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Als sie zu Allen Winden wiederum die Sensen schärften, gebar die Gritt ein Knäblein. Frisch und stark lag es in der alten Korbwiege. Am neunten Tage stand sie auf und war rüstig und gesund, einen beherrschten Ausdruck in dem gebleichten Gesicht.

»Es ist ein Füchslein,« sagte der Hans und hockte eine Zeitlang unbeweglich neben dem Korb. Er betrachtete ernsthaft den roten flimmernden Flaum auf dem weichen, klopfenden Köpflein und wiederholte leise:

»Das will der Großmutter und der Mutter gleichsehen, es ist ein Füchslein, Gritt.«

Und die Leuni schlich hinzu, als niemand in der Stube war und das Kind schrie, und sie starrte aus der Höhe ihrer aufrechten Gestalt auf das ungebärdige Wesen und redete es an wie ein Großes.

»Schrei nur, du schreist dich nicht zum Meister im Haus!«

Und das Hungrige schrie, das rote Zünglein zitterte ihm im offenen Mund. Die Adern schwollen ihm am Kopf, die winzigen Fäuste ballten sich, und unaufhörlich krähte es mit heller Stimme.

Die Leuni blickte sich scheu um. Sie war allein, die andern waren auf der Weide und im Fruchtacker – die Sonne stand hoch, die weißen Wolken glitten pfeilschnell im Blau dahin – aus den offenen Fenstern und Türen schlug der kräftige Schrei des Kindes zu Allen Winden.

Da hat sich die Himmelspacherin gebückt und es in den Arm genommen. Mit gespanntem Ohr lauschend, ob niemand komme, scheu auslugend, damit sie nicht überrascht werde, drückte sie das Kind an die Brust, bettete es in den unfruchtbaren Schoß und tröstete es über den Hunger fort, bis die Mutter kam.

Und sie sprach zu ihm:

»Ja, so geht's, jetzt halt ich dich und bist ein Hudelkind! Grad an die Wand schlagen sollt man so eins, aber jetzt sei auch zufrieden, du Puppele und bring dich nicht um!

Schlaf, Kindel, schlaf,
Dein Vater ist ein Graf.
Auf sieben Schlössern sitzt er stolz.
Deine Mutter hat kein Brot und Holz
Schlaf, Kindel, schlaf.«

So sang die Leuni, und als die erste Sense im Türblick auftauchte, stieß sie das Kind hastig in die Wiege und ging in die Küche, warf das Geschirr und lärmte, wenn es noch schrie, und hielt sich mausstill, wenn es schon schlief.

Der Himmelspacher gab dem Wurm keinen Blick, nicht im Guten und nicht im Bösen.

Die Mutter ließ es auf die Namen Joseph Marie Himmelspacher taufen und trug es trotzig zur Kirche. Es war kein Geheimnis dabei.

Sie schrieb noch einmal nach Algerien. Diesmal trug sie selbst den Brief nach Geradmer.

Hinter ihr schlich der Knecht.

Am Moos ließ er sie aus den Augen. Der Herbst färbte das Hochmoor braun, kräftig sprang der Bach; aus den schwarzen Tannen stiegen die Bergfalken, und ihr jauchzender Schrei schlug ans eherne Blau des Himmels.

Gewaltig klang in der klaren Luft die Säge des Irion.

Da überlegte der Hans, daß es Zeit sei, den zweiten Baum aus dem Vermächtnis der Kathrin zu fällen im Bauernwald der Himmelspacher, und als der Weidgang zu Ende war und die Berge still lagen, ging er in den Wald und schlug die zweite Tanne, wie es sein Recht war.

»Es ist dein Recht, ein Beding steht nicht im Testament,« sagte der Himmelspacher, und stieg mit ihm hinab.

»Ein Beding?« fragte der Hans, und die Furchen auf seiner Stirn wurden starr.

Da senkte der Franz die stillen Augen tief in das verwetterte, klein gewordene Gesicht des Knechtes.

»Wohl, Hans – die Gritt!«

Sie standen im Wald, die grauen Stämme stiegen um sie her, Sonnenflecken tropften gelb auf den roten Boden, in den Wipfeln sang der Wind.

Ihre Blicke saugten sich aneinander fest, und die Äxte ruhten schwer in ihren Händen.

»Ja, Herr, die Gritt!« würgte der Knecht.

Und es war so still, daß sie die Nadeln rieseln hörten im grünen Geäst.

Endlich faßte der Knecht die Axt fest und trat an den Stamm.

»Ich hab den ersten für die Gritt geschlagen, Franz, und schlag den zweiten für das Kind!«

»Deine Sach,« gab der Himmelspacher zurück, und dann klang seine Axt zuerst am Stamm.

Und ein Todesschrecken fuhr durch den Baum. Aus den Ästen prasselte ein Regen feiner Nadeln, die Moosbärte schwankten, Entsetzen lief im dumpfen Klang der Äxte durch den Wald.

Der Knecht holte den Erlös beim Irion in der Mühle.

Der Säger zahlte, was recht ist, und als sie bei einem Glas Wein den Handel fest machten in der hellen, gelbgetafelten Stube, richtete Karl Irion plötzlich die Frage an den Hans:

»Hat die Gritt Bericht aus Algier?«

»Nein, sie wartet umsonst. Der ist schon lang tot.«

»Aber sie wartet,« murmelte der Säger, und seine Augen zogen sich zusammen. Er starrte stumm in den Wein. In der Nebenkammer hustete und kruxte der Gelähmte und fand kein Ende.

Beim Abschied gab Irion dem Knecht, der als eigener Herr gekommen war, das Geleit. Die Säge schnarchte, der Holzstaub stieg, es roch nach blutendem Holz. Und der Säger ging bis an den Weg, der aus dem Tal steil in die Höhe und zum Roßkopf führt und drückte an einem Wort. Er fand es im letzten Augenblick und sagte rauh:

»Sorget der Gritt – sie ist ein Kind.«

Da hob der andere die hohlen Augen zu ihm.

»Es ist nicht mehr die Gritt. Sie geht ihren Weg.«

Eine überraschte, angstvolle Frage dämmerte in dem festen, runden Gesicht des Irion, und die Lippen zuckten in dem gelben Bart.

»Sie geht?« stieß er hervor. »Plagt sie die Frau?«

Ein Blick schoß aus den Augen des Knechtes, und ein geheimnisschweres Lächeln krümmte seinen eingesunkenen Mund.

»Die Frau plagt sie nicht mehr,« versetzte er kurz.

»Ihr ist am wohlsten auf dem Berg,« murmelte der Irion, immer noch in den Gedanken verbissen, die Gritt könnte ihr Kind nehmen und gehen. Oder ihr Kind lassen und in einen Dienst treten wie andere.

»Die Gritt bleibt,« antwortete der Knecht.

»Grüßet mir die zu Allen Winden,« beschied ihn Karl Irion hastig, mit starkem Entschluß und ging.

Neun Wochen später ist der alte Säger abgeschieden, und Franz Himmelspacher ging zur Leich. Wieder grüßte Karl Irion ›die zu Allen Winden‹.

Der Knecht hatte den Erlös aus dem Holz auf die Sparkasse gelegt und ließ ihn auf den Namen des Joseph Marie Himmelspacher eintragen.

Das Knäblein ist gewachsen, fuhr in die Hosen, und die Gritt hat auf ihren vierten Brief überhaupt keine Antwort mehr erhalten.

»Mütterle,« rief das Kind sie an, und jedesmal legte sich bei dem Ruf eine schwere Hand auf ihr Herz, aber sie machte die Arme weit und hielt ihren Seppl warm.

Am Trübsee stand sie noch manchen Tag und rechtete mit der Mutter Gottes, die den Verspruch gehört hatte, bis allmählich alles in Sorgen und Schaffen und dem ewigen Kreislauf des Lebens, in der Kehr von Sommer und Winter, Saat und Ernte, unterging.

Ins fünfte Jahr wuchs der Knabe, strich schon über die Weide und jauchzte hinter den Kühen wie der Melker.

Da geschah es, daß ein neuer Melker aufzog, der hatte ein schlimmes Gemüt. Wohl hatte ihm der Hans gesteckt, daß er nicht nach dem Vater des Seppl fragen dürfe, denn der sei in der Fremde verschollen, aber nun lockte ihn das böse Spiel erst recht. Und er trug die Milch in die Käserei, das Büblein lustig hinterdrein.

»Wie heißt's Mütterle?« fragte ihn der Melker.

»He – wie auch? Mütterle heißt's und Gritt ruft ihm die ›Eui‹!«

»Ja, du weißt es, du bist ein gescheites Männel. Aber wo ist denn der Vater, Seppl?«

Der Bub verstand ihn nicht. Zu Allen Winden kannte niemand das Wort.

»Der zum Mütterle gehört, du Simpel,« grinste der Bursch und lachte. Er dachte an die stille Frau, die so weiße Arme hatte und dunkelrotes Gold im Haar, und spürte einen wollüstigen Kitzel im Nacken.

Da zuckte ein heller Schein über das braune Gesicht des Knaben. Seine Augen leuchteten auf und er krähte:

»Hei – jo, der Franz gehört zum Mütterle!«

»O du Simpel, du dummer!« schrie der Melker und lachte, daß ihm die Augen überliefen, »der Franz Himmelspacher ist ja dem Mütterle sein Bruder und nur dein Onkel!«

»Onkel?« wiederholte leise, ungläubig, fragend der Bub und wurde still.

Unzählige Male sprach er das neue Wort vor sich hin. Er hatte immer nur vom Franz gehört und von der Leuni, die er Eui nannte, und vom Hans.

Als sie heimkamen, saß der Himmelspacher auf der Gartenmauer.

Der Seppl schoß auf ihn zu. Sonst mied er den Insichgekehrten, der ihm noch kein gutes und noch kein böses Wort gegeben hatte. Heute pflanzte er sich breit vor ihn hin, einen Finger im Mund, und schaute ihn stumm und nachdenklich an.

Es war Schlafenszeit für das Kind, aber die Gritt stand noch am Waschzuber und wollte zu Ende kommen, ehe sie ihn legte.

Der Himmelspacher blickte über das Kind weg in die Täler. Violette Schatten saßen zwischen den Bergen, ein weinroter Föhnstrich am glasklaren Abendhimmel deutete auf Regen.

»Franz,« sagte nach einer Weile der Bub, »he, Franz!«

Der Himmelspacher faßte ihn ins Auge.

Da stand er im Hemdlein und Hosen, einen Hosenträger querüber, die breit gestellten nackten Zehen ins Gras gepflanzt, und schob die Fäuste in die Hosenschlitze, als wenn es in tiefe Taschen ging. Den Kopf ein wenig seitwärts geneigt gleich dem Knecht, starrte er ihr mit den grünblauen Augen der Gritt fragend an.

»Was ist?«

»Warum bist du nur mein Onkel, sag, Franz?«

Und der rote, frische Mund krümmte sich, wie wenn ihm das leere Wort nicht recht schmeckte. Er maß den bärtigen, dunkelhäutigen Gesellen mit einem abschätzigen Blick.

Franz Himmelspacher horchte auf. Ein Zittern lief durch seinen hagern, von Sonne und Schweiß gebeizten Leib.

»Wie kommst du auf das?« fragte er rauh.

Da erschrak das Kind. Die Mundwinkel wurden schlaff, die Unterlippe, die Augendeckel zuckten, die Hände krochen aus den Hosenschlitzen, ängstlich trat er rückwärts und hielt die Augen entgeistert auf den rauhbärtigen Mann geheftet, der ihm finster ins Gesicht starrte.

»Der – der Melker – hat gesagt – der Franz – gehört nicht – zum Mütterle – und er ist nichts – als ein Onkel –«

Endlich hatte er die Rede vollendet, und nun war er so weit aus dem Bereich der nackten sehnigen Arme, daß er sich umdrehen und Hals über Kopf davonlaufen konnte. Er warf die Fersen, das braunrote Haar flimmerte in dunkler Glut, als er in die Abendsonne schoß, dann war er in Sicherheit.

Auf dem Mäuerlein saß regungslos, mit rundem Rücken, die Arme auf die Steine gestemmt, als müßte er einen Halt haben, der Himmelspacher, und eine schwere Gedankenarbeit wälzte sich durch sein Hirn.

Das Vieh zog vorüber, es wurde still auf dem Hof. Die Leuni rief ihn an. Er saß wie erstarrt. Das dürre Gras an der Mauer wisperte, der Wind sang, flaumige rote Wolken zogen über den Berg. –

Eine Stunde darauf kündigte der Himmelspacher dem Melker und zahlte ihn aus.

Als sie schlafen gingen, sagte er zu seiner Frau, mitten aus allein verarbeiteten Gedanken heraus:

»Er hat keinen Vater, der Bub.«

»Geht er ihm ab?« fragte die Leuni gereizt, als wär es ein Vorwurf gewesen.

»Und er hat keinen Weg,« fuhr der Mann fort.

»Ist ihm nicht wohl zu Allen Winden?« erhitzte sich die Frau, und eine eifersüchtige Angst preßte ihr das Herz zusammen.

»Und wenn er in zwei Jahren in die Schul muß, so muß die Gritt zu ihm stehen, und er hat keinen, der ihm den Namen gibt und für ihn sorgt.«

Darauf gab die Leuni keine Antwort mehr.

Sie lagen und hörten den Bergwind um das Haus laufen und neugierig an die Läden klopfen. Auf einmal tönte das Weinen eines Kindes. Sie hielten den Atem an. Und dann klang die freundliche, gehaltene Stimme der Gritt, die ganz anders wärmte als früher.

»Es wird ihm doch nichts sein!« murmelte die Frau.

»Er bekommt Gedanken, und die machen ihn heiß und unruhig,« erwiderte der Mann.

Sie lagen und lauschten, bis es still wurde, und der Wind wieder allein säuselnd über die Weide strich.

Tage und Wochen trug der Himmelspacher schwer an Gedanken, dann rief er den Hans.

Der letzte Herbsttag stand kühl und klar über dem Elsaß, als sie auf der Bodenschwelle unter dem Ahorn zusammentraten.

»Es wird Zeit zum Einwintern,« begann der Himmelspacher.

»Für Mensch und Vieh,« antwortete der Knecht.

»Ja, und wir hausen eng beisammen,« fuhr der Franz fort.

»Und ein Kind dazwischen, das zählen lernt, Franz.«

Nun waren sie in drei Sätzen ans Ziel gekommen.

Ein kurzes Schweigen, dann sagte der Himmelspacher:

»Es hat keinen Vater, Hans.«

»Hat nie keinen gehabt. Ein Kind machen, heißt nicht Vater sein!«

Der Knecht stand fest in den Schuhen. Jede Rippe zeichnete unter dem Hemd, aber er gab den Menschen und dem Himmel einen ruhigen, vollen Blick und trug auf geradem Rücken, was geschehen war.

»Und die Gritt ist jung, Hans.«

»Und ins Holz geschossen im Leid, Franz. Sie steht wie ein Baum.«

An diesem Punkt machten sie wiederum Rast und schauten wieder in die Täler. Die Rebhügel flammten gelb, blutrot und goldbraun leuchtete der Laubwald, schwarz stiegen die Tannen aus den Schrunden.

Da hub der Himmelspacher zum dritten Mal an.

»Was ist mit dem Irion, Hans?«

»Er haust allein, seit der Vater in der Ruh ist.«

»Warum weibet er nicht?«

»Weil er den Weg nicht gefunden hat zur Gritt,« sprach der Knecht.

»So ist's,« erwiderte der Himmelspacher kurz und schloß das Gespräch.

Als die ersten Nebel fielen, wurde der Seppl krank. Unruhig fuhr die Leuni durchs Haus, der Knecht ersann bald dies, bald das, um den Knaben zu erheitern und zu heilen. Fiebernd und hustend lag der Bub und litt wie ein kleiner Heiland. Kein Sud, kein Tee wollte helfen.

Die Gritt war still und gefaßt und vergaß den Schlaf.

»Der Doktor soll her,« befahl endlich der Himmelspacher, und der Knecht stieg ins Tal.

Ein Geripplein klapperte im großen Bett. Augen wie Brunnen standen im wächsernen Gesicht, die Gritt sah schon den Tod ums Haus schleichen.

Und der Arzt kam und meinte, er käme wohl spät an das Krankenbett.

»Es hat ihm an nichts gefehlt,« sagte der Himmelspacher.

Der Arzt zuckte die Achseln und entgegnete:

»Ihr möget ein guter Bauer und Melker sein, Himmelspacher, ein Doktor seid Ihr nicht. Euer Bub rennt dem Himmel zu.«

»Jesus Maria!« schrie die Leuni und sprang, zur Tür, als müßte sie in die Kammer und der Gritt wehren helfen, wenn das Büblein aufstand und in den Himmel begehrte.

Der Himmelspacher Franz aber stand plötzlich groß, mit einem wachen, lebendigen, von Energie leuchtenden Gesicht vor dem Arzt und sagte heftig:

»Wir haben nur den, und er darf nicht sterben.«

Mit diesen Worten nahm er ihn wie zu eigen, und es wurde ihm selbst heiß ums Herz, als er sich bewußt ward, was er gesagt hatte.

Die Leuni lehnte blaß an der Tür. Sie hörte noch, wie durch dicken Nebel den Arzt weisen und befehlen, dann stieg sie mit schweren Knieen die Treppe hinauf.

Nun war sie allein. Drüben stand der Knecht am Fenster seiner Kammer und spähte scharf herüber. Er hatte Augen, die in die Ferne sahen, und die Leuni erkannte auf einmal in ihm einen Mitwisser und beinahe einen Helfer …

Er aber sah unten in der Krankenstube die Gritt am Bett sitzen und das Kind halten, das in Branntweinwickeln fror.

Er sah dann im Oberstock plötzlich eine vor dem Glassturz auf der Kommode in die Kniee sinken. Langsam, widerwillig, wie von fremden Händen niedergedrückt, und die Arme auf die Platte, das Kinn auf die verschränkten Arme gestützt, mit starren Augen die bunten Heiligen und den Christ in der Krippe messen und endlich ganz zusammensinken …

Der Seppl gesundete.

Und die Gritt lernte wieder lachen.

»Das ist kurios, daß sie jetzt wieder lacht und hat es doch nicht mehr recht können seit fünf Jahren,« sagte die Magd zum Knecht.

Der Knecht schwieg. Aber eines Tages rüstete er zu einem Sonntagsgang, bat um Urlaub, und der Himmelspacher fragte nicht, nahm die Arbeit des Knechts auf sich, und der Hans ging.

Das letzte Laub lag ausgeschüttet, als er spät am Abend heimkehrte und vom Lützeltal heraufstieg. Die Luft klang vom Atem des Windes, der Tannwald harfte, die Sterne glitzerten am gewölbten Himmel, und die Lichter von La Grange stachen rot aus dem Dunkel.

Der Knecht legte sich schlafen.

Am frühen Morgen, als noch niemand in der Stube war außer der Gritt, die jetzt die die Erste und Letzte war zu Allen Winden, da zog er den Gurt fest, setzte sich breit in die Ecke, die Ellbogen auf dem Tisch, leerte den Kirsch, der ihm lieb geworden war, und begann:

»Der Irion Karl laßt dich grüßen!«

Sie fand nichts an dem Gruß und fragte nur:

»So bist du um Holz gewesen?«

»Wir schlagen, eh es wintert.«

Sie legte das Strickzeug aus der Hand und horchte.

»Der Franz kommt,« sagte sie und stand auf, den Kaffee und die Erdäpfel zu richten.

»Der Seppl schläft noch wie ein Stock,« fuhr der Knecht dazwischen, und sie blieb stehen.

»Ja, der muß im Schlaf gesunden und wieder runden,« sprach sie fröhlich, und ihre Augen tanzten.

»Der Irion-Karl laßt dich grüßen – aber ich glaub – ich hab's schon berichtet,« sagte der Knecht langsam, jedes Wort schwer und sinnfällig betonend.

Diesmal stutzte die Gritt.

Der Schritt des Franz, die Stimme der Leuni klangen auf der Stiege, in der Küche rührte sich die Magd.

Die Gritt stand im hellen Morgenlicht. Jetzt hob sie den Blick, und ihr Ausdruck war ernst und gesammelt. Die feinen Linien, die den Mund umzogen, schimmerten weiß in dem sanft geröteten, ruhig liegenden Gesicht. Es lag glatt wie ein See, und wie man im Wasser jeden Stein auf dem Grund sieht, so trat hier jeder untergetauchte Schmerz, trat Leid und Not und Glück ans Licht.

»Auf einmal?« fragte sie. »Und grüßen

»Wenn wir beim Handel zusammenkommen im Wald, mag er dir's selber sagen,« antwortete der Knecht, und sie merkte, daß er sein letztes Wort gesetzt hatte.

Da ging sie langsam hinaus.

Der Knecht sagte dem Himmelspacher Bescheid. Als sie die Bäume zeichneten zum Schlag und der letzte Strich getan war, lud Franz den Säger auf den Hof.

Karl Irion sagte zu.

Sie stiegen wortkarg hinauf, und was sie redeten, fanden sie am Weg: von der Klauenseuche, die im Sundgau ausgebrochen war, von dem geringen Herbst und dem teuren Futter.

Auf dem Rennweg ging sich leicht, doch als der Hof vor ihnen aus dem Grund wuchs, hemmte der Himmelspacher den Schritt und sagte:

»Ihr kommt fünf Jahre älter nach Allen Winden.«

Und Karl Irion, der keine Alterszeichen davongetragen hatte, entgegnete, indem er in dieselbe Kerbe schlug:

»Und find Euch fünf Jahr älter.«

»Ja, Irion, und das Kind!« schloß der Himmelspacher und preßte die Lippen.

Er war stehen geblieben, als wollte er dem Säger Gelegenheit lassen, umzukehren. Aber der ging weiter.

Wieder stand die Leuni am Brunnen und spähte hinab.

Der Seppl hatte einen Holzschuh in den Trog gesetzt und fuhr eine Kröte darin spazieren.

Da faßte die Himmelspacherin seine Hand.

»Komm, Seppl, ich weiß dir Besseres.«

Aber der Bub sträubte sich und schrie.

Die Gritt kam.

»Was ist Seppl?«

»Mütterle!« brüllte er.

»Ich hab ihm Gerstenzucker, wenn er folget,« suchte ihn die Leuni zu verführen, aber er ließ nicht vom Brunnen, hielt die Röhre fest und schrie:

»Beim Mütterle bleiben!«

» Voyons, Seppl, wenn die Leuni dir Besseres weiß, so folget der Seppl,« mahnte die Gritt.

Da fiel ihr Blick auf die Männer, die langsam daherkamen.

Sie erblich.

Das Kind warf sich plötzlich ungestüm in ihre Röcke. Sie suchte seine Hände zu lösen, ohne es zu wissen.

»Komm, Seppl,« raunte die Leuni und hob das Kind auf die Arme.

Sie trug es schon die Treppe hinauf, und sein Geschrei schlug aus dem Fenster, da faßte die Gritt erst, was geschehen war.

Dort kam der Irion, und sie trugen ihr Kind beiseit, weil er kam. Im ersten Augenblick wollte sie fort, ihm nach, ihr Kind holen, nichts weiter, nur fort und ihr Kind haben, fort, so weit es Berge gab, weiter, viel weiter – nein, nur hundert Schritt, in einen Graben, in ein Mausloch, mit ihrem Kind, mit dem Seppl, mit ihrem Seppl! Oder nein, auch nicht hundert Schritt weit, keinen Finger – keinen Nagelbreit vom Platz, stehen bleiben, das Kind in den Röcken, das Kind hoch auf dem Arm – ledig, auf sich gestellt, und trotzdem daheim auf Allen Winden!

Aber dann stand er dicht vor ihr, und sie wußte, daß es so hatte sein müssen.

Das Kind schwieg und war nirgends mehr zu sehen und zu hören, und sie gab dem Säger den Gruß zurück, den er ihr bot.

Der Himmelspacher ging ins Haus und ließ sie hinter sich am Brunnen, in dem noch der Holzschuh schwamm. Über den feuchten Hof kroch die Kröte in träger Hast den Nesseln zu.

Nun schritten sie den Weg in den Krautgarten. Die letzten Herbstblumen blühten, der Vogelbeerbaum ließ seine roten Kügelein fallen.

»Ihr habt noch Sonne auf dem Berg zu Allen Winden. Im Lützeltal und erst recht, wo die Säge steht, findet sie schon den Weg nicht mehr.«

»Ja, der Tag ist lang bei uns,« erwiderte sie.

Jetzt hielt er inne, und sie blickten sich an.

»Ihr wisset, warum ich komm,« begann er ruhig.

»Der Hans hat gesorgt, daß ich's weiß,« entgegnete sie.

»So gebt mir die Hand, Gritt, wir wollen noch vor Dreikönig Hochzeit machen.«

Er hielt ihr mit einem ruhigen Blick in den Augen die offene, hartschälige Hand hin. Nur unter dem gelben Schnurrbart zuckten die Mundwinkel einmal im festen Zusammenschluß, als er um das Verlöbnis bat.

Sie hatte gelitten, daß er kam, sie war zufrieden, ins Eigene zu wachsen und das Leben neu anzufangen. Aber sie nahm die Hand noch nicht.

»Und das Kind, Irion Karl?« fragte sie, und ihr Gesicht war kalt von dem feinen Schweiß, der ihr aus den Poren trat.

»Es ist alles geordnet und gut geregelt, Gritt!«

»Von wem? Was ist mit dem Kind!« flammte sie auf und wandte sich, sammelte die Glieder zum Lauf, warf heiße Blicke und wäre dem Hause zugesprungen, wenn er sie nicht an beiden Händen gehalten hätte.

»Du sollst erst mich hören, Gritt, und in meiner Rede steht nichts von dem Kind. Aber wenn ich dir gesagt hab, was mir im Sinn liegt, so geht dein Weg frei zum Himmelspacher, und du magst dir Zeit nehmen und alles überdenken. Ich brauch eine Frau, und es ist Zeit, daß ich sie hol, denn ich komm bald in die Vierzig. Die Gritt Himmelspacher ist mir lieb geworden, wie sie noch ein Kind war. Wohl, ich weiß, es ist etwas gegangen, aber ich sag: hätt ich beizeiten gesprochen, so wär am End die Gritt nicht ins Unglück gekommen. Und ich sag zum zweiten: Wenn die Gritt heut weiß, was das Leben gilt, und schaffen und sorgen gelernt hat, so hat sie es am End an dem Kind gelernt. Es ist ihr einer gestorben, und wenn er lebt, so gilt er ihr doch nichts mehr. Und so frag ich dich aufs neu: Wollen wir Hochzeit machen?«

Die Gritt hatte ihn nicht unterbrochen, nur die Hände gelöst.

Mit klaren Augen gab sie die Antwort.

»Erst muß ich mit dem Franz reden! Erst will ich hören, was gegangen ist, ohne daß ich's weiß. Ja, es ist mir einer gestorben. Ich weiß nicht mehr, wie lang schon. Aber jetzt steht das Kind da und verlangt mich ganz. Und in der Säge bin ich doch nur ›die mit dem Kind‹.«

Da reckte er sich:

»In der Säge bist du die Frau

Es stand ein ehrlicher und gerader Wille in seinem Gesicht.

Und als sie schwieg, fragte er leise:

»Gritt, ist er dir recht, der Irion Karl?«

Sie atmete geschwinder, und auf einmal war es die ›Gritt‹, und sie fragte:

»Hab ich dir nicht einmal die Zunge gewiesen?«

»Das schon,« antwortete er mit einem frohen Lachen, »das schon, und wenn das ein Zeichen ist, so weis sie mir noch einmal!«

Aber sie war schon wieder ernst geworden.

»Erst red ich mit dem Franz.«

»Ist recht, Gritt,« pflichtete er bei und bot ihr noch einmal die Hand.

Der Himmelspacher ließ sich nicht lange suchen. Er kam ihnen entgegen und sagte auf die Anrede der Schwester, es sei ihm recht, daß sie mit ihm Aussprach verlange und sei nie anders gemeint gewesen.

Da schritt sie ihm voran in die Kammer der Mutter, aus der sie nie vertrieben worden war.

Der Säger war in die Stube gegangen und wurde von der Leuni bei einem Glas Wein festgehalten.

Der Knecht hütete das Kind. Er hatte es im Stall auf das Roß gesetzt, und als die Leuni ihn gemahnt hatte, es der Mutter nicht in die Röcke zu werfen, war ein Zucken über seine Züge gegangen, und er hatte geantwortet:

»Schon recht, Frau, man läßt das Kalb nicht mehr zur Kuh, wenn der Käufer wartet.«

Und die Gritt fragte den Bruder:

»Was wird mit dem Kind?«

Sie war bleich, sie krampfte die Hände, noch einmal quoll ihr Erleben in einem Rausch aus ihrem Innern.

Der Himmelspacher hatte sich vorbereitet. Er stand in dieser Stunde fest wie ein Berg und hatte Ordnung in seinen Gedanken und Gewalt über seine Sprache.

»Gritt, du weißt, was es gilt. Es ist alles, wie es ist. Aber drüben ist der Irion Karl, und der ist ein rechter Mann. Wir haben ihm Zeit gelassen und dann hat ihm der Hans die Zunge gelöst.«

»Der Hans ist ein Knecht!« stieß die Gritt hervor.

Es war das erste Mal, daß sie im Hans den Knecht sah und den Knecht nicht geeignet fand, etwas zu tun.

»Wohl wahr, er ist der Knecht. Die Mutter selig aber hat zum Hans gesagt: Sorg der Gritt – und er hat gesorgt, so gut er es verstanden hat. Ein Sack Flöhe ist leichter hüten als ein junges Ding. Ich hab's nicht besser gemacht als der Knecht.«

Die Gritt wandte den Kopf ab. Die Farbe kam und ging in ihrem Gesicht.

Und der Bruder fuhr fort:

»Dein Teil ist abgelöst. Was noch fehlt, gibt der Wald, und du bringst dem Irion bar, was er haben muß. Ich hab die Abrechnung und das Hochzeitsgut parat.«

»Und das Kind?« fragte sie noch einmal.

Da blickte er sie fest an.

»Das Kind kannst du nicht in die Säge einbringen.«

»So bleib ich, wo ich bin!« schrie sie ohne Besinnen.

»Das ist ein rechter Mutterschrei, Gritt, und du hast die Wahl frei, aber hör mich an: Wenn du mit dem Kind in die Eh gehst, so bringst du eine Last mit. Ich weiß nicht, wie der Irion denkt, denn es ist ausgemacht worden, daß das Kind bleibt. Aber das weiß ich, daß du ihm und dir mit dem Kind schwer tust, und wenn er dir eigene zeugt, so hast du zweierlei Kinder.«

»Es sind meine Kinder. Er soll den Seppl annehmen. Der Seppl ist doch ein rechtes Kind!«

Sie bat, sie flehte, aber ihre Vernunft war schon Meister geworden und sagte zu ihr, daß sie diese Heirat ohne das Kind machen mußte oder ledig bleiben.

Und der Himmelspacher nickte und wiederholte weich:

»Ja, allweg ist der Seppl ein rechtes Kind!«

Da überfiel sie plötzlich ein anderer Gedanke.

Sie schlug die Hände um den Arm des Bruders, ein qualvoller Blick hob sich aus der Tiefe ihrer Augen, und sie wurde schneebleich und murmelte: »Und wenn er noch lebt! Wenn er kommt! Er ist dem Seppl sein Vater! Und der Seppl soll seinen Vater haben, wenn der noch lebt!«

Der Himmelspacher preßte die Kinnbacken zusammen. Ein hartes Zucken lief durch seinen Bart und riß eine tiefe Furche in seine Stirn.

»Der! Der ist tot. Lebendig oder nicht – der ist tot! Und ich weiß, daß du ihm nicht mehr nachsinnst. Dem geb ich den Seppl nicht!«

»Er kann mir morgen den Tag bieten in der Säge – und was dann?«

Sie hatte die Hände sinken lassen, war verzagt und still geworden. Fünf Jahre rückwärts liefen ihre Gedanken, und in ihrem Gesicht grub die Erinnerung wehe Falten.

»Betisen, Gritt – der hat kein Recht an dich!«

»Das weiß ich besser, Franz,« antwortete sie, »und daß du's weißt, ich steh zu ihm, denn der Seppl hat das erste Recht.«

Nun stand sie wieder entschlossen und klaräugig vor ihm, und das hartnäckige Familienzeichen der Himmelspacher, die senkrechte Falte zwischen den Augenbogen, erschien auf ihrer Stirn.

Da riß es den Himmelspacher aus der Ruhe, und er brannte auf wie trockenes Pulver und schrie mit rauher Stimme, von der ungelenken Zunge mehr als einmal verraten, daß er darüber ins Stammeln kam:

»Gotts Kreuz und heiligs Blut – jetzt red ich, und ich sag dir fürs erste, daß du dir selbst den Stein ins Leben gesetzt hast, und sag dir fürs zweite, daß du darüber nicht den Hals brechen sollst, wenn es dich auch elend überschlagen hat! Und dann sag ich dir noch, daß der Seppl den Namen nicht verlieren soll, den du ihm hast geben müssen! Er ist ein Himmelspacher und von denen ist er der einzige, der uns nachfolgt. Du bleibst oder gehst, Gritt – das steht in deinem Belieben, aber der Bub bleibt! Der Hof steht zwischen mir und dir – Gotts Wort – so nehm ich den Seppl wie er ist als Sohn, und so ist allen gesorgt!«

»Der Seppl! Du willst den Seppl an Sohns Statt nehmen, Franz! Allen gesorgt, sagst du! Und die Leuni!« schrie die Gritt und sah nur den Verlust, den Raub, die Leuni, und Tränen funkelten in ihren Augen.

»Die Leuni!« wiederholte er und fiel wieder in die Ruhe zurück. Seine Stimme wurde leise, ein seltsames schamhaftes Lächeln verbarg sich in seinem verfilzten Bart – »die Leuni? Ja, hast du es denn noch nicht erlistet, Gritt, daß der Seppl die Leuni eingefangen hat? Sie ist zahm geworden und hat ihn zu eigen genommen, wie wenn sie ihn selbst getragen hätt!«

Da jagte ein Lidschlag die Tränenkugeln aus den Wimpern der Gritt, und sie wandte sich, damit er nicht sehe, daß andere nachfolgten.

Es war still in der Kammer. Aus dem Roßstall kam ein helles, schmetterndes Hü-hei-ho!

Die Gritt zuckte zusammen. Sie kehrte dem Bruder wieder das Gesicht zu und streckte ihm die zerarbeitete Hand hin.

»Ich dank dir frei für alles, Franz. Und ich seh dem Buben jetzt einen Weg, der so schön grad ist wie keiner. Aber ich hab nichts als den Buben.«

»Und weil du den Buben hast, hast du nichts anderes,« entgegnete er ernst.

»Trägt jedes, was es erbt,« murmelte sie leise.

»Und der Irion? Meinst du, er gibt dir nichts?«

»Und wenn der andere noch lebt?« fragte sie dagegen.

Da hob er die Hände, stieß die Fäuste ins Leere, ließ sie ergeben fallen und ging mit einem langsamen, schweren Kopfschütteln aus der Kammer.

Dem Säger aber trat er wieder ruhig gegenüber und sagte ihm, daß die Schwester ihm in drei Tagen Antwort gebe auf seine Frage.

Am Abend gerieten nach langer Zeit die Frauen zu Allen Winden noch einmal hart aneinander. Alte Feindschaft stieg in einer wilden Flamme aus der Asche.

Die Gritt suchte ihren Buben, um ihn zu Bett zu bringen. Er war entronnen, und sie wußte nicht, ob sie ihn im Stall, auf der Weide oder in der Käserei suchen sollte. Und sie fand ihn endlich in der Käskammer. Dort wusch die Leuni die Hartkäse und hielt den Seppl in den Armen, als die Gritt wie ein Wind hereinschoß.

»Ah, da bist du! Gleich kommst ins Nest, du Lausbüble!« rief sie heftig und riß ihn der Leuni aus den Armen.

Das Kind erschrak, als es die Mutter so zornig sah und klammerte sich an die Frau, und die Leuni wehrte sich für ihn.

Da sprangen heftige Worte, törichte, feindselige, eifersüchtige Anklagen aus dem Mund der Gritt, und sie schrie ihr ins Gesicht, daß sie noch kein Recht habe an dem Buben, der sei noch ihr Kind, und die Leuni fuhr ihr mit scharfen Worten in die Rede und schrie, sie sollte Gott danken, daß sie einer wolle ehrlich machen und ihr einen Namen geben.

Sie riefen beide das Kind zu Zeugen an, die Gritt riß es mit Gewalt an sich und kannte sich nicht mehr in ihrem verstörten Wesen, trotzte auf ihre Mutterschaft und wollte den Seppl wie die alte Katz ihr Junges ins Sichere schleifen. Aber die Leuni triumphierte, als das verängstigte Kind die Hände nach ihr streckte und »Eui« schrie, und sie pochte, statt zu schweigen und die Seelennot der Gritt zu schonen, auf die Liebe, die ihr das Kind entgegenbringe.

Es war ein Streit, in dem die Worte wie Schwerter fielen, und sie besannen sich nicht, einander die unsinnigsten Schmähungen ins Gesicht zu werfen.

Sie standen zuletzt wie auf Tod und Leben gegeneinander, und die Leuni war die erste, die plötzlich die Hand hob.

Schreiend entwich das Kind.

Aber die Gritt war nicht mehr die scheue Magd. Sie fing die Hand und entzog sich dem Griff, der ihr das Haarnest herunterwarf. Doch auch ihre freie Hand, die nach der Kehle der Leuni griff, wurde gefangen, und nun standen sie keuchend, Leib gegen Leib, Knie an Knie, fast Mund an Mund und starrten sich feindlich an. Ihr Atem stöhnte, die Haare schlugen, schwarz die einen, braunrot die andern, ihren Rücken, gelbes Zwielicht klemmte sich spitz herein und malte ihre Gesichter blaß.

Doch wie sie sich so anstarrten, trat plötzlich ein unsicheres Licht in ihre Augen, verloren ihre Züge den verzerrten Ausdruck und ihre Finger den klammernden Griff. Keine war aus der Stellung gedrückt worden. Sie wurzelten Knie an Knie, Aug in Auge, aber keine drückte mehr nach, langsam sanken die Arme, lösten sich die Finger, glätteten sich die Züge. Wie ein großes Erstaunen, ein mitleidiges Prüfen, ein Verstehenwollen stieg es aus ihren Blicken, und auf einmal lösten sie sich stumm von einander und traten aus dem Kreis. Stumm flochten und steckten sie, von einander abgewandt, die langen Haare fest, dann blickten sie sich noch einmal an, zögerten, warteten, wer das letzte Recht behielte und die Tür hinter sich schlösse, bis die Gritt mit einem letzten Blick den Vortritt nahm und der Himmelspacherin das Recht ließ, die Tür zu schließen.

Wie fremd und verloren strich die Gritt durchs Haus, als der Bub schlief. Dann sprach sie zu sich selber:

»Ich will's zu End bringen. Der Franz hat Recht mit jedem Wort. Aber es ist meine Sach, wie ich mich dazu stell.«

Und da sie nun überlegte, was sie dem Karl Irion antworten sollte, stieß sie auf zwei Fragen, die ihr jede Antwort zerschlugen. Konnte sie sich scheiden von ihrem Kind? Und lebte der andere noch, der sein Vater ist und mit dem sie im Verspruch war? Fragen, so groß und schwer wie der Berg, auf dem sie stand, und dunkel wie der Himmel, der jetzt seine Wolken zusammentrieb und den Mond vergebens als Weidknecht dazustellte. Die Wolken verfinsterten den Wächter bald und liefen meisterlos ins Frankreich hinein.

Die Gritt stand in der Kammer und schnürte den Rock wieder zu, den sie schon abgelegt hatte, strich dem Seppl das Bett glatt und ging hinaus.

»Sie geht,« murmelte die Himmelspacherin ihrem Mann ins Ohr, als das Geräusch ihrer Schritte im Stiegenhaus klang.

»Sie geht zum Hans,« antwortete er leise.

Da durchfuhr die Frau die Erinnerung an jene Nacht in der Scheuer wie ein scharfes Schwert. Es war alles in ihr aufgewühlt, und das Geheimnis quoll in ihrer Brust. Zum ersten Mal fraß es ihr Schlaf und Gedanken.

Auch ihr befahl der Knecht.

Plötzlich fiel ihr ein, daß das Kind unten allein lag.

»Er ist ein großes Männel und schläft,« sagte der Himmelspacher, als sie davon sprach. Aber sie stieg gleichwohl aus dem Bett, um zu wachen, bis die Gritt heimkehrte.

Und die Gritt störte das Vieh aus der Ruh und schlug wiederum an die Kammer des Knechts.

»Steh auf, Hans, ich muß mit dir reden.«

»Ach hab Euch erwartet,« antwortete er, wie es sich schickt für den Knecht, und sie traten in die kühle, feuchte Nacht und stiegen langsam zum Ahorn hinauf.

»Hans, red!« gebot die Gritt.

Der Knecht schwieg, und als sie herrischer befahl, antwortete er mit Bedacht:

»Ihr müßt mich fragen. So weiß ich auch, was ich reden darf

Darauf sann sie lange Zeit, und er saß und beobachtete den Zug der Wolken.

»Du bist in der Säge gewesen« – begann sie endlich – »du hast ihm zu merken gegeben, daß er freien soll.«

»Der Himmelspacher hat's geschafft, ich bin ihm nur der Bote gewesen, Gritt.«

»Wie mir Hans?«

»Wie dir!«

»Und du hast vor mir gewußt, daß ich das Kind hergeben muß. Ihr habt einen Handel gemacht, der Franz, der Irion Karl und du, und der Franz behält das Kind!«

»Ganz recht,« antwortete er ruhig auf die bittere Rede. – »Er gibt dem Kind einen rechten Vater, und wer das Kind lieb hat, der lobt den Franz, gibt es ihm und dankt. Und wer die Himmelspacher noch wurzeln sehen will zu Allen Winden, wenn der Franz in den Boden kehrt und die Gritt ledig bleibt oder mannet, der bedingt es sich aus, daß die Kindlosen das Kind der Gritt annehmen als ihr eigen.«

»Und was es mich kostet, das fragt niemand!« stieß sie hervor.

»Das Zahlen ist auch deine Sach, Gritt. Du scheidest dich von dem Kind, und wenn du ihm zwei Jahre aus den Augen bleibst und aus dem Ohr, so weiß es nicht mehr, daß du seine Mutter bist. Du wiegst dem Irion Karl und dir die anderen, und so ist alles wohlbestellt.«

»Und die Leuni erbt mein Liebstes! Eh das geschieht, Hans –!« flammte sie auf.

»Es geschieht, Gritt, denn es muß sein, und du machst ihm und dir das Leben neu. Die Leuni aber muß gern haben und groß ziehen, was ihr selbst nicht im Schoß gewachsen ist – und der Knab wird sie regieren, wie sie dich regiert hat. Dein Sohn erbt Allen Winden.«

»Und ist nicht mehr mein!«

»Wohl! Aber du hast ihn auch nicht für dich getragen. Du mußt ihm das Bett machen, er nicht dir. Und wenn du es recht anschaust, so ist es das Glück, das du ihm bereit machst wie dir, wenn du jetzt ein Stück von deinem Herzen abhaust und ihn herschenkst.«

Zusammengekauert saß sie neben ihm. Seine Rede lief gleichtönig wie ein Brunnen.

Da sprach sie mit klarer, weicher, klagender Stimme, und seine Gegenrede fiel dunkel ein, daß es klang wie ein Lied:

»Hans, so geb ich mein Kind!«

»Ist recht, ist gut.«

»Hans, ich tu's nicht um mich!«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Hans, es frißt mir das Herz!«

»Halt still, es muß sein!« –

Sie schwiegen. Der Wind sang im Ahorn, die Nacht deckte Wolken über den Berg und wandelte mit leisen Seufzern um sie her. In schweren Tropfen fällt der Tau.

Und noch einmal begann die Gritt:

»Hans, und wenn er noch lebt?«

Da ging ein schreckhafter Schlag durch die zusammengesunkene Gestalt des Knechtes.

Er stand auf.

»Gritt, er ist tot!«

Aber sie beruhigte sich nicht bei diesem Wort und wiederholte:

»Und wenn er doch noch lebt! Ich bin im Verspruch. Die Mutter Gottes am See ist Zeuge.«

Und sie erzählte stockend und unklar, wie sie einander gesucht und gefunden und eins geworden waren am Trübsee.

Der Knecht hatte sich gefaßt. Seine Stimme war stark und fest, als er sagte:

»Du hast einem Lotter geglaubt. Und wenn es dich plagt, ob er noch lebt, so will ich dir einen bessern Eid in die Hand legen vor der Frau am See.«

»So sag, was du weißt.«

»Komm!«

Er ging voran. Der Tau sprühte und hing sich schwer an den Rock der Gritt. Der Mond war ein wenig Meister geworden und schnitt sich mit der blanken Sichel ein Stück freie Bahn. Sein gelber, klarer Schein fiel als goldener Schaum in den Trübsee.

Der Knecht trat in die dunkle Kapelle, rieb ein Schwefelhölzlein an und fand ein Stümpflein in einem verrosteten Leuchter, das noch Licht gab. Die Schatten der Lilien und der verstümmelten Arme der Muttergottes fuhren gespenstisch an den Wänden empor, als das Flämmlein aufflackerte.

Die Gritt hatte den Gruß gesprochen und blickte nun auf den Knecht.

Sein Gesicht war von Schatten angefüllt. Unter der abgezehrten, vom Wetter gebeizten Stirn lagen die Augen in dunklen Höhlen. Aber die aderstrotzende Hand streckte und reckte sich ruhig ins Flammenspiel, und er schwur den Eid, daß jener tot und begraben sei seit Jahren.

Da kniete die Gritt auf den nackten Stein und die Glieder flogen ihr im Frost, bis die Kälte sich löste und ein Tröpflein Schmelzwasser ihr aus den Augen rann.

Sie glaubte ihm. Sie glaubte ihm leicht und gern. Ein Stein fiel von ihr und auf ein unbekanntes Grab und blieb darauf liegen. Sie hatte dem geglaubt und glauben wollen, der vor sechs Jahren hier gestanden, sie glaubte heute und gerade an diesem Ort dem Knecht.

Mit einem Seufzer hob sie sich von den Steinen.

Schweigend stand der Hans.

Als er sah, daß sie zum Gehen rüstete, netzte er die Schwurfinger, um das Kerzenlicht zu zerdrücken.

Da legte sie die Hand auf seinem Arm.

»Hans, laß es brennen für die arme Seel!«

Einen Augenblick hielt er den Arm gestreckt, und die Flamme ergriff die hornigen Finger, ein Seufzer ging aus seinem Mund, dann ließ er das Licht und folgte ihr in die Nacht.

Sie fragte ihn nichts mehr auf dem Heimweg. Er war auf tausend Fragen gefaßt, aber sie schwieg und tat keine einzige mehr.

Da ließ es ihm keine Ruh und füllte ihm die Brust und das Hirn, nagte und plagte ihn, half kein Würgen und Wehren, mit Schauder bedeckt war die behaarte Brust, die Adern schlugen ihm an den Schläfen, und der kalte Todesschweiß klebte ihm an den hageren Backen – er mußte, mußte endlich das Märlein aufsagen, das er sich ausgedacht und aufgesetzt hatte, wenn die Gritt einmal wissen wollte, wie der Colmarer gestorben war.

Sie wollte es nicht wissen, aber er, er wollte reden. Er mußte reden, ehe ihm die Gedanken untreu wurden. Er hatte alles sauber und glatt beisammen, in keinem Kalender stand es schöner, und wenn sie ihm den Eid abgenommen hatte und nun fröhlich dem Irion in die Hand schlug, so war sie ihm auch schuldig, den Bericht zu hören, der ihn plagte.

Und wenn die Gritt ihn nicht hört, so schreit er ihn über die Weide und erzählt ihn dem Himmelspacher und der Frau – dem Irion und dem Knecht und dem Roß im Stall! –

Liegt einer im Moos, die Füße in den Schuhen, nur noch Bein an Bein – und der Hans hat ihn ehrlich gestreckt, dem Himmelspacher den Lohn verdient – und die Gritt kann mannen und Hochzeit machen wie eh! – – Er mäht keinen mehr aus, der dort liegt, er wischt das Maul nicht mehr am Kirsch und am Wein und an dem Weibsvolk zu Allen Winden – – – es hat sein müssen, und es ist, wie es ist! – – –

Und der Knecht erzählt.

Aber es gerät ihm schlecht. Jedes Wort stand wie ein Baum, wie ein Wald stand Baum an Baum, als er es ausgesonnen hatte. Jetzt ist die Axt darin, es ist viel vom Wind niedergeworfen – er bringt kein Klafter mehr zusammen.

Er erzählt:

Ja – in Geradmer hat er erfahren, daß der Colmarer tot ist … Schon lange … hat es erst nicht gemeldet, weil die Gritt noch auf Bericht hoffte, daß er lebe, und hat dann geschwiegen, weil die Gritt nicht mehr hoffte, daß er lebe … Ja, – und daß die Briefe den Weg nicht gefunden, das ist so in Afrique … Sie haben keine rechte Post. – Er ist gefallen, gleich im Anfang – er hat ein Soldatengrab, irgendwo, ohne Totenbaum, brav gestreckt, das versteht sich, schön gestorben, rot und tot … Ja, – wie der Louis, wie der Himmelspacher Louis bei Fröschweiler … Keinen Totenschein gibt es nicht, aber die Soldaten haben jeder eine Nummer wie in der Lotterie, und seine Nummer ist mit dem Tod herausgekommen … Sie haben ihm alles gesagt zu Geradmer vor vier Jahren … Der alte Brigadier, Mr. Petitpain, der jetzt auch schon gestorben ist … Ja, – und also ist es gegangen … Ja …

Und die Gritt hört, aber sie will nicht mehr wissen als sie hört. Seit er geschworen hat, ist sie ruhig. Er ist tot …

Der Knecht kann seine Geschichte nicht besser machen als sie ist.

Er ist zu Ende, er schweigt. Mit Müh und Marter hat er sie ausgesonnen. Er erzählt sie keinem Menschen mehr. Es gibt bessere Lügenpeter, aber es hat müssen sein, und es ist, wie es ist. Die Gritt heiratet den Irion Karl, und dem Franz bleibt ein Sohn zu Allen Winden …

Sie streifen am Krautgarten hin. Der Mond ist wieder hinter die Wolken getreten. Feucht klebt das Haar.

Als sie am Brunnen stehen, will die Gritt dem Knecht die Hand geben.

»Ich dank dir auch für alles, Hans.«

Er spürt, wie sie seine Hand sucht. Er will sie nicht geben. Aber dann gibt er sie doch.

Im Haus läuft die Leuni barfuß die Stiege hinauf. Der Himmelspacher liegt wach.

Die Gritt wendet sich und streckt die Hände unter den Brunnenstrahl, eh sie ins Haus geht. Das kalte Wasser wäscht den Handdruck des Knechtes.

Als sie gegangen ist, bückt er sich, legt den Mund an die Röhre, fangt den Strahl, und der Brunnen schweigt. Es ist totenstill, während er gierig trinkt.

In dieser Nacht verlor die Gritt ihr Kind. Es war wie ein Sterben, bei dem das Entseelte leibhaft und verklärt gen Himmel fährt; aber das Losreißen zerschlug ihr das Herz, und am Morgen stand sie gealtert auf aus schlafloser Nacht.

Mit dem Bruder ging sie hinab zur Säge. Sie gingen den Höhenweg, am Hochmoor hin und die Säge klang ihnen entgegen aus dem schwarzen Tal.

Das Moos war vergilbt, und die Gritt erinnerte sich, daß sie einmal dem Knecht das Geleit gegeben hatte, als er als ihr Bote nach Geradmer ging.

Das Erinnern lag weit weg, weiter als der Himmel, der zart, mehr silbergrau als blau in unendlicher Höhe über den Bergen stand. Ein Vogeldreieck zog nach Süden über die Gritt und den Himmelspacher. Anschwellend wie Orgelton sang die Säge im Grund, und die Gritt schritt über das unbekannte Grab ins Leben.

Sie hat ihr Herz in den Händen getragen und den Weg mit schweren roten Tropfen bestreut, denn es war der Tag, da sie ihr Kind verloren hatte. Und der Säger griff mit mitleidig blickenden Augen, aber festem Entschluß zu und drückte dieses blutige Herz zusammen, indem er sagte, es wäre das beste, sie legten sieben Berge zwischen die Säge und Allen Winden und sähen einander nicht, es ginge denn zu einer Leich, damit der Bub die Mutter leichter vergesse und die Gritt sich finde in das neue Leben.

Sie war wie Schnee unter dem dunkler gewordenen, in der Bewegung geheimnisvoll funkelnden Haar. Nur ein leiser gelber Schein über der Blässe, vom Sommer her – wie Schnee, den der Föhn angehaucht hat.

Auf den letzten Adventstag hielten sie still die Hochzeit. Die Himmelpacherin aber trat an diesem Tag zu dem Knecht und sagte:

»Hans, gebt mir den Ring! Die Gritt ist versorgt.«

Er hatte Wein getrunken.

»Und wenn ich jetzt für mich sorg, Frau? Ihr seid mir das Stück Speck immer noch schuldig.«

Da beugte sie sich vor, und ins trunkene Lachen sprach sie hart:

»Ich bin mehr als einmal daran gewesen, dem Franz alles zu sagen. Jetzt tu ich's. Der Ring ist mir feil.«

Sie wandte sich ab.

Mit einem Schlag zwang er den Wein.

»Alles wissen macht Kopfweh, Himmelspacherin. Stoßt mir Speck oder Ratzengift ins Kraut – ich geb Euch den Ring.«

Und mit zitternden Fingern löste er das abgegriffene, zerdrückte Schächtelein aus dem Hosensack, in dem er es so regelmäßig getragen wie eine Uhr, und gab ihr den Ring.

»Und wenn ich jetzt dem Bub nicht sorg!« rief sie und schloß die Faust über dem Reif.

Lautlos lachte der Knecht.

»Das macht mit dem Franz aus. Aber mich dünkt, der Seppl ist stärker als ihr beide.«

Sie antwortete nicht. In der Nacht ließ sie den Ring, von dem sie Faden und Hemdbund gelöst hatte, in eine Ritze gleiten unter dem Bett. Er klingelte leise ins Gebälk! Der Himmelspacher lag und schlief, und in der Kammer nebenan ging der frische Atem des Kindes.

* * *

 


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