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Als die Frau ›Zu Allen Winden‹ zu sterben kam, war sie mit dem Herrgott uneins über ihre Todesstunde. Der wußte in seiner Allwissenheit doch nicht recht, was eine Frau vor dem Abscheiden noch zu richten hat, die seit fünfzehn Jahren allein gestanden ist und allein regiert hat. Er hatte auch die Zeit übel gewählt. Wenn der Staub aus den blühenden Gräsern geht und hinter dem schwarzen Wald das Vieh auf die höchste Staffel zur Sommerung steigt, dann gehört die Frau nicht ins Bett.
Aber die Himmelspacherin wußte, daß sie sterben mußte. Die Winde strichen um den Hof, der hart am Roßkopf lag und mit den kleinen Fenstern auf der Morgenseite in die dämmernden blauen Taler hinabstarrte, während auf der Abendseite der letzte Sonnenbrand noch rote Funken aus den Ziegeln schlug. Zu Allen Winden lag der Hof, und hieß ›Zu Allen Winden‹. Auf dem Scheitel der Vogesen, über den schwarzen Wäldern, war er wie ein Granitstein in die Weide gepflanzt, zwischen blanken Seelein, die wie Spiegelscherben aus dem rauhen Bergschutt blitzten.
Der Vollmond stand am Taghimmel.
Die Frau sah ihn still im hellen Blau stehen. Er wartete auf die Nacht. Die Sonne hatte einen starken steten Schein, keine Wolke hob sich über den welschen Seen aus dem dampfenden Grund. Hinter der Käskammer dengelte der Knecht die Sensen.
Im scharfen, kurzen Klang lockte der Tod.
Da sagte die Frau zu ihrem ältesten Sohn, der die Scheibe in ihrer Schlafkammer wieder schloß und an den Riegel legte:
»Es stäubet schon. Fanget morgen an, ihr müßt das Heu auf der Bühne haben, eh ich mich kehr! Und jetzt ruf mir den Hans!«
»Was will die Mutter mit dem Knecht?«
Die Frau setzte sich aufrecht. Ein Berg von roten Kissen unterfing stützend den schweren Leib.
Eine Weile blickte sie starr in das lederfarbene, verwetterte Gesicht des Sohnes. Er schnitt den Bart selbst quer unter dem Kinn ab. So lagen seine Augen eng im breiten harten Gesicht unter den gewölbten Brauen. Ein moosgrauer Schein fing sich schon im braunen Bart, als er zwischen dem Bett und dem Fenster gegen das Licht stand.
Und die Himmelspacherin sprach:
»Ich übergeb jedem sein Teil, Franz.«
»Auch dem Knecht?«
»Auch dem Knecht.«
»Die Mutter hat allen gesorgt, ich hab zu zahlen, wenn sie ihr Teil herausverlangen, der Amerikaner und die Gritt. Sorgt sie jetzt auch noch dem Knecht?«
Es kam schwer und langsam aus seinem Munde. Ohne Bitterkeit, ohne Vorwurf.
Die Mutter strich das gelbsträhnige weiße Haar aus den Augen.
»Der Vater selig hat geteilt. Ich teil von dem, was er mir gelassen hat. Du bist der Älteste und hast den Löffel zuerst gefaßt beim Einstechen. Schlag zurück in die Pfanne, wie es recht ist, wenn sie es von dir verlangen, aber du weißt, daß der Peter nicht mehr heimkommt aus Amerika. Er liegt am Ende schon länger unter dem Boden als der Louis, den sie mir bei Fröschweiler zusammengeschossen haben. Und die Gritt – die Gritt – hol mir den Hans – deine Frau hat ihren Schoß noch nicht aufgetan – der Hof steht zwischen dir und der Gritt. – Geh, ruf mir den Knecht!«
In Absätzen, von schweren schlürfenden Atemzügen zerhackt, war die Rede über die Lippen der Todkranken gebrochen. Aber sie saß aufrecht, die Kniee an den Leib gezogen, jede Ader gespannt und gefüllt von schwerem Blut. Sie hielt den Sohn noch unter ihrem Willen und den Tod.
Da ging die Türe auf, und die Sohnesfrau trat heftig in die Stube.
»Die Mutter zielt auf mich und trifft den Franz. Machen muß er den Buben, ich will ihn schon tragen.«
Aufrecht, mit voller Brust und breitem Hüftenschwung, einen dunklen Schatten auf der roten Lippe stand sie am Fuß des Bettes. Der absterbende Schein des Tages fing sich in ihren goldenen Ohrgehängen.
»Wenn mir der Herrgott so aufs Wort paßt, wie du, komm ich vor der Zeit ins End. Schleich dem Erb nicht nach, Leuni, wie du dem Franz geschlichen bist!«
Ihre Stimmen klangen, ihre Worte stachen. Die alte Feindschaft, die zwischen ihnen gelegen, schoß plötzlich in flammende Brunst.
Sie standen nicht mehr zwischen Leben und Sterben. Es war ein Tag wie ein anderer. Vergebens hämmerte draußen am Hag der Knecht die rauhen Sensen, der Tod saß nicht mehr hinter ihm, nur der Gräserstaub flog, und silbergrau glänzte, hierhin und dorthin gestrichen, das weißblühende Gras um den Hof Zu Allen Winden.
Da ergriff Franz die Hand seiner Frau und führte sie stumm aus der Stube.
»Führ sie vor die letzte Tür, Franz, es wohlet dir und uns,« schrie ihm die Mutter nach.
Sein Weib aber, das den Druck seiner Faust nach diesen Worten noch klammernder verspürte, erwiderte trotzig:
»Ich steh hier im Eigen und hab einen Schuldbrief auf zweihundertundfünfzig Frankentaler vom Hof Zu Allen Winden, die löset ihr nicht aus.«
Draußen riß sie sich von der Faust ihres Mannes.
Er legte ihr die Hand auf die Schulter und hielt sie zurück.
»Du bist der Tür zu nah gestanden, Leuni. Daß sich in diesen fünf Jahren das Dritt noch nicht gefunden hat zu uns beiden, ist mir ärger als dir. Aber sie hat recht, die Mutter, der Hof steht zwischen uns und der Gritt.«
»So sorg dem Erb, oder ich sorg ihm allein,« blitzte sie gereizt, und ihre dunklen Augen brannten in dem gebräunten leidenschaftlichen Gesicht.
»Leonie!«
Schwer sank die Faust von ihrer Schulter.
Er ließ ihr den Weg frei und stand eine Weile allein im Flur. Der keuchende Atem der Mutter schlug durch das Getäfer.
Da ging er hinaus und rief den Knecht.
Der saß über die letzte Sense gebückt und gab den Dengelhammer nicht aus der Hand, bis das Eisen gerade lag. Dann zog er sich vom Melkschemel in die Höhe, wog die Sense, schielte über die Schneide und stellte sie zu den andern. An den nackten Armen spielten die Muskeln. In dem braunen Gesicht knisterten die Bartstoppeln, als er mit der Hand darüber wischte, ehe er in die Stube der Frau trat.
Hinter ihm schlich die Nacht herein.
»Ihr habt nach mir geschickt,« sagte er und starrte über das Bett weg zum Fenster hinaus, in dem noch ein weißer Schein schwamm.
»Ja,« antwortete die Frau, und es war eine Zeitlang still zwischen ihnen. Sie sah im Zwielicht die steile Stirn und den scharfen Nasenrücken des Mannes, der immer noch aus dem blind gewordenen Fenster starrte, um ihr nicht ins Bett blicken zu müssen.
Er wartete. Krummgezogen von der Axt und der Sense war er eingetreten, aber unwillkürlich reckte er sich in den Schultern, als er an ihrem Bett stand. Einmal fuhr er sich mit der rauhen Hand über den geschorenen Schädel, sonst tat er keinen Wank, stand und wartete.
Es war die Abendstunde, um die an schönen Tagen auch zu Allen Winden die Luftwirbel ruhten. Ein einzelnes starkes Frauenlachen fuhr durchs Haus, dann war es still.
»Ihr habt bald nur noch einen Meister auf dem Hof.«
»Wir haben immer nur einen gehabt, Frau.«
»Ja, du – ich weiß. So wirst du bald einen andern haben.«
»Wenn Ihr's sagt, muß es wahr sein.«
»Ja.«
Und als sie diese Worte gewechselt hatten, wurde es wieder still in der Kammer. Still und dunkel.
Abermals begann die Frau:
»Ich hab's dir sagen wollen, Hans.«
»Ist recht, Frau!«
Und nun hob er die Hand, die leer herniedergehangen, und streckte sie ins Bleigrau, das über dem Bett zusammenschlug.
Fing sie eine andere, die war hornschälig, wie die seine, aber fiebrig und feucht.
»Ja, Hans, und trag mir Sorg zu der Gritt.«
»Zum Hof und zu der Gritt, Frau, – Gottverdamm.«
Da tat die Kranke einen Seufzer der Erleichterung.
Die Hände kehrten zurück vom harten Druck, und Hans legte die Schwurfinger ins Kreuz hinter der Bettlade und sprach für sich einen Eid.
Er zauderte noch einen Augenblick. Es war ihm, als striche etwas am Türschloß hin.
Mit leiser Stimme fiel ihm die Frau in die Gedanken.
»Drei weiße Tannen sollst du dir schlagen, Hans, so weit du spannen magst. Den Erlös stift ich dir ins Testament. Je ein Baum auf zehn Jahr, die du zu Allen Winden schaffst, es dünkt mich recht.«
»Es ist recht, Frau – nur die Grablade beding ich mir drein.«
Da lachte die Kranke.
»Keinen Nagelsbreit mehr, Hans, als drei Tannen. Aber wenn du dich strecken willst, die Leuni zahlt dir die Lade gern.«
Und darauf lachte der Knecht und erwiderte:
»Und wer sorgt dem Hof und der Gritt, wenn ich mich streck, Frau? Tenez, ich schenk Euch die Dreingab.«
Er schlug die Faust auf den Bettpfosten, daß der Kloben klang und die Kranke bis ins Innerste erschüttert wurde.
Aber sie hob sich kräftig in den Kissen, daß der Knecht ihr näher stand, und ihre schwarzen Schattenrisse traten im ersten Mondlicht scharf hervor, das jetzt weiß in die Stube floß.
»So sind wir eins und fertig, Hans. Langes Leben wünsch ich dir aufs Letzte!«
»Fertig und eins, Frau. Und wünsch aufs Letzt Euch ein seligs End!«
»Amen!«
Wieder strich die Leuni von der Tür weg, als der Knecht aus der Stube trat.
Er tat, als säh er sie nicht, und ging über den Hof auf die Weide hinaus.
Hinter dem Krautgarten war eine Bodenschwelle. Da stieg er hinan. Nun lag der Hof unter ihm, und das Mattland rollte in die Weite. Schwarz stand der Wald im Dunkel, ein bläuliches Licht geisterte darüber hin. In der Tiefe wogte der Dunst des Tages, und die kalte Bergluft stieß hinab und trieb den warmen Brodem aus den Tälern.
Da kam Franz von der andern Seite die Schwelle herauf und traf auf den Knecht.
In der Ferme brannte Licht. Der Fensterstern der Kammer, in der die Frau auf den Tod wartete, stand hell in der Nacht.
»Ich denk, wir halten es morgen wie gestern, wir zwei,« sagte der Himmelspacher.
»Ihr seid der Herr,« antwortete der Knecht und heftete die scharfen Augen fest auf das klare Licht im Fenster.
»Du bist frei, Hans. Ich ding dich neu.«
»Die Frau hat mich für Euch gedungen. Ich bleib.«
Sie schwiegen.
Plötzlich beugte sich der Knecht lauschend vor. Er hatte das Rauschen von Schritten im Gras vernommen.
Und schon löste sich drüben aus dem Kiefernbusch, der schwarz im silbergrauen Grasland hockte, eine Gestalt und strich hastig den schmalen Pfad entlang, die Gräser fegend mit dem wehenden Rock.
»Die Gritt!« stieß der Franz dumpf hervor, »Gottsblut, die Gritt!«
Unwillkürlich tat er einen Schritt aus der starren Ruhe auf sie zu.
»Bleibt! Sie streicht zu Nest und kommt zur Zeit.«
Die Hand des Knechtes hielt ihn auf dem Fleck fest, und die schlanke Gestalt des Mädchens schwang sich unter ihnen über das kniehohe Mäuerlein, das den Krautgarten vor dem Vieh sicherte, und verschwand hinter der Scheune. Gleich darauf gaukelte ihr Schatten im Zimmer der Mutter. Sie öffnete das Fenster, zog die Läden an sich und der Lichtschein erlosch.
Aus dem Tannenwald rollte der Mond und versilberte das Dach zu Allen Winden.
Der Himmelspacher kraute den rauhen Bart und sagte:
»So hat die Leuni recht. Die Gritt ist meisterlos. Aber so lang sie unter meinem Dach schläft, stell ich ihr den Meister, wenn sie der Mutter nicht mehr unter den Rock schlüpfen kann.«
Der Knecht entgegnete nichts.
Da fuhr der Himmelspacher fort:
»Morgen heuen wir, der Bub ist nach La Grange hinunter. Mit den zwei Burschen, die er heraufbringt, schaffen wir's in vier Tagen.«
Jetzt antwortete der Knecht:
»Wenn er zwei bringt, die sich in die Sense legen, sonst nicht, und wenn das Wetter wartet, sonst auch nicht.«
Prüfend blickten sie zum Himmel hinauf, der blaß, mit lichtlosen Sternen übersät und von Windschleiern überflort, über den Kuppen der Berge stand.
Vom Hof her kam ein Ruf.
Franz murmelte den Namen seiner Frau.
Da zog Hans den Hosenbund höher und wandte sich zum Gehen.
»Bleib, sie hat dich gesehen,« befahl der Himmelspacher kurz.
»Das gilt mir gleich,« entgegnete der Knecht und tat den ersten Schritt. Aber trotzig ging er nicht in anderer Richtung, sondern kreuzte mit Bedacht den Weg der Frau, die mit heißem Atem auf ihn zuschritt.
So trafen sie an der Gartenmauer aufeinander.
»Seid Ihr's, Hans?« grüßte sie ihn, und ihre warme Stimme hatte einen dunklen, weichen Klang.
»Ihr kennt uns auch in der finstersten Nacht noch auseinander, Frau, den Herrn und den Knecht,« gab er mit stachligem Spott zurück.
Leonie sah ihren Mann auf der Bodenschwelle stehen, die ungewisse Helle der Mondnacht zitterte um seine schwarze Gestalt. Er stand nicht so weit, daß er nicht jede ihrer Bewegungen hätte erkennen können. Aber sie trat trotzdem hart vor den Knecht hin, und ihre volle Brust ging stark vom wilden Blut, als sie erwiderte:
»Eure Zeit ist um, wenn Ihr mir nicht die Ehr gebt. Ich bin erst fünf Jahr zu Allen Winden und Ihr dreißig. Mais demain il fera jour. Morgen zähl ich von vorn und Ihr von hinten.«
Der Mond malte ihr Gesicht weiß. Aus ihrer Stimme lachte der Triumph. Doch ruhig antwortete der Knecht:
»Die Himmelspacherin, die mir heut Valet gesagt hat, ist Meister gewesen auf dem Hof und ein rechtes Weibervolk, aber nach ihr regiert keine zweite aus sich selbst. Ich dien dem Himmelspacher und dem Hof, ich bin gedungen bis ans End und hab Stand bis ans End zu Allen Winden.«
Die Frau wollte ihm im ersten Zorn die Finger ins Gesicht schlagen, aber rasch faßte sie sich, und wieder war der dunkle Ton in ihrer Stimme, als sie leise entgegnete:
»Wenn Euch der Franz gedungen hat, Hans, so ist's ein ander Ding. Ich stoß Euch ein Stück Speck extra ins Kraut, denn ein guter Großknecht ist der halbe Herr.«
Er wich ihr aus dem Weg, und mit einem vollen Blick, der in der weißen Nacht noch sein Ziel fand, strich sie an ihm vorbei.
Langsam kam der Himmelspacher ihr entgegen.
Sie zog ihn mit jähem Griff zu sich herab auf das Mäuerlein und hastete:
» Eh bien, was hat die Mutter ihm verschrieben? Was hat sie ihm aufgetragen?«
Er zuckte die Schultern und schwieg.
»Hast du ihn gedungen, eh er's dir gesagt hat?« flammte sie auf.
»Ich hab ihn nicht gefragt,« antwortete er karg.
»Hast ihn nicht gefragt?« hohnlachte sie leise. »Ja, bist du denn toll und taub? Nicht gefragt, wo es ums Erb geht? Was sie mir zuleid tun kann, das tut sie mir an, solange sie Atem hat! Fünf Jahr hab ich keinen Platz gehabt neben ihr! Der Tochter wirft sie die Augen aus dem Kopf in den Schoß, wenn sie sie von ihr verlangt, aber die Sohnsfrau ist ihr feil. Der Hans ist ihr Hund, den legt sie uns vor die Tür, daß wir nicht über ihn ins Freie können. Und du hältst ihn im Dienst und machst nicht einmal einen magern Handel daraus?«
Sie hatte die Stimme nicht erhoben, die Winde, die über den Berg liefen, verwehten den leisen wilden Klang. Aber sie hatte den Mann an den Schultern gefaßt und schüttelte ihn mit hartem Griff.
Doch da riß sich der Himmelspacher plötzlich los, schlug ihr die Fäuste um die runden Arme und drückte sie mit Gewalt auf den Mauersitz.
»Red der Mutter nicht in ihre Sach, Leuni! Ich hab dich von La Grange den Berg hinauf und ins Haus gebracht, aber wie sie dich hält, das steht bei ihr. Und mir steht's nicht an, daß ich den Knecht frag, was sie ihm gesorgt hat.«
Die Zunge lag ihm schwer im Mund, und die Rede war lang. Erst als er sie beendet hatte, löste er den Druck, mit dem er das Weib trotz des Wehrens fest auf das Mäuerlein gebannt hielt.
Aber ob er auch einen Schritt von ihr weg trat, um ihr Raum zu lassen, nun, da er sie frei gab, sprang sie nicht auf, sondern zog das Bein in die Höhe und schlang die Hände um das Knie.
Der Mond stach ihr weiß in das Gesicht. Sie lächelte. Die Zähne glänzten zwischen den feuchten Lippen, in den schwarzen Augen saß kalter Trotz, und die Flügel der kurzen, starken Nase öffneten sich wie heiße Nüstern. Aus dem Lächeln wurde ein leises Lachen.
»Franz, du tust mir leid!« spottete sie. »Der Hans ist ihr Knecht, aber du bist ihr Knecht wie er. Und wirst der Gritt ihr Knecht, ungedungen und ohne Lohn.«
Schwer tropften die Worte in sein Ohr und verbrannten ihm das Hirn. Ein dumpfes Stöhnen kam aus seiner Brust, und langsam hob er die geballte Faust.
Aber noch heißer lachte sie ihn an, den Kopf zurückgebogen, daß der weiße Hals aus dem Brusttuch stach.
»So schlag mich doch, Franz, so jag mich doch von Allen Winden, wie sie es dir mehr wie einmal eingeblasen! Ich sei dir nachgestrichen, Franz, du mir nicht!! Nein, du mir nicht im Lion d'or zu La Grange! Schlag zu, Himmelspacher, daß die Leuni dich nicht mehr toll und heiß macht, schlag zu, wie nie!«
Und während sie so sprach, wiegte sie sich, das Knie mit den Händen umschlungen haltend, auf dem schmalen Sitz, einen heißen Atem im lechzenden roten Mund und die brunnentiefen Augen voll zu ihm aufgeschlagen.
Wie gelähmt sank sein Arm.
Mit gebogenem Rücken ging er den schmalen Wiesenpfad ins Planlose, tauchte in den Kiefernbusch, in dem das Bergkraut knisterte und der Nachtkauz klagte, und stand erst still, als er die Kapelle erreicht hatte, die plump am Trübsee hockte.
Trüb, selbst in der Mondnacht wie Blut anzusehen, lag der See in der Mulde. Kein Frosch quarrte, keine Unke glöckelte; die feuchten zerfressenen Stufen der Kapelle stiegen zum Wasser hinab und verloren sich im schleimigen Grund, als gäb es wirklich kein Ende der Treppe, auf denen die Berggeister auf und nieder steigen in der Johannisnacht.
Franz Himmelspacher kannte keinen Schauder.
Eine Zeitlang blickte er zerstreut auf das weiße Steinhaus, in dem eine verblichene hölzerne Mutter Gottes hinter blechernen Lilien stand, dann trat er hinein. Unwillkürlich, ohne Vorsatz. Der Mond ging ihm nach und füllte das enge Gehäuse mit seinem Schein. Es roch nach Blumen. Ein dickes Gewinde von lebendigen Lilien und Pfingstrosen hing von den verstümmelten Händen des Muttergottesbildes, das, vom Bohrwurm zernagt, die Arme liebreich ausstreckte in der Einöde des Trübsees.
Da zog der Himmelspacher die Fäuste aus den Hosentaschen und murmelte: »Den hat dir die Gritt gebracht, es gibt keine andern Rosen und Lilien als zu Allen Winden.«
Und er rührte die Stirn mit dem Finger und ging aufrecht den Weg zurück, vom Wind umblasen, den Himmel dicht über sich und tief unter sich die qualmenden stillen Täler.
Die Sterne wiesen die Mitternacht, der Mond verlor seinen Schein. Tau sprühte im reifen Gras.
An der Kammertür der Mutter blieb Franz stehen.
Ein Spalt verriet, daß Licht brannte. Aber der Lauscher hörte kein Geräusch. Die Kuckucksuhr in der Wohnstube ging ihren harten Gang, und der Himmelspacher verwunderte sich, daß er noch nie gemerkt hatte, wie laut und grob der Uhrlöffel hin- und herschwang.
Die Gritt schlief bei der Mutter.
Und Franz tat die Schuhe von den Füßen und schlich die Treppe hinauf. In tiefem Schlaf lag die Leuni, und kaum streckte sich der Mann neben sie, so fiel auch auf ihn der harte Schlaf.
Um zwei Uhr nachts erwachte unten die Frau aus fiebrigem Dämmer. Sie blieb unbeweglich liegen, die Augen an die niedrige Decke geheftet, an deren schwarzgebeiztem Getäfer das Öllicht seine Wellenkreise zog. Irgendwo im verschwimmenden Raum ging der ruhige Atem der Gritt. Durch den Herzausschnitt der Fensterladen stach noch die Finsternis.
Kein Windzug seufzte, kein Regen troff, nur der Brunnen sang in der klaren Nacht.
Kathrin Himmelspacher wartete ruhig, bis die Uhr schlug, um die Zeit zu melden. In ihren Füßen bis zu den Knieen war kein Gefühl mehr. – Es ging seinen Gang.
Und nach einer Weile rief der Kuckuck heiser dreimal durch den Hof zu Allen Winden. Die Uhr hing an ihrem Platz, seit die Kathrin Stöhr eingezogen war auf dem Berg. Sie hatte sie von Metzeral mit heraufgebracht im Hochzeitsgut. Auf der Melkerkilbe war die Kathrin mit dem Himmelspacher eins geworden. Das war jetzt sechsundvierzig Jahr auf Schlag und Tag, und als sie mit ihrem Vater und der Geleitsjungfer auf den Berg gestiegen war, um Hof und Land anzuschauen, für die der Himmelspacher sie zur Frau suchte, da war sie mit Schrecken am Trübsee gestanden, denn der lief rot von Blut, und auf den Stufen der Kapelle krümmte sich blasiger Schaum in der heitern Sonne, als hätte dort einer im Blutbrechen gelegen.
Aber ihr Zukünftiger sagte behaglich:
»Je röter der See, um so feister das Veeh.«
Und sie sah auch noch am Abend bei dem Abstieg die Kühe glöckelnd durchs Heidekraut zur Tränke hinabstoffeln und das rote Wasser gierig einziehen. Da verlor die Erscheinung ihre Schrecken, so oft sie sich auch in sechsundvierzig Jahren erneuerte, wenn dem Heumond ein warmer Mai vorangegangen war und die wilden Gänse früher als sonst über die Berge ins Niederland strichen.
Heuer blutete der See, daß er trüb und wolkig wie Scharlach im Steinbecken stand. So hatte ihr die Gritt erzählt, und die wilden Vögel hatte sie selbst schon im Märzen über den Hof ziehen hören. Ihr scharfer Schrei war ums Morgengrauen aus den Wolken gefallen, als die Krankheit ihr just den Atem stillgestellt und sie vom ersten Tag an auf ihr letztes Bett gestreckt hatte.
Sie war bereit und versah sich des Weges in die Seligkeit wohl. Aber es drückte sie, daß sie den Kindern den Hof nicht besser gestellt zurückließ. Dreimal war die Maulpest über den Berg gezogen und hatte den Stall vergiftet. Dreimal war der Hans als Notschlachter tätig gewesen, und unten auf der Wolfmatt hatten sie sieben Kühe, drei trächtig im siebenten Monat, eingegraben, die so schnell gefallen waren, daß sie kein Lot Fleisch mehr aus der Haut schälen konnten.
Da war der Himmelspacherin der halbe Wald, der zu Allen Winden gehörte, feil geworden, und Franz hatte ihn den Herren de Morimont auf den Wurzeln verkauft, um Hof und Wirtschaft zu retten.
Aber es war sie härter angekommen als den Sohn. Der war auf der Weide dem Wald fremd geworden. Die Kathrin hatte den Schlag von der Axt des Himmelspachers noch in den Ohren, der die Weißtannen gefällt und geschleift hatte, als er noch fest in den Schuhen stand. Und neben ihm hatte der Hans, der als Holzhauer gedungen war und dem die Sense erst zu Allen Winden in die Hand gewachsen war, die Axt regiert und das Seil gelegt. Und es war eine Lust gewesen, wenn die Kathrin mit dem Brotlaib und dem Kirschenbrand im Korb in den Wald hinunter gestiegen war und die Äxte krachten und sie just recht kam, um ins Seil zu springen und den Baum legen zu helfen, der im Fall eine Gasse schlug in den schwarzen Wald, daß die Sonne auf den rostigen Nadelteppich fiel, wo die Fingerhütlein ihre getupften roten Käpplein reckten. Jetzt schluckte sie den Saft der Fingerbecher. Der steckte in der bittern Medizin, die ihr das Herz ruhig stellte, wenn es so schnell lief wie die Tropfen, die im Gewitter mit Kling und Klang rings vom schwarzen Dach schossen … heute nacht lag es still und taub unterm Hemd und draußen fiel kein Tröpflein. Im Ausschnitt der Läden dämmerte ein rosenroter Schein …
Viermal gluckste die Uhr, Schritte erschütterten die Dielen über dem Kopf der Himmelspacherin, von der Scheune klang schon das Schärfen der ersten Sense …
Im Kastenbett hinter der Wand ging immer noch der ruhige Atem der Gritt.
Da lächelte die Mutter im Dunkel. Ein spöttisches Lächeln, denn die Gritt war um die Nachtruhe gekommen und schlief in den Tag, schlief in den Heuet hinein. Aber die Mutter wartete doch noch eine halbe Stunde, und erst als der Atem des Mädchens ungleich wurde und die Stimme der Leuni laut und voll durchs Stiegenhaus rief, zupfte sie an dem starken Faden, der von ihrem Bett zum Arm der Tochter ging.
»Gritt, Margritte, wach auf! Ein Glockenseil sollt man dir an die Hand binden, keinen Schneiderfaden. Der reißt ab, eh es dich weckt.«
Der Arm, an dem der Faden befestigt war, zuckte blank unter dem Kopf hervor und schlug hart auf die Bettstatt.
Und dann erwachte endlich die Gritt.
»Was ist, Mutter? Ich komm ja schon!« rief's und warf die Beine aus dem Bett, sprang mit gleichen Füßen zu der Mutter und stand vor ihr, noch den Schlaf in den Augen, den rotblonden Zopf über das rauhe Hemd hängend, und blinzelte im Zwielicht, das durch die Läden quoll.
»Gibt kein Bräveres als du, denn wenn sie schlafen, sind sie alle brav,« spottete die Mutter: »Wach auf, es taget!«
Da gähnte die Gritt herzhaft und reckte die Arme, streifte den Faden ab und stieß die Läden auf.
Der rosenrote Schein lief über ihr Gesicht und die nackten Schultern.
Die Himmelspacherin hatte sich aufgerichtet.
So konnte sie ins Weite schauen und sah durch das Fenster die Tannenwälder ins Tal steigen, die Vorberge mit runden Rücken aus der Ebene tauchen, über der noch ein feiner Dunst schwamm, und sah drüben, in Augenhöhe, das blaue Bergland stehen, auf dem die Sonne wie auf ihrem Thron saß, von kleinen rosenroten Wolken umgeben und einen klaren grünen Schein über den Himmel schießend, daß die Augen davon überliefen.
»Sie steht herrlich auf, und die Luft weht von ihr her – was die Sense schneidet, dörrt heut noch auf der Gabel.«
Befriedigt sank sie zurück.
Die Gritt trat hastig vom Fenster weg, aber es war zu spät gewesen. »Verkühl dich nicht, Margritt, wenn du Morgentau fängst gegen die Laubflecken!« rief die Leuni mit ihrem glöckelnden Lachen.
Blutrot brannte das weiche kindliche Gesicht der Gritt, daß die Sommersprossen auf der klaren Haut im Brand vergingen. Ihre Lippen zitterten, aber sie antwortete nicht, drückte sich nur fest gegen die Wand.
Im Fenster blitzten die Sensen, und während die Leuni mit den Knechten und den Heuern von La Grange weiterzog, legte der Himmelspacher die Hand aufs Gesims und sagte:
»Daß ich Euch grüß, Mutter. Ist die Nacht gut gewesen?«
Und die Himmelspacherin gab Bescheid.
Sein bärtiges Gesicht stach dunkel aus dem goldklaren Hintergrund, die Sense auf seiner Schulter schaukelte leise und warf einen Tropfen rot wie Blut.
»So laßt Euch recht pflegen. Die Gritt bleibt bei Euch,« sagte er wohlmeinend.
Und da der letzte Satz der Schwester galt, bog er den Kopf weiter vor und sah sie nun neben dem Fenster stehen, im Hemd, an die Wand gedrückt, und jetzt blaß, aber mit einem unsichern Lächeln im Gesicht.
Da ging ein weicher Schein über seine ernsten verschlossenen Züge.
»Bist der Mutter aus dem Nest gefallen, du bluttes Kröttle?« sagte er und wandte sich dann zum Gehen.
Die Gritt aber antwortete trotzig:
»Nicht eine Handvoll Schlaf hab ich in den Augen, du Stoffel!«
»Gritt, so ein Lug gibt einen Kropf,« warf die Mutter trocken ein.
Da fuhr die Gritt hastig mit beiden Händen an ihre glatte Kehle und starrte die Mutter unsicher an, wußte nicht recht, ob es Spaß oder Ernst galt.
Die Himmelspacherin aber fuhr fort:
»Du wächst aus den Hemden. Von heut an kannst du die frisch gesaumten anlegen, die ich dir aufs achtzehnte Jahr versprochen hab. Und jetzt mach, rüst das Morgentrinken!«
»Ja, Mutter – und ich bin zweimal wach gewesen in der Nacht, Ihr habt's nur nicht gemerkt – um eins und um drei – Ihr habt herrlich geschlafen. Euch bessert's bald!«
Wußte nicht, daß sie log, die Gritt, glaubte, was sie sagte, und die helle Freude über das Wohlergehen der Mutter stand ihr im Gesicht.
Die Himmelspacherin schwieg.
Still wie nie lag sie im breiten harten Bett. So oft die Gritt hereinkam, folgte sie ihr mit den Augen. Es war noch ein Kind mit siebzehn Jahren, aber es streckte sich wie ein Tännlein und rundete so schön! Heute hatte es seinen Gickelestag, lachte über alles und nichts, sah alles blau und golden und fuhr lustig durchs leere Haus.
Die Heuer kamen nicht heim. Nur das Schnarren der Sensen, über die der Wetzstein fegte, tönte zuweilen um den Hof.
Um die Mittagszeit zog eine Wolke über den Hohneck und warf ihren Schatten auf den Berg, daß alles erblindete.
Da rührte sich die Himmelspacherin unruhig im Bett und sandte die Gritt zu den Heuern, um beim Wenden zu helfen. Sie könne allein liegen auf den Abend.
»Der Franz schickt mich doch wieder heim,« sagte das Mädchen, aber es ging gern, denn zwischen dem Krankenbett und dem Kaffeetopf lief ihm die Langeweile nach.
So schlug es noch einmal das Federbett glatt und rüstete der Mutter die Arznei.
»Geh, es macht an einem Wetter! Schaffet heim, was dürr ist,« drängte die Frau, »und laß die Türen offen, daß ich hör, was geht.«
Ihr Gesicht war eingefallen, gelb wie Wachs, und sie hatte keine Füße mehr.
Die Gritt sah es nicht. Wie die Mutter heute lag, so hatte sie seit Wochen gelegen, und ihre harte Hand hatte ihr schon lange nicht mehr die Backen gefärbt.
»Wenn er mich schickt, komm ich halt wieder,« rief sie und band das Kopftuch fest. Erst das weiße, dann ein rotes, das stand ihr besser zu Gesicht.
In die vergilbten Züge der Himmelspacherin, die ihr stumm zuschaute, wie sie das schmale Spiegelglas fragte, grub sich ein überlegenes Lächeln. Aber sie schwieg, und die Gritt schoß aus der offenen Tür.
Die Mutter folgte ihr mit den Augen.
Nun lag sie allein. Unruhige Winde liefen ums Haus. Ein Mutterhuhn führte seine Jungen glucksend über die Schwelle in den Backsteinflur und spazierte endlich ins Krankenzimmer. Die Himmelspacherin lag wie ein Bild.
Ein leiser Donner klang in der Ferne.
Die Gritt war auf der Bodenschwelle hinter dem Krautgarten stehen geblieben und spähte nach den Heuern. Die strichen die Kaisermatt hinunter. Der Himmelspacher und der Hans gingen noch hinter den Sensen, die andern wendeten und rafften, und im bleifarbenen Licht, das unter der großen Wolke lag, leuchteten die Kopftücher der Leuni und der Magd.
Aber wie die Gritt noch stand und schaute, blitzte die Sonne aus der Wolke, und der Wind kam und trug das blaugraue Gewölk wieder ins Frankreich hinüber. Dort lag ein müdes Wetter und donnerte träg, ohne zu zünden. Flimmernd stand die Luft über den Matten, die Grillen strichen fiedelnd das Bein.
Da schaute die Gritt noch einmal scharf zu den Heuern hinunter, die ihr den Rücken kehrten. Dann schwenkte sie lachend den Rock und lief wieder heimzu, kletterte in den Garten, duckte sich, damit die Mutter sie nicht sah, fuhr mit allen Fingern in das Löwenmaul, die Pfingstrosen und die Lilien, zwirnte das spanische Gras zu einem Halt für ihren Strauß und stahl sich fort.
Den Weg zum Trübsee lief sie blind, hatte ihren eigenen Abstieg im Kiefernbusch, und stand am roten Wasser, ehe die Wolke im Welschland untergetaucht war.
»Daß die Mutter gesundet, heilige Mutter Gottes, und wenn's noch langt, für mich einen Schatz!« keuchte sie, erschrak dann über sich selbst, legte ängstlich die Blumen vor die Füße der Himmelsfrau und fuhr fort: »Nein, nur daß die Mutter gesund wird! Heilige Jungfrau bitt für uns …«
Und betete den englischen Gruß.
Als sie die Kaisermatt hinaufstieg, lag der See wie eine rote Wolke in der Senke, und eine andere zog rot über den Berg, rasch dahingetrieben von den köstlichen Winden. Die Sonne knisterte im Heugras, und die Schrecklein sprangen.
»Ist das die Gritt! Himmel auch, ist die Mutter –?« Der Himmelspacher brach ab und schirmte die Augen mit der Hand, um ungeblendet zu dem Frauenzimmer hinaufzuspähn, das dort oben auf der Matte flink und geschickt den Rechen zog und die ersten Schochen häufte.
Nun blickten auch die andern auf, nur der Hans fraß sich weiter unten tief und tiefer in das rauschende Gras. Breit strich seine schmale graue Sense die Schwaden, daß hinter ihm eine gelbglänzende nackte Fläche blieb.
Die Leuni aber stichelte:
»Das ist ein Spott: Die Mutter meint, es geh nicht ohne die Gritt. Oder sie liegt tot und die Gritt nimmt's für Schlaf.«
Still legte der Himmelspacher die Sense aus der Hand und stieg die Matte hinauf.
Die Gritt sah ihn kommen, lachte unter dem roten Kopftuch, das ihr tief in die Augen hing, und tat, als sähe sie ihn nicht. Der Wind blies ihr den Rock an den Leib, auf den nackten Armen spielten die weichen Muskeln unter der Haut.
»Gritt, was schaffst du da!« redete der Bruder sie an.
»Ei, was ihr,« antwortete sie harmlos.
»Mach nicht den Narren mit mir! Bist du der Mutter aus der Pflege gelaufen?«
Er fragte mit unbewegtem Gesicht.
Von den Heuern herauf klang ein voller Ruf. Er wandte sich und sah die Leuni winken. Schick sie heim, bedeutete der Gruß.
Da hob auch der Hans die Augen und ballte das Grasbüschel, mit dem er die Sense gewischt hatte, zu einem Klumpen.
Die Gritt aber lachte. Sie sah den Bruder mit finsterm Gesicht und einem gequälten Blick in den tiefen Augen dicht vor sich stehen und unten alles harren und wundern. Die Leuni winkte und schrie, daß ihr das Kopftuch fiel, und der Hans stand und starrte über die Sense wie über ein Schwert zu ihr herauf.
Da wurde sie plötzlich ängstlich:
»Ich hab's ihr gleich gesagt, du fluchst mich heim!« sagte sie kleinlaut und schielte ihn mit einem unsichern Lächeln an.
»So hat sie dich geschickt?«
Und als sie nickte, wußte er nicht recht, was er tun sollte. Unschlüssig bückte er sich und rieb das Heugras zwischen den Fingern. Es dörrte brav und lag ihm warm und mürb in der Hand. Es war das erste Mal, daß die Gabel der Himmelspacherin nicht hineinstach und es auf den Wagen reckte.
Doch noch einmal schrie die Leuni, und diesmal klang es deutlich herauf, denn sie kam selbst ihrer Stimme nachgelaufen:
»Was versäumst du dich mit dem glucksigen Huhn, Franz! Schick es heim und zünd ihm mit der Hand ins Gesicht, wenn's nicht springt!«
»Der Franz soll mich schlagen? Wer regiert hier? Die welsche Leuni oder die Mutter? Ich bin die Tochter und steh in eigenen Schuhen!«
Mit wildem Schwung hatte die Gritt den Rechen ins Heugras geschleudert, und das Kopftuch abreißend stand sie blaß vor Zorn, mit zuckenden Lippen vor der Frau, die jetzt eine gellende Lache aufschlug.
» Was bist du? Die Tochter! Ei ja denn, eins, das den Schnabel noch voll Gekröpftes schluckt! Ich hab das Recht zu Allen Winden – und du, du bist mir feil!«
Ihre Stimmen hallten. Auge in Auge standen sie auf der dörrenden Weide, vom Wind umflogen, von leidenschaftlichem Haß geschüttelt, die Finger gekrümmt – die Leuni mit braunen Backen und schwarzen Augen, die volle Brust im losen Hemd vom keuchenden Atem schlagend – blaß, das rotblonde Haar tief in die Stirn hangend, den schlanken Leib wie zum Sprung eingezogen, die Gritt!
»Feil!« schrie die Gritt – – –
»Ja, feil! Ich geh dir voran, ich bin die Frau! Und du, du wäschst mir die Hemden!«
Ein greller Pfiff fuhr über die Bergweide, und als hätte dieses Zeichen des Knechtes, der den Pfiff aus den Fingern den Berg hinaufgejagt hatte, den Himmelspacher aus seiner Starrheit geweckt, schlug dieser plötzlich die runden Arme nieder, die sich schon mit gierigen Fingern nach den weißen Kehlen streckten, und schrie:
»Auseinand, Weibsvolk, oder ich tu, was mich reut!«
Und noch nie hatte die Stimme des Franz so rauh und drohend gehallt. Wie ein Brüllen stieg sie aus seiner Brust und zerriß den schrillen Weiberzank, und hier- und dorthin geschleudert von seinen hageren, aderstrotzenden Armen, taumelten sie auseinander. Die Gritt strauchelte und brach in die Kniee. Das funkelnde Haar rollte ihr breit und schwer auf die Brust. Die Leuni hielt sich noch aufrecht, aber die Hemdschnur zerriß und zog eine rote Spur über die nackt herausspringende volle Brust.
Und die Augen des Franz irrten von diesem roten Mal, das wie ein Geißelhieb die weiße Brust verbrannte, zur Gritt, die mit aufgestützten Armen im Heugras hockte, den wilden Schrecken im vergilbten Gesicht.
Der Atem der drei Menschen war wie Feuer in der Sommersonne und keuchte laut. Um sie her stiegen und sanken die weißflügeligen Mücken im Hochzeitstanz, und von der Kaisermatt herauf klang der Wetzstein, mit dem der Knecht, der den Pfiff getan, jetzt ruhig für sich die Sense schärfte.
Ohne ein Wort mehr schritt der Himmelspacher wieder zurück ins stehende Gras.
Die Gritt raffte sich auf und wand die rote Mähne um die Hand, suchte die drei Nadeln im Heu und stieß die langen Zinken, eine nach der andern, durch die plumpe Krone. Dann nahm sie den Rechen auf und häufte den zweiten Schochen. Als sie damit fertig war, spießte sie den Rechen an, so daß die Zähne aufrecht standen, und kehrte langsam, ohne den Kopf zu wenden, zur Mutter zurück. Die Sonne warf ihr ihren Schatten lang vor die Füße.
Die Leuni hatte das Kopftuch um den Hals geschlungen und war noch einen Augenblick stehen geblieben. Doch als der Franz unten die Sense schärfte und die Gritt den Rechen faßte, eher zum Schlag bereit als zum Raffen, da wurde ihr Gesicht kalt und starr, und langsam stieg sie die Kaisermatt hinab zu den andern.
Am Abend trat der Himmelspacher ungerufen ans Bett der sterbenden Frau. Sie starb Zoll für Zoll, aber wenn auch das Wachs schmolz, auf dem letzten Faden Docht stand noch das klare Licht.
»Könnt Ihr es schaffen?« fragte sie, und dem Sohn fiel auf, daß ihre Stimme keinen Klang mehr hatte. Hohl kam sie aus der Brust und verlor sich im Mund.
»Ja, und die Gritt soll bei Euch bleiben, Mutter. Ihr sollt nicht allein liegen aufs End.«
»Das ist mein' Sach, Franz. Ich bin seit dem Sonntag versehen und weiß den Weg.«
»Die Gritt gehört zu Euch und soll uns rufen, wenn Ihr uns braucht.«
»Ihr braucht jeden Arm. Das Wetter fällt mit dem Mond. Ich liege gut.«
»So hat die Mutter bis aufs Letzt ihren Kopf!« versetzte er unwirsch.
»Ja, Franz, bis aufs Letzt – nachher setz du ihn auf! Ich laß ihn dir gern, und er käm dir wohl.«
Rede und Gegenrede schlugen hart aneinander. Der Mann kraute den Bart und stieß die Worte stark hervor. Die Mutter lag unbeweglich. Ihr Gesicht war klein und spitz, die Stimme klang dumpf aus der Ferne, aber die Augen brannten hell.
Und sie lag so drei Tage und drei Nächte und scheuchte die Gritt tagsüber zu den Heuern. Am vierten Tage schlummerte sie bis um die Mittagsstunde. Sie mähten jetzt den Rennstieg hinunter, auf den das Fenster der Krankenstube hinausging. Hell und scharf tönte das Schärfen der Sensen zu ihr herein. Die Sonne stach gelb, ein heißer Wind sprang ziellos ums Haus, und die Rheinebene war im Dunst ertrunken.
Zum ersten Mal erschrak die Gritt bei dem Anblick der Mutter, die unruhig mit den Händen über die Decke fuhr im dämmernden Schlaf. Aber als sie erwacht war, lag sie wie immer. Die Tochter half ihr sich kehren. Nun hatte sie die Aussicht frei. Ihre Augensterne zogen sich zusammen, und fest blickte sie in den heißen Tag. Wieder hing eine Wolke über dem Hohneck, aber diesmal quoll sie mit schweflichten Rändern hinter der mächtigen Kuppe hervor und streckte sich regenschwer im Niedergehen.
Ein heißer Luftwirbel sprang am Fenster vorbei. Er hatte dem Hans eine Handvoll Heugras aus der Gabel gerissen und warf sie umher.
»Machet voran, daß wir alles heimbringen,« schallte die Stimme der Leuni, und die Himmelspacherin hörte sie gern.
Sie schloß die Augen. Mühsam holte sie Atem. Das Herz quoll ihr in der Brust wie die Wolke dort, die jetzt die Sonne löschte und den Himmel überzog. Schon wälzte sie sich über den Herrenwald. In der Ebene stand noch eine Stadt hell in der Sonne, alles andere wogte unruhig in gewitterndem Licht.
»Mutter,« murmelte die Gritt und wußte auf einmal, daß die Mutter seit drei Tagen schwacher und stiller geworden war, und ergriff die gelbe Hand mit den zerstoßenen Nägeln und fuhr so hastig fort, als hätte sie keine Zeit mehr, damit zu Ende zu kommen:
»Ihr seid so still! Ihr habt noch kein einziges Mal aufbegehrt. Ihr macht mir Angst, Mutter.«
Da hoben sich die bläulichen Lider wieder, und die klanglose Stimme stieg aus der erkaltenden Brust.
»Angst? Die Sterbestunde leidet keine Angst.«
Ein dumpfes Trommeln in der Ferne – und ein gewaltiger Windstoß fuhr plötzlich einher und wirbelte das Heu in einen Trichter zu dem Wolkenwurm hinauf, der schwerfällig über den Wald gekrochen kam.
»Heilige Mutter Gottes, ist's an dem, Mutter!« schrie die Gritt.
Draußen war es wieder still geworden. Die Sonne stach sogar wieder durch den Dunst. Die Wolke stand unbeweglich über dem Wald.
»Lüpf mich,« befahl die Himmelspacherin.
Und als die Gritt mit verschlungenen Händen und entgeistertem Gesteht, Schmerz und Grauen in den Augen, stehen blieb, ohne zuzufassen, wiederholte sie herrisch:
»Lüpf mich, dumme Krott!«
Da wurde die Tochter mit einem Schlag von ihrer Angst verlassen.
»Ei ja, Mutter,« antwortete sie und trat hinter das Bett und hob sie samt den Kissen.
Die Himmelspacherin spähte ins Freie. Sie sah ihr Volk nicht, hörte keinen Ton, es war eine große, drückende Stille, und als der pfeifende Schrei eines Würgers vom Himmel herabfiel, wurde die Stille nur noch größer und drückender. Der Wind hielt den Atem an und schwieg.
Da stieß die Frau mühsam die Worte hervor:
»Geh und hilf, heut trifft's ein!«
Die Gritt bettete sie wieder gerade.
»Ich bleib bei Euch, Mutter, sie schaffen's ohne mich,« entgegnete sie ruhig.
Eine Weile schwieg die Himmelspacherin, als hätte sie nichts gehört, dann sagte sie noch leiser:
»Geh, ich lieg gern allein.«
Tief bückte sich die Gritt und fing endlich den starren Blick der müden Augen, die an ihr vorbei ins Leere zielten.
»Nein, Mutter. Ich gehör an Euer Bett. Ihr gefallt mir nicht.«
Ein Schlucken hob die Brust der Frau, aber in ihren Augen erschien ein fester Wille, und sie antwortete:
»Ich hab keine Hand mehr, aber du gehst auch so!«
Die Tochter war blaß geworden.
»Ihr treibt mich nicht von Eurem letzten Bett – ich bleib.«
Sie zog den Schemel näher und hockte sich nieder, daß ihr Kopf unter der Hand der Sterbenden lag.
Draußen erhob sich ein Keuchen und Schnauben, hüst und hott, – vom Gaul gezogen, von den Männern geschoben, die Fäuste und Schulter ins Rad stemmen, die Frauen nebenher die schwankende Last mit den Gabeln stützend, kroch die Heufuhre den Berg herauf, füllte einen Augenblick Fenster und Kammer mit ihrem Schattenwurf und verschwand.
Die Hand der Himmelspacherin war schwer auf den Kopf ihrer Tochter gefallen, schwer vom Tod, der ihre Glieder löste, aber die Gritt fühlte, daß es kein strafender Schlag war, denn die Hand wog ihr leicht und blieb still liegen auf ihrem funkelnden Haar.
Noch einmal schluckte die Frau.
Die Gritt wußte nicht, was das bedeuten will, sie hatte noch keins heimgehen sehen.
Es war noch Tag, aber dieser Tag betrog die Nacht um ihre Finsternis. Der Wind war wieder zu Atem gekommen. Der Himmel wälzte sich in schweren, schwarzen Wolken über den Berg.
Der Wagen kehrte leer zurück.
Und der Hans trat ans Fenster und sprach:
»Wenn es uns noch zwei Stunden wohlwill, Himmelspacherin, so habt Ihr trocken geheuet!«
Er wartete nicht auf die Antwort.
Da rief die Frau mit tonloser Stimme:
»Eher wart ich als das Wetter. Geh, Gritt, mir zulieb, hast ihn mir heut zum ersten Mal gezeigt, deinen Kopf, aber geh, faß an, es geht um dein Erb, geh und halt dich zum Hans!«
Und es durchfuhr die Gritt bei den seltsamen Worten, daß sie aufstand und unwillkürlich das Kopftuch ergriff, das über dem Bettpfosten hing. Das Gesicht der Mutter war klarer und voller als den ganzen Tag. Ihre Lippen bewegten sich noch in stummen Worten.
Ein grollender Donner verlor sich in den Tälern. Jeden Augenblick konnte der Regen herabsteigen, eine Sintflut hing über dem Gebirg.
»Gut,« sagte die Gritt entschlossen, und ihr Gesicht war hart gespannt wie vor drei Tagen im Streit mit der Leuni, »so steck ich Euch ein Zeichen, Mutter. Wenn Ihr uns braucht, so zerrt, daß das Tuch fällt. Ich seh's vom letzten Schochen her!«
Rasch spannte sie das Baumwollgarn, an dem sie gestrickt hatte, quer an das offene Fenster und hing ein weißes Tuch daran, band einen Zipfel des Tuches an das Garn und gab der Mutter den Knäuel in die Hand.
Dann sprang ihr wieder der Schelm in den Nacken und sie vergaß, daß es um Leben und Sterben ging, und sagte lachend:
»Das ist, wie wenn eins dem Schatz das Fensterzeichen gibt!«
Das alte überlegene Lächeln zuckte in merkwürdig starren, gebrochenen Linien um den Mund der Himmelspacherin:
»Mach nur, daß dir keiner zu früh einsteigt,« erwiderte sie trocken.
Noch einmal half ihr die Tochter einen mundvoll Schlehensaft schlucken, dann lief die Gritt in den Heuet, und die Frau lag allein.
Aber sie wußte nicht mehr, daß sie allein lag. Sie dämmerte selig der Ruh entgegen. Vor dem Fenster schaukelte das Tuch und stach blendend weiß aus der Finsternis. Die Wolken hatten sich gesenkt und krochen bäuchlings, wie Würmer tastend, den Berg herab. Aus den Tälern quollen andere hervor, und so umzogen sie kröpfend und kolternd den Hof zu Allen Winden.
Stumm, mit verbissenen Zähnen, alle Adern geschwellt und rauchend von Schweiß, schafften die Himmelspacher und rissen das Heu zu Haufen, schwenkten es an den Gabeln auf den letzten Wagen und schossen dazwischen scharfe Blicke auf das Tuch im Fenster.
Jetzt zog das wilde Heer von allen Seiten heran, und der Blitz zerriß die Wolkentracht über dem Hohnack. Blau funkelte sein struppiges Haupt, die Tannenwälder wogten wie Gras im Wind, und ein schmetternder Schlag zerbrach die Stille. Vom Trübsee schwoll das Winseln des Hagelsturms, der gelb durch das Dunkel schritt. Das letzte Bündel Heu flog auf den Wagen.
Als der Blitz aufflammte, kehrte die Himmelspacherin noch einmal zum Tage und zur Wirklichkeit zurück. Das Gehör kündete ihr den Donnerschlag nicht mehr. Einen Augenblick hob sie atembeklemmende schwindelnde Todesangst samt dem Bett, daß sie hoch über dem Berg zu schweben schien, bis sie zu fallen begann, rasch und rascher, tiefer, immer tiefer und noch einmal die Augen aufschlug und mit dem letzten Willen die Hand bog, um ihrem Volk das Zeichen zu geben, daß es Zeit sei, ihr beizustehen in der letzten Not.
Aber als sie aufschaute, stand die Tür offen, und der Matthis trat herein, groß und stark, wie er unter der Tanne zu Fall gekommen war, und war im Sonntagsgewand, in dem sie ihn eingesargt hatten. Sie verwunderte sich nicht darob, daß er wieder lebendig vor ihr stand und zu ihr trat, und grüßte ihn mit den Augen. Der Wollknäuel rollte ihr aus der Hand. Und der alte Himmelspacher legte die braunen hörnenen Hände auf die Bettpfosten und hielt das Bett, daß es das jüngste Gericht nicht aus dem Stand gerückt hätte. Da wurde der Kathrin leicht und wohl, und die Seele fuhr ihr in einem Seufzer aus dem Mund, während draußen mit Keuchen und Schnauben, Hüst und Hott der letzte Wagen hart vor dem dreschenden Hagel die Scheuer gewann.
Mit den Schloßen kam der Sturm über die abgegrasten Matten gefahren und riß das Tuch vom Fenster.
»Die Mutter ruft,« schrie die Gritt und stürzte durch die offenen Türen ins Haus.
Doch als sie zu der Mutter traten, lag sie still, mit einem herzlich zufriedenen Gesicht in der Ruh, und als ihr der Franz die Augen drückte, flogen verwehte Heublumen zum Fenster herein im Blaswind und kränzten die Frau Zu Allen Winden.
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