Hermann Stegemann
Die Krafft von Illzach
Hermann Stegemann

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In feinen grauen Strichen fiel der Regen und spann das Herrenhaus zu St. Niklausen in rieselnde Schleier.

Claudine saß neben ihrem Vater im Bibliothekzimmer. Sie hatte ihn wieder über Thiers ›Geschichte des Kaiserreichs‹ gefunden, in die er sich vergrub.

Das Trauerkleid hob die Blässe ihres schmalen Gesichts. Die Ringe klirrten leise an ihren Fingern. als sie ihm das Buch sanft entzog.

»Papa!«

»Ja, mein Kind!«

Er blickte sie an, ohne sie zu sehen. In seinen Augen stand ein versonnener Ausdruck.

Da erlosch auch ihr mütterlicher, sorgender Sinn. Die Qual schlug wieder über ihr zusammen.

Sie tastete nach seiner Hand. So saßen sie stumm.

Endlich fragte der Freiherr müde:

»Welchen Tag haben wir heute?«

»Den 21. August, Papa.«

»Weißenburg, Reichshofen, Spichern, Borny, Mars la Tour, St. Privat!«

Die Namen kamen schwer, eintönig, wie geschmolzenes Blei, das in den Metalltiegel fällt, aus seinem Munde.

Und wieder schwiegen sie, während ihre Hände sich suchend, zuckend, wie Hilfe und Trost heischend umklammerten.

»Marc!«

Claudine hatte den Namen leise fallen lassen. Wie ein Blatt, das sanft vom Baume schwebt, kam er über ihre Lippen.

83 Eine schwere Erschütterung ging durch den Leib des alten Herrn.

»Ja, mein Kind! Marc!«

Und enger, krampfhafter griffen ihre Hände ineinander.

»Wie fröhlich er war, als er Abschied nahm!« murmelte die Schwester.

»Wie stolz er lag, als ich ihn wiedersah,« antwortete der Vater.

Ihre Hände lockerten die Verschlingung.

Klaus Krafft raffte sich zusammen.

»Hat dein Mann geschrieben, Claudine?«

Er wußte, daß Konrad geschrieben hatte, aber er fragte danach, um Claudine zu einer Aussprache zu helfen.

»Ja, heute.«

Er wartete darauf, daß sie ihm den Brief zeigen werde, wappnete sich mit Überwindung, um ihn ruhig entgegenzunehmen und sie nicht zu kränken, indem er ihn aufschlug, aber Claudine schwieg. In ihrem Gesicht stand jetzt ein verstörter Ausdruck.

Plötzlich schrie sie auf.

»Papa, ich finde mich ja nicht mehr zurecht! Marc ist tot, unser Junge ist erschossen, ich habe ihn nicht mehr gesehen, weggewischt, als wäre er nie am Leben gewesen! Und Konrad, was ist mit Konrad, Papa? Er ist noch viel weiter weg! Ich kenn ihn gar nicht mehr, seit Marc tot ist! Wie kommt das nur, Papa?«

Sie hatte auf einmal den unverständigen Blick eines Kindes. Zwei Tränen hoben sich aus ihren Augen.

»Wie das kommt, mein Kind! Das kommt daher, daß der Krieg dich in einen Konflikt gestürzt hat. Sei tapfer, Claudine, sei ruhig, es wird noch alles gut. Denk an das Kind, Claudine!«

»Das Kind!« wiederholte sie, und ein Schauer lief durch ihren Leib.

Nach einer Weile sagte sie mir unnatürlich ruhiger Stimme:

84 »Warum hat dieser Krieg sein müssen! Warum muß gerade Marc fallen, warum Konrad deutscher Offizier sein! Ich verstehe das alles nicht.«

»Ja, und ist auch nichts zu verstehen dabei, Claudine . . . was ist, das ist . . .«

Seine abgemagerte Hand strich sanft über ihren Scheitel.

»Soll ich ihm antworten, Papa?«

»Weißt du das nicht?« fragte er eintönig.

»Es ist so schwer,« gab sie leise zurück.

Am nächsten Tage schrieb Claudine dennoch an ihren Mann. Sie setzte sich mit dem festen Entschluß,. ihm zu antworten, an den Schreibtisch. Doch an der Anrede strandete sie schon.

›Meine Claudine‹ hatte Konrad sie angeredet in seinem großen, manchen Bogen umfassenden, in vielen Absätzen geschriebenen Brief, der vor Gunstedt begonnen worden und in dem Batteriestand vor Straßburg vollendet worden war. Eine Reihe von Tagebuchblättern. heute nur wenige Zeilen, morgen einige Seiten. Kaum ein Wort von Krieg und Kriegsgraus, außer den notwendigen Bemerkungen, um Anfang und Ende jeder Tagesnotiz zu begründen. Keine wortreichen Beteuerungen, keine sehnsüchtigen Seufzer, aber in all der schlichten Gegenständlichkeit doch erfüllt von verhaltenem Leben und treuem Gedenken. Und deutsch geschrieben! Und das, gerade das war Claudinen aufgefallen, hatte sie schmerzlich zusammenzucken lassen, als hätte Konrad ihr früher französische Briefe geschrieben. So täuschte sie die Erinnerung, weil jetzt etwas Fremdes zwischen sie getreten war. Auch von Marc schrieb Konrad, von dem Grab im Rebgarten zu Morsbronn.

Der Brief war ihm sehr schwer geworden und trotzdem wie lang gestocktes Herzblut aus der Feder geflossen. Aber was er eigentlich sagen wollte, das stand unsichtbar zwischen den Zeilen.

Sie hatte ihrem Manne immer französisch geschrieben, 85 denn ihre Erziehung, die ganze Kultur ihrer Umgebung und Herkunft hatten sie französisch denken und schreiben lehren. Aber erst heute hatte sie die Empfindung, daß sie in einer Sprache schrieb, die nicht Konrads Sprache war. Und doch war dieser deutsch-französische Briefwechsel so selbstverständlich gewesen, seit sie sich verlobt hatten, als wäre das das Natürlichste von der Welt. Ja, hatten sie sich denn etwa nicht verstanden, wenn Konrad deutsch und sie französisch schrieb? Oder hatte es da vielleicht weniger gegeben, um das man verstehend sich mühen muß?

Claudine ließ den Kopf in die Hand sinken und blickte sinnend auf die steile, schmucklose Schrift.

›Meine Claudine!

Seit ich hier die Batterie kommandiere, bin ich nicht mehr imstande, zu sagen, ob ich zweiunddreißig oder fünfundvierzig Jahre alt bin. Kriegsjahre zählen mehr als doppelt, man wird reifer in dieser Zeit erschütterndster Erlebnisse und gewaltigster seelischer Spannung und Ergriffenheit, als sich in Zahlen ausdrücken läßt. Die braven Kanoniere mögen mechanisch oder von einem seltsamen Jagdfieber erfaßt, Kartuschen tragen, laden, richten und feuern, ich kann das Kommando immer nur mit dem vollen Bewußtsein seiner Wirkung, mit dem ganzen Gefühl der Verantwortung geben und sehe die Feuerbogen in der Nacht mit beklemmtem Herzen in die Höhe steigen. Aber es muß sein, es hat sein müssen, und wenn eine Bombe in steilem Wurf auf uns niederfällt und die Stücke springen, dann gleicht sich's aus. Festgenagelt stehen und das Geschick in methodischem Arbeiten vollenden helfen, das packt einen stärker an, als sich im hingebenden, fortreißenden Kampfzorn in einen Tag mächtigster, blutigster Ereignisse stürzen!

Ich habe noch keinen Schaden genommen, wenn man die kleine Kontusion von einem abgesprengten Lafettenstück nicht rechnet. Das prachtvoll gezielte Geschoß fiel 86 wie vom Himmel auf meinen Batteriestand, aber ihre Zünder taugen nichts.

Seit gestern regnet es in Strömen, und die grauen, dicken Schwaden decken alles zu. Ich muß Dich um Entschuldigung bitten, daß ich eingewickelt in eine Decke hier an einer Kommode sitze, an der man sich beim Schreiben die Kniee zerstößt. Meine Mäntel, Kleider, Stiefel und die Leibwäsche, alles trieft von Nässe, und den letzten Tisch des Hauses hat der Major requiriert.‹

Über Claudinens Gesicht fliegt der Schein eines Lächelns. Sie sieht ihn sitzen, wie er sich schildert. Und dann steigt ein seltsames, sehnsüchtiges Gefühl der Wärme von ihrem Herzen auf und ergießt sich in ihre Wangen.

Die Hand, die an der Stirn liegt, gleitet ein wenig herab, so daß die Augen hinter ihren Fingern verschwinden, und nun ruft sich Claudine von Eggheim das Bild ihres Mannes in Erinnerung. Nicht in die Lagerdecke gewickelt, sondern so, wie sie ihn zum letzten Mal gesehen hat, als er sie im leichten Jagdwagen von Eggweiler über Heitersheim nach Breisach und Kolmar fuhr, wo der Kammerherr seine Tochter empfing, um sie nach St. Niklausen heimzuholen.

Konrad war so langsam, so vorsichtig gefahren, hatte den Gaul so gleichmäßig im Zügel gehalten, als ob sie von der Fahrt hätte tausend Schäden davontragen können. Und alles nur, weil sie ihn am Abend vor der Abreise hatte ahnen lassen, daß sie vielleicht guter Hoffnung sei.

Als Claudinens Gedanken um diesen Punkt kreisten, zuckte plötzlich ihre Hand nach der Feder, und ehe sie selbst wußte, was sie tat, hatte sie mit fliegenden Zügen geschrieben:

›Laß mich Dir sagen, mein lieber Freund, daß ich mich nicht getäuscht habe: Wir bekommen ein Kind! Was für eine Nachricht, jetzt, da so viele Mütter und Väter ihre Söhne verlieren! Und Du Konrad, Du, mein 87 Mann, stehst auf der andern Seite, und ich zittere für Dich, wie ich für meinen Bruder gezittert habe. Zwischen uns steht der Tod, der Haß; alles stürzt zusammen! Mein Vater schwindet langsam hin; und ich werde vom Geschick weggerissen, kann mich nicht fassen, will mich zwingen, an Dich zu denken, und finde Dich nicht mehr, wie ich Dich früher kannte! Hab ich Dich denn gekannt? Wer bin ich? Und wer bist Du? Ich fürchte mich vor dem Wiedersehen mit Dir – es ist entsetzlich, aber ich fürchte mich!‹

An diesem Tage schrieb Claudine nicht weiter.

Der heftige erste Ausdruck ihres Gefühls, das so lange zurückgedämmt gewesen war, hatte sie erschöpft. Doch als ihre Antwort ins Quartier nach Lingolsheim abging, waren diese Zeilen, von fliegender Hand geschrieben, am Anfang des Briefes stehen geblieben.

Sie hatte recht gesehen, Klaus Krafft von Illzachs Kraft und Gesundheit hatten einen unheilbaren Bruch erlitten. Er war ja schon seit einigen Jahren, seit dem Tode seiner Frau, recht alt geworden, aber jetzt war er ein siecher Mann. Und es war nicht allein der Tod seines Sohnes, sondern auch das Schicksal des Kaiserreichs und Frankreichs, das an ihm zehrte. Wie eine Lawine riß dieser Krieg das Glück und die Größe des zweiten Napoleonischen Reiches in den Abgrund. Über dem Schicksal des Vaterlandes vergaß Illzach das Schicksal seines Hauses.

»Ich habe sie nie geliebt, die Montijo,« sagte er, »aber wenn sie ihren ›kleinen Krieg‹ mit dem Verlust des Thrones bezahlt, so ist sie schwer gestraft.«

Wenn Nordwind wehte und die Luft den Schall gut leitete, hörte man in St. Niklausen wie fernes Wettergrollen das Echo der Belagerung von Straßburg. Und in einer Regennacht, es war am 25. August, bedeckte gar ein rostgelber, mit dunklen Purpurrosen gestickter Vorhang den nördlichen Horizont, als wäre ein Polarlicht am elsässischen Himmel aufgestiegen.

Straßburg brannte!

Am andern Morgen kam Kiener. Er war vierzehn 88 Tage in Paris gewesen. Als es Abend wurde, zog er Klaus in ein Gespräch unter vier Augen.

»Du hast eine lebendige Sorge im Haus, Schwager Klaus.«

Fragend blickte der Freiherr ihn an.

»Wie meinst du das?«

»Claudine!«

Unwillkürlich wiederholte Klaus den Namen seiner Tochter. Er machte dabei eine Bewegung, als wünschte er nicht, davon zu reden.

»Eggheim steht vor Straßburg,« fuhr Kiener unbeirrt fort, »man sieht ihn seine Zeichen an den Himmel schreiben.«

»Er tut seine Pflicht,« murmelte Klaus unwillkürlich.

»Ja, ja, ich weiß – aber es ist gegen die Natur, daß dein Schwiegersohn die Pflicht hat, Straßburg zu bombardieren,« rief Kiener, und sein Temperament brannte hell auf. »Wenn seine Batterie am 6. August Granaten auf die Brigade Michel geworfen hätte, so hätte der Mann deiner Tochter deinen Sohn getötet.«

»Und wenn Mac Mahon drei Divisionen mehr gehabt und besser manövriert hätte, so wäre die Brigade Michel beim Hallali vielleicht in Eggheims Batterie hineingeritten und die Schwäger hätten einander ins Weiße der Augen gesehen und sich verfangen wie kämpfende Hirsche! Wir hätten es tragen müssen. Wir haben in diesem Konflikt kein Wort, keine Wahl, kein Recht, Einspruch zu erheben, wir sind nicht einmal berechtigt, unsere Gefühle dadurch beeinflussen zu lassen. Nur eine Einzige hat in diesem Konflikt zu leiden und zu entscheiden: Claudine.«

Der Freiherr war plötzlich über den Konflikt der Herzen emporgewachsen zu gewaltiger Anschauung. Aber es war zu viel. Das Herz wurde wieder Meister. Claudine, Marc, seine Kinder! Er wandte sich ab. Die Stirn an die Scheiben gelehnt, blickte er in die verschwimmende Ebene.

89 Kiener sah seine Schultern beben. Er räusperte sich und sagte sanft:

»Ich habe schon lange sprechen wollen, Klaus. Überlaß Claudine ganz sich selbst. Sie wechseln Briefe, und das ist in der Ordnung. Der Krieg hat erst begonnen, wir müssen die Partie bis zu Ende spielen, auch wenn dieses Kaiserreich morgen wie eine Seifenblase zerplatzt. Und wer kann sagen, ob Eggheim nicht den Tod auf dem Schlachtfeld oder im Lazarett findet? Dann ist Claudine mit einem Kind Eggheims unter dem Herzen unglücklicher als die kleine Grandidier, die den Roman ihres Lebens mit einem tapferen Opfer abgeschlossen hat und zu ihren Mode- und Trauerhüten nach Besançon zurückgekehrt ist. Und fällt Eggheim nicht, so geht sie zu ihm zurück, und wer kann sagen, wie der Krieg dann die Verhältnisse, die Gefühle und Charaktere verändert hat!«

»Ja, was dann? Arme Claudine,« murmelte Klaus Krafft, und sein Hauch schlug schwer an die Fensterscheiben. Dabei mußte er an Marcs Liebchen denken.

Partant pour la Syrie...‹ klang's traurigsüß in seinem Ohr . . .

Das Land lag so still und erntemüd in die Weite gestreckt, daß es eine Lästerung schien, von Krieg und Kriegsschrecken zu reden. In den Weinbergen von St. Niklausen brachen Frauen und Mädchen einzelne Blätter, um der Sonne den Zutritt zu den reifenden Trauben zu erleichtern.

»Wenn es zum Frieden kommt, fließt der dort drüben ohne Ufer, wie das Meer,« sagte Klaus Krafft nach einer Pause und blickte zu dem schmalen, silbern aufblitzenden Rhein hinüber.

»Ja, auch dann, wenn er nicht mehr die Grenze ist,« erwiderte Kiener.

»Nicht mehr die Grenze!« fuhr Klaus auf. »Bist du bereit, den Frieden zu erkaufen um ein Stück nationalen Bodens?«

Kiener schwieg eine Weile, dann fuhr er fort:

90 »Niemals! Kaiserreich oder Republik, wir kämpfen bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone. Aber sie sind stärker als wir. Sie haben mehr Sehnsucht im Leib als wir.«

»Du hast immer deinen eigenen Kopf gehabt, aber eher glaube ich an den Zusammenbruch der Welt als daran, daß Frankreich nicht mehr Frankreich ist.«

Klaus Krafft hatte sich selbst wieder am Feuer seiner patriotischen Überzeugung angewärmt, und das volle französische Blut seiner Mutter, die eine Trécourt-Carteret aus der Touraine gewesen war, rebellierte in seinen Adern. Er trug den Kopf hoch. Der Henriquatre schimmerte eisengrau.

Kiener wollte das Gespräch abbrechen. Er hielt den Hut in der Hand, und das Spiel der Abendsonne traf sein blondes, leicht versilbertes Haar und die kantige Stirn. Über dem Kragen stand der kräftige Nacken noch faltenlos.

»Auf Wiedersehen, Klaus, wir sehen uns so bald nicht mehr. Ich habe meine Fabriken geschlossen, den Arbeitern den Mietzins erlassen und sechs Wochenlöhne gutgeschrieben. Alles, was ich kann. Jetzt gehe ich nach Paris, um dort zu bleiben, bis die Republik etabliert ist.«

»Die Republik! Eine Advokatenrepublik Favre und Cie! Laß mich in Frieden, Jacques! Einen Degen brauchen wir, keinen Federkiel!«

»Gut! Auch das! Das ganze Volk wird aufstehen, wenn die Republik ruft! Das Volk, keine Prätorianer!«

Wie ein Löwe erhob sich der Baron und schrie:

»Denk an Marc, Jacques, eh du von Prätorianern sprichst!«

»Der ist für Frankreich gefallen!« erwiderte der Hartkopf mit Betonung.

Aber dann streckte er dem Schwager die Hand hin.

»Verzeih, ich wollte deine Gesinnung nicht kränken.«

Langsam ergriff Klaus Krafft die Hand des Fabrikanten. Sie standen eine Weile schweigend und bedachten 91 die Parteiungen, die das Land zerrissen, während ein einiges Deutschland den letzten Hauch von Mann und Roß an den Sieg setzte.

Als Kiener seine Frau aufsuchte, um Abschied zu nehmen, spannen Dämmerfäden silbergraue Netze um St. Niklausen. Ein Scharlachstreif stand wie vergossenes Blut über dem schwarzen Vogesenberg, der seinen Schatten über den Rebhügel deckte.

Madeleine Kiener saß mit Amélie und den Kindern auf der Terrasse.

Kiener bat seine Frau, ihn in den Park zu begleiten. Es roch schon feucht und herbstlich unter den Bäumen.

»Ich reise heute abend noch. Am besten über Basel und Genf. Du kannst unbesorgt sein um mich. Es wird keine Revolution geben mit Blut und Grausen. Man wird die Absetzung des Kaiserreichs dekretieren, und der Mann des zweiten Dezember taucht in das Nichts zurück. Es ist das einzige Mittel, um einen ehrenhaften Frieden zu erlangen. Du hast deine Aufgabe hier, Madeleine.«

»Du willst mich also nicht mitnehmen, Jacques?«

Sie standen hinter den Tujen am Teich. Die Flora auf dem Sockel dicht über ihnen, die ihr Füllhorn schwenkte, schien inne zu halten im geflügelten Lauf und zu lauschen. Eine zärtliche Meise schwätzte im Busch.

»Nein, Madeleine. Klaus gefällt mir nicht. Marcs Tod ist ihm ans Leben gegangen. Und noch eins: Claudine!«

»Claudine!« rief Madeleine unwillkürlich laut. Es verklang im Park.

Von der Bank, die am Teich im Schatten stand, erhob sich eine schlanke Gestalt. Letzter weinroter Abendschein strich über das schwarze Kleid und die weißen Wangen und Hände der jungen Frau, die sich gerufen wähnte und langsam, wie im Traum, näher kam.

»Ja, Claudine! Und ihr Kind! Dieses Kind, das besser nicht –«

92 Er brach ab. Seine Lippen erstickten das letzte Wort im Munde.

»Gott im Himmel, Claudine!« hauchte die Frau und drückte sich an ihn, als fürchtete sie den Tod aus den Händen Claudinens zu empfangen, die dicht vor ihnen aus dem rötlichen Dunkel tauchte.

Aber Claudine ging an ihnen vorbei, ohne stehen zu bleiben. Wie ohne sie zu sehen.

»Sie hat uns nicht bemerkt,« flüsterte sie ihrem Manne zu.

»Du irrst dich, Madeleine.«

Kiener sprach's mit trauriger, gefaßter Stimme.

Die junge Frau stieg die Treppe hinauf.

Auf der Terrasse schwamm noch letzter farbiger Abendschein.

Das Herz zerschlug ihr beinahe die Brust.

Und dennoch ging sie langsam und gemessen, blieb einmal stehen, um der kleinen Jeanne das Püppchen betten zu helfen, tat dies mit leichten, geschickten Händen, stieg danach die Haustreppe hinauf, öffnete die Tür ihres Zimmers, drückte sie ins Schloß, stieß den Riegel und tastete sich endlich mit plötzlich erloschenen Augen zu einem Sessel.

In einem nagenden Schmerz zusammengebrochen, starrte sie ins Leere.

Ihre Gedanken ballten sich, bissen sich, hetzten unsinnig im Kreise, ihr ganzes Wesen fiel in Trümmer. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie kein selbständiger Mensch mehr, sondern in Fetzen und Gefühle auseinandergerissen. Aber es war kein Ausbruch von Tränen, keine Nervenkrise, kein Leid, das aus der Tiefe des Empfindens steigt. Es war eine von außen kommende qualvolle Erkenntnis, die blendend über sie hereingebrochen war, als die Worte Kieners plötzlich das Schicksal ihres eigenen, noch ungeborenen Kindes vor ihr heraufbeschworen hatten.

Das Kind eines Deutschen und einer Französin, das Kind eines Vaters, der seine Kugeln nach Straßburg 93 hineinwarf und vielleicht das Haus der Illzach in Brand und Trümmer schoß, das Kind einer Mutter, die ihren Bruder unter deutschen Kugeln hatte fallen sehen und seinen funkelnden, vom Blei durchschlagenen Küraß schaudernd aus den Händen ihres Vaters genommen hatte, um ihn oben im Waffenzimmer ausstellen zu helfen!

Marc war tot. Aber ihr Kind wollte leben. Marcs Tod war nicht das Schlimmste, jetzt sah sie es ein.

Warum war sie Konrad von Eggheims Frau? Urplötzlich schrie diese Frage in ihr auf. Und dann kam eine zweite, die schrie nicht, sondern flüsterte leise: Liebst du ihn denn? Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie um diese Frage nicht gesorgt. Aber damals war Friede, damals schliefen tausend quälende Fragen, die heute wild durcheinanderschrieen. Ja, sie liebte ihn, wollte, mußte ihn lieben, sonst brach ja alles zusammen, sonst gab es ja nur noch ratlose Verwirrung aller Gefühle. Sie war ja seine Frau, und das Kind, sein Kind war ja auch da! Jetzt wußte sie, warum sie für ihn zitterte. Sie konnte seine Briefe nicht erwarten und hätte ihn doch nicht wiedersehen mögen, nicht so wiedersehen mögen, wie sie ihn in jener dunklen straffen Uniform gekannt hatte, als er noch zu Friedensmanövern ging . . .

Draußen wurde zu Tisch gerufen. Man hörte schon die Reisekutsche Kieners vorfahren.

Aber Claudine brachte es nicht über sich, unter ihre Verwandten zu treten. Sie schickte die Jungfer mit einer Entschuldigung zu Papa und zu Tante Madeleine und schloß sich ein.

Klaus klopfte und versuchte Zutritt zu erbitten. Immer mit der vollendeten Zurückhaltung des Kavaliers gegenüber der Dame.

»Willst du mir nicht gestatten, dich zu sehen, Claudine?« fragte er durch die Tür, und Claudine hörte in seiner Stimme einen festern, frischern Klang, als sie in diesen kummervollen Tagen je von ihm gehört hatte. Aber sie erblickte auch ihr eigenes starres, von Gedanken 94 und Zweifeln zerstörtes Gesicht, das die Mutterschaft gebleicht und entfärbt hatte, und antwortete:

»Verzeih mir, Papa, aber ich kann niemand sehen. Niemand

Und dieses ›Niemand‹ zitterte so schmerzlich und doch wieder zugleich so stählern entschlossen nach, daß Klaus Krafft die Hand von der Klinke zurückzog und sich leise entfernte.

Als die Kutsche sich in Bewegung setzte, stand Claudine hinter den Vorhängen ihres Fensters. Sie sah sie den Parkweg hinunterrollen. Nun war sie wohl schon im Dorf. Auf dem weißen Strich der Landstraße, der in die Ebene hinauslief, erschien lange nichts. Wie ausgebleicht lag das Band. Sie wußte nicht, warum sie diesem Wagen nachblickte, der Kiener zur Station trug, und warum sie darüber weinen mußte.

An diesem Abend schrieb Klaus Krafft nach Überwindung heftigsten Widerstands, der ihm immer wieder die Feder aus der Hand riß, an seinen Schwiegersohn, er sorge sich um Claudine.

Doch als sie am andern Tag ruhig, mit klarem, ernstem Gesicht wieder erschien, da reute ihn sein eilfertiges Schreiben.

Das Billett des Freiherrn wurde Konrad von Eggheim übergeben, als er abends aus kurzem Schlaf fuhr. um das Nacht-Kommando zu übernehmen. Die Batterie war zum Bombardement befohlen und schoß mit Granaten nach der Kronenburger Seite.

Konrad konnte sich kaum Zeit nehmen, die kurzen Zeilen zu überfliegen. Er erschrak. Er mußte sich erst besinnen, was eigentlich geschehen war, so sehr hatte der Krieg ihn aus seinem persönlichen Leben und Erleben herausgerissen. Wie weit weg lag das alles, und doch, wie rasch war das alles wieder da, als er die Gedanken darauf lenkte! Seine Frau!

Und dann versank ihr Bild wieder, er meldete sich zum Dienst, trat in den Batteriestand und spähte im 95 warmen feuchten Dunkel nach dem schwarzen massigen Schattenbild der Festung hinüber, das zuweilen am Horizont auftauchte und alsbald wieder von der Finsternis verschluckt wurde. Er stand auf dem Erdaufwurf hinter den Geschützen. Von Schiltigheim her krachten die schweren Belagerungsgeschütze gegen das Steintor. Als die Uhr im Handschuh zehn Uhr wies, befahl auch Eggheim Feuer.

Wieder fuhren die Feuerschlangen aus den Rohren, stiegen die Raketgranaten in den Nachthimmel und senkten sich sternestreuend auf die dunkle Stadt. Dann flammten die Kanten der Bastionen auf, knatterte ohnmächtiges Flintenfeuer vom Hauptwall und zogen die Bomben der Marinebatterie, die vom Zaberner Tor her feuerte, langsam am Nachthimmel auf, um plötzlich in kurzem Bogen steil abzustürzen. Vom St. Helenenfriedhof schrie rauhes Hurra. Brände reckten sich über die Bastionen der Festung und streckten die feurigen Arme gen Himmel. Der Münsterturm erschien von rosigem Licht umflossen, blutig durchleuchtet auf dem Hintergrund der bebenden Nacht. Krachend, knatternd, rote Feuersäulen drehend, erschütterte das Bombardement die Luft.

»Bombe rechts!« schrie der Mann auf dem Ausguck.

Der Feuerstreif näherte sich.

Sie schien langsam und schwerfällig aufzusteigen, stand einen Augenblick still und stürzte dann dreißig Schritte vom rechten Flügelgeschütz in den aufgeweichten Grund. Der Zünder spie, zischte und erlosch.

Um ein Uhr fiel eine andere zwischen dem zweiten Geschütz und dem Erdaufwurf auf härtern Grund und zersprang.

Als sie aufschlug, hatte Eggheim den Mann, der neben ihm stand und noch einmal mechanisch ›Bombe‹ schrie, niedergerissen.

Einen Augenblick lang empfand er sein Leben als einen einzigen Schwall von Kraft, Glück, Lust und Schmerz, schmolz ihm Vaterland, Weib, Kind, der Turm 96 da drüben, der so sehnsüchtig, überirdisch in den Himmel wuchs, alles in eins, dann schlug ihm eine Riesenfaust auf die Schulter und stürzte ihn im Schwung über den Grabenrand ins Meer. Ins Meer, in tiefes, unergründliches, blutwarm wallendes Meer. Goldenes, quirlendes Geriesel um ihn her, purpurblaue Tiefe, die ihn langsam einschlürft. Glocken . . . die Kühe von Eggweiler sind ausgetrieben und weiden auf grünfunkelndem Wiesengrund . . . Die Glocken verstummen . . . Es wird wonnevoll still . . . Sein Leib löst sich auf. Schwer wie Blei sinkt sein linker Arm von ihm weg . . . Er weiß den Namen seiner Frau nicht mehr . . . das quält ihn . . . und nun alles still.

Die Bombe hatte zwei Mann getötet und drei verwundet. Der Kanonier, den der Offizier mit raschem Entschluß niedergerissen hatte, kam mit einer Stirnbeule davon. Konrad von Eggheim war von dem Sprengstück an der linken Schulter getroffen und verwundet worden. Das Epaulett hatte ihm den Knochen gerettet. Muskeln und Bänder waren zerrissen. Als er wieder zu sich kam, trugen sie ihn im Schütteltrab über das aufgeweichte Feld. Im Schultergelenk fraß gierig der Schmerz.

Claudine!

Er hatte den Namen wiedergefunden.

Sie hoben ihn aus dem Korb.

»Wieviel Verlust?« fragte er heiser.

Sie sagten's ihm. Das zweite Geschütz feuerte mit zerhackten Speichen weiter.

»Na also,« murmelte er.

Konrad von Eggheim sorgte dafür, daß die Kunde von seiner Verwundung nicht nach St. Niklausen gelangte. Die Ärzte versicherten ihm, daß die Beweglichkeit des Armes gewahrt bleibe. Nun lag er in Lingolsheim im Lazarett und hörte die Batterien spielen, die Straßburg in feurigen Armen erdrückten.

Im Bett neben ihm lag ein Gardelandwehrmann. 97 Der war wenige Tage später, am frühen Morgen des 1. September, bei einem Ausfall aus dem Steintor tödlich verwundet worden. Er stöhnte den ganzen Tag nach der Amputation des linken Beines und murmelte zwischenhinein immer wieder: »Marie und die Kinder!«

In der Nacht rief er auf einmal mit lauter, schreiender Stimme:

»Aber herausgeben tun wir Straßburg nicht mehr! Hören Sie, Schwester, nie mehr geben wir's heraus!«

Sie lagen zu acht im Schulsaal, und die Stimme des Mannes, der von plötzlichen Fieberschauern geschüttelt wurde, hallte rauh durch den kahlen Raum, schreckte die Schläfer auf, wurde immer lauter und brüllender, kam aus einem bärtigen Munde, der in einem steil nach der Decke blickenden, von Schmerzen zerwühlten Gesicht stand, und ließ sich nicht beschwichtigen, bis der Arzt eingriff. Dann murmelte er wieder,. daß es wie das Psalmodieren von Sterbegebeten klang: »Marie und die Kinder . . . Marie und die Kinder!«

Konrad von Eggheim hatte die Zähne zusammengebissen, als der Rasende schrie. Aber die Worte trotteten seither unablässig durch sein überreiztes Hirn.

»Wir geben Straßburg nicht mehr heraus!« Und statt Straßburg setzte er Elsaß und wiederholte in Gedanken: ›Wir geben das Elsaß nicht mehr heraus!‹

Er dachte nicht mehr an seine Frau.

Der Tag kostete Blut. Über frisch ausgehobenen Laufgräben, die vierhundert Meter an die Lünetten herangeschoben wurden, entluden die Festungsstücke ihren verzweifelten Zorn.

Eine getroffene Kartätschentonne fuhr mit blendendem Feuerstrahl und wundervoll gestalteter Rauchsäule in die Luft und erschütterte weithin das Gelände.

Konrads Bett war so gestellt, daß er im Fensterausschnitt ein Stück freien Feldes und in der Ferne die dunkle, von Rauchschwaden umzogene Masse der Festung erblicken konnte. Hals, Nacken und Schulter waren fest 98 eingebunden. Ein Bronchialhusten, der in den Batterieständen und Laufgräben zu Hause war, aber erst jetzt im geschlossenen Raume und in der gestreckten Lage bei fieberndem Blut lästig wurde, erschütterte seinen schmerzenden Leib. Noch dreihundert Meter und Lünette dreiundfünfzig mußte fallen.

Die Schwester erinnerte ihn an seine Frau. Ob er ihr nicht selbst Nachricht geben wolle.

Da fiel ihm alles wieder ein. Er konnte keine Feder führen, und Claudine wartete auf einen Brief. Er überlegte, ob er ihn einem Kameraden oder der freiwilligen Krankenschwester diktieren sollte. Aber nein, diese Mitteilung durfte nicht in fremder Handschrift erstarren.

Claudine! Graue Rauchballen kugelten sich in den Feldern, die dumpfen Schläge der Mörser, das kreischende Knattern der Wallbüchsen und das scharfe Krachen der Granatbatterien schwoll auf und ab. Flinkes, helles Chassepotfeuer kicherte dazwischen, so nahe war man sich schon auf den Leib gerückt. Aus der Festung stieg in langsträhnigen Schwaden der feuchte Brodem gelöschter Brände.

Morgen wollte er schreiben. Es mußte gehen.

Gegen abend wurde der schwer verwundete Nachbar neu gebettet. Er lag jetzt ganz still, den vollen braunen Bart auf der weißen Decke, mit merkwürdig spitzer Nase und fingerte am Leintuch.

Da erhob sich im Dorf eine unruhige Bewegung, klapperten Hufe, schwollen Stimmen, war's wie ein allgemeines Untergewehrtreten, und dann wurde plötzlich die Tür aufgerissen, und ein Lazarettgehilfe schrie unbekümmert um die Verwundeten, jede Schonung, jede Not vergessend, in den dämmernden Raum:

»Kaiser Napoleon ist mit seiner ganzen Armee gefangen! Geschlagen und gefangen!«

Er war schon wieder davongestürzt. Die Türe stand noch offen. Ein Zugwind strich über die Betten und 99 blähte die Vorhänge. Es war totenstill. Sie hielten alle den Atem an.

Auf einmal rief eine tonlose Stimme, die hohl aus der Brust stieg und kein Metall mehr zum Klingen brachte: »Hurra«.

Eggheim sah den Landwehrmann, an dessen Kopfende die Schwester und an dessen Fußende der Tod stand, rufen. Der Sterbende lag wie angeschmiedet, nur der Bart bewegte sich, und dreimal tönte geisterhaft der preußische Schlacht- und Siegesruf: Hurra, Hurra, Hurra!

Dann war es wieder still.

Die Türe wurde leise geschlossen. Aber von den Gassen herauf und aus der Ferne, wo die Bataillone zum Appell antraten, schwoll, von Tausenden gesungen und von den Musikkapellen begleitet, der Choral: ›Nun danket alle Gott.‹

Drei Generalsalven erschütterten die Luft und schlugen einen Feuerkranz von der Rupprechtsau bis Königshofen.

Glutrot stand das Münster im wallenden Feuerschein.

Konrad von Eggheim fühlte, wie ihm der straffe Verband Brust und Atem, Herz und Kehle zuschnürte. Das Wasser trat ihm in die Augen. Er sang tapfer mit. Wie als Schulbub auf der Empore zu Eggweiler. Die Tränen liefen ihm über die Backen.

Vergessen war alles persönliche Geschick, untergetaucht jeder Schmerz, aufgesogen Sehnsucht und Sorge, ins Weite dehnte sich die Brust. Mit schlagendem Herzen stimmte er ein in den Choral, der über blutigen Schlachtfeldern und vor brennenden Städten den Herrgott lobte, denn ein Volk wurde geboren, eine Nation ins Leben gestellt, da Tausende ihr Einzelgeschick im Totenopfer vollendeten.

Erst zwei Tage später gehorchte Eggheim die Feder wieder so, daß er mit Unterstützung der Krankenschwester an seine Frau schreiben konnte.

Sein Brief traf zusammen mit der Kunde von Sedan in St. Niklausen ein.

100 Der Kammerherr saß vor seinem Schreibtisch und hielt gerade wieder einmal, wie so oft in diesen Tagen, das Handbillett des Kaisers in Händen. Er starrte die inhaltslose Zeile an, als wäre ihre Enträtselung das Opfer schlafloser Nächte wert.

Neben ihm lagen die Zeitungen aus Mülhausen und Basel. Die Pariser Post war ausgeblieben.

Mechanisch öffnete Klaus den Kurier. Da war von einem Treffen bei Mézières die Rede. Das mochte irgendwo in den Ardennen sein.

Es klopfte. Claudine trat ein. Ihr Gesicht war farblos klar. In den Augen wohnte neuer Schrecken.

»Papa, mein Mann ist verwundet.«

Klaus hatte die zweite Zeitung geöffnet.

Claudine sah, wie er sich tief bückte und die Blicke ins Papier bohrte; sie hörte, wie er plötzlich röchelnd atmete.

Jetzt stand er auf, steif, einen greisenhaften Ausdruck im vergilbten Gesicht.

Sie legte ihm die Hand auf den Arm und wiederholte leise, während sie den Kopf an seine Schulter lehnte:

»Konrad ist verwundet.«

Da antwortete Klaus Krafft:

»Es ist nicht wahr!«

»Er schreibt selbst, lies den Brief!«

»Es ist nicht wahr, mein Kind. Die Zeitung lügt. Gefangen, ein französisches Heer, ein Napoleon gefangen! Es ist nicht wahr!«

Da begriff Claudine von Eggheim, daß Konrads Verwundung für ihn keine Bedeutung hatte in diesem Augenblick. Und wiederum stand sie irr und verstört vor Dingen, die sie nicht verstand.

Als sie Konrads Brief gelesen hatte, war ihr das Herz wie zu einem Stein geworden und tiefer zurückgesunken in die geängstigte Brust. Auf einmal wußte sie deutlich, daß sie nie daran gedacht hatte, er könnte fallen. Um Marc hatte sie gezittert und geweint, der Brief Konrads, 101 der in mühsamen Federstrichen von einer Verwundung erzählte, warf sie nur in Schrecken und Verwirrung.

Nun reichte sie den Brief ihrem Vater und stand dicht neben ihm, las über seinen Arm noch einmal jede Zeile mit, als könnte sie ihn so besser verstehen.

Klaus Krafft hatte mechanisch die Augen über die Zeilen wandern lassen. Schlicht und wortkarg stand darin zu lesen, daß der Schreiber von einem Bombensplitter an der Schulter verwundet worden sei und im Lazarett liege. Aber dann kamen noch ein paar Sätze. In diesen war dem Schreiber zum ersten Mal die Feder übergeflossen von der gewaltigen Größe des weltgeschichtlichen Moments. Da hatte Konrad von Eggheim vergessen, daß er zu einer Frau redete, die nicht ganz eins war mit ihm, die von Zweifeln bestürmt, von Konflikten bedrängt, von Schmerzen heimgesucht, zwischen ihm und den Ihrigen stand und sich nicht mehr zurechtfinden konnte.

Klaus Krafft las:

›Als die Botschaft von Sedan kam und unsere Krankenstube von der Kapitulation der Armee Mac Mahons und der Gefangennahme Napoleons widerhallte, da hab ich geheult, Claudine. Den Arm vom Leib hätt ich gegeben und den Rest dazu, um das zu erleben! Und hab's erlebt!‹

Mit einem dumpfen Wehlaut brach Klaus Krafft, Freiherr von Illzach, zusammen. Er lag mit den Armen über den Schreibtisch greifend wie ein Schiffbrüchiger, der sich verzweifelt an ein Wrackstück anklammert, und hatte die Stirn auf die Papiere fallen lassen, unter denen das Billett Napoleons vergraben lag.

»Papa!« schrie Claudine und versuchte, ihn emporzureißen.

Endlich hob er schwerfällig den Kopf.

»Ich bitte dich, mich einen Augenblick allein zu lassen, mein Kind!«

Zu der ritterlichen Artigkeit dieser Worte stand der 102 verzweifelte Ausdruck seines verstörten Gesichtes in einem schneidenden Gegensatz.

Er wollte lächeln, um seiner Bitte Nachdruck zu geben. Es wurde eine Grimasse des wildesten Schmerzes daraus.

Claudine raffte den Brief auf, den er hatte fallen lassen.

Als sie sich bückte, schossen ihr die Tränen in die Augen.

Sie ging wie im Traum zur Tür.

Eine Stunde später klopfte ihr Vater bei ihr an. Sie erschrak über die Blässe seines Gesichts. Aber er hielt sich mit vollendeter Haltung aufrecht.

»Jetzt bin ich zu deiner Verfügung, mein Kind.«

Sie hob die Augen und blickte ihn wehmütig an.

»Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich wollte, Papa.«

Trotzdem lehnte sie den Kopf an ihn, und sie saßen schweigend, im Bedürfnis aneinander Halt zu gewinnen.

Am Abend kam ein Telegramm Kieners aus Versailles.

›Etabliert‹ stand darin, weiter nichts.

Drei Tage später schrieb Klaus aus Wien, daß er seinen Abschied genommen habe. Er gehe zuerst in einer Mission nach England und trete später, wenn der Krieg weitergeführt werde, in die Armee. Mit der Muskete, wenn es sein müßte.

»Er tut nur seine Pflicht,« sagte der Freiherr.

Als sie am andern Tag beim Abendessen saßen, lehnte sich Klaus Krafft plötzlich in den Stuhl zurück, blickte seine Schwester, seine Tochter noch einmal an, als wollte er ihnen etwas sagen, für etwas um Entschuldigung bitten, und sank dann mit einem gurgelnden Laut neben der Tafel zu Boden. Madeleine schrie auf, der Diener stand gelähmt, Amélie hielt die Hände vor die Augen, als könnte sie den Anblick nicht ertragen.

Claudine kniete schon neben ihm und suchte ihn aufzurichten, bettete sein Haupt an ihrer Brust und schrie mit einer Stimme, die niemand hörte:

103 »Bleib bei mir, Papa, bleib bei uns, geh nicht fort!«

Mühsam wurde der Freiherr zu Bett gebracht. Ein Bote jagte nach Kolmar zum Arzt. Claudine lehnte am Fenster und wartete auf seine Rückkehr. Hellgestirnte Nacht stand still und ungerührt über dem dunklen Land.

Der Arzt stellte einen Schlaganfall fest und versuchte, den Angehörigen Hoffnung auf Erhaltung des Lebens einzuflößen. Mehr wagte er nicht zu sagen.

Als Claudine ihrem Manne schrieb, wußte sie kaum die richtigen Worte zu finden. Sie schrieb wie an einen Fremden. Sie wußte es, quälte sich damit und konnte es doch nicht ändern.

Aber mit fester Hand ergriff sie die schleifenden Zügel. So schwer sie innerlich kämpfte, dem äußern Leben hielt sie stand. Sie begann dem Geschick zu trotzen. Während ihre Schwägerin in geschäftigem Müßiggang bald dies, bald das anordnete, um dann wieder im trägen Nichtstun ihre blonde Schönheit zu pflegen, und Telegramme nach Wien sandte, die nie zur Beförderung angenommen wurden, teilte sich Claudine mit Tante Madeleine in die Krankenpflege.

Der Kranke lag meist mit geschlossenen Augen. Die Sprache war noch nicht wiedergekehrt, der linke Arm steif und ohne Leben. Sprach Claudine mit ihm, so sah sie an dem Blick seiner Augen und dem Zucken, das sein Gesicht überflog, daß er sie verstand. Sie hatte in wenigen Tagen gelernt, durch geschickte Fragen seine Wünsche zu erforschen. Aber diese Wünsche beschränkten sich nur auf das Notwendigste. Aller Teilnahme abgestorben, lag Klaus Krafft in den Kissen. Aufregende Mitteilungen mußten ihm ohnedies ferngehalten werden.

Konrads Antwort traf an einem hellen Septembermorgen ein.

Claudine erhielt sie, als sie von einem Gang durch den Rebberg zurückkam. Sie wollte dem Vater vom Stand der Trauben erzählen und hatte gewissenhaft unter 104 die leicht gilbenden Blätter geschaut, wo die klarhäutigen Beeren schon runde Bäcklein zeigten.

Den geschlossenen Brief in der Hand, begab sie sich in ihr Zimmer, setzte sich ans Fenster, blickte eine Weile in die Ebene, über der ein goldklarer Glanz hing, und öffnete dann das Schreiben ihres Mannes.

Er schrieb warme gute Worte über ihren Vater. Als sie diese las, glaubte sie auf einmal den Zusammenhang zwischen den großen Ereignissen und dem Niederbruch Papas besser zu verstehen. Er schrieb auch von sich. Kurz, ohne schildernde Einzelheiten.

Sie spürte, daß er ihr die volle Wahrheit sagte. Es war keine falsche Schonung, keine gesteigerte Wichtigkeit, die diese Zeilen diktiert hatte, sondern ein schmuckloser Bericht von Tatsachen, wahrheitsgetreu und ehrlich. Wenn Konrad schrieb, er werde in vier Wochen wieder zu Pferde steigen können, so war das so, und wenn er sie bat, sich nicht zu ängstigen, sondern in St. Niklausen ihren Pflichten gegen ihr Kind und Papa und sich selbst zu leben, so sprach daraus mehr Liebe, als wenn er sie mit Beteuerungen überschüttet und zwischen den Zeilen sehnsüchtig die Arme nach ihr ausgestreckt hätte.

Sinnend blickte sie auf den Brief, der wie aus einer andern einfachern Welt war.

Ihre Wangen brannten.

Madeleine Kiener kam hereingehuscht, um sie zu dem Kranken zu holen. Claudine reichte ihr stumm den ersten Bogen und wartete mit dem Lesen des zweiten, bis sie wieder allein war.

Madeleine überflog die Zeilen und fragte nach einem kurzen Zaudern unsicher: »Fährst du jetzt hin?«

Claudine bewegte abwehrend den Kopf.

Als Madeleine Kiener ihre Nichte äußerlich so ruhig und gelassen fand, kam ihr wieder der Gedanke, daß sie sich innerlich schon von ihrem Manne gelöst habe. Ihre schnell fertige Einbildungskraft sah auch bereits in die Zukunft, sah diese Ehe nach und nach der Auflösung 105 verfallen und empfand dabei beinahe ein Gefühl der Genugtuung. Heute gab sie ihrem Manne recht, der damals so gegen Claudinens Heirat mit Eggheim gesprochen hatte.

Und wieder trat ihr der Ausruf auf die Lippen, der in St. Niklausen Brauch geworden war: »Arme Claudine!«

Claudine blickte auf. Ein rätselhaftes Lächeln erschien plötzlich in den schöngeschwungenen Winkeln ihres Mundes und blieb wie verloren darin stehen.

Madeleine Kiener erschrak darüber. Claudinens Mann lag von einer Bombe verwundet, sicher viel ernster verwundet, als er in seinen Briefen zugab, und seine Frau lächelte! Lächelte, wenn man sie bedauerte, lächelte, während sie einem Kinde entgegensah!

Mit kurzen Schritten wandte sie sich zur Tür, warf ein paar Worte hin, die Claudine baten, nur ruhig sitzen zu bleiben, sie würde den Vater schon beruhigen, und ging.

Da las Claudine die Fortsetzung des Briefes.

›Du sorgst Dich um unsere Zukunft und fürchtest, der Krieg werde uns Konflikte von einer Schwere und Tragweite in die Ehe tragen, von denen wir uns heute noch kaum eine Vorstellung machen können. Und Du denkst dabei mehr an unser Kind und die noch kommen können, als an das, was wir selbst gegenseitig Fremdes in uns haben. Du siehst auf einmal in mir den Deutschen, der mit den Waffen im Lande steht und seine Kugeln nach Straßburg hineinwirft. Und Marc schon unter der Erde, dieser lebensprühende, tapfere Junge! Und Papa zusammengebrochen! Ich kann Dir auf all das keine andere Antwort geben, als Dich bitten, es zum Austrag kommen zu lassen, was auch geschehen mag. Ich weiß heute schon, daß der Krieg nur mit dem Heimfall des Elsasses und eines Stückes Lothringens enden wird, wenn nicht ganz Europa uns in den Arm fällt. Jetzt erschrickst Du noch mehr, denn wir wissen am besten, daß das den 106 Krieg zu einem furchtbaren Volkskrieg machen wird. Frankreich wird sich bis zum bittersten Ende wehren, ehe es sich zu einem solchen Opfer versteht. Aber es muß sein! Ich spüre mit jedem Atemzug, daß es geschehen muß und geschehen wird. Ebenso wie ein neues Deutschland aus diesem Krieg geboren werden muß, nein, weil ein Deutsches Reich entstehen muß. All das trifft uns in unserer Ehe, Dich die Französin (ich werde mir nicht erlauben, Dich in diesem Zusammenhang nur Elsässerin zu nennen) und mich den Deutschen, der jetzt nicht nur als Badener fühlt. Wir müssen damit fertig werden. Oft war noch etwas Fremdes zwischen uns. Dinge, die Du anders sahst, anders fühltest als ich. Vergangenheiten, die für Dich vorhanden, die Dir lieb waren, die ich aber nicht kannte. Und ebenso ging's auch Dir. Deine Bildung, sogar Deine Art, Dich an Gott zu wenden, anders als die meine und ich beinahe ein Fremdling in Eurem Kreise, ein Eindringling, dem nicht einmal die Zufälligkeit der adeligen Geburt half, denn Ihr habt unsere Standesunterschiede nicht mehr und lebt in einer Ausgeglichenheit, die wir noch nicht kennen. Aber wie kann der Krieg, den zwei Nationen (auch wir sind heute wieder eine Nation, Claudine!) austragen, zwei Menschen, die frei und unter Überwindung äußerlicher Schwierigkeiten zu einander gekommen sind, anders scheiden, als durch den Tod! Geliebte Frau, ich vertraue Dir ganz. Du wirst von mir keine Beteuerungen erwarten, Du wirst tragen, was kommt. Soll ich Dir sagen, daß ich Dich liebe, jetzt erst recht lieben lerne! Soll ich das?

Ist Straßburg über, ehe ich wieder an die Geschütze trete, so will ich Gottlob sagen, denn bei jeder Granate, die dort hinter den Wällen in die Dächer fährt, beißt man die Zähne zusammen, als ging's ins eigene Fleisch. Aber es muß sein. Ich grüße und küsse Dich, küsse zwei in einem, und ich verlasse mich auf Claudine Krafft von Illzach, wenn ich Claudine von Eggheim noch so 107 nennen darf. Oder willst Du am Ende nicht mehr Claudine von Eggheim heißen?‹

Lange saß sie noch über diesem Brief und bedachte seinen Inhalt. Schwer lastete ihr Geschick auf ihr. Sie hatte denken lernen in diesen Tagen.

Darauf begab sie sich zum Krankenbett und waltete ihres Amtes.

Klaus Krafft hörte die Kinder auf der Terrasse lärmen. Da trat in sein dämmerndes Hirn der Wunsch, sie zu sehen. Die Gedanken begannen ihm wieder zu gehorchen, und jetzt gelang es ihm sogar, den rechten Arm mit schleudernder Bewegung auszustrecken und Claudinens Hand zu ergreifen.

Ein Schein von Farbe war in seinem Gesicht, ein Funke Lebenskraft in seinen Augen. Er mühte sich um Worte.

Endlich hatte sie ihn halb verstanden, halb erraten.

Die Kinder!

Draußen überlegten die Frauen einen Augenblick, ob man ihm die Erregung nicht ersparen müsse, aber Claudine sagte:

»Ich kenne Papa. Das ist kein Zustand für ihn. Er soll sie sehen.«

Die Kinder wurden ermahnt, hübsch still zu sein, und hineingeführt. Sie waren ängstlich und drückten sich scheu aneinander.

Die Belgierin, die keine kranken Menschen sehen konnte, wurde rot und blaß unter dem Puder, bis sie wieder an der freien Luft war.

Klaus Krafft hatte Louis' Händchen ergriffen und die Augen geschlossen.

Da nickte Claudine ihrer Tante zu, das Mädchen mitzunehmen, und kniete sich vorsichtig neben den Kleinen, der die fragenden, staunenden Augen unverwandt auf das stille, fremdgewordene Haupt in den Kissen geheftet hielt.

Auf einmal ging ein Zucken durch Kraffts schweren 108 Leib. Er schlug die Lider empor und sah das schmale Kindergesicht vor sich, aus dem ihn die Illzachschen Augen anblickten.

»Marc,« lallte er leise . . .

Fortan mußten die Kinder täglich an das Bett des Kranken gebracht werden, der kräftiger zu werden versprach und bald aufgestützt sitzen konnte.

Die Frauen verheimlichten ihm die schlimmen Nachrichten, die aus Frankreich und aus Straßburg eintrafen.

Nichts regte sich von Belfort her, die Ersatzheere blieben aus, der Monat ging zu Ende.

Die kaiserlichen Zivilbehörden waren durch Republikaner ersetzt worden, aber man wußte, daß die Deutschen nun vor Schlettstadt und Breisach rückten und das Land bis zur Schweizergrenze in Besitz nehmen würden.

Straßburg war gefallen.

Hie und da tauchten Mobilgarden und Franktireurs auf, um schnell wieder zu verschwinden.

Eines Morgens aber lief fernes Knattern wie von einer großen Treibjagd über die Felder.

Klaus Krafft saß in einem Fahrstuhl auf der Terrasse. Die Sonne hatte die Nebel aufgesogen und strömte eine goldene, dampfende Helle über das Land. Nie hatten die Dörfer so weiß geglänzt, die Rebgärten so rötlich geleuchtet, die grüne Ebene so wohlig sich gedehnt, wie an diesem Oktobertag. Der große Kastanienbaum auf der Rampe ließ unaufhörlich mit sanftem Rascheln seine Blätter fallen.

Der Freiherr hatte Stunden, in denen ihm das Hirn wieder ganz gehorchte bis auf die Sprache, deren Wortschatz geschmolzen und durcheinandergeschüttelt lag, so daß er oft falsche Wörter anwendete, oft eine Lücke ließ, ohne diesem Übel steuern zu können.

Sein stumpfes Ohr hörte das ferne Flintenfeuer nicht. Er hielt einen Brief in der Hand, den sein ältester Sohn aus England nach Basel an Kieners Schweizeragentur 109 geschrieben hatte. Ein Bote hatte ihn von dort nach St. Niklausen gebracht.

Claudine kam, erschreckt durch den ersten Gefechtslärm, der bis hierher drang, und wollte den Vater ins Zimmer fahren.

»Klaus England,« sagte er und hielt ihre Hand fest.

Sie hatte den Brief schon vor ihm gelesen, und der Vater selbst ihr schon zweimal mitgeteilt, daß Klaus in England sei, aber sie antwortete ruhig zum dritten Male:

»Gewiß bei der Kaiserin, Papa?«

Da tönte plötzlich das Knattern des Gefechts so heftig, daß Klaus Krafft es vernahm.

Einen Augenblick saß er regungslos, wie erstarrt. Ein Schwarm Stare kam von den Vogesen her und schwirrte in einer Wolke über das Herrenhaus.

Hastig setzte Claudine den Stuhl in Gang. Zu spät!

Der Halbgelähmte warf sich jählings herum, richtete sich krampfhaft auf und rief mit seiner schweren Zunge:

»Die Preußen! Straßburg gefallen! Sedan – Sedan – Sedan!«

Er röchelte, keuchte, hämmerte mit der Faust ins Leere und klappte dann wie von einer Sense entzweigeschnitten zusammen.

Das Echo des Gewehrfeuers war verstummt. Wie harmloses Feuerwerk war es verpufft. Aber sein Widerhall hatte Klaus Krafft von Illzach in einem zweiten Schlaganfall zu Boden gestreckt.

Es war ein Plänklergefecht zwischen badischen Vortruppen und Kolmarer Mobilgarden an der Horburger Illbrücke und hatte keine Bedeutung.

Claudine sandte den Kutscher auf einem Pferd nach Mülhausen, wo Kiener in das Komitee der Nationalverteidigung gewählt worden war.

Der Telegraph versagte schon seit Tagen.

Den Arzt holte sie selbst. Sie hatte niemand mehr zur Hand, der den Wagen lenken konnte.

110 Ohne ein Wort zu verlieren ging sie in ihr Zimmer und kleidete sich an. Noch fühlte sie die Schwere der Umstände nicht, aber sie dachte wohl daran, daß sie dem Kinde, daß sie sich selbst schaden könnte, wog Pflicht gegen Pflicht, dachte an Konrad und ging trotzdem in den Hof, half dem alten Jérôme den Zaum durch die Ösen stecken und die Kinnkette einhaken und stieg auf das Break.

Als sie zum Tor hinausfuhr, rief Tante Madeleine ihr verzweifelt nach; sie blickte nicht zurück, ließ den Gaul vorsichtig antraben, damit sie die Erschütterung nicht empfinde, und fuhr geradenwegs, ohne das Dorf zu berühren, auf der Vizinalstraße nach Kolmar.

In den laubleeren Nußbäumen saßen die Krähen. Wie ausgestorben lag das Land.

Doch auf einmal brachen Franktireurs aus den Rebgärten und rannten den Bergen zu. Gleich darauf knatterte es vom Bahndamm her, wo kleine Reiter wie aus Blei gegossen auf dem Schienenweg auftauchten.

Claudine hielt die Zügel mit beiden Händen und redete dem Pferd, das unruhig den Kopf warf, gut zu. Weiße Wölkchen stiegen aus den Reben, von der Bahnlinie her knallten die Karabiner. Zwischen den rotblätterigen Kirschbäumen flitzte der Jagdwagen auf der weißen Straße der Stadt zu. Gelassen stand der wuchtige Münsterturm über den Feldern. Claudine blickte unverwandt zu ihm hin. Einmal war es ihr, als sängen ihr ein paar große Mücken im Vorbeischwirren heftig ins Ohr, dann hörte sie nichts mehr als den Trab des Pferdes und spürte nichts als das Schüttern des Wagens. In ihren Händen prickelte das Blut. Sie atmete schwer. Die Flügel der schmalen, leicht gebogenen Nase bebten. Rosige Farbe erschien auf den perlfarbigen Wangen.

Jetzt trat die Straße hinter dem Wettolsheimer Friedhof aufs freie Feld hinaus und kreuzte die Bahnlinie. Eine Telegraphenstange senkte sich langsam, unten abgesägt, oben noch von den Drähten gehalten, zu Boden und riß im Sturz mit einem pfeifenden Laut den Draht 111 ab. Das Pferd scheute und prallte zurück, aber Claudinens Stimme und der Geruch von dampfenden Gäulen, die irgendwo in der Nähe waren, beruhigten es wieder. Langsam, damit der Stoß auf den Schienen ihr nicht schade, trieb Claudine von Eggheim das Tier über die Geleise.

Dragonervedetten hielten am Schienenweg, zerstörten die Leitungen und sandten der abziehenden Freischar die letzten Schüsse nach. Es war wie ein Spiel. Die Helme blitzten, farbig hoben sich die blauen Waffenröcke von den dunklen Pferden ab.

Claudine fuhr stracks zwischen ihnen hindurch der Stadt zu. Als sie kurz darauf einen toten Freischärler unter einem Nußbaum liegen sah, die schwarze, von breiter roter Schärpe umgürtete Phantasieuniform im letzten Krampf aufgerissen und die Qual des Sterbens im vergilbten Knabengesicht, da überlief sie ein Schauder, und unwillkürlich erlahmten ihr die Hände.

Die erste Feldwache rief sie an. Ein Musketier ging neben dem Wagen her bis zum Offiziersposten. Der Leutnant gab sich noch einen Ruck, ehe er mit strengem Dienstgesicht nach dem Woher und Wohin fragte.

Da sein Französisch angesichts der Dame mit dem stolzen Profil, das unter dem Reithut kalt und abweisend blickte, noch wortarmer wurde, klangen seine Fragen unhöflich kurz.

Die Antworten fielen knapp wie lässig gespendete Almosen vom Wagen. Dabei fühlte Claudine plötzlich den Haß gegenüber dem Eindringling, dem Feind, obwohl sie mit Offizieren, die diese Uniform trugen, schon in Freiburg getanzt hatte. Soldaten wie diese, hatten Marc erschossen!

»Mein Vater ist der Baron Klaus Krafft von Illzach auf St. Niklausen,« hatte sie hochfahrend gesagt.

Als der Blick des Offiziers prüfend an ihrer Gestalt hinunterglitt, errötete sie heftig. Und dann fügte sie erklärend bei:

112 »Ich bin die Frau des Herrn von Eggheim zu Eggweiler.«

Sie machte eine bezeichnende Bewegung, als wollte sie ins Badische hinüberdeuten.

Der Leutnant war so überrascht, daß er verlegen an den Helm griff.

»Mein Vater liegt im Sterben, mein Herr!« rief sie in ausbrechendem Zorn, beschämt darüber, daß sie sich nun doch noch hinter Konrad geflüchtet hatte.

Da gab der Leutnant einem Musketier Befehl, aufzusteigen und den Wagen in die Stadt zu geleiten.

»Montez là« herrschte Claudine den Mann an und wies ihn vom Bock auf den Wagensitz. Verdutzt gehorchte der brave Kaiserstühler, und das Break rollte unter einem Peitschenschmiß, der dem Gaul das Fell fegte, die Straße hinunter in die Stadt.

Auf dem Rapplatz stand eine Batterie aufgefahren. Claudine wandte den Kopf nicht danach. Ausgestorben, mit geschlossenen Läden lagen die Gassen.

Als sie vor der Haustür des Arztes in der Judengasse hielt, zitterten ihr die Kniee. Sie mußte sich auf den Arm des Soldaten stützen, der ihr von dem hohen Bock zur Erde half.

Dann ruhte sie eine Stunde auf dem Liegestuhl, während Doktor Ostermeyer sich scheltend zur Fahrt zurechtmachte.

»Wir nehmen meine Kutsche und fahren im Schneckentrab. Baron Klaus würde es mir nie verzeihen, wenn seine Tochter diese Tollkühnheit büßen müßte,« fuhr er sie grob an und warf ihr unter den borstigen grauen Augenbrauen böse Blicke zu.

»Mein Vater stirbt, Doktor,« erwiderte sie leise.

»Ich weiß es, und ich kann Ihnen keine falsche Hoffnung machen. Aber er stirbt gern, und wir müssen leben!«

Darauf begab sich Doktor Ostermeyer in Begleitung 113 des Soldaten zum Platzkommandanten und holte einen Passierschein.

In der geschlossenen Kutsche fuhren sie durch die totenstille Stadt. Am Marsfeld begegneten ihnen zwei Artillerieoffiziere zu Pferd. Claudine warf sich tief in den Sitz zurück, denn sie hatte Herrn von Gemmingen erkannt, einen Gutsnachbar von Eggweiler.

Als sie den Hügel von St. Niklausen hinauffuhren, fiel die Sonne hinter die Vogesen. Der Himmel erglühte wie gehämmertes Gold, roter Wein floß über die Bergkuppen, violette Schatten quollen aus den Tälern, und auf den Wiesen sammelten sich zarte weiße Nebel.

Sie fanden Klaus Krafft ohne Besinnung.

In der Nacht traf Kiener ein. Er fragte den Arzt, der so lange dageblieben war, wann das Ende zu erwarten sei, das sich schon so deutlich ankündigte. Ostermeyer zuckte die Achseln. In einer Stunde, in drei Tagen, er wußte es nicht zu bestimmen, aber die Besinnung würde nicht mehr wiederkehren. Nur die Maschine arbeitete noch, der Geist war schon erloschen.

Der Arzt ging.

Als es Mittag wurde, nahm Kiener Claudine beiseite und sagte:

»Du bist die Vernünftigste, Claudine. Ich muß nach Mülhausen. Die Fabrikarbeiter sind wie hungrige Wölfe. Keine Arbeit, keinen Lohn und keine Polizei mehr. Sie wollen ins Badische hinüber und den Bauern die Nester ausnehmen. Es ist Wahnsinn, man muß sie daran verhindern; die Repressalien sind nicht auszudenken. Ich muß zurück.«

Eine Weile blickte Claudine mit gespannten Brauen vor sich hin.

»Gehen Sie, dort können Sie nützen, Onkel, hier –« sie brach ab und schwieg. Hochaufgerichtet blickte sie ins Leere.

»Ich verlasse mich ganz auf dich,« erwiderte der Fabrikant. »Er wird in deinen Armen wohl schlafen.«

114 Und der Abend kam. Wieder erblindete die goldene Himmelskuppel, wieder standen die Nebel von den Wiesen auf und drängten sich um den Hügel zu St. Niklausen.

Pfarrer Dill wurde zu dem Sterbenden gerufen. Sie läuteten im Dorf.

Claudine war mit ihrem Vater allein. Der Pfarrer betete im Nebenzimmer mit den anderen Frauen, die das Todesröcheln nicht mehr anhören konnten. Sie hatte den Arm unter seinen Nacken geschoben und wartete, ohne sich zu rühren, ohne zu rufen, ohne zu weinen. Dicht an ihrer Frauenbrust lag sein schweres, graues Haupt. Sie spürte, wie das letzte Leben sanft entwich.

Er schluckte – das Röcheln erstarb – er lag ruhig, schwerer drückte das Haupt.

»Cher Papa,« flüsterte sie mit unendlicher Zärtlichkeit.

Das Kerzenlicht schlug unruhige Kreise über das Bett, ein sanfter Wind rauschte in den Bäumen des Parkes, und die Nebel kamen ins Schreiten, wandelten lautlos im Schein des aufsteigenden Mondes und glänzten silbern zu den Fenstern herein. Nebenan klang das Murmeln von Stimmen.

Da durchfuhr es Claudine von Eggheim wie ein Schwert:

Papa ist tot, und du bist hier nicht mehr zu Hause. 115

 


 


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