreuten Lichtes.

Eggheim hatte das Gewehr des Gefallenen aufgegriffen und schoß.

Neben ihm spie ein Landwehrmann Blut.

Schwarz rann es ihm in den Bart. Aber stumm, mit harten, geschwärzten Händen schlug er die Kammer auf, legte Patronen ein, schlug zu, zielte und schoß.

Vom Mont Vaudois krachte das schwere Geschütz, das vorgestern noch vor Belfort gebrüllt hatte.

Dunkle Schwärme liefen an, rote Pluderhosen färbten den Schnee, näher wogte die Flut.

›Mit ungefähr vier Armeekorps,‹ flog es Eggheim durch den Kopf. So hatte Werder gestern nach Versailles telegraphiert. Mit vier Armeekorps und zahlreicher Artillerie griffen sie an.

›Es kommt keiner von ihnen durch,‹ stand knirschend eingeschrieben in die kriegsgehärteten Herzen der vierzigtausend, die an der Lisaine zwischen der Ostarmee Bourbakis, die von Gambettas Flammenatem durch Eis und Schnee vorwärts getrieben wurde, und dem trotzigen 174 Felsennest Belfort als eiserne Wehr wie mit Ketten angeschmiedet standen.

Konrads Nebenmann lag jetzt auf der Seite und schäumte hellrotes Blut. Die klammen Finger tasteten noch nach der Patrontasche. Noch einmal zog er sich empor und riß Funken, daß der Rückstoß ihn röchelnd hintenüberwarf.

Es kommt keiner durch!

Eggheim schnellt auf und setzt das Glas an. Wo der Schnee eine Falte schlägt, kaum zweihundert Meter vor der Front, taucht's schwarz und bunt aus totem Winkel, wälzt sich im farbig sprühenden Nebelglast näher und rast feuertrunken, himmelstürmend heran . . . Mourir pour la patrie... in hingebender Vaterlandsliebe warfen sich die Franzosen auf den feuerspeienden Hügel.

Aber schon schrillt hinter ihm die Pfeife, wirft sich die letzte Reservekompagnie ins Gefecht und: »Keiner durch,« schreit Eggheim, und aus gefestigter, vom harten Lebenskampf geweiteter Brust ostpreußischer Landwehrmänner raucht gleich einer Donnerwolke das ingrimmige Hurra!

Zum Gegenstoß spitzen sich züngelnd die Bajonette.

Und nicht den Tod, sondern das Leben, das große über Tod und Vernichtung triumphierende Leben sieht Konrad von Eggheim vor sich stehen, als er mit hinabstößt in den tobenden Schwall. Schwer, bretthart schlägt der gefrorene Mantel an die Kniee, klumpig ballt sich der Schnee.

Einen Augenblick schlägt Stahl auf Stahl, flammen blaue Jacken und rote Pantalons, knirscht und speit das Handgemenge eine gierige Wut, dann branden die Stürmer zerschmettert zurück.

Vom Mougnot steigt der blaue Grünholzrauch als Zeichen, daß der Vorstoß abgeschlagen ist.

Keuchend liegen die Ortelsburger hinter den Verhauen. Auf dem weißen Hang beißen Tote und Verwundete in den Schnee.

Gleichmäßig hämmert wieder das Feuer, ergießt sich 175 der Bleiregen über die blendende Fläche. Drüben platzen die schöngestalteten Rauchwölkchen der Granaten über den Wäldern, in denen der Feind seine zerschlagenen Bataillone sammelt.

Im toten Winkel hockt eine Schar Versprengter. Die meisten verwundet. Sie können nicht vorwärts und nicht rückwärts. Sie schwenken weiße Fetzen, die sie auf die Bajonette spießen, um sich zu ergeben. Aber man sieht sie nicht, unerbittlich hämmert das Gewehrfeuer vom Mougnot.

Da löst sich vom Waldsaum, wo die letzten Bataillone der Franzosen verschwinden, ein Offizier und kommt, mit einem weißen Tuch an nacktes Stangenholz gebunden, über das Feld.

Eggheim hat das Glas am Auge.

»Ein Parlamentär oder sowas,« schreit er dem Major ins Ohr.

Der besinnt sich einen Augenblick, späht in den feuchten, pulvergeschwängerten Nebel und läßt Stopfen blasen. Widerwillig erstirbt das Feuer. Nur die Batterie sendet noch ihre wilden Schreie ins Weite.

»Ah, deshalb!«

Eggheim deutet auf die dunkle Gruppe, die jetzt aus ihrer elenden Sicherung hervorkommt und die Kolben nach oben kehrt.

»Nehmen Sie zwei Mann und fragen Sie, ob das alles ist!« sagte der Major trocken zu einem Offizier und biß die Spitze einer Zigarre ab.

»Gestatten Herr Major« – da winkte der Major Konrad Gewährung und er ging.

Der Parlamentär kam langsam näher. Er schritt mühsam durch das aufgewühlte Schneefeld.

Eggheim war lange vor ihm zur Stelle.

Ein todblasser Junge mit den Abzeichen eines Adjutanten bot die Ergebung an. Er hielt den zerschossenen Arm mit der Linken. In gleichmäßigen Zwischenräumen tropfte sein Blut in den Schnee.

176 Als Eggheim die Gefangenen antreten ließ, blieb der Parlamentär in Rufweite stehen.

Er wartete, sah, daß alles seine Richtigkeit hatte, warf den Stecken mit dem Tuch weg und wandte sich wieder dem Holz zu.

»Herr Hauptmann, sollen wir ihn –?«

Konrad trat zur Seite und blickte nach ihm hin, riß das Glas ans Auge und setzte es nach einer Weile wieder ab.

»Natürlich lassen wir den Mann gehen. Er wollte nur seine Kameraden hier davor bewahren mit Blei zugedeckt zu werden. Ergeben will der sich nicht.« Seine Stimme hatte einen seltsamen Klang.

Zurück zum Mougnot.

Der Major lutschte ärgerlich an seiner Zigarre.

»Ich dachte mindestens, ich bekäme Sedan in zweiter Auflage herein,« spottete er grimmig. »Aber ein braver Herr, alle Achtung!«

Konrad stand ernst daneben. Er war wieder ruhig geworden. Wenn ihn das Glas auf die kurze Entfernung nicht getäuscht hatte – er wußte, daß Klaus bei der Loirearmee stand – es waren doch nur fünfzig Schritte gewesen –

Prüfend glitt sein Auge über den Waldsaum. Die Nebel standen schon zwischen den Bäumen. Dunkel schlich hintendrein, von Norden schallte noch das Getöse langsam ersterbender Schlacht . . .

»Sie kommen nicht mehr wieder,« sagte der Major, und Eggheim ritt ins Hauptquartier. –

Sie kamen nicht mehr wieder.

Als Klaus Krafft sich wieder bei seinem Regiment einfand, reichte ihm der Brigadier die Hand.

»Sie haben sie gerettet, ich danke Ihnen, mein lieber Kommandant.«

Er war kein Soldat, ein Professor der Rhetorik an der Kriegsschule, der, Gott und Gambetta wußten wie, Oberst und General geworden war.

Aber Klaus lächelte nicht über die Weichherzigkeit 177 des alten Herrn, der solange Weh und Ach über die armen Kerle dort drüben gerufen hatte, bis Klaus sich erboten hatte, ihnen Kapitulation zu erwirken.

Das Feuer erlosch, aber in den Wäldern erhob sich schleichender Frost und vollendete den Zusammenbruch der großen Armee.

Klaus Krafft hatte das Letzte hergegeben. Jetzt war er von einer schweren, taumelnden Benommenheit ergriffen. Ein dumpfer, unerträglicher Schmerz im Hinterhaupt bohrte sich tiefer und tiefer. Hinter dem Bois Bourgeois lag das Regiment in Deckung und wartete auf die Nacht. Der Husten bellte, die Dysenterie lichtete die Reihen, an kleinen zischenden Feuern wärmten sich hohläugige, in zerrissene Uniformen gehüllte Gesellen die erfrorenen Glieder.

In der Nacht wurde das Regiment in Marsch gesetzt. Niemand fragte warum und wohin. Sie marschierten. Der Mougnot blieb in ihrem Rücken.

Klaus hat sich dieser Tage später nicht mehr erinnern können. Nur daß am 17. Januar wieder dichte Flocken fielen, die so langsam und schwer niedersanken, als ob sie den Heereszug begraben wollten, dessen entsann er sich noch, und dennoch ist er Tag und Nacht marschiert und hat seine Truppe nicht verlassen, bis das Schicksal der Bourbakiarmee vollendet war.

Nun lag er im Spital.

Schwere, wie aus Wolkenfetzen gebildete Flocken strichen am Spitalfenster vor der großen Schanze zu Bern entlang.

Klaus Krafft hatte schon lange darauf hingestarrt. Auf einmal wurde er sich bewußt, daß das Schnee war, immer noch Schnee. Immer noch hörte er Eisenbahnzüge rollen, immer noch pfiffen und keuchten Züge und brachten Truppen in offenen Güterwagen, wie Schlachtvieh eng verstaut, von der Loire zur Lisaine! Marschieren, hungern, frieren und marschieren . . .

Er schloß die Augen. Er hörte das Rollen der Züge . . .

Jetzt wurde seine Hand ergriffen. Richtig, er war 178 ja in Villersexel. Aber er konnte sich nicht mehr auf ihren Namen besinnen. Wollte sie anreden, ohne die Augen zu öffnen, um ihr zu sagen, daß er sie am zarten Druck ihrer Hand erkenne, und wußte ihren Namen nicht mehr.

Da überwältigte ihn eine tiefe Traurigkeit.

Aber auf einmal wußte er bestimmt, daß alles das weit hinter ihm lag, daß die Eroberung von Villersexel einer lange vergangenen Zeit angehörte.

Er öffnete die Augen und blickte in das Gesicht einer Krankenschwester.

»Wo bin ich?« fragte er ruhig, um sich zu unterrichten.

Und mit wenigen Worten erzählte sie, wie er von Verrières nach Bern verbracht worden sei, als die Ärzte den Transport erlaubt hätten. Man wußte Namen und Rang, sein Schwager, ein Herr aus dem Elsaß, sei dagewesen, habe aber über Genf nach Bordeaux weiterreisen müssen, denn es werde dort über den Frieden verhandelt.

In Bruchstücken, von allen Seiten, von Kameraden, Mannschaften und Ärzten zusammengetragen, erfuhr er, daß er am 28. Januar noch einmal in einem Dorfgefecht gestanden hatte und durch einen Schuß in die Schulter verwundet worden war. Richtig, er war ja verbunden. Die Kugel hatte die Weichteile durchschlagen und den Zusammenbruch beschleunigt. Die Zuaven, deren Chechia er getragen und die er zu ihrer letzten Waffentat fortgerissen hatte, wollten ihn nicht im Stich lassen und erstritten ihm einen Platz auf einem Ambulanzwagen, auf dem er nach Verrières verbracht wurde, als die Armee auf Schweizergebiet übertrat. Das Schicksal war erfüllt.

Der weiche Februarschnee war im Vergehen. Über der großen Schanze sah Klaus Krafft den blauen Föhnhimmel leuchten und hörte in den Dachkändeln das Schmelzwasser sprudeln. Vom nahen Bahnhof tönten Pfiffe und Räderrollen.

Das Schicksal Frankreichs, ja, das war erfüllt. Aber das des Elsasses und sein eigenes? Und das der Illzach? 179

 


 


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