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Von Dr. Paul Ssymank
Hermann Conradi wurde am 12. Juli 1862 abends 10 Uhr zu Jeßnitz in Anhalt geboren und am 12. August nachmittags 3 Uhr getauft, wobei er die Vornamen Heinrich Gottlieb Hermann erhielt. Er war das älteste Kind der Familie, die sich späterhin noch um eine Tochter Charlotte Henriette und einen zweiten Sohn Wilhelm vermehrte. Der Vater, Carl Wilhelm Conradi, stammte aus Barby, wo sein Vater Konrektor der Stadtschule gewesen, und war Ende der fünfziger Jahre von Calbe a. S. eingewandert; er hatte dann in Jeßnitz das Bürgerrecht erworben und sich dort als Zigarrenfabrikant und Inhaber eines Kolonialwarengeschäfts niedergelassen. In Wilhelmine Burchardt, der Tochter des Jeßnitzer Torschreibers, hatte er eine treue Gefährtin für das Leben gefunden. Der alte Conradi war klein und gedrungen von Person, aber in dem großen Kopfe, der auf einem kurzen Halse saß, wohnte ein das Mittelmaß überragender Verstand und ein harter, auch im Unglück nicht gebeugter Wille. Er erschien geistig regsam und überaus beweglich, aber unstet und voll hochfliegender Pläne, die oft im schroffen Gegensatze zu seinen Mitteln standen, auch zeigte er sich nicht fähig, mit dem, was er besaß, wirklich hauszuhalten. Trotz seiner starken egoistischen Neigung, die sich auch darin kundtat, daß er sich die Lebensgenüsse, solange er konnte, nicht entgehen ließ, war er keine Kaufmannsnatur, wenngleich er es recht gut verstand, mit der Kundschaft umzugehen. In seinen früheren Jahren hatte er mancherlei geschrieben, hier und da auch Gedichte anonym oder pseudonym veröffentlicht, später wandte er sich mehr dem öffentlichen Leben zu, half nach Angabe Hermann Conradis das Schulwesen in Jeßnitz reformieren und gründete die dortige Feuerwehr. Er liebte es, über politische und soziale Fragen und Mißstände zu reden und gefiel sich in der Rolle des ewigen Nörglers und Besserwissers. Das Gefühl seiner Ohnmacht stimmte ihn nur immer radikaler und er schuf sich bei seinen kleinstädtisch und oft spießerhaft denkenden Mitbürgern viele Feinde. Er war ein wütender Antisemit, was ihn jedoch nicht hinderte, später im Dienste einer jüdischen Firma tätig zu sein. In der Familie spielte er die Rolle eines Haustyrannen, der von allen Angehörigen einen fast blinden Gehorsam forderte und dadurch ein harmonisch ausgeglichenes Zusammenleben nicht aufkommen ließ, andererseits sorgte er allerdings auch aufopferungsvoll für die Seinen, solange er es vermochte. Trotz all seiner polternden Heftigkeit und Derbheit aber steckte in ihm ein guter Kern, ein weiches Herz, das sich am reinsten bei seiner Liebesheirat zeigte, ja, die Verzerrung seiner guten Eigenschaften, der Wahrheitsliebe, Aufrichtigkeit und Freigebigkeit läßt sich wohl zum Teil auf die traurigen Erfahrungen zurückführen, die er im Leben machte. Er war ein Mensch, welcher in der Welt den seinen Anlagen entsprechenden Platz nicht hatte finden können, und in immer steigender Verbitterung haderte er, zumal ihm alles fehlschlug und er nach dem Zusammenbruche seines Geschäftes 1870 im Dienste fremder Firmen als Reisender sein Brot verdienen mußte, dauernd mit seinem Schicksal und fand sich im Leben immer weniger zurecht. Als Quellen für die Jugendzeit dienen Briefe und die Erinnerungen noch Lebender, ferner die »Freiwilligen Geständnisse eines Unfreiwilligen« (in Form eines Briefs an Kirchbach 1883), die Vita Conradis (eingereicht vor dem Abiturientenexamen 1884), sowie der Eintrag ins Kirchenbuch, Zensurenlisten und andre Schulakten. Eine hübsche Sammlung von Erinnerungen der ersten Jugendfreunde an Conradi (in Jeßnitz und Dessau) hat Herr Carl Richter in Cöthen angelegt. In sehr getreuer Weise schildert H. Conradi seine Jugend in den »Phrasen«, wo er sich selbst unter dem Namen Heinrich Spalding einführt.
Ueberwog bei dem Vater Conradis durchaus der Verstand und der Wille, so trat bei seiner Mutter das Gefühl hervor. Sie erschien als die fürsorglichste Frau, die sich denken läßt, voll zarter, tiefer, weicher Empfindung, voll überquellender Liebe, – ein still für sich hin schaffendes und bescheiden zurücktretendes Weib, welches das langjährige Frauenleiden und das an Schroffheit reiche Verhalten ihres oft sehr derben Gatten geduldig und ohne Klagen ertrug. Sie war einst eine Schönheit gewesen, ein »köstliches und in reiner Apfelblütenschönheit erstrahlendes Mägdlein«, wie Hermann Conradi in den »Phrasen« sagt. Sie ermüdete selbst in den trübsten Tagen der Not nicht in ihrer Fürsorge, und all ihr Denken und Arbeiten galt ihren Kindern, insbesondere ihrem Hermann, der denn auch bis an sein Lebensende gerade an ihr mit abgöttischer Liebe und Verehrung hing.
Der junge Hermann verlebte seine ersten Jugendjahre in seiner Vaterstadt. Diese vergrößerte sich nur sehr langsam; ihre Einwohnerzahl, die 1861 nur 3138 betragen hatte, stieg bis 1871 auf 3616 (1905: 4790). Das reizlose Städtchen an der Mulde mit seinen einförmigen Straßen bot nicht viel Anregung, aber die Enge der Verhältnisse störte den Knaben zunächst nicht. Er besuchte von Ostern 1869-1872 die Volksschule und dann bis Ostern 1876 die sogenannte Oberschule, wo man die Anfangsgründe von Englisch und Französisch lehrte und eine Art Mittelschulprogramm verfolgte.
Der junge Hermann ähnelte in seinem damaligen Wesen gänzlich seiner Mutter. Er war von außerordentlich zartem Körperbau und litt von früh auf an heftigem Asthma, das ihn besonders zur Winterszeit oft tage- ja wochenlang vom Besuche der Schule fernhielt. Von Gestalt war er klein, und an seinem nicht schönen Gesicht fielen die zartweiße Farbe, die rosigen Wangen, die blauen Augen und das rotblonde, langgescheitelte Haar auf. Seinen Leistungen und seinem Betragen nach erschien er durchaus nur als Mittelschüler, und weder in den Aufsätzen noch in den Antworten überragte er den Durchschnitt, insbesondere übertrafen ihn seine in der gleichen Klasse befindlichen Mitschülerinnen bei weitem. Engere Beziehungen zur Hauptmasse seiner Schulgenossen hatte er nicht; seine Gespielen waren der derbe Handwerkersohn Hermann Torger und sein bester Freund, der gleichaltrige Arthur Schuster, und nur zu einer sehr begabten Klassengenossin blickte er mit der schüchternen, im Ausdruck ungeschickten Verehrung des kindlich Liebenden empor. An den jugendlichen Spielen und Tollheiten der Kameraden konnte er seiner Kränklichkeit und Schwäche wegen nicht teilnehmen und ward daher von ihnen als »Kohlrabi« oder »Kohlrübchen« verspottet und oftmals wegen seiner Zurückhaltung gehänselt, was ihn in maßlose und sinnlose Wut versetzte und zu leidenschaftlichen Angriffen trieb, die jedoch mühelos abgewehrt wurden. Dieser Mißerfolg den Altersgenossen gegenüber und sein allem Rohen und Brutalen abgeneigtes sinniges Wesen veranlaßte den jungen Hermann, sich so viel wie möglich zurückzuziehen und in der Einsamkeit, besonders auch in den langen Tagen der Krankheit ganz eigenen Neigungen zu leben. Ein Leseeifer kam über ihn, und hauptsächlich zog ihn alles Fernliegende an. Ganz besonders fesselten ihn Sprachstudien. So versuchte er schon in seinem elften Jahre, sich mit allen möglichen Mitteln, zumal durch das Lesen von Pierers Konversationslexikon, Kenntnisse in Altarabisch, Neuarabisch, Hebräisch, Aegyptisch und Sanskrit zu erwerben. Dann warf er sich auf die griechische und die lateinische Sprache und bemühte sich vergebens, die alten Klassiker zu entziffern, die er von seinem Großvater väterlicherseits geerbt hatte. Hierauf sprang er zu den slawischen Sprachen über, drang etwas ins Russische ein und versuchte sich zuletzt im Studium der Hieroglyphen, Keilschriften und Runen. Daneben zeigte sich ein späterhin noch verstärkter Sammeleifer, so daß der Knabe bei diesem etwas wüsten Durcheinander in die Gefahr geriet, seine Kräfte völlig zu zersplittern. Eine reizvolle Erinnerung aus seiner Kindheit bietet Conradi in folgender Briefstelle: »›Dies ist der Tag, den Gott gemacht, sein werd' in aller Welt gedacht, ihn preise, was durch Jesum Christ im Himmel und auf Erden ist‹ … Wo bin ich? Wohin trugst du mich, Phantaseia? Deine Hengste sind etwas kühn, wild, ungezügelt, aber ich reite um so lieber auf ihnen! … Ich sehe mich um: da steht ein Knabe, die Hände gefaltet, das eine Auge mit aller Gewalt an die Erde gebannt, das andre halb hingewandt zum lichtumlohten Christbaum! Er murmelt ein Lied, das klingt so ähnlich wie ›Das ist der Tag, den Gott gemacht …‹ und sein Herz pocht unter dem Schlafrock, als wollte es hineinspringen in wilder Glut in den flammenden Tannenbaum – – Das Lied ist aus, er stürzt vor, zu Vater und Mutter, in Leidenschaft – und dann? und dann? Mit zitternder Hand faßt er die seltsamen Gestalten, die da alle liegen in grellem Schein, umnickt von den Tannenzweigen, wehgetan zuweilen von einem glühenden Tropfen Wachs, der wie ein gefallener Engel aus dem Baum des Lebens niederstürzt und auf Eisboden fällt, wo er erstarrt … Zuweilen fällt er auch auf das Herz eines Bleisoldaten, und dann geht ein geisterhaftes Raunen durch die Glieder – ein böses Omen, ein Beckenschlag im Hain von Dodona, das Tod ihnen anzeigt und blutige Niederlage … Denn wenn die Lichter da oben verflammt sind, ausgepustet mit einem langen Blasrohr von einem kleinen, dicken Mann, dessen Gesicht strahlt von reiner Seelenfreude – dann müssen sie in die Schlacht, dann nimmt sich ihrer an die schlachtenkundige Hand des Imperatur maximus, dann werden die Franzosen geschlagen, die Deutschen aber siegen, immer! … Und dann, wenn der Gänsebraten verspeist war, dann nahm der pp. Knabe seine Soldatenschachteln unter den Arm und ging auf die Straße, nach rechts oder links, zu Schuster oder Torger … »Ist Arthur zu Hause?« … »Erbsen, Erbsen, für ein Gericht Erbsen die Erstgeburt!« Knatternde Töne, ein allgemeines Sich-schlank-auf-den-Boden-hin-legen …! Die ungarischen Husaren, die grünen Jäger, die Spanier, Franzosen, die Turkos, Zuaven … eine bunte Märchenwelt …« (An Schuster. 21. Dezember 1881.) Zum Glück fand er in seinem zweiten Lehrer, Dr. Pietschker, den der damalige preußische Kronprinz bald zum Zivilerzieher des Prinzen Heinrich ernannte, eine Persönlichkeit, welche in diese wahllos zusammengerafften Kenntnisse eine gewisse Einheit brachte und ihm, wenn auch nicht dauernd, so doch für die nächsten Jahre eine bestimmte Richtung gab. Dr. Pietschker führte ihn nicht bloß durch Privatstunden tiefer in die Kenntnis der lateinischen Sprache ein, sondern eröffnete ihm auch schon ein gewisses Verständnis für Kunst und Kunstgeschichte und erweckte in ihm eine immer größere Sehnsucht nach den »Gärten der Wissenschaft«. An seinem Munde hing der Knabe mit schwärmerisch leuchtenden und feuchten Augen, und besonders in den Geschichts- und Literaturstunden der obersten Klasse konnte man sich kaum einen aufmerksameren Schüler denken. Durch die Bezugnahme auf seine Kriegserlebnisse 1870 bis 71 und durch gelegentliche Abschweifungen im englischen Unterricht wirkte Dr. Pietschker tief ein; das im Unterricht Gehörte und Gelernte wurde von dem jungen Hermann noch lange innerlich verarbeitet, wie sich sein Lehrer gelegentlich bei Spaziergängen überzeugte, und einst erbat sich der Knabe von ihm ein im Unterricht vorgelesenes Gedicht über Shelleys Begräbnis (von Meißner) zur Abschrift.
Schon in frühester Jugend fühlte sich Hermann Conradi am wohlsten draußen in der freien Natur, die er oftmals ganz allein durchstreifte. Sein asthmatisches Leiden machte ihm den Winter verhaßt, den er nie recht vertragen konnte; leidenschaftlich dagegen liebte er die Zeit, »wo der ziehende Frühling dem nahenden Sommer die letzten Grüße zuwinkt. Ein Junigewitter erschütterte ihn und strömte ein ganzes Meer schwellender Zukunftskeime in seine Seele« (»Phrasen«). Dieses Schwelgen in den Schönheiten der Natur, das er nur zu oft mit danach folgender Krankheit bezahlen mußte, sein körperliches Leiden und der Gegensatz zu dem ihn umgebenden Leben, das ihn wegen seiner Härte und Roheit schon früh abstieß, ließ ihn zu keiner kindlich ungetrübten inneren Harmonie kommen, und bald lagerte auf ihm eine gewisse Gemütsschwere, die ihm keine heitere Auffassung der Dinge mehr gestattete.
Bis zu seinem vierzehnten Jahre war der junge Hermann sehr fromm und gottgläubig und ein unterlassenes Nachtgebet verursachte ihm am nächsten Tage Trauer und Mutlosigkeit. Genährt wurde seine religiöse Stimmung durch die Lektüre der Bibel, und besonders reizten ihn Jesajas, das Buch Hiob und der Korintherbrief. Am schönsten zeigt sich die in ihm lebendige Mischung von religiöser und poetischer Stimmung in der Art, wie er als Knabe das kommende Weihnachtsfest begrüßte und innerlich feierte: »Deutsche Weihnachtstage! Alles scheint im Bann einer geheimnisvollen Spannung zu liegen. Wie ein Flüstern und Wispern schaffender, waltender Segensgeister streicht es seit Wochen durch das Haus. Heinrich hat seine Bücher, seine orientalischen Alphabete, vergessen. – »Dies ist der Tag, den Gott gemacht« – »Stille Nacht, heilige Nacht«: die Lieder summen ihm den ganzen Tag durch den Kopf. Er vertieft sich in die Erzählung der Bibel von dem in der Krippe geborenen Jesuskindlein. Wenn er in dieser ahnungssatten Zeit abends im Bett liegt und die Augen geschlossen hat, ist's ihm manchmal, als zerteile die brütende, lagernde Finsternis plötzlich eine gewaltige Helle – diese Helle aber bricht in lohendem Flammenbrande von einem Stern herab, der in erhabener Einsamkeit aus dem schwarzblauen Himmelsgewölbe hinausgewachsen. Dieser Stern aber ist jenes Himmelsmirakel, das die Hirten auf dem Felde in Jesu Geburtsnacht geschaut. Und den Knaben umweht es wie der Atem des Ewigen, der seinen Sohn auf die Erde gesandt, die Menschen zu erlösen!« (»Phrasen«).
Die erste wichtige Wendung in Hermann Conradis Leben trat ein, als er hauptsächlich auf Dr. Pietschkers Veranlassung Ostern 1876 das Gymnasium zu Dessau bezog und dort in die Quarta aufgenommen wurde. Das ganze Jahr vorher war ihm unter Hoffnungen und Befürchtungen vergangen, und das asthmatische Leiden, das ihn gerade damals mit besonderer Heftigkeit monatelang befiel, ließ die treue und sorgsame Pflege durch seine Mutter unbedingt nötig erscheinen, so daß man an eine Trennung vom Elternhause lange nicht zu denken vermochte. Endlich hatte er sich so weit erholt, daß ihn seine Eltern nach Dessau in Pension geben konnten, wo er bei einer Verwandten, der Witwe Neuber, zusammen mit seinem älteren Vetter Willy Mertens lebte. Endlich entschloß sich sein Vater, selber mit seiner Familie nach Dessau überzusiedeln, einesteils um besseren Verdienst zu finden, andernteils um seinem Hermann, der sich an die Pensionsverhältnisse gar nicht gewöhnen konnte, wieder die Wohltat des Elternhauses angedeihen zu lassen. Conradis wohnten zunächst Kaiserstraße 9, dann Johannisstraße 5 und zwar in einer überaus kleinen Wohnung; die Erwerbsverhältnisse des Vaters besserten sich aber trotz aller Bemühungen nicht. Hermann Conradi war nach dem Zeugnis eines seiner Lehrer, des damaligen Hilfslehrers Dr. Wäschke, kein besonders hervorragender Schüler; vom zweiten Platz rückte er allmählich auf den achten, und über das gute Mittelmaß kam er bei allem Fleiße nicht hinaus, ja sogar im Aufsatz erhielt er in Tertia einst die Zensur »ungenügend«, was er dem ihn beurteilenden Lehrer Dr. Gensicke nie verzieh. Außerhalb der Schule belebte ihn der alte Sammeleifer, und während er früher leidenschaftlich Bleisoldaten zu erwerben gesucht, richtete er jetzt sein Augenmerk auf Briefmarken, Stempel und besonders auf Pflanzen und Mineralien, wodurch er seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse sehr förderte. Seine schöne Steinsammlung hatte er so aufgestellt, daß sie von den Strahlen der untergehenden Sonne getroffen werden konnte, und er freute sich dann, wenn sie beim Abendsonnenschein im Halbdunkel des Zimmers glänzte und glitzerte.
Sein Geist ging noch keine eigenen Bahnen, die Welt der Schule nahm ihn noch ganz in Anspruch und stillte seinen Durst nach positivem Wissen, aber einen Lehrer, der so tief auf ihn gewirkt hätte wie Dr. Pietschker, fand er in Dessau nicht. Dafür traf er seinen Jugendgespielen Arthur Schuster wieder, Daß Conradi schon zu damaliger Zeit fest überzeugt war, daß er einst ein berühmter Dichter werden würde, zeigt die Tatsache, daß die unzertrennlichen Freunde Hermann und Arthur oft die wichtige Frage besprachen, an welcher Stelle des Hauses wohl am besten mal eine »Gedenktafel« an Conradi angebracht werden könnte. Die Meinungen waren zu geteilt, ob mitten über dem Eingang oder unter den Fenstern der Conradischen Wohnung. Arthur Schuster, jetzt Verlagsbuchhändler in Stettin, muß noch heute, wenn er in Dessau weilt und an dem Hause vorübergeht, lächelnd an den unnützen Streit zurückdenken. den Sohn des früher in Jeßnitz ansässigen Apothekers, einen gleichgesinnten Freund, mit dem ihn eine jahrelange, innige und tiefe Jugendfreundschaft verband. Beide kränkliche Knaben, fühlten sie sich zur freien Natur leidenschaftlich hingezogen. Gemeinsam wanderten sie in der Abenddämmerung durch die Straßen Dessaus oder schon am Tage hinaus in die herrlichen Wälder der Umgebung, die Hermann Conradi so zu lieben begann, daß er Dessau als seine zweite Heimat bezeichnete und sich später oft nach dieser Stadt zurücksehnte. Stundenlang lagen die beiden Knaben unter den prachtvollen Waldbäumen und tauschten ihre Gedanken über des Lebens Rätsel aus. Durch solche Stunden inneren Glückes und stillen Friedens begünstigt, begann sich bei Hermann Conradi das dichterische Empfinden stärker zu regen, das sich zuerst in unbeholfenem Stammeln bei seiner kindlichen Liebschaft in Jeßnitz gezeigt hatte. Eine gewisse Neigung zur Dichtung schien überhaupt in der Familie erblich zu sein, nicht nur Conradis Vater, sondern auch seine Tante väterlicherseits sowie die Schwester der Mutter versuchten sich im Dichten, und besonders die beiden letzteren waren im engeren Kreise als lyrische Dichterinnen bekannt. Aber noch brachte es der Zwölfjährige, der die ersten Gedichte und Tragödien verbrach, zu nichts Bedeutsamem. Bei seinen Genossen ward er seines Versemachens wegen keineswegs höher geschätzt, und in dem literarischen Verein, den er schon als Quartaner mit sieben bis acht Gleichgesinnten zur Abhaltung kleiner Vorträge und zum Lesen von Klassikern gründete, erschien er durchaus nicht als Führender. Auch in das Wesen der Musik suchte er einzudringen, wiewohl er unmusikalisch war, aber er gab den Versuch bald auf, die Notenschrift erschien ihm zu »kompliziert«, und er wollte sie daher durch Zahlen ersetzt wissen. Dagegen hörte er dem Klavierspiel seines Freundes Schuster, namentlich wenn dieser in der Dämmerstunde sich in Fantasien auf dem Instrument erging, gern mit großem Behagen zu und bedauerte oftmals, daß ihm musikalische Begabung von der Natur versagt worden sei. Später spielte er etwas Geige »– doch nur mehr für träumerische Dämmerungsstimmungen und um die rasende Leidenschaft, die in ihm brannte und herumrumorte, abzudämpfen« (an Kirchbach. 19. August 1883), indessen muß er das sehr heimlich getan haben, da es sogar seinen besten Freunden unbekannt blieb.
Es trat bei Hermann Conradi kaum eine innere Wandlung ein, als er Ostern 1879 das Dessauer Gymnasium verließ und mit seinen Eltern nach Magdeburg übersiedelte. Dort hatte sein Vater in der Hoffnung auf besseren Erwerb eine anscheinend günstige Stellung angenommen, die aber später seinen Wünschen nicht entsprach, so daß er nach längerem Hinschleppen aus dem Geschäft wieder austrat, eine eigene Agentur begründete und die Vertretung mehrerer Branntweinfirmen und Mühlen übernahm. Aber die Erwartungen der Familie, die bis 1870 bessere Tage gesehen, erfüllten sich nicht, der Geschäftsgang besserte sich nicht, und die Notwendigkeit, aus Berufsrücksichten viel zu trinken, wirkte schädlich auf den alten Conradi und begann seine Gesundheit zu untergraben.
Indessen fühlte er sich nach seiner Uebersiedlung zunächst bedeutend wohler als in Dessau, wo er bei der »behandschuhten, hoftollen Gesellschaft« oftmals durch sein gerades Wesen angeeckt hatte. Der junge Hermann dagegen sehnte sich nach dem »geliebten« Dessau zurück, dessen reinere Luft ihm gut bekommen war, und wo »ihm soviel Liebes blieb, als er weg mußte«. Er entbehrte schmerzlich »seinen teuren Arthur und die mit ihm verwachsene Natur: das Saatengrün, das Wälderdunkel – die Waldeinsamkeit«. Er spottete über den »prachtvollen Kurort Magdeburg«, diesen »Mischmasch aus Kunst und Natur« und klagte seinem Freunde: »Nach einem halbstündigen Stadtumrennen und nachdem man vier mal zehn Schock Festungswälle passiert hat – kommt man in einen Raum, den die Magdeburger ›Wilhelmsgarten‹ nennen.« Am meisten rühmte er den »prachtvollen« Park von Herrenkrug, der leider nur zu weit entfernt sei. Er suchte für den Aufenthalt in dem an Naturreizen armen Magdeburg durch gelegentliche Ferienreisen nach Anhalt einige Entschädigung, aber er genoß doch auch in der Umgebung seines neuen Wohnorts alles, was die Natur nur irgend bot. So erzählte er, wie er mit einem neuen Freunde im September 1879 an einem schulfreien Tage von früh sieben bis abends sieben Uhr von Dorf zu Dorf gewandert sei, wie sie beide die Pfarrhäuser überfallen, überall freundliche Aufnahme gefunden, die alten Kirchen inspiziert, die Kirchtürme auf halsbrecherischen Treppen bestiegen hätten und dann »singend und improvisierend« durch Wald und Feld fröhlich gewandert wären (an Schuster, 14. Juli und 2. Sept. 1879).
In der Dessauer und der ersten Magdeburger Zeit erweiterte sich auch der geistige Horizont des jungen Hermann immer mehr, und neben der auf sprachliche und naturwissenschaftliche Studien hinzielenden Richtung trat die ausschließlich literarische immer deutlicher hervor. »Die ›Räuber‹ – so schreibt er später selbst an Wolfgang Kirchbach (19. August 1883) – hatten den dreizehnjährigen Quartaner, ich möchte sagen, aus den Fugen gesprengt. Da hatte sich mit einem Rieseniktus eine ganz neue Welt in mein kleines und enges Gesichtsfeld gesperrt. Ich war geblendet. Nach Schiller, den ich in einem halben Jahr – ich war gerade monatelang krank – von Anfang bis Ende, Uebersetzungen, historische, ja sogar philosophische Schriften eingeschlossen, durchgehastet, kam Goethes Werther! Das war die andere Seite der Münze. Ich habe Stunden des Genusses, der Begeisterung verlebt damals, wie nie wieder. Mein junges, frisches, jedem großen Eindruck entgegendürstendes Herz hat die »Wolkenbrüche der Leidenschaft«, wie Karl Bleibtreu in seinem »Traum« sagt, wollüstig in sich rasen lassen … Nach Goethe und Schiller kamen der Reihe nach die andern Großen aus der Schar unserer deutschen Elitegeister: vor allem Ludwig! Von ihm habe ich den kritischen Geist! … Nach Lessing: Herder, Wieland, zuweilen, aber selten Klopstock, dessen Oden ich stets nur wenig Geschmack habe abgewinnen können. Und dann die Romantiker, wo es mir Eichendorff in der Sentimentalitätsepoche angetan hatte. Dann Gutzkow … Neben Schiller las ich Byron und Viktor Hugo! Dessen »Lucrezia Borgia« habe ich als dreizehnjähriger Bursche gelesen – aber sieben Jahre lang Beschwerden gehabt, bis ich sie endlich verdaut! Shakespeare, Calderon, Dante, Tasso usw. kamen erst in den nächsten 2 Jahren! – Das war vielleicht, meinen Sie, eine etwas zu schwere Kost für einen jungen Magen, der noch dazu in einem gebrechlichen Leib stak. Nun – teilweise – ja! Aber ich habe bei dieser Pilgerfahrt, in einer Zeit, wo der Geist noch frisch und morgenjung, wo die Seele noch Humesche Tabula rasa par excellence ist, die Sehnen gestählt, habe früh mich an das spezifisch Dichterische gewöhnt und gehalten und habe somit für die kommenden Jahre, wo das Ein- und Aufnehmen immer mehr mit zersplittertem Bildungsstoff fertig werden muß, schon einen festumrahmten Schatz von Kenntnissen und Eindrücken eingeheimst und aufgespeichert, der ein gesundes Fundament und als solches Garantie für eine reiche Weiterentwicklung abgab. Das danke ich meiner dämonischen Sucht in den ersten Lustren meines Lebens, mir positive Kenntnisse anzueignen.« –
Noch war damals Hermann Conradi seinem innern Wesen nach durchaus Schüler, und mit Stolz unterzeichnete er seine Briefe mit »Untersekundaner am Pädagogium Unser lieben Frauen zu Magdeburg«, wo er Ostern 1879 Aufnahme gefunden hatte. Die Schule und alles, was mit ihr zusammenhing wie häusliche Arbeiten, Repetitionen, erfüllte ihn noch fast ganz; seine eigenen Privatstudien neben dem Unterricht, zu denen jetzt besonders Italienisch trat, hatten sich noch nicht zu einer der Schule feindlichen Welt ausgestaltet. In schülerhaftem Ton schilderte er seinem Freunde Arthur Schuster die damaligen Schulverhältnisse an dem von dem Propst und Direktor Dr. Bormann († 1882) geleiteten Pädagogium zum Kloster Unser lieben Frauen. »Wir haben jeden Morgen Andacht, und zwar in einem Saale, der genau wie eine Kirche aussieht. Oben gewölbt, mit vielen, langen Bänken, hohen, über Lebensgröße ausgeführten Steinfiguren, geschützten und gewölbten Bogenfenstern, kurz, der Saal ist einer Kirche ganz gleich. Da wird dann jeden Morgen gesungen, gepredigt und gebetet und zwar predigt am Montag irgendein Lehrer, am Dienstag, Mittwoch, Donnerstag der geistliche Inspektor, Vorsteher des Kandidatenkonvikts, Professor Gottschick, erst Mitte 30 alt, wohl der gelehrteste aller Lehrer, am Freitag und Sonnabend tut das Geschäft ein junger Theologe, Kopf. Ueber unsere anderen Lehrer will ich nur noch kurz einiges mitteilen. Klassenlehrer ist Hülße (Judas auch Jaude genannt), ein ganz gescheiter Kopf, doch nicht recht verdaulich für uns, im übrigen geht es mit ihm. Der Propst kommt sehr oft selbst in die Klasse, inspiziert, hört, spricht etc., so jeden Sonnabend, um das Klassenbuch zu revidieren, wo nämlich alle Arbeiten eingetragen werden, jeder Lehrer die von ihm gehaltene Stunde mit Namensunterschrift bekräftigt, alle ausfallenden Tage eingeschrieben werden, es führt ein Alumnus. So bin ich auf die Alumnen gekommen. Diese sind Klosterpensionäre, sollen es ziemlich streng haben; bei uns sind von einer Gesamtanzahl von 24 wohl 7 bis 9 solcher Schüler. Der beste unserer Lehrer aber ist ohne Zweifel G… (Kollege), bei dem es in den Stunden noch ärger zugeht als dort bei Mr. Berdez. Du kannst Dir das kaum denken. Zuerst will ich versichern, daß ich nichts übertreibe. Wenn der in die Klasse kommt, stimmen einige ein gedämpftes Lied an, andere pfeifen, andere haben ihm den Eingang versperrt, nämlich die Tafel und den Stuhl bis zur ersten Bank gerückt, so daß er entweder unter der Tafel wegschlüpfen oder den Stuhl und Tafel mit Mühe trennen muß; andere haben die Bilder (wir haben nämlich ganz schöne Gemälde) ganz woanders, an die Kleiderhaken etc. gehängt und an die Bildernägel die Röcke und Mützen; über dem Katheder hängt eine Karte, die sich sehr schwer herunterlassen läßt, die wird recht aufgezogen, mitten in der Stunde springen einige vor, setzen einige Stühle und Tische zusammen, klettern da hinauf; er mag schelten, wie er will, man hört ihn nicht, sondern ißt, singt, pfeift ganz fröhlich dabei. Nicht wahr, eine ganz noble Wirtschaft? Bei anderen Lehrern geht es allerdings wieder ganz anders zu, so bei unserem Geschichtslehrer, Dr. Hertel, noch ein ziemlich junger Mensch, bei dem schwebt in steter Gefahr, wer auch nur ein nicht nötiges Wort spricht. In der Mathematik haben wir einen ganz famosen Lehrer, Oberlehrer Dr. Gantzer. der uns ordentlich etwas beibringen kann; ich bin mit erneutem Eifer an dieses Studium gegangen; wir haben im ersten Halbjahr nur Geometrie, im Winter Arithmetik, doch damit wir den Sommer über die letztere nicht vergessen, so wird jeden Montag abwechselnd ein Geometrie- oder Arithmetik-Zertat geschrieben.« (an Schuster. 14. Juli 1879). In ähnlich schülerhaftem Ton klagte Conradi einst vor den Ferien: »Für die Ferien haben wir nicht gerade allzu viel auf, obwohl wir uns auch wieder nicht beklagen können, so einige Mathematik-Aufgaben, einen deutschen Aufsatz, den ersten, den ich hier mache, (einer ist seitdem erst gemacht worden) und zwar: »Ueber die Reihenfolge der Götter im Eleusischen Fest von Schiller«. Gewiß ein ganz heikles Thema und schwer, denn es muß bewiesen werden, daß die Reihenfolge der Götter so und nicht anders sein mußte, dann Virgil repetieren, Homer-Verse lernen, etc. etc.« (an Schuster. 14. Juli 1879).
Auch die kleinen Ereignisse des Schullebens erschienen ihm ungeheuer wichtig. So schrieb er bald nach seiner Ankunft in Magdeburg an Arthur Schuster: »Nun will ich Dir noch etwas mitteilen, was Dich interessieren wird. Ich war ungefähr 14 Tage in der Schule, als einmal eine dumme Geschichte mit einem Mitschüler von mir passierte. Derselbe hatte nämlich in einer engen Gasse abends geraucht, war von einem Lehrer erkannt worden, hatte geleugnet, nachher doch gestanden und war deshalb zu 6 Stunden Karzer verurteilt worden. Mitten bei diesen Unterhandlungen sagt einmal der Judas (Hülße) zu mir, ich sollte um 11 einmal warten. Wenn ich mir auch nichts bewußt war, was mit hac re zusammenhing, so war ich doch gespannt. Nachher fragte er mich, ob ich einem Sextaner lateinische Stunden geben wollte. Natürlich war ich bereit, viel zu arbeiten hatten wir nicht, mit dem Nachholen war's auch nicht so schlimm, also ich sagte zu, ich sollte mich deshalb bei einem Sextaner-Lehrer melden. Ich tat das und er sagte mir den Namen (Rentier Ploek) Kaiserstraße, reicher Rentier, ich ging also hin, wollte mich vorstellen. Der Rentier war aber nicht zu Hause, nachher erfuhr ich von dem betreffenden Lehrer, daß die Geschichte schon lange verhandelt wurde, mir es aber zu spät gesagt war, weil der es auch vergessen hatte, und deshalb schon einer aus dem Domgymnasium die Stunde gab, ich habe mich gerade nicht geärgert, doch wäre es mir ganz lieb gewesen, denn für die Stunde fordert man hier wenigstens 40, gewöhnlich 50 Pfg. Doch hat mir der Lehrer gesagt, es wären noch einige da, die Stunde haben müßten, er würde mir dann das zuerst mitteilen« (14. Juli 1879).
Und dieselbe kindliche Auffassung spricht auch aus der Schilderung, die Hermann Conradi von seinem ersten Magdeburger Schulausflug entwarf: »Am 24. Juni, am Johannistage, haben wir unsere Hauptpartie (es gibt nämlich noch zwei kleine Partien) gemacht und zwar nach dem Harz. Laß Dir das ausführlich erzählen. Am 24. früh ½6 versammelt sich das ganze Kloster (also auch ich) auf dem Zentralbahnhof. Wir hatten einen Extrazug. 8-9 Wagen trugen die fröhliche Schar, Lehrer und Schüler, sogar der greise Propst war dabei, nach dem fernen Harze. Um 6 ging die Fahrt los, um 9 ungefähr waren wir in Ballenstedt. Du kannst Dir denken, daß unterwegs die Fahrt sehr gemütlich war. Ohne Aufenthalt ging es von Ballenstedt dem Harze zu. Um 10 waren wir, die wir alle fürchterlich durstig waren, damals war ja ein glühender Sonnenbrand, am Sternenhaus, wo aber das Bier höchst bitter war, doch es wurde getrunken; um ½12 waren wir auf der Viktorshöhe, wo wieder gezecht wurde, da stiegen wir auf den großen Turm und hielten Umschau in ferne Lande. Von da ging es weiter. Es waren saftige Märsche und doch habe ich gehen können ohne Ermüdung, ich weiß selbst nicht, wie ich alles so ohne Folgen habe aushalten können, und ich habe nun um so mehr Zutrauen zu mir und meiner Kraft bekommen. Gegen 3 waren wir in Mägdesprung. Da wurde fein diniert, bieriert (Bier getrunken) usw., dann gingen wir hinauf nach dem Mägdesprung, setzten uns in einen Vorsprung, was, nebenbei gesagt, höchst gefährlich war, und schauten tief hinab ins Tal, wohin unsere Lieder erklangen. Um 4 ging es wieder weiter und zwar nach dem Meiseberg, dort kamen wir um 5 an, tranken Kaffee, besuchten das Herzoglich Anhaltische Jagdhaus, sahen uns dort die verschiedenen Gemälde an etc. Dieser Marsch war der beschwerlichste, weil es immer bergan ging. Von da gingen wir nach Ballenstedt zurück. Unterwegs traf uns ein furchtbarer Regen, der den ganzen Fußboden aufwühlte, uns fürchterlich durchnäßte, wir sahen wirklich höchst gut aus, als wir in Ballenstedt ankamen. Dort hatten sich auch die anderen Klassen wieder zusammengefunden; es hatten sich nämlich früh die verschiedenen Klassen geteilt, wir waren (Untersekunda ß) mit Untersekunda á und Obersekunda zusammen gegangen, unterwegs wurde viel gesungen, überhaupt kann man sagen, waren wir sehr ausgelassen. Aus Obersekunda hatten sich einige auch des Guten zuviel getan und waren total betrunken, so wurde einer den ganzen Meiseberg hinauf von 3 Sekundanern geschleppt, andere besprengten den Eisenbahnwaggon mit ihrem Inhalt aus dem Magen etc. Auch ich habe noch ein kleines Andenken, woran ich heute noch leide, bei meiner ersten Harzpartie mit nach Hause gebracht. Als wir nämlich abends zurückfuhren, steigen einige Schüler aus, ich mit einigen bleibe aber im Kupee, ich habe so zufällig meine rechte Hand an der Stelle, wo die Türangeln eindrücken, zwei Finger noch darin, als der hinter mir Stehende die Tür zuwerfen will, meine beiden Finger wurden natürlich sehr gequetscht, einer besonders, und ich habe so heftige Schmerzen nachher gehabt, daß mir der noch kurze Weg bis zu Magdeburg eigentlich etwas verleidet worden ist. Doch heute ist die Wunde ungefähr geheilt, und ich habe wenigstens keine Schmerzen mehr, obgleich es noch sehr gefährlich aussieht. Das war unsere Harzpartie. Der »Blütengang« Frühlingspartie war schon gemacht, als ich hinkam.«
In einem nur unterschied sich Conradi von seinen Durchschnittsklassengenossen; schon als Untersekundaner war er darauf bedacht oder arbeitete vielmehr daran, seinen Charakter auszubilden. »Ich muß mich«, schrieb er an Schuster, »langsam durch die Sturm- und Drangperiode durcharbeiten – auch das glühende Ueberkopfstürzen – das muß gedämpft werden: eine heiße, unerstickbare Glut wird immer in mir leben … Aber wohin muß sich diese Glut richten? Da beseele ich mich: Mit aller Rücksichtslosigkeit, ja, ich möchte sagen, mit einer Art Grausamkeit (das ist der heiße Dämon) trete ich überall »dem Falschen und Schemen, dem Lügenhaften« entgegen. Nicht zirkele ich meine Worte ab: wo mich einer zu hintergehen scheint – mag es sein, wer da will, dem sage ich ins Gesicht: »Du lügst«: Ich bin dann rücksichtslos. Schon manchen meiner Mitschüler habe ich damit in Verlegenheit gebracht und angetrieben, die Wahrheit zu sagen. Dann ist neben der »goldenen Rücksichtslosigkeit, die wie Gewitter erfrischend wirkt« (so singt Theodor Storm!) auch die Furchtlosigkeit an der Stelle. Vor wem soll ich mich fürchten? Vor keinem. Vor wem soll ich mich genieren? Vor keinem. Was gehen mich die Menschen an, was geht mich an, was die dummen Esels reden? »Nichts«, »Frank und frei«. Daneben suche ich auch wahrhaft edel zu sein; suche veredelnd auf alle zu wirken; das tut man aber, indem man ohne Rückhalt spricht und jeden an seine Pflichten schonungslos erinnert. Dann übe ich mich darin, keinem nachzusprechen, womit ich nicht einverstanden bin, und wenn 10 000 mal 1 000 000 gegen mich wären und ich weiß, daß ich recht habe, ich scheue mich nicht, meine Meinung zu sagen. Dann sei man in allen Dingen wahr, strebend, energisch, fleißig, habe einen ungetrübten Blick und sei zurückhaltend und stolz« (an Schuster. 24. März 1880).
Das erste Jahr seines Aufenthalts in Magdeburg nahte sich dem Ende und die Zeit, wo Hermann Conradi – mit 17½ Jahren – das Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis erhielt, rückte heran. Er mußte sich über seine Zukunft klar werden. Die Verhältnisse des Vaters, der sich gerade damals als Agent eine selbständige Stellung schuf, waren überaus unsicher, und der Gesundheitszustand des jungen Conradi ließ es sehr zweifelhaft erscheinen, ob er ein weiteres angestrengtes Arbeiten im Dienste der Wissenschaft überhaupt würde aushalten können. »Und nun das entsetzliche Arbeiten,« so klagte er seinem Freunde Schuster, »das haarsträubende: ich bin balde vergangen. Ich habe mich so anstrengen müssen – daß mir nachher mein Arzt es verbieten, streng verbieten mußte – länger als bis gegen 10 zu arbeiten; ich hatte entsetzlich an den Augen zu leiden und habe deshalb viel aussetzen und nachher nachholen müssen. –« (an Schuster. 23. März 1880).
Was sollte er da tun, – er, der nach einem reichen geistigen Leben dürstete? Und doch mußte er dem Drängen seiner Eltern zuletzt nachgeben, die ihm zu einer einigermaßen sicheren bürgerlichen Zukunft verhelfen wollten. Er wählte unter allen Berufen denjenigen, wo er am ehesten hoffte, seinen Neigungen leben zu können. »Wenn ich einst nicht studieren kann, habe ich mich fest entschlossen, Buchhändler zu werden,« schrieb er an Schuster, »natürlich wird bei mir der kaufmännische Punkt beim Buchhandel immer mehr zurückgeschoben werden, ich bin eben einst Buchhändler aus Liebe zur Literatur; ich will es auch einmal weit bringen, eine große Verlagsbuchhandlung einrichten, vielleicht ein Journal redigieren; eine kleine Buchhandlung mit 3½ Büchern und eine Leihbibliothek aus 4 6/7 Bänden können mir nicht genügen« (Dez. 1879).
Und so nahte der letzte Schultag, und mit blutendem Herzen sagte der junge Conradi der Schule Lebewohl. »Am Sonntag abend«, schrieb er am 23. März 1880 seinem Freunde Schuster, »haben wir höchst feierlich Geburtstag Königs Geburtstag. gefeiert in festlich erleuchteter Aula – welcher Feier ungefähr 400-500 fremde Menschen beiwohnten, wie ich Dir schon früher mitteilte, ist unsere hiesige Aula ein ungeheuer großer Saal, ganz nach Kirchenart; die Tribüne wurde von zwei Primanern, einem Abiturienten und einem Unterprimaner, bestiegen und von dieser glänzende Festreden gehalten. Dazwischen musikalische Aufführungen – Deklamationen, worunter von Obersekundaner Lent ein eigenes Gedicht: König Wilhelm am Grabe von Königin Louise: 1870. Es wurde sehr beifällig aufgenommen; nur die Versform gefiel mir nicht; dann Festrede vom Propst, Entlassung der schwarzbefrackten Abiturienten und den Schluß bildete das Melodrama: Kolumbus. Das war die erste und letzte Geburtstagsfeier, der ich als Schüler »des Klosters Unser Lieben Frauen« beiwohne. Addio, addio, mein sonnig Sorrent! Addio – auf ewig – auf ewig. –« » Vale, vale, buona scuola, vale – vale – vale –«
Nach seinem Abgange von der Schule trat Hermann Conradi als Lehrling in die Schäfersche Buchhandlung zu Magdeburg ein, mit der eine Leih-Bücherei von 16 000 Bänden vereinigt war. Sein Chef Rüdiger weilte zu Beginn der Lehrzeit gerade in Italien, nach dem sich schon damals der Sehnsuchtsblick des jungen Hermann richtete. »Oh, hätte ich mit ihm ziehen können«, schreibt er damals an Schuster, »(– ins Land meiner Träume – nach dem sonnigen Süden –) ich wäre der Glücklichste der Sterblichen; doch … vielleicht später – wenn ich meiner junggeselligen Seele einmal nach dieser Seite Luft machen will – dann geht's hinunter nach Süden – hinunter nach dem Süden!« Die Berufsarbeit, die Conradi im Geschäfte zu leisten hatte, erschien nicht schwer, und so gefiel es ihm in seiner neuen Lage zunächst ganz gut. Die Entfernung des Ladens von seiner elterlichen Wohnung war gering (fünf Minuten), und seine Dienstzeit dauerte den Sommer über von 7 Uhr morgens bis halb 1 und von 2 Uhr bis halb 8 abends. Solange sein abwesender Chef nicht selbst den Laden beaufsichtigen konnte, beschäftigte sich Hermann in den Freistunden, wo nicht viel Arbeit vorlag, mit Lektüre. »Die neuen und neuesten Autoren,« so schrieb er an Schuster, »(Spielhagen, Hackländer, Gottschall, Grosse, Ebers, P. Lindau, Vely, Heyse, Jordan, Rodenberg, Rittershaus, Bodenstedt, Jensen, E. Polko, Ethé, Studien und Essays von letzterem), eine große Menge Journale, am meisten literarische, stehen zu meiner Verfügung; ich habe so eine äußerst günstige Gelegenheit, mir einen großen Schatz literarischer Kenntnisse anzueignen und suche auch so viel als möglich zu profitieren; die neuesten Erscheinungen in der Literatur werden alle eifrig studiert, Notizen werden gemacht, um vielleicht später bei kleinen Essays Verwendung zu finden« (21. April 1880). Zum Studium der neueren Literaturgeschichte, die er zuletzt auf der Schule besonders stark getrieben, trat nun die »schleierhaft umwobene Geschichte des deutschen Altertums«, und nach Julius Grosses Gedichtsammlung: »Aus bewegten Tagen« kamen Hamerlings »Aspasia« und »Ahasverus in Rom«, und Hermann Linggs Lyrik, in der er eine Zeitlang aufging. Die freie Zeit am Abend benutzte Conradi, um mit seinen Freunden spazieren zu gehen, und so schien er sich mit seinem Schicksal auszusöhnen. Aber mit der Rückkunft seines Chefs hörten die angenehmen Stunden des Studiums während der Geschäftszeit auf, und das Personal, zu dem damals außer Conradi noch ein Lehrling und ein Gehilfe hinzugekommen waren, hatte oftmals wenig oder nichts zu tun, »stand herum, machte unnötige Arbeiten – sortierte alte Journale, bloß um die grenzenlose Langeweile zu bannen«. Auch das rein Geschäftliche lag Conradi gar nicht; »Konten führen – Bücher quasi Heringe verschachern, sinnlose Quittungen schreiben«: alles dies war ihm herzlich zuwider. Sein feiner, nach Vertiefung des geistigen Ich schmachtender Sinn wurde in eine der Verzweiflung nahe und von schweren Kämpfen erschütterte Stimmung gebracht. »Ich hatte tausend Bände zum Lesen und Lernen vor mir – und ich durfte weder lesen noch lernen«, schrieb er an Schuster. »Das war ein Verschmachten, wenn man Speise und Trank vor sich hat – sie aber nicht genießen kann!« Und so kamen bald Stunden, wo er an seinem Buchhändlerberuf zu zweifeln begann, besonders, so klagte er Schuster, »als ich die schönsten Sommerwochen verleben mußte, tagtäglich in eine beklemmende Staubwolke gehüllt … Da wurde mein Herz oft bitter, und die ersten Gedanken keimten empor – die Saat hatte ich also doch schon in mir getragen. Anfänglich leise und langsam – allmählich schneller und schneller fühlte ich, wie in mir die Gedanken immer mehr Raum gewannen, die da sagten: Es gibt noch einen andern Beruf für dich – es ist der jetzige der falsche« (23. Dez. 1880). Aber krampfhaft bemühte sich der Jüngling, diese Gedanken zu verscheuchen, noch wollte er seine Laufbahn nicht aufgeben. Für die geringe freie Zeit, die ihm blieb, entwarf er ein »strenges Programm fürs Studieren«; er trieb Englisch, Französisch, Griechisch, Lateinisch, Italienisch, Kunstgeschichte, Philosophie, Geschichte und Geographie. »Ich muß«, schrieb er an Schuster, »Ersatz haben für die Stunden, die ich hier dem Geschäft widme, d. h. nicht viel Gescheites tue. Und diese Stunden, wo ich autodidaktisch lerne, sind und bieten mir auch wirklich den vollständigsten Genuß. Ersatz gewähren sie nicht – aber sie trösten. Mein Eifer ist grenzenlos« (19. Okt. 1880).
Indessen der Versuch, neben dem Geschäft tiefergehende Studien zu betreiben, mißglückte; Conradi fühlte bald, daß er auf diese Weise doch nicht vorwärtskäme, und so wurde in ihm der Zwiespalt immer größer und der Kampf immer peinigender. Er begab sich zu seinem früheren Gymnasialdirektor, dem Propst des Klosters, und frug ihn um Rat. »Ueberlegen – dann handeln!« war der Bescheid, und ihm entsprechend ging Conradi vor. Nach mehrfachen Auseinandersetzungen mit seinem Chef und nach heftigen Kämpfen mit seinem Vater wurde er endlich aus dem Geschäft erlöst, und eine Woche vor Weihnachten besuchte er zum erstenmal wieder als Schüler das Kloster Unser lieben Frauen, um den Rest des Schuljahres nochmals in der Untersekunda zuzubringen, da er – wiewohl Ostern zuvor versetzt – doch nicht die für Obersekunda erforderte Reife besaß. »So bin ich«, schrieb er an Schuster, »wieder Gymnasiast – und stehe mitten in der Arbeit. Mein Leben beginnt ein geistig reich lebendiges zu werden – die Beschäftigung mit den Wissenschaften, für die ich jetzt ein ganz anderes – geläutertes Verständnis habe, erquickt mich; ich weiß mir eben neben dem oft trockenen Schulstil ein Ideal zu erhalten und das tröstet mich für manche Misere. In den Pausen behandele ich mit einigen Gleichgesinnten die höchsten Fragen der Menschheit – kurz es glüht wieder in mir die Flamme, aus der oder durch die ich vielleicht später einmal eine reiche öffentliche Wirksamkeit entfalten werde. Allein – bis dahin können noch 6 bis 7 Jahre hingehen – Jahre heißer Arbeit – aber Jahre der Jugend – und die Jugend will ich austrinken bis zum Letzten – zum Letzten. Man ist ja nur einmal jung! Drum Becherklang und Reihesang – und Rebensaft – und Ferienzeit – und später eine goldene Studentenzeit!! Knapp wird's hergehen – aber Mut und Energie soll nicht fehlen!« – – (23. Dez. 1880).
Als ein anders Gewordener betrat Conradi die Schule wieder, er war nicht mehr der Schüler, der in ihr seine Hauptwelt erblickte. Das schon seit langem betriebene Lesen der Literatur, das er während seiner Lehrlingszeit eifrig, wenn auch etwas wahllos fortgesetzt, hatte ihn tiefer in die geistigen und literarischen Strömungen der Zeit eingeführt. Auch an philosophische Studien war er mehrfach herangegangen, die Werke von David Friedrich Strauß und von Feuerbach, sowie Renaus Leben Jesu wurden von ihm studiert, ja er wagte sich sogar schon damals an Kant heran, vor dessen »haarsträubenden Sätzen« er allerdings oft stand »wie viel gelehrtere Männer einst vor der Vogelschrift der alten Quacksalber, der Aegypter« (an Schuster, 21. April 1880). Die philosophischen Studien versetzten seinem alten frommen Kinderglauben den Todesstoß, aber sie reizten ihn zugleich, mit heißer und tiefbohrender Leidenschaft den höchsten Lebensproblemen immer wieder nachzusinnen. Es war eine halb klagende, halb bitter hohnlachende pessimistische Stimmung, in der er jetzt lebte, und in Brachvogels »Narziß«, dem »König aller Dramen«, dem »andern Faust« fühlte er besonders deutlich das Geistesverwandte heraus und sah in ihm das Ideal des »philosophisch grübelnden Menschen«, das er mit Begier in sich aufnahm (an Schuster. 24. März 1880). So sagte er von einem verstorbenen Jugendfreund: »Er schläft entweder – oder er lebt – er weiß die Rätsel enthüllt – oder weiß nichts – Wer von uns weiß es? Nemo – Zum Lachen!!!« Und in einem Geburtstagsgedicht an Arthur Schuster ruft er mit leise klagender Note aus (Juli 1880):
»Und Wünsche von Herzen, die ehrlich gemeint,
Sie klingen empor aus tiefstem Grunde:
Und hätt' ich das Beten nicht fast schon verlernt:
Ich hätte mit frommem, begeisterten Munde
Nach oben, zum Vater, gebetet, gefleht –
Dir Segen, den reichsten Segen zu spenden,
Dir, Freund, der mir am teuersten steht.«
Seine pessimistische Stimmung wurde durch seinen körperlichen Zustand noch genährt. Wenn er auch jetzt nicht mehr so oft wie früher an heftigen und schmerzenden Anfällen litt, so verhinderte ihn sein asthmatisches Leiden doch an einem friedlichen Genuß seiner Jugendtage und ließ ihn jedes Außerachtlassen größter Vorsicht durch Erkranken büßen, ja, Weihnachten 1881 befürchtete er für sich das Schlimmste. Diese Abwechselung von Stunden ruhigen Wohlgefühls und zusammenkrampfenden Leidens ließen ihn, den hochstrebenden Jüngling, frühzeitig die Höhe jubelnder Freude, aber auch die Tiefe verzweifelnden Wehs kennen lernen. »Ist nicht ein Chaos – ein klaffendes Chaos von ewigen Widersprüchen unser ganzes Leben?« Und er klagte seinem Freunde Schuster (Februar 1881): »Krankheit wird uns schon in die Wiege gepackt – das ist eine von den liebenswürdigen Zugaben unseres sonst schon so reizenden Lebens! Du siehst: Ich bin nun einmal Pessimist –: was anders kann uns über unser Jammertal hinweghelfen? Und wenn ich so weiter philosophiere und folgere – dann möchte ich auch die ganze Welt in meinem Innern zertrümmern! Und das kostet ja nur einen Augenblick! Ein Messer – ja ein lumpiges Taschenmesser tut's – und ein bißchen Courage.« Aber seine Leiden steigerten auch seine Welt- und Lebensverachtung und seinen durch die Widerstände hervorgerufenen wilden Trotz. »Ich hoffe,« schreibt er Weihnachten 1880 an Schuster, »was ich seit Jugend auf erstrebt – nun doch noch zu erreichen … wer weiß – vielleicht, vielleicht auch nicht … und schließlich handelt es sich ja doch bloß um ein paar lumpige Jahre Menschenleben – die gehn und wenn in 50 Jahren die Welt noch steht – und das wird sie vielleicht – nun dann sind wir vielleicht lange schon Staub – humus – nichts – und unser Leben ist eine Seifenblase gewesen – die zerstob, als sie vom Winde berührt ward« … Und wenig früher schrieb er demselben Freunde:
»Heiß in der Liebe und heiß im Haß!
Was soll mir das kindische Stammeln?
Der Mensch ist doch nur ein zerbrechlich Glas,
Kaum wert, die Scherben zu sammeln,
Wenn der Funke verglüht. Drum soll mir, solang
Die Parzen den Faden mir spinnen,
Heiß in der Liebe und heiß im Haß
Mein Leben, mein Leben verrinnen.«
(15. Juli 1880.)
Und mit gleichem Stolze ruft er – im Februar 1881 – Arthur Schuster zu: »Was geht mich die Welt an? Ich bin ich! Ich bin für mich die Welt! Und diese Welt muß groß sein – unendlich groß sein und schön – und erhaben … Kunst und Wissenschaft – Luxus – Ueppigkeit – prachtvolle Gemälde – erhabene Natur – schöne Weiber mit schwellenden Gliedern – ein Horizont, der golden umstrahlt ist – das soll mein künftiges Heim sein. Ich kann keine treue – bürgerliche Hausfrau mit züchtigem Augenniederschlag brauchen. Um Gottes willen kein Spießbürgerleben! Nichts schrecklicher als das! Wäsche und Dienstmädchen – und Zimmerreinigung – das könnte fehlen. Ich suche das Glück anderswo. Und sollte ich's nicht finden – dann lache ich – lache, daß ich mir selbst rasend vorkomme – und lerne entsagen: Stolz ungebeugt: Stoiker. Jawohl! Das sind Gegensätze. Aber – der Kontrast hat mich von jeher angezogen. Ich möchte auf hoher See sein – und ein Sturm müßte mein Schifflein verschlingen: da würde ich stolz in die empörten Elemente schauen – und – erst finster und grollend – dann glücklich heiter lächeln: Und mit lächelndem Mund ginge ich dahin … bettete ich mich ins Meer – ins große – ewige Meer!«
Bei diesem veränderten inneren Wesen fügte sich Conradi ins Schulleben immer schwerer. Eins seiner liebsten Fächer außer dem Deutschen scheint das Latein gewesen zu sein, »seine Leib- und Magensprache«. Er arbeitete mit eisernem Fleiße und suchte, den ihm vom Gymnasium gebotenen Lehrstoff unter Zuhilfenahme der Ferienzeit zu bewältigen, aber sein Asthmaleiden zwang ihn doch, zeitweise zu pausieren, und so war er sich seines Erfolges nicht recht sicher. Ganz besonders bangte er vor Ostern 1883 bei der Versetzung nach Oberprima, wo die Chancen »gar nicht so glänzend wie wohl früher« standen, und »die Sorgen und Mühen, die widerlichen Situationen, das ewig bekümmerte und vergiftete Halbgenießen, das entsetzliche taedium scholae vitaeque-Gefühl« machten ihm das Leben in der Schule zur Qual. »Man wird mit viel geplagt,« schrieb er an Schuster (Weihnachten 1881), »wonach man keine Sehnsucht trägt, was man gar nicht will. Aber das helle Wasser des Lebens? Das fließt bei uns nicht, wir müssen uns mit graumelangiertem begnügen … Dann und wann einmal ein herzstärkender Tropfen, aber dafür oft tagelang das faule Wasser der Alltäglichkeit.« Mit glühender Leidenschaft haßte er besonders seinen Ordinarius in Unterprima, einen »vertrockneten ultrakonservativen, jeden freien Zug in der Geschichte mit unausstehlicher Impertinenz verdammenden Pedanten«, und es gereichte ihm zur größten Freude, daß im letzten Schuljahr der neue Propst selbst, Dr. Karl Urban, sein Klassenlehrer ward, der wie Conradi aus Anhalt stammte und im Dessauer Gymnasium Ende der fünfziger Jahre auf denselben Schulbänken gesessen hatte. Allzu tief konnte aber auch dieser Mann nicht mehr auf den Jüngling einwirken, wiewohl er ihn doch in einem Teil seiner Privatarbeiten beeinflußte und ihn auf die neulateinischen Schriftsteller hinwies. Conradi war innerlich bald mit der »pedantischen« Schule fertig, und nur der Wunsch, von ihr endlich das Reifezeugnis zu erhalten, verknüpfte ihn lose mit ihr. »Ich habe mich«, schrieb er an Schuster (22. März 1883), »innerlich vollständig von der Schule emanzipiert, seitdem ich das ungeheuer Schädliche derartiger Anstalten für freistrebende Geister erkannt habe.«
Nur langsam entwickelte sich Conradi in seinen Jünglingsjahren zum Dichter und Schriftsteller. Schon als Untersekundaner dämmerte ihm leise das Bewußtsein, daß er die Begabung dazu besitze, und am 23. März 1880 schrieb er seinem Freunde Schuster: »Kein Mensch weiß ja vorher, wie er von Gott geführt wird, das eine weiß ich nur, daß ich mich später sehr literarisch, sowohl in speziell lyrischer – als novellistischer Beziehung beschäftigen werde; ich weiß, ich kann das; wenn man auch keine Selbstüberhebung üben darf – da bin ich auch fern davon – so muß man doch auch zu sich selbst Vertrauen haben, und darf nicht zittern und zagen.« Und er ward ernstlich böse auf seinen Freund, als dieser in seinen Briefen »Spöttereien und abgegriffene Bröckchen« von »Dichterruhm bei aller Welt und dergleichen« äußerte, und meinte stolz: »Ich kämpfe mit männlicher Energie, mit ungeheurer Willenskraft die dämonischen schwarzen Geister nieder, ich schlage sie in Eisenketten und erringe mir Frieden und Ruh' in der Hoffnung auf eine Zukunft – durch meine Begabung, die ich nicht leugnen kann« (an Schuster. 14. Juli 1880). Doch kam er bis zu seiner Rückkehr ins Gymnasium nur selten zum eigenen Schaffen, und später klagte er immer wieder, daß es ihm so sehr an Zeit fehle, um alle seine Pläne auszuführen. »Gleich bleichen Schatten«, schrieb er an Schuster (19. Oktober 1880), »huschen in mir Bilder und Szenen, Strophen und Verse vorüber – Gedichte – die Anfang haben – meist kein Ende … Ich habe immer noch einzig Fähigkeit, wilde, leidenschaftliche – ja pessimistische Liebe zu komponieren, das ruhige – Lehrgedicht, der sanfte, taubengleiche Inhalt fehlt ihnen. Sie entstehen aus inneren Kämpfen – jede Figur, die ich charakterisiere, ist ein Spiegelbild von mir, mag sie nun ein Bettler oder ein Fürst sein.« Vergl. dazu das damals entstandene Gedicht: »Der Bettler« (Bd. I, S. 5, 6).
Seine frühesten gedruckten Versuche – abgesehen von den unbekannten dramatischen und lyrischen der Dessauer Zeit – gehen auf das Frühjahr 1880 zurück, wo er auf Grund einer Zeitungsannonce zu dem in Kassel erscheinenden »Deutschen Dichterfreund« in Beziehung trat (an Schuster. 24. März 1880). An dieses von Richard Trömner geleitete »Journal zur Unterhaltung und Belehrung, sowie Publikationsorgan für junge Dichter und Schriftsteller« sandte Conradi im Frühjahr 1880 etwa 20 Gedichte, deren »Wie und Was« nach seinem eigenen Urteil einerseits von Matthison, andrerseits von Heine beeinflußt war, sowie die ersten kritischen Studien. Es waren kleine Essays: »Gestalten und Gebilde«, worin er Julius Grosses Gedichtsammlung: »Aus bewegten Tagen« und Wilhelm Jensens: »Aus wechselnden Tagen« zwar etwas sehr breit und langatmig besprach, aber doch schon das Bemühen zeigte, das Wesentliche und Bedeutsame scharf hervorzuheben. In einer weiteren Skizze behandelte er lobend Graf Schacks »Weihgesänge«, und in einem letzten Artikel (November 1880) zog er gegen die lyrischen Ergüsse der Zeitung, die meistens nichts als eine Sammlung von Talentlosigkeiten bot, und zu deren bekanntesten Autoren nur die von Conradi als »begnadet« bezeichnete Adelaide v. Gottberg gehörte, mit großer Schärfe kritisch zu Felde. Die angegriffenen Dichter, die ihren Klängen mit Recht nachsagen lassen mußten, daß sie »sehr leierkastenmäßig den Leiern« entströmten, nahmen die Urteile zumeist gelassen hin, ja, es fehlte der scharfen Kritik nicht an Beifall. Einer der Mitarbeiter, Hermann Julius Schöltgen, den Conradi als »talentvoll« und »Aufmunterung verdienend« bezeichnet hatte, rief ihm sogar in einem Gedicht zu:
»Geh fort, mein Freund, auf den betretnen Wegen –
Und halte mutig hoch das Rechtspanier:
Ist oft das Urteil hart, doch bringt es Segen,
Und Vieler Dank fließt einstens hin zu Dir!«
Und nur gegen den zu freien religiösen Standpunkt Conradis erhoben zwei Mitarbeiter, Louise Löwe und Josua Karsch, in ihren Gegenkritiken lebhaften Einspruch. S. Deutscher Dichterfreund, 1880. Kassel, Verlag von R. Trömner.
Nach dem Eingehen des »Dichterfreundes« Ende 1880 wurde Conradi Mitarbeiter an dem von Paul Heinze geleiteten » Dichterheim« (Dresden), das bedeutend Besseres bot als das Kasseler Blatt und Beiträge führender Geister wie Lingg, Rittershaus, Geibel, Kinkel, Roquette, Gerock, Möser und anderer abdruckte. Conradi übernahm sogar im Dezember 1881 die Bücherkritik für die Zeitschrift. Mit seinen Gedichten dagegen hatte er kein rechtes Glück, der Schriftleiter beanstandete die einen, weil die sittlichen Gedanken und Anschauungen, die er darin ausspräche, durchaus verwerflich wären (an Schuster am 21. Dezember 1881), die andern, weil »sie zu viel Glut, Schwung, Leidenschaft, Hyperbeln usw. usw. hätten« (an Schöltgen am 20. Dezember 1882), und erst nach langem Warten kamen einzelne zum Abdruck, manche, wie das 1883 veröffentlichte: »Um Mitternacht« war Conradi inzwischen schon unsympathisch geworden (an Schöltgen vom 30. Januar 1883). Im Laufe des Jahres 1883 hörten Conradis Beziehungen zum »Dichterheim« vorübergehend auf, und am 22. Juni meldete er seinem Freunde Schöltgen, daß er mit dem Blatte »radikal fertig« sei, gleichwohl arbeitete er bis zum Jahre 1885 daran mit.
Vergeblich bemühte er sich in jener Zeit auch, bei dem »Magazin für die Literatur des In- und Auslandes« anzukommen, welches der Leipziger Verleger Wilhelm Friedrich 1878 angekauft hatte. Er sandte seit 1881 Artikel und Kritiken von Hermann Heibergs und Baumbachs Büchern ein, stellte eine Biographie Arthur Fitgers und Uebersetzungen von Juvenalschen Satiren in Aussicht, aber immer wieder ward er zurückgewiesen, und der Herausgeber meinte in Randbemerkungen: »Ein richtiger Gumpelfritze ohne jede Spur von Brauchbarkeit … Er wird nie einen Artikel anbringen«, und: »Ein ganz unbrauchbarer Mensch, der nicht den kleinsten Artikel schreiben kann«.
Ungefähr zur selben Zeit, wo Conradi Mitarbeiter des Dresdener Blattes wurde, gelang es ihm, in Magdeburg selbst Gelegenheit zum Hervortreten als Schriftsteller zu finden. Da er aber als Schüler begreiflicherweise nicht mit seinem Namen zeichnen wollte, so wählte er das Pseudonym Hermann (bezw. Arminius) Costo, »eine Kontraktion aus Conradi-Condi-Cosdi-Costi-Costo«, wie er seinem Freunde Schuster (11. Sept. 1881) zu erklären suchte. Unter diesem Namen erschienen in der Zeit vom 5. August 1881 bis 20. Januar 1882 Die betreffenden Bände fehlen im Archiv der Zeitung, doch befinden sich die Artikel in Ausschnitten in meinem Besitz. P. Ss. eine Reihe kleiner Skizzen im Magdeburger Tageblatt (dem heutigen Generalanzeiger), und Conradi verdankte die Aufnahme der Freundlichkeit des damaligen Redakteurs dieses Blattes, des als Uebersetzer bekannten Dr. Max Oberbreyer. Dieser trat ihm auch sonst beratend näher, und Conradi beabsichtigte sogar, ihm sein erstes Buch zu widmen, um zugleich auf diese Weise bei dem Verlag von Reclam leichter Eingang zu erhalten. Aber der Gedanke kam nicht zur Ausführung, der Leipziger Verlag nahm die ihm angebotene Uebersetzung von ausgewählten Epigrammen des neulateinischen Dichters Owenus († 1622) mit biographisch-kritischer Einleitung nicht an.
Aber Conradi bestrebte sich, für seine literarischen Erzeugnisse noch andere Absatzplätze zu finden, und da sich die damals führenden Blätter wie das »Magazin« und die Ecksteinsche »Dichterhalle« gegen Anfänger zu spröde erwiesen, so wandte er sich an Zeitschriften wie die »Gegenwart« – allerdings gleichfalls ohne Erfolg. Dagegen gelang es ihm, mit einer kaum gekannten österreichischen Zeitschrift, der »Satura«, die Ernst Winter in Brünn herausgab, Ende 1882 in Beziehung zu treten (an Schöltgen am 14. Nov. 1882), und in ihr erschienen von Conradi 1882 und 1883 zwei Gedichte. Es sind die Gedichte: »Verzweiflung« (Bd. I, S. 10, 11) und »Fragment« (Bd. I, S. 104). Das einzige Exemplar der Zeitschrift befindet sich in der K. K. Studienbibliothek zu Brünn.
Ferner brachte er in der Allgemeinen Moden-Zeitung vom 6. August 1883 einen kleinen Aufsatz über Heiberg unter. Auch in Dessauer Ortsblättern scheint er verschiedenes veröffentlicht zu haben, doch konnten bis jetzt davon nur zwei kleine Skizzen: »Weiter nichts« und »Auch ein Olympier« entdeckt werden (an Schöltgen am 28. Febr. 1884) Die Abschriften verdanke ich Herrn Carl Richter in Cöthen.. Weiterhin gelang es Conradi durch Vermittlung seines Freundes Schöltgen, den Schriftleiter der Bergischen Landeszeitung Anfang 1883 zum Abdruck mehrerer Gedichte zu veranlassen (an Schuster, am 22. März 1883). Wie viele es waren, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen, da die betreffenden Jahrgänge aus dem Geschäftsarchiv verschwunden sind. Außer dem bestimmt abgedruckten »Totensang«, der Ende 1881 entstand, »Das Poem ist schwach, überschwenglich, unklar – ich weiß es – es ist jetzt gerade ein Jahr alt – aber es hat einmal einige freiere Züge, es ist ziemlich schwungvoll« (an Schöltgen, 28. Dezember 1882). Daß das Gedicht abgedruckt worden ist, geht aus der Postkarte an Schöltgen vom 22. März 1883 hervor. Nach einer Mitteilung des Herrn Schöltgen sind auch die beiden andern im Text genannten Gedichte abgedruckt worden. lagen der Redaktion folgende vor: »Trüb schleicht die Welt« und »Was gestern noch geblühet«, von dem Conradi meinte, er habe es »mit blutender Seele« geschrieben (an Schöltgen, 31. Dez. 1882 und 30. Januar 1883).
Eine längere philosophische Dichtung hatte er schon vor 1880 an Hermann Lingg geschickt, und dieser urteilte darüber, daß der Verfasser »großes Talent hätte und neue originelle Töne anschlage« (an Schöltgen, am 4. April 1881). Das meiste der Gedichte blieb noch lange ungedruckt. Wohl sprach Conradi schon am 22. März 1883 in einem Briefe an Schuster, daß er »nächstens übers Jahr seine ›Lieder eines Sünders‹ publizieren werde«, aber vorläufig mußte er sich damit begnügen, wie später sein Vater an Wilhelm Friedrich schrieb (28. März 1890), »einen kleinen Liederstrauß (etwa 30 Nummern) aus seinen ersten Jugendblüten gebunden und selbst geschrieben«, seinen Eltern zu Weihnachten 1883 zu widmen. Der Liebenswürdigkeit seines verstorbenen Freundes Hans Merian verdankt der Verfasser die Kenntnis des Briefwechsels zwischen Wilhelm Friedrich und Hermann Conradi (i. J. 1900).
Mit der Owenus-Uebersetzung, an der er seit 1881 bis zu den Michaelisferien 1882 oft »ganz entgeistet und begeistert« saß und »herumdrechselte« (an Schuster, am 21. Dez. 1881 und 1. Oktober 1882), hatte er einen älteren Poeten neu beleben wollen, seit 1882 versuchte er das Gleiche mit halb oder ganz verschollenen deutschen Dichtern. Die erste Anregung dazu kam ihm von Prof. Adolf Sterns Buche: »Fünfzig Jahre deutscher Dichtung«. Die darin abgedruckte Stelle aus dem »Faust« des Leipziger Dichters Marlow († 1840) hatte ihn berauscht, wie er an Stern schrieb (28. Sept. 1882), und ihn auf den Gedanken gebracht, das Drama mit einer Widmung an Stern neu herauszugeben. »Diese Dichtung«, urteilte er (an Stern. 10. November 1882) nach dem Lesen des ganzen Werkes, »kommt mir immer wie ein Magnet vor, der abwechselnd anzieht und abstößt. Hier ein Schwung, eine blendende Diktion, ein berauschender Glanz – dort ein abschreckendes, ekelhaftes Wühlen im Moder, ein wollüstiges Baden im Schlamm … Ich sage mir da oft: Solch ein Werk, das trotz seiner vielen Fehler ein geniales Können verrät, darf nicht, darf nicht verloren gehen – es muß erhalten bleiben – muß der Mitwelt noch einmal vorgelegt werden, die im Durchschnitt so poesiefeindlich, so materiell, so hausbacken, so gleichgültig ist und deshalb wahrhaft geniale Naturen, die imstande sind, tief philosophische Dichtungen, Karmina von gediegenem, unvergänglichem Goldgehalt zu gebären, gar nicht hervorbringen kann!« Der zweite Dichter, den Conradi beleben wollte, war Wilhelm Heinse. »Ich weiß,« schrieb er am 4. Oktober 1882 an den Verleger Wilhelm Friedrich, »welche Stellung Heinse in der deutschen Literatur einnimmt, ich weiß, welchen Klang sein Name hat – daß man ihn häufig noch fälschlich beurteilt – einerseits also gerade seines Wertes wegen, andrerseits um alten falschen Anschauungen einmal praktisch und plastisch entgegenzutreten, denke ich, lohnt es sich, diesen Dichter wieder einmal in seinen Meisterwerken vorzuführen.« Und der dritte dieser Poeten, über den Conradi ebenso wie über Marlow mit Stern Briefe wechselte, war der frühverstorbene Wilhelm Waiblinger (1804 bis 1830), dem er bis in seine Leipziger Studienzeit ungeschmälertes Interesse entgegenbrachte. Im Jahre 1883 nahm er auch in Aussicht, den »Erwin« des Aesthetikers Solger neu zu veröffentlichen, und plante eine Sammlung der Dramatikerin Elise Schmidt, mit der er in Briefwechsel stand, und von deren »Judas Ischarioth« er in jugendlicher Begeisterung schwärmte (an Schuster, 13. Februar 1881; an Schöltgen, 27. Juli 1883). Keine der geplanten Neuausgaben kam zustande, aber auch weiterhin blieb Conradis Blick ähnlichen, ihm teilweise wesensverwandten Dichternaturen zugewandt, und in einem Artikel: »Randglossen zu einem fünfzigjährigen Leihbibliothekskataloge« Blätter für lit. Unterhaltung. 1886 (Bd. II, S. 203 ff). suchte er später (1886) diese Neigung und ihre Bedeutung für die Literaturgeschichte zu begründen und zu rechtfertigen.
Die geistige Welt, welche sich Conradi geschaffen, hatte ihn innerlich von der Schule getrennt; sie schied ihn aber auch von seiner Familie. Der Vater, ganz beschäftigt mit den Sorgen des Erwerbs, fand in dem harten Daseinskampf keine Zeit, sich mit den Ideen seines Sohnes zu befassen, und seine immer kränkliche Mutter, die völlig im Hauswesen aufging und sich bemühte, alles in guter Ordnung zu erhalten, vermochte trotz aller Liebe dem Geistesfluge Hermanns nicht mehr zu folgen; der jüngere Bruder Wilhelm, den Hermann Conradi für hochbegabt hielt, stand im Lebensalter zu sehr zurück, und seine Schwester Charlotte war ein gutes, einfaches Mädchen, aber sie konnte ihm wohl zuhören, wenn er spät abends nach dem Nachhausekommen ihr von seinen Plänen erzählte, jedoch ihn nicht weiter anregen und fördern. Wurde so im Laufe der Zeit aus dem engen Familienzusammenleben ein Nebeneinanderhergehen, so bot ihm doch das Elternhaus damals noch etwas sehr Wichtiges: eine sorgenfreie Zuflucht. Conradis brauchten zu jener Zeit noch nicht zu darben, und der junge Hermann durfte das Geld, das er bisweilen ganz reichlich durch Privatstunden verdiente (für etwa eine Mark die Stunde), für sich anwenden und sich Bücher kaufen. »Bücher sind mein einziger Schatz, meine einzige Erholung«, schrieb er an Schuster (21. Dezember 1881). Auch kleine Ferienreisen nach Anhalt und in den Harz, dessen »wilde Gebirgsromantik« ihn entzückte, konnte er sich in den letzten Schuljahren sehr wohl leisten.
Aber in Hermann Conradi lebte ein heißes, unstillbares Begehren, das von ihm innerlich Erlebte und Erarbeitete auch andern mitzuteilen, und da er dies zu Hause nicht recht konnte, so suchte er dafür anderen Ersatz. Das weibliche Geschlecht spielte in seinen Jugendjahren noch keine wichtige Rolle, er betrachtete es im allgemeinen als inferior und wegen seiner Leidenschaftlichkeit als schädlich für den Mann. Wohl rühmte er sich mancher »Flammen und Pechfackeln« in seinen Briefen und schmachtete als Lehrling auch verschiedene seiner Kundinnen an, nur ein Liebesverhältnis zur Schwester eines Mitschülers, mit der er im Harz während eines Sommeraufenthalts öfter zusammentraf, soll ernster gewesen sein. Er schildert es humoristisch in dem Gedichte »Anna« (Bd. I, S. 106 ff.). Jedenfalls war es Uebertreibung, wenn er sich 1884 zu der Aeußerung verstieg: »Das erotische Element wird mir nichts mehr anhaben können! Ich habe viel geliebt. Und heiß geliebt. Und ward auch viel wiedergeliebt – in Brunst, Gunst, Liebe, Leidenschaft, Koketterie, Großtuerei« (an Margarethe Halm, 30. März 1884). Weder sein unschönes Aeußere, noch sein etwas linkisches Benehmen konnten die jungen Damen reizen, und gesellige Künste, wie das Tanzen, hat er in seinem ganzen Leben nicht gelernt. Selbst dort, wo er so tut, als wenn er ein geschlechtliches Erlebnis hinter sich habe, scheint nichts Wesentliches zugrunde zu liegen, sondern nur ein nachträgliches, von schwüler Sinnlichkeit erfülltes Spintisieren im Anschluß an ein nichtssagendes Techtelmechtel. So schrieb er am 4. Januar 1884 folgende charakteristische Zeilen an einen Freund:
»Noch brennen die Lippen
Von
Deinen Küssen,
Noch brandet die Glut mir
In wogender Brust …
Und so weiter mit obligater Grazie in infinitum! Natürlich von ›Deinen‹ Küssen nicht – ich meine damit sie, nämlich – ja – wen denkst Du wohl? Hm – Hm – – elle s'appelle – – ›Emmy‹. Und sie ist? Schön, wie eine Madonna, falsch wie eine Dirne (alter Philister, verbrenne sofort diesen frevelhaften Brief!) – aber – schön bleibt sie doch. Die Wange so weich, der Mund so schwellend, so proportioniert (pardon!) en face, en profil (ich habe hier daher › profilement‹ eingeführt), dos-à-dos – allüberall! Was sie ist? Gewiß ›Schön‹! ›Ich meine – ihren Stand? Büffel! Du verstehst mich schon!‹ ›Das sage ich nicht.‹ Dir, lieber Krawattenmann, secrètement ins Ohr – Sie ist – ist – ist – ist – Donnerwetter, da muß ich husten – na, ein andermal, Du wirst es schon erfassen! – na, nu weißt Du es ja – ganz ruhig geraten – eine – eine Di … Unglückseliger! sie ist so keusch, so sittsam, fromm, züchtig, ehrbar, unerfahren, unschuldig, unverschämt – daß – ich wette! – Du kannst sie jeden Augenblick für 50 Pfg. küssen! Naiv, nicht? Täubchennatur – doch halt – – Alles in allem: au bout du compte – sie ist schön – ich liebe das Schöne – hinter den Kulissen sieht es bei dieser Armen auch nicht anders aus als bei der Frau Gräfin Lüsternburg – die – der Name besagt's – neben ihrem Gemahl (kirchlich getraut!) (Du darfst nicht zweifeln!) noch einige leistungsfähige Cicisbeos hat – die ab und zu – ab und zu – – ab – – – und – – zu … ja – – ab – – und – – zu den Herrn Gemahl zu vertreten die Ehre haben. Ich meine, wenn Frau Gräfin zu Bett liegt, also nicht repräsentieren kann, und der Herr Graf bei der Prima-Ballerina vorspricht, sich nach dem kleinen Zeh des lieben Fußes devotest bei der Dirne – ganz gewiß – erkundigt und dabei unwillkürlich den Weg findet zum Herz – – abscheulich – zu – zu … ich werde mich hüten … Also: meine Liebste ist nicht schlechter als die anderen – aber – es ist ein Haken dabei – – ja – Früher soll … ach was! Das kümmert mich nicht – Gestern abend um die Zeit! In der Neustadt – per Pferdebahn – – um ½12 Uhr nach Hause gekommen, bis um ½10 Uhr am andern Morgen geschlafen, als ob man von Holz wäre (der Schotenhüter!).«
Von bedeutender Wichtigkeit dagegen war für Conradi sein ganzes Leben lang die Freundschaft mit Gleichaltrigen. Schon in Jeßnitz und Dessau besaß er in Arthur Schuster einen innig geliebten Jugendfreund, mit dessen Wesen er harmonisch übereinstimmte. Wohl ward das Verhältnis mit der Uebersiedlung nach Magdeburg gelockert, aber die umfangreichen Briefe oder richtiger Brieftagebücher, an denen Conradi oft Wochen schrieb, zeigten noch Jahre lang – bis 1883 –, welch regen innerlichen Anteil er an den Geschicken des Freundes nahm. Jedoch der fernwohnende Jugendgenosse konnte auf die Dauer nicht genügen, und so suchte Conradi in Magdeburg Gleichgesinnte und Gleichgestimmte zu finden. Das Gros seiner Mitschüler sagte ihm dort ebensowenig zu wie früher, und ihre Vergnügungen reizten ihn nicht, selbst wenn er wacker daran teilnahm. So schrieb er an Schuster (10. April 1881) nach einem »Einjährigen-Soff« der Untersekundaner: »Die Poesie eines Katzenjammers ist eine so durchaus eigenartige, daß man für diese Gefühle keine rechten Worte und Reime finden kann … Und doch – und doch – ich weiß nicht, wie es kam – wenn der Jubel und der Lärm am ärgsten um mich herumtobte – da mußte ich oft nur unwillkürlich lachen über dieses Gebaren – dieses tolle Sichvergnügen, das doch so inhaltlos, so schal ist – so nichtig, daß ich mich oft fragte: wie bist du überhaupt dazu gekommen, dich unter diese Schar zu mischen? Was soll dieses grelle Lachen? Schneidet es dir nicht bis ins Mark … und wenn ich so dasaß, und starren Blickes, unverstanden, und nicht verstehend, den andern zusah, wie sie es trieben – da kam ich mir vor – vor – nun, wie einer, der mit zitternden Händen, trunkenen Herzens eine Venus zu erwärmen glaubt – und bei ihren Küssen erfährt, daß sie des Teufels Großmutter war.« Aus seinen Klassengenossen aber fand Conradi schon bald nach seiner Ankunft in Magdeburg einen heraus, der ihm zusagte, den siebzehnjährigen Albrecht Saran, den Sohn eines Kreisgerichtsrats. »Er ist eine Perle,« sagte Conradi von ihm, »wie man sie selten findet; ich bin glücklich, ihn meinen Freund nennen zu können, denn er ist ein hoher, wahrhaft staunenswerter Charakter.« Auch hielt er ihn für einen großen Denker und für »felsenfest treu«. Mit ihm zusammen schweifte er mehrmals in die Umgebung der Stadt, und mit tiefem jugendlichen Schmerz erfüllte es ihn, als 1883 der stark exzentrische Saran unter Mitnahme genügender Geldmittel seiner Mutter plötzlich durchbrannte und längere Zeit in einem Alpendorfe lebte. Der zweite, der Conradi näher trat, war der »philosophisch spekulierende, mitunter ironisierende« Georg Blume, und durch ihn kam als dritter Bernhard Mänicke in den Freundeskreis. Auch von letzterem, der ein guter Kenner von Goethes »Faust« und ein verständnisvoller Verehrer Richard Wagners war, schwärmte Conradi in Briefen: »Es ist ein prächtiger Junge … ein sehr geschickter, ja talentvoller Maler … außerdem Poet, Musiker – kurz außerordentlich begabt; dabei – so bieder, echt – frei, frisch – wenn der mir seine Rechte gibt, so fühle ich, daß er mir Freund ist – echt deutsch, ich kann's nicht anders nennen!« Zu diesen Genossen trat bald auch Johannes Bohne, von dem Conradi meinte: »ein echt poetisches Gemüt, liebt Zigarren, hierzu nur noch Bier, doch mäßig«. Am engsten verband sich nach Sarans Verschwinden Conradi mit Blume und Bohne, sie wurden seine »Herzgenossen«. Täglich war dieser kleine Freundeskreis, zu denen später der bedeutend jüngere Georg Gradnauer kam, beisammen und erhielt von den übrigen Mitschülern den Spitznamen »die Philosophen«. Die Hundstagsferien verlebte Conradi nebst Blume und Bohne mit den durch Privatstunden erworbenen Mitteln mehrmals in Treseburg im Harz. Dort ward jeder Gedanke, jede Empfindung ausgetauscht, manche entzückende Mondscheinnacht in freier Natur gemeinsam durchträumt, und leise klangen dann von Conradis Lippen lyrische Improvisationen und Erinnerungen.
Conradi bildete mit Blume, Bohne, Mänicke und vier anderen etwa seit dem April 1880 einen »dramatischen Leseverein, der an Sonntagen unsere Meisterschöpfungen lesen, genießen« wollte und sich Eos (die Morgenröte) nannte. Trotz dieses hochtrabenden Namens waren die Tendenzen des Vereins zunächst sehr harmlos und schülerhaft; seine Mitglieder füllten begeistert im Theater den »Olymp«, wenn Barnay, Possart oder Berliner Truppen gastierten, und über das erste Werk, das gemeinsam gelesen werden sollte, stritt man sich lange; Conradi stimmte für Egmont, hatte aber eine große Gegenpartei, welche Hamlet verschlug. Je enger der Schülerkreis aber zusammen lebte, desto mehr bemächtigte sich ihrer ein leidenschaftlich nach Größerem strebender Wille, der in Conradi seine stärkste Ausgestaltung fand. »Ich führe hier«, schrieb er an Schuster (25. Dezember 1881), »unter meinen Freunden den Namen des Idealisten, damit soll nicht gesagt sein, daß sie nicht auch Idealisten sind, – unter anderm Volke suche ich keine Freunde, aber bei mir treibt der Idealismus immerhin vielleicht die vollste Blüte; neuerdings haben wir uns Real-Idealisten getauft, denn von Idealen kann der Mensch nicht leben, wenn er sie auch hochhalten soll, aber ein halbkräftiger Realismus im Denken und Empfinden ist auch sehr gut, damit nicht aus dem Idealisten ein für die Welt verlorener Schwärmer wird … Aber wir wollen für die Welt schaffen, wenn auch in unsrem Sinne, das Licht der Aufklärung in alle Winkel halten, daß der Nacht Gespenster wie falsche Eulen auffliegen, wir wollen ein mächtiges »Wach auf!« in die Welt schreien und ebenso dem Adel den Dienst aufkündigen wie dem Pöbel, der nur für Gaumengenüsse Sinn hat, weil sein Herz verdorrt ist, ausgetreten, zerfleischt von den Furien des Wahnsinns … Darum habe ich den Plan, der allerdings ziemlich idealistisch angehaucht ist, gefaßt, in den nächsten Jahren in Form von Flugblättern literarische und Kunstessays zu veröffentlichen, die für einen billigen Preis jedem zugänglich sind; denn es gibt auch in den niedrigsten Schichten immer noch Ausnahmen.«
Conradi hatte in dem Verein Eos zum ersten Male eine Gruppe gefunden, wo er als geistig bedeutendster die Führerrolle übernahm und für seine Ideen werben konnte. Aber dieser Kreis genügte ihm nicht, er wollte mit aller Gewalt einen größeren Mittelpunkt literarischen Lebens bilden, und deshalb versuchte er, mit allen damals bekannten Schriftstellern Beziehungen anzuknüpfen. Ein ausgedehnter Briefwechsel war die Folge, und Conradi legte sich nicht nur eine Autographensammlung an, sondern auch eine von Photographien, und genierte sich nicht – wie z. B. bei Adolf Stern – gleich in einem der ersten Briefe um eine solche zu bitten, allerdings mit dem Versprechen, sie in einem Artikel mit zu veröffentlichen. So kam er mit Hermann Lingg, Graf Schack, Julius Grosse, In seinen Lebenserinnerungen: » Ursachen und Wirkungen« (Braunschweig. 1896) bringt Grosse (S. 79) folgende Textstelle: »Welcher anmaßende Träumer hätte ich sein müssen, in solcher Seelenprüfung zu sagen! Ich will vielleicht Poet werden. Das ist kein im voraus gültiger Lebensberuf, und ich habe damals nicht daran gedacht.« Im Anschluß hieran meint er anmerkungsweise: »Heut ist das anders geworden, und im Jahre 1883 schrieb mir ein Magdeburger Gymnasiast ganz naiv und siegesbewußt, ich möchte ihm einen Rat geben, welchen Weg er einzuschlagen habe, denn er wolle um jeden Preis Poet werden. Ich habe damals dem mir völlig Unbekannten in abwehrender und warnender Weise geantwortet, er möge, wozu Aussichten vorhanden, nach absolvierten Studien lieber ein Amt bei der Stadt annehmen, um dann nebenbei seinen literarischen Neigungen zu leben, statt sich diesen ausschließlich als Lebensberuf zu widmen, denn er würde Gefahr laufen, vor der Zeit seine Kraft im Lebenskampfe zu erschöpfen, oder im Falle des Schiffbruchs seiner Hoffnungen frühzeitig unterzugehen. Der mir damals Unbekannte, der dennoch seinen Willen durchsetzte, kam bald nach Weimar und stellte sich mir vor als – Hermann Conradi.« Wolfgang Kirchbach, Otto v. Leixner und anderen in Verbindung, ja sogar bis nach Brasilien zu dem Dichter Dranmor eilten seine meist sehr umfänglichen Schreiben. Mit manchem schloß er brieflich Freundschaft, wie mit dem Kaufmann und Dichter Schöltgen in Remscheid, anderen, wie Kirchbach, sandte er eine bis ins Einzelne gehende Lebensbeichte, »freiwillige Geständnisse eines Unfreiwilligen«, und er genierte sich später auch nicht, einer Dame wie der Margarethe Halm, ohne sie je leiblich gesehen zu haben, in schwüler, übernächtiger Stimmung die in ihm erwachte Liebe zu ihr in wild lodernder, schwülstiger Sprache zu gestehen.
Die für seine literarische Zukunft entscheidende Verbindung war die mit den Gebrüdern Hart. Schon Ende 1880 wandte er sich an Julius Hart und stellte ihm auf freundliche Einladung hin ergänzende Notizen für den »Deutschen Literaturkalender« zur Verfügung, den Julius mit seinem Bruder Heinrich Hart zusammen herausgab. Dafür hatte er die Genugtuung, daß schon im Jahre 1881 auch er unter den mehr als 1000 Namen des Buches prangte. Seitdem blieb er in Zusammenhang mit dem Hartschen Kreise und jubelte auch den seit 1882 erscheinenden »Kritischen Waffengängen« zu, worin die beiden Brüder gegen alles Faule in Literatur und Kunst kräftig zu Felde zogen. An Schuster: 23. Dezember 1880, 11. September 1881, 16. Juli 1883; an Schöltgen: 6. Juli 1882, 27. Juli 1883. Aber Conradi faßte seine Aufgabe bedeutend weiter, er wollte nicht bloß an einer Erneuerung der künstlerischen und literarischen Verhältnisse mithelfen, er träumte von einer gewaltigen Neugestaltung des gesamten öffentlichen Lebens. Er, der hochgradige Idealist, legte an alle Erscheinungen seiner Umwelt einen zu hohen sittlichen Maßstab, und wenn dann die Dinge seiner Vorstellung nicht entsprachen, so war er wie aus allen Himmeln gerissen, verallgemeinerte zu rasch und sah überall nur Verfall und Gemeinheit. »Ich stehe«, schrieb er an Schuster (12. August 1881), »mitten im kleinen Getriebe, auf das Du stolz niederblicken kannst – ein Getriebe, das mich täglich mit einer Anzahl von Menschen in Berührung bringt, die ich verachte! Ja – ich verachte sie alle – fast alle Menschen! Das winzige Mückengesindel, das sich in bacchantischem (gespr. bakchantisch! [ à la Sappho]) Taumel im Sonnenlicht zu Tode hetzt und für höhere, idealere Güter zu stumpfsinnig ist! Für ein solches Volk von niederen Krämerseelen soll man schaffen? Wer sich nicht selbst genügen kann – der gehe nur hin und stürze sich hinein, wo das Wasser am tiefsten ist! Die Reichen sind Fresser und Säufer, die Armen sind bodenlos dumm, gemein und gefräßig, nichtssagend und gleichgültig! Die Gelehrten sind entweder Hetzer oder Philister – – Wahre Charaktere sind so selten, daß man unter hundert Menschen kaum 5 anständige findet! Ich habe mir neulich auf dem hiesigen Schützenplatze das Treiben und Wogen angesehen – und in tiefster Seele verletzt kam ich nach Hause. Nur eins lerne ich aus allem diesem Treiben: den Realismus! Und als Schriftsteller, d. h. in meinen in dieses Fach schlagenden Versuchen will ich Realist, Naturalist sein bis zum Exzeß!« Aber er wollte nicht nur die Welt um sich erfassen und schildern, er wollte auch einen herrlichen Kampf um die geistige Freiheit führen. »Sind Sie noch niemals«, so frug er Schöltgen (17. November 1882), »an die Lektüre von Spinoza, Schopenhauer, Hartmann, Feuerbach, Bruno Bauer, Strauß, Büchner (Kraft und Stoff), Schleiermacher, Renan – und wie sie alle heißen, die ewig Unsterblichen, – gekommen? Haben Sie noch nie einmal jenen großen Geistesschlachten zugeschaut, wenn auch nur aus weiter Entfernung, die jene Helden für die Befreiung der Menschheit geschlagen haben und noch immer fortkämpfen? Wenn auch viele von ihnen tot – ihre Werke gehen nie unter und was ein Strauß, Feuerbach geschrieben, wird für die spätesten Zeiten gelten! Sie haben uns frei gemacht mit gewaltigen Keulenschlägen von dem Zwang des Buchstabens – zeigen wir also auch, daß wir ihres Ringens würdig sind, kämpfen wir weiter für Licht und freie Entwicklung in Schrift und Wort, Poesie und Prosa! Das sind die erhebenden Aufgaben eines modernen Dichters.«
Und Conradi sah sich zugleich als Verkündiger eines neuen Lebens und als dessen Gestalter und Vorfechter: »Mögest du«, rief er Schuster zu (16. Juli 1883), »Leib und Seele stählen zu dem großen Kampf, der uns bevorsteht! Wir sind unserer jetzt nur wenige, welche noch volles Verständnis für die gewaltigen Gedanken haben, die wir der Zeit in die Adern gießen wollen und müssen, damit eine neue, große, bessere Zeit anbreche! Wetze die Waffen und gürte das Schwert mit uns um die Lende! Eine neue Zeit will auferstehen! Wir müssen mithelfen, sie aus den Windeln zu heben! Sei uns ein tapferer Kampfgenoß! Neulich schrieb mir Julius Hart aus Berlin: … »Auch wir werden bald eine Zahl werden!« – Hoffentlich! Die gewaltige Ausdehnung unserer Reformgedanken, die sich auf alle Verhältnisse des öffentlichen und privaten Lebens beziehen, ist wohl auch Dir noch nicht so vollkommen klar geworden.« Und zu jener Zeit scheint in Conradi das umfang- und inhaltreiche Programm entstanden zu sein, das er dann mehr oder minder verändert immer vor Augen hatte, und von dem, weil es an sich schon die Kraft eines einzelnen überstieg, nur wenig zur Vollendung ausreifte. »Zunächst«, so schrieb er an Schöltgen (27. Juli 1883), »empfehle ich Ihnen zur wiederholten Lektüre die » Kritischen Waffengänge« von Heinrich und Julius Hart! Sie werden darin vieles finden, was in meinen, d. h. unseren, d. h. in den Ideenkreis, den einige treue Freunde von mir hier und ich pflegen und kultivieren, paßt! Ich weiß nicht, ob Sie sich eingehender mit dem Studium der modernen literarischen Verhältnisse befaßt haben … Aber schon eine oberflächliche Betrachtung zeigt, daß hier vieles geradezu verwahrlost, in einem ekelhaften, ganz gemeinen Zustande ist … Sehen Sie nur die Cliquenwirtschaft bei unserer Tagespresse an! Lesen Sie nur einmal die wundervollen Kritiken, die allüberall losgelassen werden … Nicht wahr, da lacht einem das Herz im Leibe … Ewig und immer dieselbe Phrasenwirtschaft – zehn Zeilen oft an unscheinbarster Stelle für ein Werk, an dem der Autor zehn Jahre gearbeitet! … Die Presse: die reine Bordellwirtschaft! Skandalgeschichten – gehässiges Durchpolitisieren – nirgends ein höherer, ein wahrhaft humaner Standpunkt … Dann: Verfall des Theaters, Ueberwuchern der Impotenz – besonders in Drama und Lyrik, Unterdrückung des Talents, Hemmung aller sozialen Freiheitsbestrebungen – sinnlose Ordensduselei, Heuchelei, brutaler Egoismus an allen Ecken und Enden, bornierter Adel, parlamentarische Wort- und Spiegelfechtereien, zopfiges Gelehrtentum, gänzliches Abwenden von der echten und wahren Kunst – – – sind das nicht alles Punkte, die unsere Kultur mehr als in Frage stellen? …
Da gilt es: neuen Wein in neue Schläuche zu füllen! Da müssen die großen Ideen der größten deutschen Dichter und Denker: Feuerbach, Strauß, Bauer, und wie sie alle heißen, die heute fast vergessen sind, wenigstens von der Menge, wieder ins Volk dringen, da müssen die Forderungen, die stellen zu müssen heute alle Welt dunkel fühlt, zu festgefügten Postulaten abgerundet werden, die wie in Erz gegossen vor unsere Feinde treten! Und dieser gibt es Unzählige! Moralisten, Pfaffen, Heuchler, Lügner, – wer will die Mitglieder dieser Grex obscurorum virorum alle mit Namen nennen? Ich werde den Anbetern des brutalen Egoismus in meinem ersten großen Roman »Despoten« schon die Wahrheit sagen … Da nehme ich kein Blatt vor den Mund … Ich mache mich allerdings auch auf alles gefaßt, selbst auf die Verbannung … Aber unsere Ideen müssen siegen – Wir werden zu ihrer Verbreitung in Berlin in den nächsten Jahren eine neue Monatsschrift und eine neue kritische Wochenschrift gründen, welche die erleuchtetsten Geister zu Mitarbeitern gewinnen soll und zwar nur diese: aller schmarotzende Dilettantismus wird hinausgeworfen, wenn er uns heimsucht! Hand in Hand mit dieser reformatorischen Tätigkeit, der ich mich erst – ich bin ja noch jung – in frühestens zwei Jahren im vollen Umfange widmen werde, denn bis dahin muß ich noch tausend unerquickliche Familienverhältnisse überwinden, die mich jetzt noch nach allen Seiten hin binden und hindern, – Hand in Hand damit, sage ich, geht meine rein dichterische Wirksamkeit, die ich in Romanen (» Despoten« [ cf. oben] – » Die Lebendigen und die Toten« – »Die Heimatslosen« – »Die Mitleidslosen« – »Die Geister erwachen« – »Aus den Fugen« [ cf. Shakespeare: Hamlet: »Die Zeit ist aus den Fugen«] – »Perditus« – »Die Epigonen« [die echten und wahren! die keine sind!] » Jungdeutschland« – » Der neue Bund« – »Auf verlorenem Posten« – » Die Apostel« – »Es ist eine Lust zu leben« – » Zöllner und Sünder« etc. etc.), Dramen, Lyrik, Epik, nur große philosophisch – metaphysisch – moderne Stoffe, à la Byrons »Kain«, »Manfred«, à la »Faust«, »Prometheus«, besonders in der Satire (» Geständnisse eines Untröstlichen«) kultiviere! Und dazu kommen die rein kritischen Werke, die Essays, Biographien, Uebersetzungen, literaturgeschichtliche Arbeiten nach allen Richtungen (neue Ausgaben von Heinse, Waiblinger, Solger, dem großen Aesthetiker [»Erwin«], Elise Schmidts, der bekannten Dramatikerin, gesammelte Werke und Memoiren [ ich bin bei ihr sehr bekannt] werde ich neu edieren – usw. usw.): Sie sehen, lieber Freund: ein erdrückender Stoff! Und was nun noch alles an Skizzen, Feuilletons, Epigrammen, kurzen Aufsätzen, Novellen in meinem Hirn hin- und herkrabbelt!!! Meine Tätigkeit ist, resp. wird also, glaube ich, nicht eben eng und einseitig sein – im Gegenteil! …«
Noch aber ließ die Schule mit ihren mannigfachen Lasten und Pflichten ihn nicht daran denken, für seine Bestrebungen öffentlich zu wirken. Trotzdem ruhte er nicht und wirkte unter seinen Altersgenossen, und so sammelte sich um ihn als um »ein lebendigstes Stück ringender moderner Zeitseele«, wie Johannes Schlaf sagt, Joh. Schlaf: Die Anfänge der neuen deutschen Literaturbewegung. I. Der Schülerklub. Berliner Tageblatt vom 14. Juli 1902. Das Bundesbuch, das sehr wohl als Literaturdenkmal der Veröffentlichung wert wäre, befindet sich im Besitz von Herrn Dr. Georg Blume in Magdeburg. ein immer größerer Freundeskreis. »Er war der Kern, und sie waren sein Dunstkreis.« In dieser Gruppe begeisterter und radikal vorwärtsstürmender Jünglinge, die in sich Kräfte fühlten, reifte etwa Ende 1883 der Gedanke, einen eng geschlossenen Geheimbund zu errichten. Die meisten von ihnen hatten einst das Lesekränzchen Eos gebildet, aber diese alte Form mit dem sinnigen Namen genügte ihnen nicht mehr. Ihr neuer Zusammenschluß sollte ein Bund von wahren Vollmenschen sein bezw. werden. Sie waren bei der Aufnahme neuer Brüder sehr vorsichtig, sie prüften den sich Meldenden genau und verlangten vor der Aufnahme von ihm einen Aufsatz, aus dem sich ergäbe, wie sehr der Betreffende an sich gearbeitet und wie weit er sich zum freien Menschentum durchgerungen hätte. Die neue Vereinigung nannte sich der »Bund der Lebendigen« ( Viventes), und ihm widmete in dem schlichten Bundesbuche, das man anlegte, Blume einen Satz Spielhagens: »Uns ist nicht das schlechtere, doch das schwerere Los gefallen. Wir sollen schaffen und wirken, rastlos, ruhelos, denn nimmer schläft die Tyrannei. Wir sollen arbeiten und schaffen, daß die Nacht weiche, in welcher es dem Braven unheimlich und nur dem Schlechten heimlich ist; die Nacht, durch deren dunkle Schatten soviel romantische Larven und phantastische Gespenster huschen; die Nacht, die so arm an gesunden Menschen und reich an problematischen Naturen – die lange, schmachvolle Nacht, aus welcher nur der Donnersturm einer Revolution hinüberführt zur Freiheit und zum Licht!« Der Bund, dessen Protokolle bei einer drohenden Untersuchung leider verbrannt wurden, wollte für das Gute, Wahre und Schöne wirken. Er wünschte die Begründung der Moral unabhängig von der Religion, er bekämpfte den reinen Skeptizismus, den die Mitglieder in sich zumeist überwunden hatten, und verlangte in künstlerischer Beziehung die Rückkehr zur Natur. In regelmäßigen Sitzungen im Zimmer eines Restaurants wurden die einzelnen Themen ausführlich von den dazu bestimmten Referenten vorgetragen. Daran schloß sich die lebhafteste Disputation, über die man genau Protokoll führte, und wie sehr die einzelnen bei der Sache waren, geht schon daraus hervor, daß kaum einer mehr als ein oder zwei Glas Bier trank, trotzdem man bis tief in die Nacht hinein zusammenblieb. In jugendlicher Begeisterung brachten die Bundesmitglieder sogar, obwohl selber ziemlich mittellos, doch einiges Geld auf, das sie als Fonds im künftigen Kampfe mit Wort und Schrift verwenden wollten. Am Sonnabend nachmittag wanderten die »Lebendigen« gemeinsam nach dem Park Herrenkrug oder nach dem Roten Horn hinaus und lasen sich ihre Dichtungen vor oder disputierten beim Kaffeetrinken wie beim Wandeln durch die dunklen Kastanienalleen oder saßen bei einer alten, von einer mächtigen Eiche überschatteten Grotte, von der man weit über die Elbwiesen blicken konnte.
Conradi war nicht der Vorsitzende oder das »Zentralmitglied« des Bundes, dem die Leitung des Ganzen zufiel, aber er sicherte sich die Rolle des geistigen Führers, und wußte seinen Posten durch die ihm eigene glänzende Begabung und sein leidenschaftliches Eintreten für die Ziele des Bundes auch auszufüllen. Er trat auf als begeisterter, ja fanatischer Wortführer im Streit gegen alle möglichen sozialen Verlogenheiten und Uebelstände der Zeit und bezeichnete sich selbst als »moderne Kämpfernatur«. Sich frei fühlen von allem Zwang war für ihn das Ideal; und wenn auch die von ihm damals schon gelesenen Bücher Max Stirners und Friedrich Nietzsches ihn noch nicht so ergriffen wie später Daß Conradi schon als Schüler etwa 1883 und 1884 Stirner und Nietzsche gelesen hat, bezeugt einer seiner besten Jugendfreunde. Er ist nicht durch John Henry Mackay, den Wiedererwecker Stirners, den er in Berlin kennen lernte, zum Studium des Buches: »Der Einzige und sein Eigentum« am geregt worden. und Schopenhauer in ihm nicht verdrängten, so hatten doch bereits zu jener Zeit seine Freunde den Eindruck, daß er einem starken Radikalismus huldige, und der Vater seines Freundes Schuster verbot seinem Sohne sogar ernstlich den Verkehr mit diesem »Anarchisten«. In einer Debatte verschwor sich Conradi sogar, er werde sich eher vor ein Kriegsgericht stellen lassen, als dem Könige den Soldateneid schwören. Aber er riß seine Freunde nicht bloß durch seine oft gewagten Aeußerungen fort, er konnte sie durch sein rhapsodierendes Improvisieren besonders in stimmungsvoller landschaftlicher Umgebung entzücken, wenn er auf seine damaligen Lieblinge unter den Dichtern, Byron, Schiller, Kleist, Gutzkow, Lenau und Swinburne, zu reden kam (an Kirchbach, 9. September 1883).
Außer Conradi gehörten dem Bunde seine beiden »Herzgenossen« Blume und Bohne an, sowie Georg Gradnauer, Bernhard Mänicke, Johannes Schlaf, Siegmar Schultze und einige andere. Im ganzen waren es zehn bis fünfzehn Mitglieder, unter ihnen als auswärtiges auch Arthur Schuster. Sie schrieben in Prosa und in Versen nieder, was sie über Kunst, Dichtung, Philosophie und Leben fühlten. Der eine polemisierte gegen Zola und meinte:
»
Künstlich mag es wohl sein, das Leben getreulich zu schildern,
Und das
Leben allein ist ja noch längst nicht die
Kunst.«
Und derselbe wandte sich auch gegen Hanslicks Kritik der Werke Richard Wagners und erklärte:
»Bänkelsängergewäsch so nennst
du die herrlichen Klänge!
Tannhäusers wahnsinnig Lied, flammendurchlohten Gesang?! … –
Mögen, die Aehnliches fühlen, dir folgen als kritischem Führer,
Wir sprechen nach der Kritik jegliches Urteil dir ab.«
Andere schrieben philosophische Betrachtungen über das »Weib«, donnerten gegen den »bornierten« Konservativismus, und Conradi entwickelte seine »Gedanken über Geistesfreiheit«. S. Bd. I, S. 235-238. Vielfach klang wie auch in den Debatten als Unterton der Gedanke der Revolution an. »Und es werden Zeichen geschehen an Sonne, Mond und Sternen!« meint einer der Lebendigen. »Seht ihr nicht? Hört ihr nicht die Vernichtungsorkane einer Götterdämmerung brausen? Aber es weht Frühlingsodem drin!« Und ein anderer singt:
»Nicht in Nazareners Blute
Werdet Ihr Erlösung finden –
Blut der
Pfaffen, Blut der
Könige,
Das erlöst euch von den
Sünden.«
Und ein dritter meinte: »Selten hat sich eine lächerliche Lüge so beharrlich erhalten wie das » Dei gratia« der Fürsten auf den Münzen … Oh, daß doch der Tag der großen Umprägung anbräche, da wir mit der Glut der Erbitterung und den Flammen der Begeisterung jene Lüge von den Münzen zugleich mit dem Bildnisse ihrer Urheber tilgen können, und mit der Faust der Ueberzeugung ihnen ein anderes Gepräge aufdrücken, daß uns auf ihnen nur entgegenstrahlten die leuchtenden Bildnisse der Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit.« Und in die kühne Revolutionshoffnung hinein klang auch wohl ein ahnungsvoller Ton, und einer schrieb: »Unsere Ideen durchmessen einen weiten Raum, den unsere Taten nur zum Teil durchdringen werden. – Unser Grab liegt mitten auf dem Plan, und wir gehen so oft ahnungslos daran vorbei.« – »Brüder, wir tragen das Banner! Brüder, auf uns zielt der Feind! Seht auf unser Banner! Fühlt ihr, daß es einst unsern Tod sehen wird?«
Trotz ihrer revolutionären Aeußerungen waren die »Lebendigen« mit wenigen Ausnahmen keine revolutionären Naturen und gingen später zumeist schlicht ihre bürgerliche Straße. Die schönste Aufzeichnung aus der Schulzeit ist sicherlich das folgende Gedicht Conradis:
»Hast du es
tief erkannt,
Daß, was das Leben bietet,
nichts als Tand:
Dann bist du allein –
und keiner versteht,
Was wie eine
Offenbarung
Durch deine Seele geht!!
S. Bd. I, S. 11.
Conradi empfand es als eine Erlösung, als die Tage der Reifeprüfung herankamen. Er war für die Lehrer nie ein bequemer Schüler gewesen, er zeigte ihnen bei aller Ehrerbietung ein stark entwickeltes Selbstbewußtsein, und namentlich den im Deutschen unterrichtenden Herren verursachte er durch seinen »struppigen« Stil und seine schwer lesbare Handschrift manche Qual. Er fühlte sich seinen Lehrern durchaus überlegen, und mit Befriedigung schrieb er später an Karl Henckell (17. März 1885): »Die Leutchen scheinen eben nicht begreifen zu wollen, daß man geistig schon jahrelang selbst zu der Zeit, wo man scholastisch von ihnen abhing, über ihnen gestanden hat!« Seine Vita, die er im Januar 1884 vor der Prüfung einreichen mußte, bildet durch ihre Eigenart und ihren Inhalt ein interessantes und gut in sich geschlossenes Gegenstück zu der an Kirchbach geschickten Lebensbeichte. Als Thema für den Aufsatz der Reifeprüfung stellte der Propst Dr. Urban den Satz: »Frei ist nur, wer sich selbst sittlich bindet!« Bei der Beurteilung erklärte er: »Die früheren Aufsätze Conradis zeigten ein ernstes Nachdenken und waren oftmals gut; nur einige standen dadurch zurück, daß Conradi sich gern auf Gebiete begibt, wo ihm einstweilen noch die positiven Kenntnisse fehlen, oder daß er pointierte Ausdrücke wählte, die viel zu bedeuten schienen, während dies in Wirklichkeit nicht der Fall war. Dabei vermied er möglichst die Anlehnung an die Stoffe des Unterrichts, um eine höhere Selbständigkeit, ja selbst Originalität zu prästieren. Auch der vorliegende Versuch verschmäht absichtlich das Eingehen auf Begriffe, wie sie der Schulunterricht geläufig gemacht hat, und ist aus dem Eigenen herausgearbeitet.« Im Reifezeugnis (vom 1. März 1884) ward außer seinem lobenswerten Betragen auch sein Fleiß und sein sehr lebendiges wissenschaftliches Interesse anerkannt. Auf Grund seiner Leistungen, die – abgesehen von Mathematik und Physik (genügend) – durchweg gut waren, befreite ihn die Prüfungskommission vom mündlichen Examen.
Wohl war Conradi jetzt der verhaßten Fesseln ledig, und er jauchzte: »Meine Lehrjahre sind endlich abgelaufen – der Strom, er läuft zu Ende – ich reibe mir die Hände – puh – der war öde – kalt – nun kommen die Jahre, die andern – da heißt es zu wandern, zu wandern – es reißt mich fort mit Gewalt«! (an Schöltgen. 28. Februar 1884). Aber es frug sich nun, was er weiter anfangen sollte. Welche Debatten es zu Hause damals gab, das hat er selbst mit Lebensplastik in den autobiographischen Erinnerungen der »Phrasen« geschildert. Er wollte studieren, aber seine Eltern konnten ihm dazu nur einen geringen Zuschuß geben, den Rest hoffte er durch Stipendien, Stundengeben und Schriftstellerei zu erwerben. Es war für ihn ein schwerer Anfang. Und dabei wollte er kein eigentliches Brotstudium wählen, durch das er zu einem geregelten Einkommen gelangte. Schon am 22. März 1883 hatte er Schuster geschrieben, er werde nie und nimmer Philologie als Brotstudium treiben, sondern sich philologischen Studien nur nebenbei widmen, vor allem aber Literaturgeschichte, Aesthetik, Philosophie studieren, denn er werde sich seines Schriftstellerberufs von Tag zu Tag bewußter. Er wäre am liebsten sofort nach München gegangen. Dorthin suchte ihn Julius Grosse zu ziehen, welcher die geistige Atmosphäre Berlins für zu gefährlich für freie Entfaltung einer Dichternatur hielt (an Kirchbach. 9. September 1883). Auch wollte ihn Grosse dort bei Heyse, Carrière, Trautmann, Lingg, Schack und Stieler einführen. Und gern wäre Conradi, der von je für den Süden so geschwärmt, dem verlockenden Rufe gefolgt, aber die zu ungünstigen Familienverhältnisse und die Hoffnung auf Erwerb und Stipendien veranlaßten ihn, die nahe gelegene Universität Berlin zu beziehen. Dort ward er im Sommersemester 1884 immatrikuliert und studierte offiziell Literatur und Philosophie, allerdings meist privatim, er belegte nur die nötigsten Vorlesungen, »einerseits um nicht dem akademischen Zopfstil zu verfallen, andrerseits, weil er«, schrieb er an Leixner (8. Dezember 1884), »nicht mehr Mittel hatte«. Besonders hoch dachte er vom Universitätsstudium überhaupt nicht; er wolle – so äußerte er sich gegenüber Margarethe Halm (30. März 1884), » pro forma einige Kollegs hinunterschlucken – man muß auch diese Seite des modernen Lebens per oculos kennen lernen«.
Mit einer Welt von Entwürfen kam Conradi nach Berlin; immer neue Pläne tauchten in ihm auf, ohne daß er die schon begonnenen beendet hätte. Noch in der letzten Magdeburger Zeit, wo er in sinnlich schwülen mitternächtigen Stunden seine Künstler-Liebesergüsse an Margarethe Halm aufs Papier schmetterte, arbeitete er an der Neuausgabe von Daniel Leßmanns (1794-1831) »Wanderbuch eines Schwermütigen« und schrieb an den »Memoiren eines Hauskaters«, welche »toll-dreist-fromme Geschichten mit moralischem Auswurf« werden sollten (an Schöltgen. 28. Februar 1884).
Aber den Hauptschlag wollte er mit der von ihm geplanten Broschürenreihe und seinen Romanen und Gedichten führen. Besonders hoffte er auf die Lieder eines Sünders, die er Kirchbach zu widmen gedachte. »Da sollen Sie Lyrik kennen lernen!« schrieb er Margarethe Halm (März 1884). »Und das fulminante Vorwort! Wie ein flammenspeiendes Manifest, eingegraben in unsterblichen Asbest!«
Indessen gelang es ihm nicht, sich sofort in Berlin Einfluß zu sichern. Wohl wurde er Mitarbeiter an den von Rudolf v. Gottschall geleiteten »Blättern für literarische Unterhaltung«, erhielt sogar von Sacher-Masoch die Mitredaktion der Zeitschrift »Auf der Höhe« angeboten (an Schöltgen. 27. September 1884) und fand auch Aufnahme in dem Kreise, den die Gebrüder Hart um sich gesammelt hatten: aber er blieb im ganzen zunächst noch unbekannt. An den wilden und haßerfüllten studentischen Kämpfen, die damals das akademische Leben Berlins erfüllten, nahm er keinerlei Anteil. Weder sein Mangel an Geld, noch sein schwaches, für Versammlungen nicht ausreichendes Organ gestatteten ihm, unter den Kommilitonen hervorzutreten, wenn schon er durch seine ganze Erscheinung, insbesondere durch seinen »Anarchistenstürmer« (einen Kalabreser mit ungewöhnlich breiter Krempe), durch seinen Knotenstock und seinen selbstbewußten »Poetenschritt« öfters aufgefallen sein mag. Auch fand er mit seinen literarischen Ansichten im Akademisch-literarischen Verein, dessen Mitglied er zugleich mit Bohne im Sommersemester 1884 wurde, heftigen Widerspruch, zumal bei einem Vortrag, in dem er mit größtem Feuer die ihm und seinen Freunden vorschwebenden Ziele einer neuen Literatur darstellte, und er trat im Sommer 1885 auf den Rat eines älteren Mitglieds, Dr. Ellingers, aus dem Verein wieder aus, dessen Bestrebungen sich damals auf ein durchaus rezeptives Verhalten richteten. Seinen Sympathien nach stand er bei den wüsten Ausschuß- und Lesehallenkämpfen, die im Dezember 1884 in dem Duell Holzapfel-Oehlke einen Höhepunkt erreichten, nicht auf der Seite des antisemitischen Vereins Deutscher Studenten. Er selbst hatte »sehr starke demokratische Akzente in puncto Politik«, obgleich er mit keiner Partei »konform« war (an Fritsche. 18. Mai 1885), und hielt sich daher zur Gruppe der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung. Wenn er nun auch nicht – wie später seine Freunde Blume und Bohne für kurze Zeit (1886) – Mitglied derselben wurde, so trat er doch ihrem bekannten Führer Ganske näher, ließ sich am 28. Oktober 1884 mit seinem Freunde Bohne unter dem Vorsitz von Alfred Oehlke, dem Vertreter jener Vereinigung, ins Direktorium der Akademischen Lesehalle hinzuwählen und übernahm die Verwaltung der Zeitschriften. In der Sitzung vom 1. November wurden Bohne und Conradi mit der Abfassung eines Aufrufs zur Sammlung für das Grimmdenkmal beauftragt, doch trat Conradi schon am 12. Dezember aus dem Direktorium aus. Aus den Akten der Lesehalle mitgeteilt von Dr. Deibel. Daß er sich aber für studentische Angelegenheiten sehr interessierte, zeigt auch seine Teilnahme an der Wartburgversammlung der Reformburschenschaften am 18. Oktober 1884, wo er mit ihrem Führer Eugen Wolff bekannt wurde und ihn für seine literarischen Pläne zu gewinnen suchte. Ueber die Berliner Studentenverhältnisse und die damaligen Kämpfe berichtet eingehend das Buch von Schulze und Ssymank: »Das deutsche Studententum von den älteren Zeiten bis zur Gegenwart« (Leipzig 1910) S. 311-334 Ueber die studentische Wartburgversammlung s. den Bericht von Schnobel im Jahrbuch des Allgemeinen Deutschen Burschenbundes 1908 S. 26 f. Auf dem Gruppenbild nach S. 32 befindet sich auch Conradi.
Im übrigen verging sein Leben abseits von dem der andern Studenten. Die anfänglich noch nicht viel bringende Tagesschriftstellerei, das Privatstundengeben und der Kollegienbesuch nahmen einen großen Teil seiner Zeit weg und hemmten sein eigentliches Schaffen. »Wenn ich in dem zersplitternden Treiben einmal eine ruhige Stunde und eine flüssige Stimmung habe,« schrieb er an Leixner (8. Dezember 1884), »denke ich an Höheres und schaffe an Größerem! Leider komme ich durch das konstante Aufnehmen und Wiederfallenlassen oft in die verbittertsten Stimmungen und mache mich zu einem Arbeiten auf beiden Gebieten, dem der äußeren und dem der inneren Pflicht, untauglich!« Dazu kam der ausgedehnte Briefwechsel und so manche Abhaltung, die Teilnahme an studentischen Kneipen in engerem Kreise und der Verkehr mit den verschiedenen literarischen Zirkeln Berlins. Auch der »Bund der Lebendigen« fand sich teilweise dort wieder zusammen, ja Conradi scheint, wie sich aus dunklen Andeutungen in Briefen ergibt, sogar beabsichtigt zu haben, daraus eine Art von Geheimbund zu machen, der für die Durchführung seiner Ideale in ganz Deutschland wirken sollte. 1885 trat Arno Holz dem Bunde näher und schrieb als letzter ein Gedicht in das Bundesbuch. Auch Conradis alter Jugendfreund Saran tauchte 1885 plötzlich in der Mitte seiner ehemaligen Kameraden auf, um bald für immer zu verschwinden. Seltener traf Conradi mit dem Schriftsteller Paul Fritsche zusammen, der 1885 von Frankfurt a. O. nach Berlin übersiedelte. Er stand diesem heute vergessenen und doch für jene Zeit so charakteristischen Dichter bis zu dessen Lebensende nahe und schätzte ganz besonders auch dessen Schwester Elisabeth, die er Pfingsten 1885 bei einem Besuch in Frankfurt kennen lernte. »Das ist ein stolzes Weib!« rühmte er. »Sie leidet wenigstens nicht am geistigen Warzentum!« (an Fritsche. 31. Mai 1885. An Blume. 23. Juli 1886).
Von größerer Bedeutung für Conradis inneres Leben war sein Liebesverhältnis mit einer Verkäuferin Louise Schlamäus, die sich in der ungesunden Großstadtatmosphäre ihre völlige Reinheit bewahrt hatte und mit der nur Liebenden eigenen Anpassungsfähigkeit sich in seine Eigenart einzuleben suchte. Sie faßte das Verhältnis, das nach dem Urteil von Conradis Freunden ein rein ideales, platonisches blieb, zu ernst auf, während Conradi, der sich in jeder Beziehung frei fühlen wollte, nie daran dachte, die Hoffnung des Mädchens auf eine Ehe zu verwirklichen und deshalb nicht ohne Spuren innerer Kämpfe wohl Ende 1885 alle Beziehungen zu ihr abbrach. Conradi selbst schildert sein Liebesverhältnis ausführlich im zweiten Kapitel der »Phrasen«.
Das ganze, etwas romantisch angehauchte Leben, das er in Berlin führte, war äußerst aufreibend und ungesund. Vom Morgen bis zum Abend arbeitete er geistig angestrengt, des Mittags hatte er keinen Appetit, und er mußte abends, um das körperliche Gleichgewicht wiederherzustellen, größere Ausgaben machen, die seinen Einnahmen nicht entsprachen. Bis tief in die Nacht hinein – oft bis 3 oder 4 Uhr – blieb er dann mit seinen Freunden zusammen, und wenn er dabei auch nur wenig trank, so rauchte er desto mehr und zwar bloß schwere Zigarren. Man bevorzugte bei den Zusammenkünften die sinnlich aufregende Atmosphäre von Weiberkneipen, und Conradi suchte oftmals den dort bedienenden Kellnerinnen eine tiefere Innerlichkeit abzugewinnen, ja, er lieh ihnen öfter sogar Bücher, und besonders eine Russin, Octaviana von Germanow – wie sie sich statt mit ihrem bürgerlichen Namen Mellberg nannte – machte durch ihr rassiges Wesen und ihr Prunken mit gelehrten Ausdrücken einen tiefen Eindruck auf ihn. In mancher Nacht, wo er daheim Schlaf suchte, lag er besonders im Winter 1884-85 in beängstigend schweren Asthmaanfällen und bedurfte dann der Freundeshand von Georg Blume als Trost in seiner tödlichen Angst.
Sehr schlimm für Conradi war es, daß sich seine Vermögensverhältnisse immer übler gestalteten. Im ersten Studiensemester hatten ihm seine Eltern noch einen kleinen Zuschuß gewähren können, aber Mitte 1884 erlitt sein Vater einen sehr großen Verlust, der allem Anschein nach den Anfang des nun immer schnelleren geschäftlichen Rückgangs bildete. Hermann verbürgte sich für ihn. Jetzt sollte er, der völlig mittellos Gewordene, Zahlung leisten. Stunden der hellsten Verzweiflung kamen über ihn, von denen sein Freund Schöltgen, welcher ihn Mitte September in Magdeburg besuchte, Augenzeuge war. Conradi litt psychisch und physisch fürchterlich; nicht bloß für ihn, sondern auch für seine Familie stand alles auf dem Spiele. Er sah kaum einen Ausweg und die düstersten Gedanken beschlichen ihn. »Ach – es ist hart – fürchterlich schwer für mich,« (so klagte er Schöltgen. 18. Sept. 1884), »aber ich habe jetzt den Entschluß in mir gefestet, ruhig und gelassen – auch auf das Schlimmste gefaßt zu sein – und – ebenso ruhig nachher die Negation meines Ichs zu vollziehen. Quid nocet? Kein Hahn kräht nach einem – die Welt gehet ruhig weiter – die Freunde denken noch manchmal in später Nachtstunde an den früh Geschiedenen – und – das ist alles … Die Welt ist für wahre Humanität nicht zu erziehen – die Geister, die sie verstehen, sind meistens armseligste Kirchenmäuse … Das Leben ist eben brutal – brutal wie ein Unteroffizier oder ein Despot …« Durch die Bürgschaften, die damals zwei Freunde für Conradis übernahmen, wurde er zwar aus der augenblicklichen Not befreit, aber er hatte von nun an von seinen Eltern keine Unterstützung mehr zu erwarten, ja er mußte sogar vom 1. Januar 1885 ab monatlich Abzahlungen an die Magdeburger Gläubiger leisten. Von jetzt an galt es für ihn, Geld zu erwerben, und die Not machte ihn erfinderisch. Als er trotz aller Bemühungen in den üblichen Gymnasialfächern keine Stunden erhielt, annoncierte er, auf seine sprachliche Begabung bauend, Schwedisch und Spanisch und arbeitete sich unter Zuhilfenahme der Nacht dann tatsächlich so weit ein, daß er den gewonnenen Schülern Unterricht erteilen konnte. Aber die Honorare für seine Schriftstellerei und seine Privatstunden reichten doch für alle Bedürfnisse nicht aus, und so wurde von jetzt ab bis an sein Lebensende der Geldmangel bei ihm chronisch. Er versuchte krampfhaft, eine leidlich bezahlte Stelle als Redakteur, Hauslehrer oder Erzieher zu erhalten, um wenigstens ein Fixum von 40 bis 50 oder mindestens von 30 Mark monatlich zu haben, aber vergeblich. Es fand sich auch kein Mäzen, der – wie Conradi hoffte – ihm Geld vorschösse, damit er seine Studien vollenden könne (an Leixner, 25. Oktober 1884).
Diese materielle Not, unter der er von nun an zu leiden hatte, macht vieles in seinem Schaffen und Arbeiten erst recht verständlich: was er von jetzt an leistete, rang er vielfach in hartem Kampfe seinem Schicksal ab. »Ich habe eben«, so schrieb er an Leixner, »in meinem jungen Leben Hartes und Schweres schon über Gebühr erlitten – ich weiß wenig von dem Sonnenleben des freien, unabhängigen Künstlers – ich habe jahrelang im Schatten dulden, leiden, schmachten, kämpfen müssen! Aber als ob ein Fluch auf mir läge – ich komme immer tiefer in die Mysterien des Unglücks hinein! Meine Kunst ist in Gefahr, zur Dirne, zur Prostituierten herabgedrückt zu werden!« Gleichwohl fühlte er seine Kraft noch nicht gebrochen und blickte mit hoffenden Augen in die Zukunft. »Noch schreite ich durch Wolken und Nebel,« äußerte er zu Leixner (8. Dez. 1884), »augenblicklich wieder durch dichtere Massen als in den letzten Wochen, wo es lichter werden zu wollen schien, – aber nur schien eben! – doch küßt vielleicht auch meinen Scheitel noch einmal die Sonne – wenn auch nur flüchtig … darf ich mehr verlangen – ein Proletar, ein Heimatloser?«
Als Schriftsteller ward jetzt Conradi allmählich bekannter. Seiner Anwesenheit auf der Wartburg verdankte er die Verbindung mit Dr. Konrad Küster, dem Begründer der Reformburschenschaften, und er fand Eingang bei den von ihm ins Leben gerufenen Studentenblättern. Auch das »Magazin für Literatur« war ihm seit 1883 nicht mehr verschlossen, er erhielt sogar schon länger für dieses Blatt Rezensionsexemplare von Wilhelm Friedrich, doch hatte sich letzterer über die Nichtlieferung der Besprechungen öfters zu beklagen. Ueberaus wertvoll wurden für Conradi die Beziehungen, die zwischen ihm und dem Hartschen Kreise bestanden, und diejenigen zu dem vermögenden Wilhelm Arent. Zu dessen Gedichtsammlung: »Aus tiefster Seele« schrieb er Ende 1884 die Vorrede. Und ihm verdankte er es wohl auch, daß die Leßmann-Ausgabe Anfang 1885 endlich erschien. In den Vorreden zu beiden Werken hatte er sein Programm schon angedeutet, und ganz besonders betonte er als seine Hauptforderung den Idealismus. Er träumte von einer »erneuerten, mit neuen Lebenssäften durchtränkten, großen, allumfassenden, gewaltigen, starkgeistigen Kunst« (an Conrad. 6. Januar 1885) und meinte stolz: »Des bin ich gewiß: die Zeit bricht an – wir stehen schon im Frührot der großen Bewegung« (Einleitung zu Arents Gedichten S. die Einleitung zu Arents Gedichten und zur Neuausgabe des Leßmannschen Buches in Bd. II, S. 229 ff., S. 135 ff.. In ihm verkörperte sich schon damals die eine Richtung der Moderne, die dann in Friedrich Nietzsche ihren Höhepunkt und ihre Vollendung erreichen sollte. » Wir wollen ja eben«, schrieb er Schöltgen (27. Sept. 1884), »die Persönlichkeit wecken – die heute zerschlissen, verwischt, nivelliert wie die Wangen eines glattrasierten Kirchenfürsten.« Und seit seiner ersten Anwesenheit in Berlin hatte er es gefühlt, daß er im Gegensatz zu dem dortigen Wesen und dem seiner Schriftstellerwelt stand. »Aber Berlin!« meinte er gegenüber Schöltgen (7. Juni 1884). »Die üppige Dirne läßt einen ihr bisher Fremden vorläufig nicht wieder los – sie reißt ihn von Strudel zu Strudel! Nun habe ich die Hälfte des literarischen Deutschlands kennen gelernt! Ach – wieviel Träume sind da zerstoben! Der Rest ist Schweigen! Aber diabolisches Lachen keine Sünde!« Und noch härter beurteilte er die Autoren in einem Schreiben an M. G. Conrad, ja nur wenige von ihnen erkannte er als sittlich einwandfreie Persönlichkeiten an. Und an Paul Fritzsche schrieb er (28. April 1885): »Ich bin ganz Ihrer Meinung – und habe in meinem Kreise und soweit es mir möglich war, auch in meiner journalistischen Tätigkeit, auch immer betont, daß die ursprünglich – göttliche Dichterkraft resp. Künstlerkraft, auch den Menschen κατ' ἐξοχήν – die Bestie, die man im Grunde doch ist – erziehen, bilden, veredeln soll! Das ist allerdings keine Berliner Parole! Kennen Sie das Berliner Jungdeutschland näher – ja? Na – ich will Ihnen vorläufig noch nichts verraten – aber wenn – wenn es nicht noch andere Vertreter unserer Neuerungsideen anderswo, z. B. in München, gäbe – (Conrad, Kirchbach usw.) – dann könnten wir uns gratulieren!« Und da er selber trotz eifrigen Bemühens das große, von ihm erträumte Kampforgan nicht zustande brachte, das »Haare auf den Zähnen haben müsse und in den Haarwellen des Hauptes das Diadem der Kunst« (an Schöltgen. 27. Sept. 1884), so richtete er jetzt all seine Blicke auf München, wo am 1. Januar 1885 die erste rein jungdeutsche Zeitschrift, die »Gesellschaft«, von dem »stählernen« M. G. Conrad in die Welt gesandt wurde.
Das Erscheinen dieses Blattes war ein weithin tönendes Signal zum Kampfe zwischen der älteren und der neueren Richtung, und bald fand letztere auch in Berlin lebhafte Unterstützung durch das Kampfbuch, das Conradi, Arent, Henckell und die Gebrüder Hart unter dem Namen » Moderne Dichtercharaktere« zu Anfang 1885 erscheinen ließen, und das dann in der ersten Literaturbroschüre Karl Bleibtreus »Die Revolution der Literatur« am 26. Januar 1886. und in der schwachen Veröffentlichung Paul Fritsches: »Die moderne Lyriker-Revolution« seine Ergänzung fand. Die Anregung und der Plan des Ganzen in seinen Umrissen ging von Henckell aus, die Zusammenstellung dagegen lag, nachdem die Harts sich zurückgezogen, in den Händen von Arent und Conradi, welcher Ende 1884 eine eigene Sammlung: »Unser Kredo« geplant hatte. Conradi schrieb dazu das erste Vorwort: »Unser Kredo«, Henckell das zweite: »Die neue Lyrik«. Die Anthologie war zweifellos ihrem Inhalte nach ein eigenartiges und auch epochemachendes Literaturdenkmal. An ihr beteiligten sich zweiundzwanzig Schriftsteller. Bei der Auswahl der Autoren waren die Herausgeber infolge der Kürze der Zeit durchaus willkürlich vorgegangen, mancher Gleichgesinnte, wie z. B. Detlev v. Liliencron, der Dichter der »Adjutantenritte« (1883), fehlte in der Sammlung, und andrerseits hatte man, zum Teil ohne dazu wirklich befugt zu sein, ältere Dichter wie Wolfgang Kirchbach, Oskar Linke und Ernst v. Wildenbruch aufgenommen, die sich sehr bald energisch gegen die Tendenz des Buches aussprachen und wie Linke nichts mit den »Stürmlingen und Dränglingen« zu tun haben wollten. S. die Erklärung von Lincke (Deutsches Dichterheim, 1886, S. 255), von Kirchbach (Deutsche Schriftstellerzeitung, 1885, Spalte 556), die gegen ihn gerichtete Erklärung von Bleibtreu (ebenda Spalte 575 f.) und die zweite Erklärung Kirchbachs (ebenda Spalte 576-578). Aber auch wenn man von den Dichtungen dieser drei Aelteren absieht, bietet die Sammlung des Interessanten genug. Allerdings offenbarten sich darin nur die Harts und Arno Holz als schon klar bestimmte Dichterphysiognomien, und für die übrigen hatten die Herausgeber mit Recht als Motto das Lenzsche Wort gewählt: »Der Geist des Künstlers wiegt mehr als das Werk seiner Kunst.« Sie erschienen als durchaus unfertig und in voller Gärung begriffen, sie rangen noch heiß um ihre Weltanschauung und konnten von Bombast und Phrasenschwulst noch nicht loskommen, und manchem von ihnen war als Dichter überhaupt keine Zukunft beschieden. Aber trotz aller ihrer Schwächen, insbesondere trotz ihrer vielfachen Hinneigung zu weltschmerzlichem Pessimismus und schwüler, ungesunder Sinnlichkeit, zeigte die Sammlung, daß in der Jugend neue Kräfte lebten, daß dieselbe erfüllt war von den gewaltigen Zeitideen, daß in ihr der soziale Gedanke und bei aller Feindschaft gegen das Christentum ein vertieftes religiöses Bewußtsein glühte. Diese Jugend hatte durchaus ein Recht, gehört und ernst genommen zu werden. Ihrer Sehnsucht lieh besonders Conradi in der Vorrede S. Bd. II, S. 3 ff. glühende Worte, sie träumte von einer Literatur, »die aus germanischem Wesen herausgeboren, in sich stark und daseinskräftig genug wäre, um für alle Durstigen, mögen sie nun Söhne des Tages oder der Nacht sein, Stätte und Zehrung zu haben«, und sie verwarf mit geringen Ausnahmen die herrschende Literatur, denn »sie zeigt den Menschen nicht mehr in seiner konfliktgeschwängerten Gegenstellung zur Natur, zum Fatum, zum Ueberirdischen. Alles philosophisch Problematische geht ihr ab. Aber auch alles hartkantig Soziale. Alles Urewige und doch zeitlich Moderne«. Aber mit ihrem »prophetischen Gesang und jauchzenden Morgenweckruf« (Henckell) an die ganze deutsche Jugend fanden die »Modernen Dichtercharaktere« nicht den Widerhall, den sie erhofften. Aber sie erlebten die Genugtuung, daß sich hochgeachtete Kritiker, wie Otto von Leixner und Rudolf von Gottschall, mit ihren Erzeugnissen eingehend beschäftigten und, soweit es ihnen von ihrem abweichenden Standpunkt aus möglich war, ihren Bestrebungen Gerechtigkeit zuteil werden ließen. Viel Anstoß und den Zorn maßgebender literarischer Kreise erregten die Herausgeber der Anthologie mit ihren ungerechtfertigten Ansprüchen, denen das dichterische Können keineswegs entsprach. So behauptete Henckell: »Wir haben in den letzten Dezennien weder eine moderne, noch eine deutsche, noch überhaupt eine Lyrik besessen, die dieses heiligen Namens der ursprünglichsten, elementarsten und reinsten aller Dichtungsarten nur entfernt würdig wäre … Ja, liebes Publikum, die anerkanntesten und berühmtesten Dichter unserer Zeit, die vortrefflichsten und bedeutendsten Autoren, wie die kritischen Preßwürmer sie zu bespeicheln pflegen, sind nichts weiter als lyrische Dilettanten.« Und während Conradi bloß den Anspruch machte, »endlich die Anthologie geschaffen zu haben, mit der vielleicht wieder eine neue Lyrik anhebt«, meinte Henckell geradezu: »Auf den Dichtern des Kreises, den dieses Buch vereint, beruht die Literatur, die Poesie der Zukunft, und wir meinen, eine bedeutsame Literatur, eine große Poesie …« Leider war es mir unmöglich, alle Preßstimmen über die »Modernen Dichtercharaktere« aufzufinden. Bekannt geworden sind mir folgende: »Auf der Höhe«, 1885, Nr. 44, S. 466 f. Leo Berg: »Eine neue Literaturströmung« (Deutsche Akademische Zeitschrift vom 21. März 1886). Otto v. Leixner: »Unsere Jüngsten« (Deutsche Romanzeitung, 1885, S. 139 ff., 207 ff., 281 ff). Rudolf v. Gottschall: »Jungdeutschland« (Blätter für lit. Unterhaltung, 1886, I, S. 387-390). Karl Bleibtreu: »Neue Lyrik. Kritische Studie« (Die Gesellschaft, 1885, S. 755) und in der »Revolution der Literatur« (S. 58 ff.). Gegen die unchristliche Gesinnung der »Dichtercharaktere« polemisierte später G. Oertel: »Die literarischen Strömungen der neuesten Zeit, insbesondere die sogenannten ›Jungdeutschen‹« (Heilbronn, 1887, S. 40 ff). Eine eingehende Analyse der Anthologie bot Paul Fritsche in seiner Schrift: »Die moderne Lyriker-Revolution (1885, über Conradi S. 42, 43) und neuerdings Adalbert v. Hanstein: »Das jüngste Deutschland« (Leipzig, 1901, S. 48 ff)..
Durch seine Vorrede trat Conradi zum ersten Male allen sichtbar als Führer der literarischen Jugend auf. Aber die Hoffnung, die man auf seine Lyrik setzte, rechtfertigte er doch nicht ganz. Künstlerisch Ausgeglichenes bot er nur in wenigen Gedichten, wie »Verlassen«, »Was gestern noch geblühet« und »Osterpsalm«, Wir bringen in Bd. I unter den »Dichtercharakteren« nur diejenigen Gedichte, die weder vorher noch in den Sünderliedern vorkommen. in den übrigen operierte er oft mit schemenhaften Begriffen und verlor sich bisweilen in pathetischen und bombastischen Phrasenschwulst, und mit einem Anflug von Spott meinte Bleibtreu in der »Gesellschaft«: »Nach dem alten Grundsatz: Denn wo nichts zu beißen und zu brechen hat, da stellt das Transzendentale zur rechten Zeit sich ein, schwelgen unsere Stürmer im Metaphysischen. Conradi, sonst als Novellist und Essayist ein ganz hervorragendes Talent, geht nicht ohne schauerliche Erhabenheit im »Purgatorio« und »Verlorenen Paradies« spazieren, betreibt mit heiligem Eifer die Entlarvung von allerhand »Pygmäen« und schleudert der nüchternen Welt manch gewichtiges Anathem auf die Perücke.« Und Otto von Leixner meinte: »Hermann Conradi ist noch gar nicht zu kennzeichnen: das brodelt und gärt durcheinander wie in einem Hexenkessel. Gute Gedanken stehen neben Unsinn, echte Empfindung ist mit unbewußter Schauspielerei verquickt; neben hochgestimmten Stellen macht sich die aufgeblasene Phrase breit.« Ein hohes Lob spendete dem jungen Dichter nur Rudolf von Gottschall, welcher erklärte: »Hermann Conradi hat von diesen Dichtern am meisten einen kraftgenialen Zug; alles wird bei ihm zum Hymnus, zum Dithyrambus, der oft ins Maßlose sich steigert. Dies Vulkanische kommt aber aus inneren Tiefen; es ist nicht gemacht, nicht forciert, und der phantasievolle Ueberschwang bedarf nur der künstlerischen Läuterung. »Licht den Lebendigen«, »Empörung«, »Totensang« sind solche wild hinausstürmenden Kraftstudien: ein starkes sittliches Pathos beseelt diese Gedichte; gegenüber der Sünde, der Heuchelei, der Unfreiheit wird die geistige Tat gefeiert.«
Bald nach der Herausgabe der »Modernen Dichtercharaktere« erschien als Erzeugnis einer tollen, übermütigen Fastnachtsstimmung bei Schabelitz in Zürich das » Faschingsbrevier für 1885«, das Johannes Bohne und Hermann Conradi unter Mitwirkung ihres Freundes Blume herausgaben. Die Idee des Büchleins ging von Conradi aus, und er nahm auch mancherlei redaktionelle Aenderungen an den Beiträgen vor, die in wenigen Tagen geschrieben waren. Die Keckheit der übermütig-satirischen Karnevalsstimmung wurde bei ihm zu einer Bevorzugung des Zotenhaften. Seine Verunstaltung der christlichen Antonius-Legende und die moderne Umbildung der alten, aus Homer geschöpften Göttersage von Ares und Aphrodite machen seinem künstlerischen Schaffen wenig Ehre; sie sind aber gleichwohl für sein Streben bezeichnend, sie tun dar, daß er seine in den »Modernen Dichtercharakteren« gepredigte hohe Kunstauffassung mit der Richtung des Naturalismus nicht vereinigen konnte und statt wahren Lebens Unflätereien bot.
Das Büchlein fand kaum eine nennenswerte Verbreitung, aber einzelne Kritiker sprachen doch ihre Anerkennung aus. So meinte Franz Koppel-Ellfeld in den Blättern für literarische Unterhaltung: »Ueber die Schrift der schneidigen Journalisten, die kein Blatt vor den Mund nehmen, ist es um Johannis herum zu spät, noch etwas anderes zu sagen, als daß man auf die Fortsetzung dieser polemischen Aphorismen gespannt sein darf« (1885, S. 510).
Im weiteren Verlaufe des Jahres 1885 entstand wohl noch eine Reihe andrer Skizzen, sowie ein sonst völlig unbekannt gebliebenes und verlorenes Lustspiel: » Ein Mäzen wird gesucht« (an Blume. 28. Juli 1886), ein Thema, das Conradi schon in der Skizze »Zwei moderne Märtyrer« (»Brutalitäten«) als »in Arbeit genommen« bezeichnete. Außerdem machte sich Conradi auf Kirchbachs Veranlassung an die Uebersetzung Byronscher Werke, ohne jedoch damit recht vorwärts zu kommen (an Kirchbach, 8. Oktober 1885).
Wie die »Faschingsbreviere« deutlich bewiesen, war sich Conradi noch keineswegs bewußt, wo die Stärke seines Könnens lag, und wohin die ganze Richtung seines Wesens ging. Er, der vom Leben schwer Getroffene und in seinem Idealismus so Getäuschte, wollte jetzt das gewaltige Berliner Leben in seinen Höhen und Tiefen erfassen und es in eine Reihe von Romanen zwingen, ja, er vermaß sich dessen schon gleich nach seiner Ankunft bei einer Kneiperei mit den Harts. Er hatte kein geringeres Ziel im Auge, als Max Kretzer »abzutrumpfen, der ja ganz guten Willen und ganz gute Kenntnisse haben mag«, an dem er jedoch den Stil und die psychologische Auffassung tadelte (an Fritsche. 28. April 1885). Aber zu seinem Vorhaben fehlte ihm alles. Er, den Bleibtreu als »reinen Toren« bezeichnete, und über dessen rührende Lebensunkenntnis ein Kenner wie Heiberg im Innern lächelte, ließ das ihn umflutende Leben nicht unmittelbar auf sich wirken, er besaß nicht die Ruhe und den scharfen Blick zum Beobachten, sondern machte sich aus dem, was er sah und hörte, ein mit Eklem und Widerwärtigem überladenes Weltbild zurecht, das er als Wahrheit ausgab, und das in Wirklichkeit weiter nichts war als eine Verzerrung. Er wollte die Brutalität und bodenlose Gemeinheit des Lebens darstellen – und kannte das Leben selber noch nicht richtig. Wie rührend naiv er zuerst sogar gewesen, geht am besten aus der Tatsache hervor, daß er anfangs gar nicht glauben wollte, er könne die geputzten Mädels der Friedrichstraße jeden Tag für Geld haben. Und statt das Gemeine in seiner Nacktheit darzustellen, verlor er sich – in dem Glauben, es zu tun – in raffiniert ausgeklügelte, Sinneskitzel weckende, aber innerlich lebensunwahre Situationen. Das Werk nun, in dem er das Berliner Leben darstellen wollte, und das alles andere eher als eine Besiegung Kretzers bedeutete, waren die » Brutalitäten«, die, mit einem kraß wirkenden Umschlag nach Art von Sensationsbroschüren versehen, etwa im Januar 1886 im Züricher Verlag von Schabelitz erschienen. Nach einem Brief an Kirchbach vom 8. Oktober 1885 sollten sie demnächst erscheinen. Beim Verlag selbst war über die Erscheinungszeit nichts festzustellen. Paul Fritsche schreibt seiner Schwester Elisabeth am 3. Februar 1886, sie seien im Januar erschienen. Auf dem Buchtitel selbst ist 1886 angegeben. Der Berliner Verleger G. Schuhr, mit dem Conradi das Abkommen getroffen, daß er ihm alle neuen Werke zuerst vorlegen werde (an W. Friedrich, 5. Juni 1886), hatte es nicht gewagt, die Erzählungen zu bringen.
Der stilistische Ausdruck der Novellen erschien durchweg gut, auch die Anlage der einzelnen Skizzen war der künstlerischen Geschlossenheit nach anerkennenswert, nur in der letzten Novelle nahm eine Jugendepisode zu viel Raum ein und zersprengte die Form. Zu großen Bedenken dagegen gab der Inhalt Veranlassung. Nur die erste Geschichte, eine rührende Erzählung aus dem Kinderleben, kann als völlig einwandfrei bezeichnet werden, und auch den Dialog zweier Schriftsteller, die sich mit dem Leben abfinden, darf man von dem harten Urteil, das man über die »Brutalitäten« fällen muß, ausnehmen. In den übrigen Erzählungen bewegt sich Conradi auf einem höchst zweideutigen Gebiet menschlichen Geschlechtslebens, allerdings nicht mit der Absicht, die Sinne zu kitzeln, sondern um in moralistischer Weise zu zeigen, daß das Leben brutal sei. Es ist keine kecke und derbe, aus Jugendmut entspringende frische Sinnlichkeit, die in der Dichtung sehr wohl ihr Daseinsrecht besitzt; im Gegenteil, diese ungesunde, wilde Gier scheint eher dem Gehirn eines raffinierten und abgelebten Roués zu entstammen als demjenigen eines vierundzwanzigjährigen Studenten, der in der Einleitung mit beredten Worten das Wesen des »realistischen Kunstkönnens« zu analysieren versuchte. Ja, in der Erzählung »Blut« ward der Naturalismus geradezu zur ekelhaft wirkenden Pornographie, die einem noch dazu wegen ihrer Gesuchtheit nicht einmal echt vorkommt.
Es ist daher nur zu begreiflich, daß diese Novellensammlung, die Conradi dem älteren Conrad widmete, bei ihrem Erscheinen mit gemischten Empfindungen aufgenommen ward. Ziemlich unbedingt lobend sprach sich nur Leo Berg in der Deutschen akademischen Zeitschrift aus (20. Februar 1886), nahe Freunde des Dichters dagegen, wie Blume und Bohne, lehnten sie durchaus ab, dasselbe taten Kirchbach und Bleibtreu, und letzterer wendete sich in seiner Revolutionsbroschüre (S. 61) ausdrücklich gegen »eine gewisse greisenhafte Raffiniertheit im Ausklügeln erotischer Probleme, die wenig mit dem kecken Mut jugendlicher Sturmdränger zu tun hat.« Noch schärfer gingen andere Kritiker mit den Novellen ins Gericht. Die »Grenzboten« (v. 27. April 1886, S. 418 ff.) schlugen als Titel für sie »Bestialitäten« vor und meinten von der letzten Erzählung: »Es ist einfach unmöglich, die ganze Brutalität oder vielmehr Bestialität des Vorganges wiederzugeben; durch das verlogene Pathos, welches hineingemischt wird, steigert sich die zynische Roheit der Schilderung zum Unerträglichen.« Und der »Literarische Merkur« (Weimar, 15. April 1886, S. 180 f.) erklärte: »Wenn wir sagen wollten, Bleibtreus Buch (»Schlechte Gesellschaft«) ist noch brutaler als Conradis »Brutalitäten«, so würde das unsern Lesern noch nichts nützen, denn sie können sich ja gar keine Vorstellung machen, wie brutal Conradis »Brutalitäten« sind.« Noch kürzer und bündiger erklärte Paul Schlenther In der »Deutschen Wochenschrift« (Wien). Gegen ihn polemisiert Conradi in der »Gesellschaft«. S. Bd. II, S. 10 ff. diese Novellen für schamlos.
Das letzte Werk, welches der Berliner Studentenzeit Conradis seine Entstehung verdankte, war das » Faschingsbrevier für 1886«, das ebenfalls bei Schabelitz in Zürich erschien. Auch dieses Büchlein ging wie das im Vorjahr aus dem Kreise der »Lebendigen« hervor. Conradi und Bohne waren die Herausgeber, die von nun das »unschuldige Nesselbüchlein« zu einem »satirischen Jahrbuch« erheben wollten, »in dem das gesamte scharfzähnige Jungdeutschland zu Worte kommen« und »jedwede Maulkörberei verpönt« sein sollte. Außer Blume beteiligte sich diesmal auch Johannes Schlaf mit einzelnen Beiträgen. Der Gesamtton der Anthologie war maßvoller als derjenige des vorjährigen Breviers, immerhin nahmen die Kritiker an manchem mit Recht Anstoß, und im Hinblick auf Conradis Erzählung vom Pastor Hüpfebein meinten die Blätter für literarische Unterhaltung: »Es wäre sehr zu bedauern, wenn das Talent, welches in den Kreisen dieser Richtung steckt, im Sumpfe der Zote ersticken würde.« 1886, S. 763 f. Aehnlich lehnten auch die Grenzboten das Buch ab (1886, S. 418-426).
Der Gewinn, den die bis jetzt entstandenen Werke Conradis brachten, bestand fast nur aus dem erhöhten literarischen Ansehen, und die Unsicherheit der Existenz lastete schwer auf ihm. Wohl hatte er bei der Nationalzeitung Eingang gefunden, wo seine erste Kritik am 24. Februar 1885 erschien, und auch bei der Täglichen Rundschau, deren Leiter Dr. Friedrich Lange ihn sehr schätzte, ward er seit dem 21. November 1885 regelmäßiger Mitarbeiter. Aber er erwarb doch nicht soviel, wie er brauchte, und er klagte Paul Fritsche: »Wissen Sie, lieber Freund, ich habe in die deutsche Journalisten-Misere schon einen tiefen – einen grauenvoll unheimlichen Einblick getan! Ich möchte dieser Furie so bald als möglich wieder entrinnen – wissen Sie keine Sinekure, die einem das dichterische Schaffen im stillsten Otium ermöglichte? Aber das Abhängigsein von Redaktionen und sonstigen Blattläufigkeiten ist zerfasernd, zersplitternd, zersetzend durch und durch!« (18. Mai 1885). Und um endlich zu regelmäßigen Einnahmen zu gelangen, suchte er krampfhaft nach dem Posten eines Redakteurs. Er stellte sich Wilhelm Friedrich als Mitherausgeber des »Magazins« zur Verfügung, er frug Paul Fritsche, ob er ihn nicht bei der Berliner Gartenlaube, wo jener Schriftleiter war, anbringen könnte; er versuchte das ehemalige Organ der Vereine Deutscher Studenten, die von Fritsche geleitete »Kyffhäuserzeitung«, die seit dem Januar 1885 keine studentische Gruppe mehr hinter sich hatte, zu einer jungdeutschen, hauptsächlich literarischen Zeitung umzugestalten und dabei als Mitredakteur zu helfen, aber auch dies mißlang, da Wilhelm Arent entgegen seiner ersten Zusage das von ihm übernommene Blatt vom 1. Juli 1885 nicht mehr erscheinen ließ. Endlich bot sich Conradi eine Redakteurstelle, und voll Hoffnung eilte er nach Neunkirchen, um die Schriftleitung der »Saar- und Blieszeitung« zu übernehmen. Aber für ein solches Ortsblatt, wo der Herausgeber mehr mit Schere und Kleister als mit dem Geiste arbeiten und sich dem Verleger und dem Publikum sehr anpassen muß, war Conradis Persönlichkeit völlig unbrauchbar. Nach dem 22. Februar 1886 kam er in Neunkirchen an, und nur genau acht Tage dauerte seine Herrlichkeit als Redakteur, dann erfolgte der endgültige Bruch und die »drollig-ernste, tragikomische Wallfahrt nach dem Rhein« (»Phrasen«) war zu Ende.
»Ich habe mich«, schrieb er an Blume (6. März 1886) »gerade acht Tage nach meiner selbstgewählten Missio sub jugum – auf die Stunde stimmte es! – frei gemacht – mit einem energischen Handstreich meine Freiheit zurückerobert. Es war höchste Zeit. Ihr könnt Euch kaum denken, welche Stunden innerer Kämpfe und Krämpfe ich durchgemacht. Ich habe wieder einmal des Lebens grenzenlose Kleinlichkeit durchkostet – und einen neuen Berg von Wut und Grimm aufgetragen.«
Auf der Rückreise von Neunkirchen besuchte er seinen Freund Schöltgen, der als Besitzer einer Druckerei und eines Zeitungsverlags mit seiner Familie in Bendorf lebte. Conradi wurde dort sehr freundlich aufgenommen und genötigt, einige Wochen in der Nähe des »tiefäugigen, rätselverklärten« Rheins zu bleiben. Es war Anfang März 1886, und der Fasching nahm alle Gemüter in Anspruch. Conradi erlebte hier etwas völlig Neues und fand Land und Leute sehr interessant. »Die Honoratioren hier haben mich mit offenen Armen aufgenommen,« schrieb er an Blume (6. März). »Ich habe sogar tanzen gelernt, natürlich mit köstlichen Purzelszenen! Fasching! Hier am Rhein weiß man, was das heißt! Und natürlich sind die Leute! Mit Gustel Ein bildhübsches und junges Wirtstöchterchen am Rhein, für das Conradi zu schwärmen schien. habe ich mich gestern zwei Stunden geschneeballt!« Aber für den rheinischen Karneval fehlte ihm, nachdem der erste Reiz der Neuheit vorüber war, doch das rechte gemütliche Verständnis. Wohl konnte er, wie er in seinem »Zwischenmotiv« schildert, eine Zeitlang mit allerlei Volk bei Schwarzbrot und Rheinwein zusammensitzen, aber zuletzt erfaßte ihn eine alles ablehnende Stimmung:
»Und schließlich kriegt' ich den Unsinn dick,
Und wieder heller ward mein Blick …
Da hab' ich die Menschlein mir angeguckt
Und hinterher weidlich ausgespuckt …«
Bd. I, S. 114..
Von Bendorf aus machte er noch eine Fahrt nach Koblenz und wohl auch nach Frankfurt und kehrte dann nach längerer Abwesenheit nach Magdeburg zurück.
Von dort aus ging er im Mai 1886 nach Leipzig, wiewohl er noch das ganze Sommersemester in Berlin immatrikuliert blieb, der Form wegen Kollegien belegte und auch Stipendien genoß. Er wollte durch seinen Aufenthalt in jener Stadt eine engere Verbindung mit dem Verleger Wilhelm Friedrich herstellen und dadurch seine großen schriftstellerischen Pläne endlich zur Tat werden lassen. Er wohnte draußen in der Nähe des Rosentals in der Rosentalgasse 7 und hatte zunächst gar keinen Verkehrskreis. Aber ein derartiger Zustand war seiner Natur zuwider. »Totale Einsamkeit tötet den Dichter …«, schrieb er an Fritsche (16. Mai 1886); und er suchte nach Gleichgesinnten, die er auch bald finden sollte. Am 13. Mai ging er zu einer Sitzung des Akademisch-philosophischen Vereins, der damals in einem stark radikalen Fahrwasser segelte, und wohnte dem Vortrag eines Studenten Johannes Limmer über »Pessimismus und Hochkultur« unerkannt bei. Man reichte an jenem Abend als eine Neuerscheinung die »Brutalitäten« am Tisch herum, und war sehr erstaunt, als man in dem herumgegebenen Gästebuch las, daß der Verfasser derselben anwesend sei. Sofort schlossen sich ihm einzelne an, besonders der Altphilologe Carl Korn aus Saarbrücken, der Jurist Kurt Hezel, der Theologe Christfried R– Bei einer andern Gelegenheit ward Conradi auch mit R–s Freund, dem Bulgaren Nikola Bobtschew bekannt. und ein Pole Trepinski. Sie verbrachten den Abend gemeinsam in der in den »Phrasen« eingehend geschilderten Weise, und nach einem nächtlichen Spaziergang im Rosental begleitete Hezel seinen neugewonnenen Duzfreund auf dessen Studentenbude und schlief bis zum Morgen auf dessen Sofa. Da sich Conradis Wirt, ein Schneidermeister, die Beherbergung einer fremden Person in der Wohnung nicht gefallen lassen wollte, so kam es zwischen ihm und Conradi zu einer heftigen Szene, die in ihrer Komik – abgesehen von einiger Ausschmückung – in den »Phrasen« richtig geschildert wird. Infolgedessen zog Conradi am 1.Juni 1886 nach Waldstraße 25III, ebenfalls nahe dem Rosental, zu einfachen Leuten, bei denen er auch den Mittagstisch genoß. Mit ihnen und ihren Kindern machte er sogar einst eine Landpartie und kehrte, einen großen Feldblumenstrauß tragend, frohgestimmt heim. »Du hattest wohl keine Ahnung, mein Lieber, daß ich mich auch in die Idylle finden kann!« sagte er einem gerade kommenden und sehr erstaunten Freunde (R–).
Am 20. Mai hielt Conradi selbst als Gast in dem erwähnten Verein, dessen Vorsitzender Hezel war, einen Vortrag über: »Die Berechtigung der neuen deutschen literarischen Bewegung und der Versuch eines Programms derselben«. Die Nachricht, daß einer der Führer der Jüngstdeutschen sprechen werde, hatte eine Anzahl Gäste angelockt, die auf das von Conradi Gebotene sehr gespannt waren. Er überraschte durch sein Pathos, seine Leidenschaft und seinen Kraftausdruck; man fühlte, daß er in Gärung war, noch zwischen Sozialismus und Aristokratentum schwankte und sich danach sehnte, ein Leben der großen Gedanken und Empfindungen zu erneuern. Bleibtreu erschien ihm als der Dux et signifer der neuen Bewegung, und seine Lyrik, zumal die soziale Protestlyrik, stellte er als »singular« und »durchaus unantastbar« hin. Die alten, noch lebenden Autoritäten wurden mit kräftigen Fußtritten ins Nichts hinuntergestoßen, »wohin sie immer gehörten«. Dem gegenwärtigen Geschlecht warf Conradi Strebertum und erbärmlichen Mangel an Rückgrat vor. Ueberall stoße man auf in Fleisch gewickelte Nullen, Menschen seien keine zu finden, die deutsche Jugend wate bis über die Knie im Schmutz und sei über und über mit Kot bespritzt. Die Wirkung des Vortrags entsprach den Erwartungen nicht; die Gäste zeigten sich nicht nur enttäuscht über das abstoßende, häßliche Aeußere des Redners, den sie sich als moderne Kämpfernatur ganz anders imponierend vorgestellt hatten, sondern hielten auch das Gebotene wegen seines geringen positiven Gehalts für minderwertig und waren zudem noch über die Behandlung der deutschen Jugend empört. Das Ehrenmitglied, Dr. Moritz Wirth (zugleich Bibliothekar des Vereins), zerpflückte in der sich anschließenden Debatte die »Brutalitäten« nach verschiedenen Richtungen unbarmherzig, insbesondere in psychologischer Beziehung wies er grobe Fehler nach. Conradi zeigte sich in der Debatte damals noch unsicher und tastend, und so endete der Abend keineswegs mit einem Siege der von ihm verfochtenen Sache. Nach dem Jahresbericht des Akademisch-philosophischen Vereins (durch Vermittlung von Herrn Dr. Wirth), sowie nach den Erinnerungen der Herren R– und Dr. Hezel.
Auch fernerhin verkehrte Conradi in dem Verein, und mit einigen Mitgliedern trat er sogar in ein engeres Verhältnis. Hezel hatte damals einen Lesezirkel eingerichtet, wo unter seiner Leitung Friedrich Nietzsches »Geburt der Tragödie« und »Das Kunstwerk der Zukunft« behandelt wurde. Er war leidenschaftlicher Anhänger Wagners und Nietzsches und suchte Conradi besonders für »Tristan und Isolde« zu begeistern, worin er das höchste Kunstwerk sah. Aber er fand doch, daß Conradi nicht das tiefste musikalische Empfinden besaß, trotzdem er Wagner sehr begeistert hörte, ja früher – gegenüber Schöltgen (10. Oktober 1883) renommiert hatte: »Wagner, ich liebe dich unendlich, weil ich dich verstehe!! Das Gesindel, das ihn nicht versteht, das kann ihn mit Kot bewerfen – – verfluchte Gesellschaft …« Ueber Wagner äußerte er sich auch sonst enthusiastisch. S. Bd. II, S. 41, 49. An dem Hezelschen Zirkel nahm auch Conradi teil, der schon in Magdeburg 1883 oder 1884 »Jenseits von Gut und Böse« gelesen, ohne daß es jedoch – ebenso wie das Werk Max Stirners – tieferen Eindruck auf ihn gemacht hätte. Jetzt drang er tiefer in Nietzsches Schriften ein, und besonders zusammen mit Carl Korn warf er sich auf den »Zarathustra«, den er im Sommer 1886 eifrig studierte (an Blume. 7. Juli 1886). Von allen Leipziger Freunden schätzte Conradi Carl Korn am meisten, und während er, wie er im Widmungsgedichte zu den »Phrasen« sagt, in den übrigen Bekannten nur leere »Schatten des Marktes« sah, erblickte er in ihm den einzigen Menschen, der ihn ganz verstünde und ihm seine Herzgenossen der Magdeburger Zeit ersetzen könnte. »Er ist mir«, schrieb er an Blume (14. Juli), »ein lieber teurer Herzgenoß geworden … Johannistrieb meiner Freundschaft! … Wie große Tiefe und wie große Eigenart steckten in ihm! Wir haben Stunden großartigen Tiefsinns erlebt!« Aber das Zusammenleben mit Korn dauerte nicht allzu lange, da letzterer infolge schwerer Erkrankung im Sommer 1886 das Krankenhaus aufsuchen mußte und dann nach seiner Entlassung daraus eine Reise nach der Schweiz unternahm und sich im Herbst 1886 zu weiteren Studien nach Heidelberg begab.
Außerhalb des Akademisch-philosophischen Vereins verkehrte Conradi noch in anderen Kreisen, und zwar berührten sich diese so wenig, daß zum Teil die einzelnen Bekannten Conradis sich gegenseitig kaum sahen und kennen lernten, selbst wenn sie ihn täglich trafen. So kam er mit Hans Merian und andern zusammen und beteiligte sich einmal auch an dem Schriftstellerverein »Symposion«. Ferner besuchte er den Kreis um die Dänin Rosalie Nilsen, in der er eine liebe, mütterliche Freundin fand. Außerdem erneuerte er mit Dr. Max Oberbreyer, der in Leipzig als sehr bekannter Schriftsteller lebte, die alten Beziehungen, ging mit ihm öfters spazieren und widmete ihm später sogar sein erstes Gedichtbuch mit folgenden Worten: »Herrn Dr. Max Oberbreyer in Erinnerung an manche gemeinsam verlebte i. e. gemeinsam verwanderte, verplauderte, verlachte, vertrunkene Stunde des Frühlings und Sommers 1886«.
Beinahe täglich verkehrte er etwa ein Jahr lang auch mit Adolf Bartels, der damals halb noch Student, halb schon Literat, sich bitter im Leben durchkämpfen mußte. Er war eines Tages zu Conradi gekommen und brachte ihm einige Beiträge zu dem »Realistischen Jahrbuch«, für das Conradi in der Illustrierten Zeitung um Beiträge gebeten hatte. Sie traten einander näher, und wenn auch keine eigentliche Freundschaft entstand, so war das Verhältnis doch auch keine oberflächliche Studentenbekanntschaft. Conradi las ihm oft Stücke aus seinen neuen dichterischen Arbeiten vor, die er vielfach eben erst gewissermaßen aufs Papier »geschmettert« hatte. Vielfach unternahmen sie auch gemeinsame Spaziergänge ins Rosental und in die Dörfer um Leipzig, manchmal gingen sie auch zusammen in den Klub der Holsteiner, zu dem Bartels als Mitglied gehörte. Auch wurde letzterer zur Mithilfe an der Redaktion des »Realistischen Jahrbuchs« von Conradi herangezogen, und einmal übernahm er es sogar, da Conradi historische Romane nicht liebte, eine Kritik von Amyntors »Gerke Suteminne« zu schreiben, welche jener dann für die »Tägliche Rundschau« zurechtstutzte.
In engen Verkehr kam Conradi damals auch mit Otto Erich Hartleben. Letzterer sollte mit ihm zusammen das »Realistische Jahrbuch« redigieren, und Conradi widmete ihm sogar eins seiner Bücher mit den Worten: »Zur Erinnerung an eine gemeinsame, später vielleicht sehr bedeutungsvolle Herausgebertätigkeit«. Durch Hartleben erhielt Conradi Beziehungen zu einem größeren Kreise von Studenten wie Hans Heilmann, Alexander Rumpelt und Richard Siegemund, dem Herausgeber der Anthologie: »Aus junger Kraft« (1887).
Ein künstlerisch-geniales Zigeunerleben nach Pariser Manier, wie es Henri Murger in seiner Vie de Bohème schildert, entwickelte sich damals in Leipzig nicht. Conradi und seine Genossen lebten vielmehr wie die meisten Studenten, die keinen Familienverkehr besitzen, und nur in gewissen Aeußerlichkeiten suchte er den Bohemien hervorzukehren, indem er seine Fähigkeit zu Wortspielen und Kalauern ausbildete und gelegentlich à la Musset »absyntierte« Adolf Bartels: Hermann Conradi. Ein Erinnerungsblatt. Didaskalia (Frankfurt, 18. März 1893).. Der Haupttreffpunkt mit seinen Bekannten waren Kellnerinnenkneipen, wie z. B. das Café Schlachter, die »11« (Grimmaische Straße), wo die »Nihilistenkneiperei« der »Phrasen« stattfand, das Café Landrock (Rannstädter Steinweg), wo für Conradi im Juli 1886 die alte Berliner Bekannte, Octaviana von Germanow, auftauchte, und das Café Sansibar, wo oftmals zu Conradis Aerger Skat »gedreht« ward und Hartlebens spätere Frau Selma zu jener Zeit als Kellnerin bediente. Trotz der zweideutigen, sinnlich schwülen Atmosphäre der Lokale herrschte in diesen Kreisen doch die reine Zote nicht eigentlich, wenngleich das »Weib« als interessantes psychologisches Objekt in den Gesprächen eine große Rolle spielte. Auch alle möglichen Probleme wurden mit Ernst und Eifer behandelt, und die Sprechweise Conradis und anderer war stark mit philosophischen Ausdrücken durchsetzt, zumeist geistreich, manchmal allerdings auch sehr forciert. Bisweilen konnte man allerdings bis tief in die Nacht hinein über Nichtigkeiten, ja blühenden Blödsinn lange und ernst debattieren. So behandelte man einst in der Weiberkneipe »Typographia« das Thema: »Wenn in einer Nacht auf einmal alle Gegenstände um uns und wir selber immer mehr zusammenschrumpften, ob wir es dann merken würden am Morgen, daß wir kleiner geworden?« Von diesen Kellnerinnenkneipen zog man dann in der Nacht, wie das auch heute noch in Leipziger Studentenkreisen vorkommt, in die Gäßchen der Bordelle, und Conradi schildert eine solche Wanderung sehr anschaulich in den »Phrasen«, nur ist dabei die Christus-Szene sicherlich eine völlig freie Erfindung.
Gelegentlich veranstalteten Conradi und Hartleben einmal einen kleinen Gesellschaftsabend bei sich. Einer der Teilnehmer, R–, gibt eine interessante Schilderung von einem solchen Zusammensein.
»An jenem Sonnabend war Gesellschaftsabend bei Conradi, wozu ein Brief einlud. Hartleben war da, u. a. auch Adolf Bartels, ob Max Oberbreyer, weiß ich nicht mehr genau. Da war auch ein junger Verehrer Conradis, der ihm ein prächtig gebundenes Goldschnittbändchen eigener Schöpfung mit einer gewissen Andacht überreichte. Er muß so ähnlich wie Siegemund geheißen haben oder – Gutheil. Was Conradi zur Unterhaltung beigetragen hat, ist mir nicht erinnerlich. Hartleben hat einiges vorgelesen; darunter Gedichte von dem Schotten Mackay, worin auch der Anarchismus laut und dröhnend zu Worte kam. Außerdem las er etwas vor, worin der Verfasser ingrimmig allzu patriotischen Husaren mehrmals verwarf, daß sie ihren Herrn »angehündelt« hätten. – A. Bartels las an jenem Abend sein wohl eben entstandenes dramatisches Gedicht: »Lope de Vega« vor. Darin entpuppte sich Solis, Lopes Schreiber, als dessen früherer dichterischer Nebenbuhler. Die stete Mißhandlung durchs Geschick hatte ihn in tiefe Not gebracht und ihn gezwungen, unter falschem Namen seinem Gegner um Hungerlohn zu dienen, der, eitel und glückberauscht, sich vor ihm in seinem Ruhme sonnt. Er gesteht dem Lope, daß er vor Hunger nicht weiter schreiben kann, wird gesättigt und muß sich nun diktieren lassen, wie Lope zum Gipfel des Dichterruhms emporgestiegen und sein Gegner zugrunde gegangen sei – »verdorben und gestorben«. Bei diesen Worten stockt Solis' Feder; er wiederholt die Worte »verdorben und gestorben« und fällt tot vom Stuhle.
Durch des Schreibers Frau erfährt der erschütterte Lope, wer eigentlich der Schreiber gewesen sei. – Ob der plötzliche Tod des Schreibers durch Hunger und Kummer zureichend motiviert sei, diese Frage wurde an jenem Abend vom naturalistischen Standpunkt aus lebhaft erörtert. Hartleben bestritt es energisch. Bartels trat für seine Dichtung ein und ließ sich nicht irre machen. Schließlich beriefen sich beide auf ihr dramatisches Empfinden.
Bald darauf lud Hartleben zu einem »ästhetischen Glase Bier« zu sich ein, wie die Karte sagte. Die Gäste vom Conradi-Abend waren zugegen, auch Dr. Oberbreyer. Man war bei einem Fäßchen trefflichen Stoffs in behaglicher Stimmung.
Hartlebens Wohnung machte seinem Spürsinn alle Ehre. Die Decke des Wohnzimmers war hoch; die nach der Straße gerichtete Wand war gewölbt und mit großen entsprechenden Fenstern versehen. Man hatte den Eindruck, in einem Turmzimmer zu sein, entrückt dem Straßengetöse dort unten.
Eine Verbrechergeschichte von Peter Hille mit dostojewskischer Seelenanalyse wurde vorgelesen. Hartleben gab kleine novellenhafte Skizzen von sich zum besten, worin eine Kellnerin zu »Gas« konstant den falschen Artikel setzt. Sie zündet »den Gas« an und dreht »den Gas« aus. In einer anderen Geschichte erzählte er von einer Chansonette, die man für leichtfertig hält, worüber sie sich stark empört. In einer Art von Verzweiflung tötet sie sich, aber letztwillig bestimmt sie, seziert zu werden, damit man an ihrem Körper ihre Unschuld erkenne … Und es war auch so … Die Darstellung selbst zeigte Grazie. Ich glaube, daß besonders Dr. Oberbreyer in seiner behaglichen Weise kritisiert hat. – Beim späten Heimgehen lud Conradi mich und andere zu sich ein. Er muß es zu sehr en passant getan haben, denn fast jeder hatte die Einladung vergessen. Conradi saß einsam bei seinem trinkbaren Fäßchen, empört über die brutale Mißachtung seiner Einladung und warf Zornesblitze aufs Briefpapier – zu treffen der Schuldigen Häupter …«
Ein ziemlich dunkles Kapitel selbst für die engsten Freunde Conradis war sein Verhältnis zum Weib während seiner Leipziger Zeit. Er selbst renommierte später in München gegenüber Kirchbach, er habe sich durch seine Weibergeschichten eine Geschlechtskrankheit (in Berlin oder Leipzig) geholt, doch hat sein Freund Dr. Martin Weiß, der ihn 1889 in Würzburg als Arzt eingehend behandelte, erklärt, daß davon bei ihm keine Rede sein könne. Wieweit er sich in Leipzig geschlechtlich auslebte, war niemandem genau bekannt. Hans Merian meinte: »Ich glaube nicht an Impotenz bei ihm, auch nicht an volle Potenz; es war eben eine Halbpotenz, die etwas von Geilheit begleitet ist, aber keine volle Befriedigung gewährt.« Vor den letzten Konsequenzen eines Liebesverhältnisses scheint Conradi tatsächlich zurückgeschreckt zu sein, wenn er auch in Worten den Don Juan zu spielen liebte. So ging er nach der Erinnerung eines Freundes lange mit sich zu Rate, ob er das frisch vom Lande gekommene Dienstmädchen seiner Wirtsleute sich aneignen sollte oder nicht, und machte schließlich bei dem moralischen Urteil halt: »Es ist ganz egal, bin ich es nicht, so ist's ein anderer!« Den Kellnerinnen gegenüber erschien er sehr ungleich im Verhalten, vielfach suchte er mit ihnen intim zu reden, dann wieder trat er »großwuchtig« auf, oftmals auch verletzend-ironisch und brutal, weil er glaubte, sie von Grund aus zu kennen, und er nichts Gutes in ihnen sah. Mit dem einen oder andern Bürgermädchen unterhielt er wohl ein kleines Verhältnis, auch verheirateten Frauen aus niederen Klassen scheint er sich genähert zu haben – darauf deutet z. B. die Johanna-Episode der »Phrasen«. S. auch das Gedicht »Maria« (Bd. I, S. 223). Und möglicherweise war es mehr als eine bloße Vorstellung seiner erregten Phantasie, als er eines Abends einen Freund bat, ihn zu begleiten, da der Mann einer Frau, mit der er ein Verhältnis habe, ihm in seiner Straße mit einem Dolche auflaure. Der Freund begleitete ihn und sah dann tatsächlich, wie ein Mann im Arbeiteranzug an ihnen langsam vorüberging und Conradi scharf fixierte. Aus demselben Grunde erbat sich letzterer ein andermal in später Nacht einen Schutzmann auf der Polizeiwache zur Begleitung, den jedoch die »abgebrüht gleichgültigen Polizisten« mitzugeben nicht für nötig hielten. Auf die Mahnung R–s, er möge doch das eheliche Glück niederer Leute nicht stören, meinte er: »Das verstehst du nicht. Uebrigens ist mein Gefühl für das Weib gegenwärtig »elementar«, und – was willst du? – sie liebt mich!« Aber gleichviel wie weit diese Verhältnisse gingen, jedenfalls verspürte Conradi heiße Sehnsucht nach einem reinen, unberührten Weib, wenn er sich auch nicht zur dauernden, sondern höchstens zur »wilden« Ehe für befähigt hielt. Ueberhaupt war er der Meinung: »Um in der Kunst etwas Großes, Bedeutsames, Dauerndes zu leisten, muß man Zeit haben, etwas Großes, Seltenes erleben zu können. In der Ehe aber … ich weiß nicht … ich glaube, sie wird mit der Zeit für die breiteste Romanprosa zu prosaisch. Ein Künstler soll sich überhaupt nicht für ewig binden. Ich dächte, er müßte stolz darauf sein, daß ihn Plato aus seinem Idealstaat verbannt wissen wollte.« (Blätter für lit. Unterhaltung, 1886, S. 562.) Und stundenlang konnte er sich, wie einst gegenüber Margarethe Halm, im Anschauen einer weiblichen Photographie in inbrünstigen Liebesrausch versetzen, wie folgender Brief an seinen Freund R– zeigt:
»Das Photogramm, das Du mir gestern abend gezeigt und gegeben, scheint mir zum großartig schönen Verhängnis werden zu sollen. Das Bild kommt mir nicht aus den Sinnen. Ich möchte glauben, daß ich in diesem Wesen nun endlich gefunden, nach dem ich mich seit Jahren inbrünstig gesehnt. Wirst Du mich verstehen können? Ich habe seit zwei Stunden weiter nichts getan, als das Bild betrachtet und geträumt und gedacht! Nun raffe ich mich zu diesem Briefe auf. Er ist unmittelbar. Ich bebe in reiner Leidenschaft. Ich müßte fast lachen darüber. Denn kenne ich das lebendige Fleisch, den lebendigen Geist dieses Weibes? Dieses Weibes, das mich im Bilde so übermächtig packt und beeinflußt?! Sei mein Freund! Ich glaube zwar nicht mehr an jene reine und große Freundschaft, die ich einmal vor 4-3-2 Jahren als erreichbares Ideal hingestellt. Ich glaube nicht mehr daran. Nein! Ich tue es nicht. Aber ich hege eine starke Sympathie für Dich. Du bist mir immerhin mehr als Objekt. Mehr geworden. Ich bin Dir gegenüber ein Sünder in Gedanken, Worten und Werken! Dennoch liebe ich mich mehr als Dich. Das ist natürlich. Könnte ich Dich sonst so hoch achten? Sei mein Freund! Du wirst bei mir mehr finden als bei anderen. Laß uns ein Stück zusammengehen … Dann und wann … Du hast mir vieles aus Deinem Leben erzählt. Du hast Dich nicht geirrt. Du hast einen – einen Menschen gefunden, der anders ist als die anderen! Sei froh darüber. Sei froh! – Sage mir, R–, ob dieses Weib, das ich liebe – eine große und freie Seele hat! Du mußt mich mit ihr bekannt machen. Du mußt! Sei mein Freund! Dann mußt Du es! Ich bin ein alter(?) Egoist. Aber ich sage es. Und darum darf ich Dir meine Sympathie erst recht bekennen. Erst recht. Erst recht. – Du weißt nicht, wie mich jetzt der Gedanke an das Mädchen beherrscht! Was werden soll? Ich weiß es nicht. Ich bin ein Künstler. Ja! Ein Poet! Und ich will endlich einmal ein Weib erschauen, das schön und großgeistig und blank und tapfer! Du mußt einen Weg finden, der mich ihr näher bringt. Vielleicht verlischt die Flamme und verstirbt, wenn ich das Exemplar der Zeitlichkeit schaue, schaue. Aber auch das ist groß und schön. Die schönsten Rosen blühen auf Gräbern. Und ich habe immer für Gräber geschwärmt. – Aber noch lebe ich und wachse ich im Lichte der Tage. Und die Rhythmik des Leibes und der Seele kann mich bei besonderen Wesenschemismen noch berauschen … Laß mir das Bild – wenigstens noch vorläufig. Du kennst mich nicht. Ich trage Welten in mir und Abgründe … Aber ich bin herb und brutal. Und ich verachte alles. Auch das Weib, das ich liebe. Aber noch mehr mich selbst. Und darum steht mir das Weib so hoch … Mir ist, als trüge es auch eine neue Welt und köstliche Weltenmärchen in sich. Ist dieses Mädchen auch anders als die anderen? Ich liebe es. Und es erfüllt mich ganz. Ich danke Dir. Ich danke Dir. Du wirst mich zu ihm führen. Ich weiß, Du wirst es! Ich glaube daran. Wenn wir uns kennten – wenn Du mich kenntest, würdest Du mich verstehen! Verstehst Du mich nicht? Sei nicht erstaunt! Und schweige von diesem Briefe zu jedem! Wenn wir uns morgen abend mit anderen treffen, schweige auch! Verstehe Deinen H. Conradi.«
So lebte Conradi in »Klein-Paris«, dieser »mit Großstadtfetzen verbrämten Kleinstadt« (»Phrasen«), in einer neuen Umgebung, unter neuen Menschen. Es war ein toller Wirrwarr, in dem er sich nicht sogleich zurechtfand. »Soll ich Dir«, schrieb er seinem Fritsche (21. Juni 1886), »eine Schilderung all der Verhältnisse geben, die mich seit sechs Wochen hier in Leipzig unter die Finger genommen? Gar nicht möglich! Ich kann nur sagen: daß ich in neuen Sphären lebe – aber: wie eigentlich und warum? – ich habe keine Antwort! Ich habe hier einige Menschen kennen gelernt, die mich mit neuen Lebensanschauungsmomenten geradezu überschwemmt haben! … Es war eine dralle Hochflut, in der ich unbeholfene Schwimmversuche gemacht – oder auch sehr gewandte – denn nun, da die Flut so ziemlich sich verlaufen, muß ich bekennen, daß ich derartiges selbst in Berlin und am Rhein nicht erlebt! Ein gutes Stück Jungdeutschland hat sich in neuer Beleuchtung in meine Vorstellungswelt gedrängt – ich atme noch immer schwer und kann noch nicht verdauen!« Die vergangene Zeit lag weit hinter ihm, insbesondere die Berliner. »Berlin«, so schrieb er an R– (6. Dezember 1886) nach einer kurzen Reise dahin, »habe ich Gott sei Dank innerlich überwunden. Alles widert mich an. Ich bin damit fertig, – und werde wohl vorderhand der Stadt der geschmacklosen Tugend und des Firniß-Lasters fernbleiben!«
Mit diesem Versinken der Vergangenheit versank auch die alte Jugendfreundschaft, die ihn mit Blume und Bohne verband. Conradi war ein anderer Mensch geworden; das, was ihm seine alten Freunde geben konnten, hatten sie ihm gegeben, für seine neue Entwicklung, die sie nicht mitmachten oder auch gar nicht mitmachen wollten, boten sie ihm nichts; sie waren für ihn Menschen einer anderen Sphäre. Mit der Veröffentlichung der »Brutalitäten«, welche Bohne und Blume durchaus ablehnten, hatte der innere Gegensatz begonnen; jetzt vergrößerte er sich immer mehr, und mit stolzem Selbstbewußtsein schrieb Conradi an Blume: »Ihr kennt mich nicht und ich kenne euch nicht. Trotzdem können wir famose Freunde sein. Wenn ich euch doch beibringen könnte, wer ich wäre. Ich heiße Hermann Conradi.« Der längere Briefwechsel, den Blume 1886 mit Conradi führte, um die Mißverständnisse zu beseitigen, zeigte nur, daß sich der Gegensatz nicht überbrücken ließ. Conradi wurde in seinen Antwortschreiben oft sehr verletzend dem alten Freunde gegenüber und meinte (28. Juli 1886) geradezu: »Ich spreche überhaupt jedem, der noch nichts geleistet, das Recht ab, über mich abweisend zu urteilen.« Trotz des gelockerten Verhältnisses aber widmete er seine Sünderlieder den beiden alten Genossen. »Ich habe sie natürlich Dir und Hans gewidmet, was das Selbstverständlichste nach unserer Jugendfreundschaft ist,« schrieb er Blume (2. Juni 1886), nur ließ er dabei unbemerkt, daß er das Buch ursprünglich gar nicht ihnen, sondern Wolfgang Kirchbach zugedacht hatte, der es zuerst auch angenommen, dann jedoch infolge der »Brutalitäten« die Widmung abgelehnt hatte.
Aber nicht nur von seinen alten Freunden, auch von seiner Familie löste er sich damals innerlich vollkommen. Die Entfremdung, die schon in den letzten Schuljahren zwischen ihm und den Seinen vor sich gegangen, war durch die Vorkommnisse im Sommer 1884 noch vergrößert worden. Damals schrieb er seinem Freunde Schöltgen (27. Sept. 1884): »Stehe ich mutterseelenallein in der Welt – habe ich nur allein für mich zu sorgen – nun so lasse ich es kampfesfroh auf einen Kampf ankommen – ich fühle mich stark – meines Hirnes Muskeln sind elastisch – Teufel – ich beuge mich nicht! Aber stehst Du mitten in einem Kreise, der Dir von ungefähr angehängt oder mit dem Du Dich selbst angetan – dann heißt es: Der Liebe – dem Wohle aller den Stolz opfern – den freien, herrlichen Mannesstolz – dann wird man ein Knecht – ein Sklave – aber das Brandmal kann so unendlich weh tun, daß es Dich in den Tod treibt! Du rettest die Deinen – aber Du verzichtest!« Conradi stand vor der Wahl, ob er seinen Angehörigen zuliebe die Hoffnung auf seine literarische Zukunft opfern und einen bürgerlichen Beruf – etwa den eines Gymnasiallehrers – ergreifen oder unbekümmert um alle Angehörigen seinem Stern folgen sollte. Er wählte das letztere und machte sich »von seinen Eltern frei«, wie er sich ausdrückte. Er blieb trotzdem dauernd in enger Verbindung mit ihnen, er nahm warmfühlend Anteil an dem Schicksal der Seinen, das sich immer trauriger gestaltete, und half ihnen aus der Ferne, so gut er es bei seiner Armut vermochte. Wohl zum letztenmal sah er seine Eltern zu Weihnachten 1886, und ehe er nach Magdeburg reiste, bat er seinen Verleger Friedrich um Geld. »Ich habe Tränen zu stillen und Wunden zu heilen … um die Weihnachtszeit,« schrieb er ihm (21. Dezember 1886).
Für seine schriftstellerische Wirksamkeit bedeutete der Aufenthalt in Leipzig eine glückliche Zeit, ja Conradi gelangte damals auf den Höhepunkt seines Autorenlebens. Mit dem Verlage von Schabelitz hatte er schlechte Erfahrungen gemacht, für seine bei ihm erschienenen drei Bücher erhielt er nur 50 Mark (an Friedrich. 5. Juni 1886), und auch sonst meinte Conradi: »Alles versickert bei ihm sang- und klanglos« (an Friedrich. 29. Mai 1886). In Leipzig kam er in engste Berührung mit Wilhelm Friedrich. Schon von Berlin aus hatte er ihm am 24. November 1885 die »Lieder eines Sünders« zum Verlag angeboten, ihm, »der Sie der Hort des jungen, selbständigen resp. des immer mehr sich zur Selbständigkeit durchringenden Nachwuchses sind«, so schrieb er. »Kirchbach, Bleibtreu, Conrad haben Sie verlegt – und wenn die alle auch schon bekannter sind als ich – ich weiß, daß man in nächster Zeit auch mich da nennen wird, wo man die Starken und Kühnen nennt, die darum allerdings stets der Abscheu und Schrecken der weibischen Zwielichtsseelen.« Conradi hatte von seiner Liedersammlung eine hohe Meinung: »Es ist keine leichte Alltagsware, die ich Ihnen bringe,« schrieb er Friedrich bei der Uebersendung des Manuskripts am 22. Dezember 1885. »Ich denke selbst von meinen ›Sachen‹ nicht gering, wenn ich auch weiß, daß sie viele Schwächen und Fehler haben. Aber sie sind wahr – erlebt – manches wohl originell und bedeutend – ein buntes Gemisch von Farben und Tönen – alles: Pathos und einfachster Naturlaut …« Es war für Conradi gewissermaßen eine Lebensfrage, endlich mit seinen Gedichten hervorzutreten. »Ich bin«, so schrieb er, »mein Leben lang durch so enge, finstere Gassen gegangen, daß ich endlich einmal ein klein wenig Erfolgs-Sonnenschein haben muß! Die Herausgabe meiner Gedichte ist für mein Seelenleben sehr wichtig.« Um endlich zu einem Ziele zu kommen, verzichtete er auf jegliches Honorar, ja er erbot sich sogar am 29. Mai 1886, seinen Roman »Um dreißig Silberlinge«, gleichfalls honorarfrei zu liefern, wenn endlich der Druck der Sünderlieder erfolge. Am 31. Mai kam ein regelrechter Kontrakt zwischen ihm und Friedrich zustande, demzufolge ersterer das Manuskript für die erste Auflage honorarfrei abgab und Friedrich für alle künftigen Prosawerke das Ankaufsrecht zu 20 Mark für den Druckbogen bei 1000 Auflage einräumte.
Aber Friedrich ließ nicht das ursprüngliche Manuskript der Lieder drucken, die nach Conradis Berechnung über 200 Seiten füllten (an Friedrich. 24. Nov. 1885), er verlangte vielmehr starke Streichungen, die Conradi am 5. Juni 1886 endlich als vorgenommen meldet. Trotzdem verzögerte sich die Sache, und der ungeduldige Dichter bemerkte bitter in einem Brief an Friedrich (17. Aug. 1886): »Sie behandeln meine Lyrik mit einer brutalen Nüchternheit! Das ist nämlich gar keine Kunst! Was mir Höhepunkte der Lebens-Erkenntnis – und Gefühlsgipfel bedeutet – wird so mit der Elle des Alltags schablonenmäßig beurteilt!« Bei einem Abendessen in Friedrichs Hause am 7. November 1886 fand Conradi endlich zu seiner Freude die ersten Korrekturen in die Serviette gewickelt vor, und am 4. Februar 1887 erschienen die Gedichte im Buchhandel. Vom 9. Februar 1887 datierte Conradi die Widmung an Oberbreyer und schrieb am selben Tage eine Antwort auf einen Brief R–s, worin ihm dieser seine Empfindungen über die Gedichtsammlung ausgesprochen hatte.
Die »Lieder eines Sünders« waren, wiewohl sie erst jetzt der Oeffentlichkeit übergeben wurden, keineswegs neueren Ursprungs. Ein Teil von ihnen lag schon, in Zeitschriften und anderwärts verstreut, gedruckt vor, ja es findet sich unter ihnen wohl kaum ein Gedicht, das nach Conradis Abgange von der Schule entstanden ist. Innerlich erschien der Dichter bei ihrer Veröffentlichung nicht mehr in allen Stücken als derselbe, der in jenen Liedern sprach. »Ich weiß im voraus,« sagte er im Vorwort, »daß ich innerlich das, mit dem ich heute auf den Plan trete, bald überwunden haben werde. Ich hoffe es sogar. Aber ich halte es gerade für ein im besten Sinne des Wortes modernes Künstler-Charakteristikum: daß man voll Inbrunst und Hingebung versucht, die verschiedenen Stufen und Grade des Sichabfindens mit dem ungeheueren Wirrwarr der Zeit schöpferisch zum Ausdruck zu bringen, einseitig trotz aller Vielseitigkeit – vielseitig trotz aller Einseitigkeit …« In seinen »Liedern eines Sünders« wollte Conradi »Lieder eines Kämpfers« geben, »der sich nicht ganz von der grenzenlosen Gemeinheit des Lebens knechten lassen wollte«. Sein Kampf galt der »Sünde«, d. h. der geistigen Unfreiheit, aber Conradi erging sich keineswegs in einer bloß gedankenmäßigen Tendenzlyrik; im Gegenteil, die Ziele und Ideale, denen er zustrebte, waren durchaus verschwommen und unklar, und alles löste sich in tieferlebte Stimmungen auf. Diese in den verschiedensten Entwicklungsphasen festzuhalten und künstlerisch zu wahren und rückhaltlosen Selbstbekenntnissen zu gestalten, bemühte sich der Dichter. Höhen und Tiefen menschlichen Seins und Denkens durchmaß er in kühn genialem Zuge, in mystischer Trunkenheit tastete er »mit pochenden Geistesfingern an die Pforten des Alls« und strebte nach dem ewig ungefundenen »Urwort, das allein Erlösung beut«. Und die Ahnung, daß er auf der Schwelle einer neuen und größeren Zeit stehe, durchzitterte ihn, wenn er auch von sich wußte, daß er wie einst Moses nicht das Gelobte Land der Zukunft selber betreten werde, denn:
»Ich bin ein Sohn der Zeit – doch ach! ihr Götter! –
Ich bin ihr
Sohn – doch nicht ihr
Retter!«
Und ein stolzes Frühlingsgefühl und eine jauchzende Daseinsfreude beseelte ihn, und er, der Jüngling, hatte schon auf der Schulbank als erster aller deutscher Lyriker Gedanken und Stimmungen in künstlerische Form gegossen, wie sie um dieselbe Zeit ein Größerer, Friedrich Nietzsche, in seinem »Zarathustra« machtvoll gestaltete. Ganz in die Gedankenwelt dieses Meisters paßt es, wenn Conradi ausruft: S. Heinrich Landsberg: Friedrich Nietzsche und die deutsche Literatur. Leipzig, 1902, S. 90 f.
»Höhen gabst du mir, Vater, Höhen –
Mittagshöhen des Lebens!
Da ich größer ward denn du
Und
göttlicher!«
Und ganz im Geiste des Nietzscheschen » Es war« singt Conradi:
»Oh! unerbittlich
In seiner Zukunft
Ist das Gewesene.«
Aber gleich Nietzsche weiß er auch, daß die Sünde zu einer Erhöhung der Persönlichkeit führt:
»Nur der gesündigt
In Lebensnöten,
Errät des Todes tieferen Sinn
Und schlürft seines Lohnes
Köstliche Fülle …
Und die Fülle ist Kraft
Und sie lebt in mir
Bis zum Ende der Tage …
Ich ward ein Mensch
Und entdeckte den Himmel.«
Wie aus einem tätigen Vulkan kamen die Dichtungen aus dem innersten Herzen des Dichters. Nur schwer und selten vermochte Conradi seinen Gefühls- und Gedankenüberschwang in die alten, strengen, metrischen Formen des Verses zu zwingen, am wohlsten war ihm, wenn er in freien Rhythmen, ungehemmt durch Metrum und Reim, dahinstürmen konnte. Aber in dieser scheinbaren Maßlosigkeit waltet doch ein von ihm beobachtetes ästhetisches Gesetz, und nicht mit Unrecht meinte Hartleben: »Seine Sprache war eben der Vers, es ist ordentlich, als ob er erst in der gebundenen Rede zur Natur, zur Einfachheit, zur Besonnenheit in der Diktion durchdringt.«
Nicht in allen Liedern gelang es Conradi, seine Stimmung künstlerisch zu verdichten. Neben Perlen echter Lyrik, die wie z. B. das Gedicht: »Frühlingssehnsucht« ein Kenner wie Hartleben zu den »herrlichsten unserer Sprache« rechnete, finden sich Roheiten und »Kulissenreißereien« (Hartleben), Stellen, wo die hohle Phrase ihre Triumphe feiert. So bot die Liedersammlung eine Welt der schroffsten Gegensätze in künstlerischer und sittlicher Hinsicht, eine Mischung von rührender Wahrheit und erlogener Schauspielerei, das echte Bekenntnis eines Stürmers und Drängers, der das Wehen eines neuen Geistes spürt, aber sich ihm noch nicht restlos hinzugeben vermag.
In den »Liedern eines Sünders« hatte Conradi das Beste gegeben, was er damals zu geben vermochte, und vielleicht sind diese Gedichte, abgesehen von einigen anderen, auch dasjenige, was ihn am sichersten überleben wird. War bis dahin die Kritik unsicher gewesen, wie sie ihn charakterisieren sollte, so konnte sie nun, wenn sie nur wollte, seine literarische Physiognomie genau feststellen. Die verständnisvollste Kritik schrieb nach des Dichters Tode Hartleben in der Zeitschrift: »Freie Bühne für modernes Leben« (Berlin, 1890, Nr. 12). In den Blättern für literarische Unterhaltung äußerte sich (1888, S. 108-111) A. Hermann. In dem als Handschrift gedruckten Buch: »Literatur und Staatsanwalt« (Leipzig, 1890) werden (S. 21 ff.) im Auszuge die unten abgedruckte Besprechung von Franz Woenig (Leipziger Tageblatt, Nr. 89 vom 30. März 1887), aus »Vom Fels zum Meer« (VII. Jg.) und aus den »Deutschen Blättern« (Nr. 9, 1887) gebracht, sowie die von Bleibtreu (»Magazin«, Nr. 52, Jg. 1886). Als wertvolle zeitverwandte Aeußerung sei letztere im Wortlaut angeführt: »Aber da liegen ja zum Schlusse in Aushängebogen aus dem Verlage von W. Friedrich in Leipzig vor mir: »Lieder eines Sünders« von Hermann Conradi, dem begabtesten unter den Jüngeren der neuen Schule. Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein! Nach all dem geistigen Eunuchentum ein wahres Labsal. Hier wagt sich wieder einmal eine junge Dichterseele hinaus in offene See. Das Herz krampft sich zusammen vor diesem Aufwühlen aller geheimen Schreckensmächte, die unser Dasein unterhöhlen. Wo diese durch zahllose Kanäle sich hinwindende Reflexion zu klarem Strom sich sammelt, da wird uns in Conradis Weltauffassung eine mystische Harmonie offenbar, für welche das Naturganze von einer immanenten Weltseele durchflutet und der Weltorganismus von derselben ordnenden Kraft gelenkt erscheint. Die innere Unheilbarkeit der Dinge wird empfunden, so z. B. in den tiefinnigen Psalmen »Erdeinsamkeit« und »Im Vorüberfluge«. – Nur Selbsterlebtes befähigt zu blutvoller Darstellung. Nur Subjektivität verleiht dem (Künstler-)Poeten die reine künstlerische Befähigung. Die Weite des Gesichtskreises unterscheidet dann freilich noch den wahren Dichter vom bloßen Künstler. Zum Unendlichen hat sich Conradi bereits emporgeschwungen, zum Allgemeinen allerdings nicht. Seine eigenen persönlichen Schmerzen betrachtet er sub specie aeterni, aber für allgemeine Menschheitsschmerzen fehlt ihm noch der Ausdruck. Daher die Abwesenheit alles Historischen, die überhaupt bei der Lyrik des sogenannten »Jungdeutschland« auffällt. Das Schwelgen im Unendlichen verlockt aber leicht zur Allegorie und das ist allemal der Anfang vom Ende. Neigung zum Allegorischen scheint gemeiniglich das Zeichen einer greisenhaften Abstumpfung der im Wirklichen wurzelnden poetischen Genuß- und Lebenskraft. Auch Conradi liebt das reliefartige Herausmeißeln sämtlicher Allegorien, zu denen sich ihm irgendein Begriff verdichtet. Wer wie Conradi gern das All reflektiv umspannen möchte, läuft Gefahr, sich im Allgefühl zu verlieren. Ein so gewaltiges Streben fordert eine titanische Individualität. Conradi selbst zweifelt, ob er sie besitzt, und fühlt sich mehr als Vorläufer. – In ihm selber steckt ein echter und rechter Dichter. Dies zeigt die nervöse Stimmungsfeinheit, die leidenschaftliche Inbrunst, mit welcher er sein Ich zu der Bewegung der Weltkörper in Schwingung zu setzen scheint, die seltsam unirdische Schwermut, so mancher elementare Naturlaut in diesen Liedern. – Morgenfrische Glücksbegeisterung allein entbehrt Conradis Muse ganz. Aber wo soll die auch herkommen in einer Zeit wie der unseren?! Eine Zeit, welche ein feiles, elendes Gesindel heranzüchtet, wie jenes der Berliner … »Tagesstimmen«, welches unser Alberti so meisterlich in seinen Novellen geißelt?« – Lobend äußert sich über die Gedichte auch Edgar Steiger: »Der Kampf um die neue Dichtung« (Leipzig. 1889) S. 68. Welche Wirkung die Gedichte auf die Zeitgenossen machten, geht schon aus den wenigen jetzt zugänglichen Besprechungen hervor. Karl Bleibtreu widmete den »Sünderliedern« eine ehrende Kritik im »Magazin«, und Hans N. Krauß rühmte in den »Deutschen Blättern« an ihnen, daß der Geist der Freiheit aus ihnen spräche. »Frei und offen, ohne Feigenblatt und Maulkorb erscheint die Wahrheit … Wirklichen Männern sind sie in unserer spatzenschreidurchhallten Zeit ein Labsal.« Auch das rechtsstehende »Leipziger Tageblatt« lobt Conradi: »Er wandelt einsam hinauf auf einsame Höhen, die ihn der Gottheit näher führen, und ringt unter nagenden Zweifeln nach einer Lösung der Weltenrätsel, nach einer klaren Erkenntnis des menschlichen Seins; oder er steigt hinab in die Abgründe der im Banne der Leidenschaften und in den Fesseln der Alltagsnot schmachtenden, mit ihren Idealen nach Freiheit ringenden Seele. Das Buch bringt die Quintessenz der Philosophie eines warmpulsierenden begnadeten Poetentums, dessen scharf herausklingenden Pessimismus wir freilich mehr con sordino gewünscht hätten.« Mit sehr starken Einschränkungen erkannten von der nichtrealistischen Presse auch die Blätter für literarische Unterhaltung die Bedeutung Conradis als Lyriker an. »Als ein begabter Dichter erweist sich Conradi in den »Liedern eines Sünders«, einer poetischen Beichte, die ein helles Licht auf das unfertige Wesen des Verfassers wirft und unsere Ansicht bestätigt, daß er in seinem Heinrich Spalding (»Phrasen«) ein gutes Stück seines eigenen Daseins geschildert. Dieselbe Haltlosigkeit und Selbstgefälligkeit, die der Held des Romans zur Schau trägt, spricht aus diesen Bekenntnissen, deren Ehrlichkeit uns vielleicht ergreifen würde, wenn sie nicht mit einer rücksichtslosen Verachtung aller andersgearteten Naturen Hand in Hand ginge … Gewiß steht es dem Dichter und Künstler wohl an, daß er im Bewußtsein seiner Kraft sein Haupt stolz emporhält und sich um das Urteil der Menge nicht kümmert; aber wird er, wenn er wirklich so schwere Seelenkämpfe durchzumachen gehabt hat und wenn die Rätsel des Lebens sich so mächtig auf seine Seele legen, sein Innerstes als eine interessante Krankheitserscheinung zur öffentlichen Untersuchung bereitstellen? Wir glauben es nicht und halten vielmehr dieses beständige Zurschautragen erfahrener Enttäuschungen, wie es Conradi betreibt, für Koketterie (wir fürchten – mit dem Wahnwitz. D. Red.) – »Lieder eines Sünders« nennt er die Sammlung seiner Gedichte, d. h. »Lieder eines Kämpfers, der sich nicht ganz von der grenzenlosen Gemeinheit des Lebens knechten lassen wollte«, der aber, wie wir fortfahren möchten zu erläutern, sehr oft dieser Gemeinheit erlegen ist und sich gar nicht unwohl dabei befunden hat, bis ihm die Sache zu toll geworden ist und der Ekel sich eingestellt hat. Dann fing er an zu jammern über dieses niederträchtige Dasein und mutet uns nun zu, seinen Katzenjammer als eine Folge des Kampfes um die innere Freiheit anzusehen. Die Berechtigung dieses Ausspruchs erkennen wir aber nicht an, ebensowenig wie wir den Pessimismus als eine allgemein gültige Weltanschauung gelten lassen, weil wir der Ansicht sind, daß der Mensch eine solche unglückliche Stimmung nicht über sich Herr werden lassen darf, wenn er nicht untergehen will. – Dieser grundsätzlichen Bedenken gegen Conradis Weltanschauung ungeachtet, müssen wir bekennen, daß seine »Lieder eines Sünders« auf ein ungewöhnliches poetisches Talent schließen lassen. Ganz im Gegenteil zu dem kunstlosen Stil seines Romans entwickelt Conradi in seinen Liedern einen entschiedenen Sinn für die Schönheit der Form und eine Fähigkeit, selbst das Gemeine, das er seiner Poesie reichlich beigemischt hat, durch den Reiz seiner Sprache erträglicher zu machen.«
In Dr. Küsters »Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung« nahm auch der mit Conradi gleichaltrige, aber damals noch völlig unbekannte und unbeachtete Gerhart
Hauptmann das Wort, der bis dahin außer einigen kleineren Sachen
Bekannt sind mir ein Artikel aus dem Jahre 1887 »Gedanken über das Bemalen von Statuen« und die Gedichte: »Im Nachtzug« und »Die Selbstmörder« (Vision im Grunewald), aus demselben Jahre. nur eine Versdichtung »Promethidenlos« (1885) veröffentlicht hatte. Wenn er sich auch innerlich mit jenen Gedichten kaum zu befreunden vermochte, so erkannte er doch die Bedeutung Conradis an und erhoffte von seiner Weiterentwicklung noch Größeres.
Da diese Arbeit Hauptmanns kaum allgemein bekannt sein dürfte, bringen wir sie im Wortlaut: »Ueber eine Originalität ist nicht zu rechten; sie mag uns sympathisch oder antipathisch sein, gleichviel, sie muß hingenommen werden, wenn anders man sich nicht etwa mit dem Versuche trägt, die Lebensadern eines Dichters zu unterbinden. Die vorliegenden Lieder werden wohl schwerlich eine große Gemeinde finden, denn sie mitzufühlen, bezw. zu verstehen, wird nur dem kleinen Teil solcher Menschen möglich sein, welche mit dem Dichter den heißen Drang nach Licht und Wahrheit teilen. Diese aber werden gewiß, zumal da der Inhalt der Sünderlieder eine fortlaufende Entwicklung darstellt, welche durch die Titel ihrer einzelnen Abschnitte genügend charakterisiert wird (Inferno, Im Strudel, Liebe und Staubverwandtes, Revolution, Emporstieg, Zwischenstille, Gipfelgesänge, Triumphgesänge der Lebendigen), Erhebung, Stärkung und Begeisterung zu neuem Ringen daraus schöpfen. Es kann nicht meine Absicht sein, auch nur annähernd eine Kritik vorliegenden Buches im Rahmen einer kurzen Besprechung geben zu wollen, deshalb muß ich mich begnügen, die triviale Tatsache festzustellen, daß auch hier wie überall sich Gutes und Schlechtes vereint vorfindet. Das Gute allerdings ist
außergewöhnlich gut, das Schlechte außergewöhnlich schlecht. Letzteres aber hat seinen Ursprung nicht in der Unfähigkeit des Dichters, sondern vielmehr in einer gewissen Ueberkraft desselben, einer wüsten Zügellosigkeit seiner Phantasie, die sich mitunter in Roheiten verliert, deren oft nicht einmal witzige Brutalität eine künstlerische Wirkung nicht aufkommen läßt. In der Vorrede seines Buches nennt Conradi dasselbe ein gutes, markiges, saftgeschwollenes Stück Seelenlebens, und so wenig sympathisch mich dieses »saftgeschwollen« auch berührt, ist es doch ein Beiwort, welches sich mit dem Inhalt des Buches deckt. Verhält es sich aber so, und spiegelt das Buch dabei eine weit über das Gewöhnliche hinausgehende, leidenschaftdurchglühte Seele, so ist sein Verfasser ein wirklicher Dichter. Demnach fasse ich Hermann Conradi als einen Dichter auf, der mit diesen seinen Sünderliedern dem Sturm und Drang seinen Tribut gezahlt hat, und dessen Weiterentwicklung man mit Interesse entgegensetzen muß.«
(Allg. Deutsche Universitäts-Ztg. vom 16. April 1887, Nr. 16, I. Jahrg., S. 194, 195.)
Zur selben Zeit, wo seine Gedichte im Druck waren, arbeitete Conradi an verschiedenen roman- und novellenartigen Werken, von denen er nur eines vollendete, die »Phrasen«. Und auch an ihnen konnte er nicht frei schaffen, da er sich angestrengt der Tagesschriftstellerei zu widmen hatte, um sein Leben zu fristen. So mußte er, wie er damals schrieb, seine erste größere Schöpfung seiner Zeit und seinen Verhältnissen abringen, trotzdem wollte er »das Buch so viel als möglich innerlich an Wert und Bedeutsamkeit erhöhen«. Er meinte: »Das Buch ist bedeutend – es vereinigt die größte intellektuelle Tiefe und den schärfsten Realismus«, allerdings sei es »alles andere als ein traditioneller Roman«. An ein Durcharbeiten seines Werkes war bei seiner Überlastung und bei der Eile, mit der er den Druck betrieb, nicht zu denken. Er »schmetterte« nach Bartels' Ausdruck die einzelnen Kapitel förmlich aufs Papier und sandte sie dann sofort in die Druckerei. Am 18. Januar 1887 schickte er das Ende des Romans, aber der Veröffentlichung trat Friedrichs Rechtsanwalt, Dr. jur. Felix Zehme, der im Realistenprozeß 1890 seine Verteidigung führte, in einem siebenseitigen Gutachten vom 21. Januar 1887 entgegen, weil die »Phrasen« gegen den § 184 des Strafgesetzbuches verstießen. Ob Conradi daraufhin noch Streichungen vornahm, zumal in der Johanna-Szene, ist aus dem Briefwechsel mit Friedrich nicht festzustellen, aber nach den Erinnerungen R–s nicht ausgeschlossen. Jedenfalls lagen die »Phrasen« erst Ende Februar 1887 im Buchhandel vor.
Sie waren nicht als ein in sich abgeschlossenes Buch gedacht, sie bildeten vielmehr nur den ersten Teil eines größeren Ganzen, das mit dem Roman »Ein moderner Erlöser« zu Ende sein sollte. Aus einer pessimistischen Anschauung heraus nannte der Dichter sein Buch »Phrasen«, denn, so meinte er: »Phrasen haben uns aufgezogen, lange Jahre beeinflußt und gebildet – gegen Phrasen ruft uns jedes ertragene Lebensmoment auf den Plan – und schließlich müssen wir uns gestehen, daß wir selbst doch nur ein höchst problematisches Gemisch von Neigung zur Phrase und Liebe zur Freiheit und Wahrheit darstellen. Das ist unser Elend!« Der Dichter gab seinem Werke die Bezeichnung »Roman«, trotzdem er selbst genau wußte, daß es gar kein Roman ist. Ein eigentlicher Plan oder irgendwelche als Leitmotiv erscheinende Idee liegt dem Ganzen nicht zugrunde; nur durch die Person des »Helden« Heinrich Spalding wird das lockere Szenengefüge – und zwar oftmals recht lose – zusammengehalten. Zum erstenmal klingt bei der Schilderung dieser Gestalt ein Motiv an, das Conradi später klarer erkannte, das Problem des Uebergangsmenschen. Heinrich Spalding ist ein solcher, ein »Mischling der Romantik und des modernen Realismus« (aus Adam Mensch), »ein Stimmungsvirtuose ersten Ranges, mit dem Vermögen begabt, jede Stimmung bis zur Quintessenz zu durchfühlen«. Er kennt das Bewußtsein, »daß man im lockern Erdreich des Lebens, des Zusammenlebens, mit tausend Fasern eingehakt ist«, und er empfindet die Scheu »so wurzelhaft verbissen und groß, so herabstimmend und verwirrend – die Scheu vor dem Bruch, der Verneinung, der Verleugnung«. Er ist innerlich zerklüftet, er besitzt »eine feine und zarte Seele, die instinktiv zurückbebte vor dem Dreck und doch trotzig mit der Lust am Staube kokettierte«, er fühlt sich als »Proletarier des Geistes«, aber er bleibt trotz allem Aristokrat, der innerlich mit der großen Masse nichts gemein hat. »Wir plädieren für den Tag der großen Katastrophen, (so meint er) – aber wir fürchten diesen Tag zugleich. Er bringt auch uns den Untergang! Ruft die Stunde, da die Krämer zittern werden, weist uns das Schicksal den Platz auf der Seite der Rächer – der Enterbten und Unterdrückten! Doch wenn sie gesiegt haben, die Söhne der Armut und Knechtschaft – wehe uns! Im Namen des Geistes werden wir die Anerkennung unserer Ideale fordern – aber man wird uns zuerst verlachen und dann – vernichten! Unter den Triumphklängen Wagners, unter den Melodien dieser gewaltigen Gewitterpsalms-Musik, werden wir armen Schächer – wir »Idealisten« sans phrase sterben – wir Jünger Nietzsches, dieses »Philosophen der Zukunft«, der den großen Musikanten der Gegenwart längst übertrumpft hat und unterweilen in einem stillen Alpentale sich damit befaßt, alle »Werte umzuwerten« …
Der Roman gibt im Grunde weiter nichts als ein Stück stark subjektiv gefärbter Selbstbiographie Heinrich Spaldings, eine Schilderung seines Lebens im ersten Leipziger Studiensemester. Und Heinrich Spalding ist kein anderer als Hermann Conradi selber, und nur der kann das Werk richtig in all seinen Andeutungen und Anspielungen verstehen, der eine intime Kenntnis von des Dichters Entwicklung besitzt. Wie ernst er es mit seinem Ich nahm, sagt er schon in den »Vorgedanken«:
»
Euch ist das Leben Faktum – mir Problem!
Die Welt – das Leben – Ihr – das ganze Sein!
Am meisten aber – Ihr erlaubt's mir doch? –
Bin ich mir selbst Problem! Und darum mußt' ich –
Da auch die Kunst im Tiefsten problematisch –
So furchtbar ›subjektiv‹
dies Buch gestalten!«
Alle Anteilnahme des Lesers sucht Conradi auf seinen Helden zu richten, und wenn er auch die Charakteristik der übrigen Personen bei aller Kürze scharf, treffend und lebensplastisch zeichnet, so bleiben sie doch sämtlich unbedeutende Nebenfiguren, »Schatten des Marktes«, die ebenso wie alle geschilderten Situationen nur dazu da sind, um irgendeinen Charakterzug oder eine Stimmung des Helden zu zeigen. Die psychologische Zergliederung Heinrich Spaldings war die Hauptsache für den Dichter, aber seine Kraft versagte gegenüber der gewählten Aufgabe, und so erscheint sein Held schlechter charakterisiert und unfaßbarer als die Nebenfiguren. Um sein Ich recht genau von allen Seiten zu bespiegeln, bringt der Dichter eine Unsumme von Kleinigkeiten, die er alle für wichtig hält. Ganz besonders gehören dazu die vielen Reflexionen, Aphorismen und Gedankensplitter, die er an der einen Stelle eingefügt hat. Und um die Persönlichkeit Heinrich Spaldings in ihrem Werden verständlich zu machen, schaltet Conradi zwei größere Abschnitte über seine Jugendgeschichte ein, die ein Bild von seinem Elternhaus und seinem Kindes- und Jünglingsdasein entrollen. Möglicherweise hat ihm dabei Gottfried Kellers »Grüner Heinrich« vorgeschwebt. Von den beiden Abschnitten ist besonders der erste, die Kindheitsgeschichte, durch die scharfe Beobachtung des wirklichen Lebens, die einfache, aber lebensplastische und stellenweise so zarte und poetisch verklärte Darstellung hervorzuheben, ja, man geht wohl nicht zu weit, wenn man diesen Teil für den schönsten und gelungensten des ganzen Werkes erklärt.
Die erwähnten beiden großen Einfügungen fallen durch den ganzen Ton aus dem Rahmen des übrigen Werkes heraus. Eine Sonderstellung nimmt auch der Abschnitt ein, welcher die Johanna-Episode behandelt. In ihr kommt eine unverständliche, tiefsinnig sein sollende Mystik zum Ausdruck, die eine innerliche Erhöhung des Jünglings schildern will. »Manchmal dachte er an Christus – und Christus durchleuchtete ihn mit sanften Feuern, daß der Jüngling sich nahe, ganz nahe fühlte dem Märtyrer und seeleneins und welteins und im Uebermenschen der Erlöser dahinstarb – ein Hauch, ein natürlicher Hauch – eine leise Welle geheimnisvoll klaren, verklärten Werdens.«
Abgesehen von diesen Partien versucht der Dichter, stilistisch im Sinne der naturalistischen Schule zu arbeiten. Während ihm dies nun in den »Brutalitäten« bis zu einem gewissen Grade gelungen ist, zeigt sich in den »Phrasen« Conradi seiner Aufgabe nicht gewachsen. Ein tüchtiges Stück Romantik steckt vielmehr in dem Buche, und die schwüle Sinnlichkeit gemahnt lebhaft an Friedrich Schlegels Lucinde. Statt eines naturalistischen Tatsachenstils bietet Conradi einen gewöhnlichen und rohen Ton; allerdings gefällt er sich nicht in den Kraßheiten, die er schildert, sondern man fühlt überall den durch das Leben tief enttäuschten und aus allen Himmeln gerissenen Idealisten heraus. Irgendwelche feilende und ausgleichende Hand hat Conradi an sein Werk nirgends gelegt; er hielt den oft recht saloppen und gewagt burschikosen, stellenweise sogar verlotterten Stil des Hauptteiles für angemessen. Aber gerade das Fehlen jedes Ausgleichs zwischen den einzelnen großen Teilen wurde dem Werke verhängnisvoll: ein Zusammenfassen zu einem in sich geschlossenen Kunstwerk konnte nicht stattfinden, und so bietet der Roman Conradis kaum mehr als ein Trümmerfeld, auf dem zahlreiche brauchbare Bausteine in wüster Unordnung herumliegen, aber keineswegs den großen Kunstbau, den der Dichter vor Augen hatte.
Es war zu erwarten, daß ein in sich so widerspruchsvolles Werk wie die »Phrasen« in der Oeffentlichkeit keine günstige Aufnahme fand. Kritiken über die »Phrasen« finden sich in folgenden Blättern und Broschüren: Blätter für literarische Unterhaltung 1888, S. 108-111 (von A. Hermann); Deutsche Blätter 1887 (September) Nr. 9, S. 268-270 (Hans N. Krauß); Allgemeine Deutsche Universitätszeitung vom 4. Juni 1887, S.278 ff. (Johannes Schlaf); Grenzboten 1887, III, S. 86-90 (Dr. Max Oberbreyer). Siehe auch Literatur und Staatsanwalt, S. 24 ff., wo noch die Besprechung in dem Magazin und im Bayrischen Landboten erwähnt werden. M. G. Conrads Besprechung erschien in der »Gesellschaft«. Merian äußerte sich über die »Phrasen« in der Broschüre: »Die sogenannten Jüngstdeutschen«, S. 34-36, Edgar Steiger in seiner zitierten Broschüre S. 67, 68. Die Gegner der neuen Richtung hatten mit Recht sehr viel an dem Buche auszusetzen. Die Blätter für literarische Unterhaltung, welche in einer längeren Besprechung das Werk verurteilten, bezeichneten die darin befindliche Jugendgeschichte als eine »erquickende Oase« und bedauerten, daß der Verfasser »sein Talent, durch das Streben nach dem Neuen, Nochnichtdagewesenen verleitet, in so unwürdiger Weise verschwendet« habe. Und am schärfsten ging mit dem Dichter Dr. Max Oberbreyer ins Gericht. In seinem Artikel: »Ein jungdeutscher Phrasenheld« trifft er in vielen Punkten den Nagel auf den Kopf. »Ein Roman ist das Buch nicht,« meint er, »denn unter einem solchen versteht man doch die Erzählung von Tatsachen, Situationen, Gesprächen, Handlungen usw., welche die Entwicklung eines Menschen oder vieler von seiten ihres Charakters, ihrer Verhältnisse u. s. f. darstellen, den Fortgang der Sache veranschaulichen und zu einem gewissen Abschlusse gelangen. Hier ist aber weder Fortgang noch Abschluß, das letzte könnte ebensogut das erste sein, manches könnte fehlen, anderes hinzukommen, ohne daß das Ganze sich wesentlich veränderte. Diese Herren vom neuesten »Sturm und Drang« nehmen ja für sich das Recht in Anspruch, über alle literarischen Rubriken, Gewohnheiten und dergleichen sich mit souveräner Verachtung hinwegzusetzen, aber sie erheben den Anspruch, Kunstwerke zu schaffen. Ein Kunstwerk muß aber doch mindestens ein Ganzes, in sich Abgeschlossenes sein, die »Phrasen« aber sind locker aneinandergenähte Fetzen; was sie zusammenhält, ist nur der gleiche Zwirn, die Lappen sind sehr verschiedener Art, nur alle in gleicher Weise grell aufgefärbt. Der Verfasser stellt zwar selbst die »Phrasen« als Prolog zu einem größeren Werke hin, doch rechtfertigt auch dies Form und Inhalt des Buches nicht. Eine solche »Einleitung« müßte doch wenigstens die Grundzüge des Ganzen in allgemeinen Umrissen erkennen lassen, oder, wenn sie selbst schon der Anfang ist, die Genesis des Späteren darstellen. Ersteres ist in dem Buche nicht der Fall, als die letztere könnte höchstens die Kindheitsgeschichte gelten, die aber nur einen geringen Raum einnimmt und viel zu wenig bringt, um als Genesis einer Entwicklung des ganzen Menschen (Spalding) gelten zu können …«
Aber nicht bloß die Gegner der neuen Richtung verurteilten den Roman Conradis, auch seine eigenen Parteigänger waren zumeist sehr enttäuscht. Nur Edgar Steiger sprach sich in seiner Broschüre anerkennend aus, und Hans Merian rühmte von den »Phrasen«, es »flute die Idee über alle Grenzen des Erlaubten hinaus, des Dichters eigen Werk zerstörend. Es sind in diesem Buche Szenen, die von geradezu dämonischer Gestaltungskraft des Verfassers zeugen … Aber ich schätze dieses Buch nicht nur wegen der darin sich dartuenden Kraft, sondern hauptsächlich als ein Monument der gewaltigen Reaktion gegen die Gouvernantenpoesie, die sich besonders in der jungdeutschen Schule zum Glück und Segen für unsere deutsche Dichtkunst erhoben, als die saftigste, gewaltigste, unerhörteste Ohrfeige, welche unsere Backfisch-Kinderstuben-Altweiber-Mode-Literatur endlich einmal verdientermaßen erhalten hat«. Bedeutend nüchterner urteilte Hans N. Krauß. Er meinte in seiner längeren Besprechung: »Conradi hat gute Augen, er sieht alles von der charakteristischen Seite. Seine Figuren haben alle Leben, mit Ausnahme des »Helden«. Dieser Herr ist ein Kind des Gedankens. Er soll das ganze, in hundert Nebensächlichkeiten, Gefühlsregungen und Gedankenblitzen sich verzettelnde Streben der Zeit zur Anschauung bringen. Theoretisch, als Gedankenarbeit, ist das gelungen; die künstlerische Figur hat Sprünge und Risse die Menge. Die Sprache und Darstellung Conradis ist subjektiv bis zum Exzeß. Im Roman berührt uns das immer eigentümlich, im lyrischen Kunstwerk deucht es uns am Platze.«
Eine sehr gründliche Abfertigung ließ dem Dichter sein alter Jugendfreund Johannes Schlaf für die »Phrasen« zuteil werden. »Dies Buch und sein Verfasser«, meinte er, »ist in dem Bereiche unserer neuen Literaturbestrebungen eine ganz eigenartige, ja, man kann sagen, ihnen, die doch auf einem unverkennbaren Zwange tatsächlicher Verhältnisse beruhen, ganz heterogene Erscheinung. Diese »Phrasen« veranschaulichen uns einen höchst eigenartigen Prozeß: den der Agonie des Romantizismus mitten in einer Welt neu aufblühender, hoffnungsfreudiger Keime. Den Zwiespalt des Romantizismus und Naturalismus in unserer Generation schildert meisterhaft Zolas Roman: » L'Oeuvre«. (Anmerkung Schlafs.) In der Tat: wir haben in Conradi ein eigentümliches Pendant zu jenem paradoxen, ewig nervösen Führer der älteren Romantik, dem jungen Friedrich Schlegel. Die Ähnlichkeit ist, wenn man natürlich auch vieles in Abzug bringen muß, nicht zu verkennen. Derselbe Kultus echt romantischer Willkür, den wir z. B. in der »Lucinde« gefunden, tritt uns auch in diesen »Phrasen« entgegen. Man wird sich vergeblich bemühen, in diesem Buche etwas vom Zuge der Zeit zum Wirklichen zu gewahren, höchstens scheinbar treffen wir ihn hier und da. Nur schwache Ansätze, sich des Wirklichen gestaltend zu bemächtigen, Versuche, die dem Verfasser bei seiner Art gänzlich mißglücken müssen. – In der Vorrede zu den »Brutalitäten« stellt sich Conradi in eine Reihe mit den Zola, Daudet, Ibsen, Dostojewski u. s. f. Ein kühnes Unterfangen! Aber er hat gar keine Berechtigung dazu! Er hat nichts mit den Männern gemein, die sich mit so staunenswerter Energie dem Wirklichen zuwenden und die als echte Künstler trotz alledem und alledem – – bei ihm verharren. – Es ist wahr: auch Conradi geht an das Wirkliche heran: aber es fehlt ihm an der ethischen Kraft eines Zola, darin zu verweilen, es einem unmittelbaren, künstlerischen Triebe zu unterwerfen. Er flüchtet sich auf »Gipfel« und »Lebenshöhen«; er flieht vor dem Wirklichen in alle möglichen mystischen und supranaturalen Schlupfwinkel. Man lese nur die tragikomische, symbolische Agapenszene gegen Ende des Buches. – Der romantische Drang, ein eigenes, möglichst verworrenes, fragmentarisches Ich, ohne jede objektive und daher spezifisch künstlerische Gestaltungskraft zum »Mittelpunkt« einer kosmischen Nebelmasse wissenschaftlicher, philosophischer und sonstiger Elemente zu machen, springt hier ganz unverkennbar in die Augen. Zola, Daudet, Ibsen und wie sie alle heißen, sind Künstler im eminenten Sinne trotz allen Einwendungen einer impotenten Kritik. Conradi hat sehr wenig künstlerisches Ingenium. Bei ihm löst sich jede künstlerische Kristallisation in ihre Urbestandteile auf; eine gesteigerte persönliche Willkür, ein äußerst nervöser Gefühlssubjektivismus duldet hier kaum einen Ansatz zu Kunstgebilden. Es fehlt jede Spur von Konzentrierung. Bei diesem Gefühlsvirtuosentum bleiben auch die Ideen verschwommen und unklar, mit denen sich ohne Anfang, Mitt' und Ende der Held Heinrich Spalding gelegentlich sehr alltäglicher Begebenheit herumschlägt (das ist die Handlung des Ganzen!). Wir sehen eine Verwirrung ethischer und ästhetischer Begriffe in einem Hexensabbat, der toll genug ist. – Nirgends das gesundsinnliche Wurzeln einer Künstlernatur im Wirklichen, in Natur und Leben. Conradis Sinnlichkeit ist greisenhaft, durchaus unproduktiv. Dieser Roman repräsentiert eine Phase echt modernen Geisteslebens, aber eine überwundene, mit Recht allseitig zurückgewiesene, eben die romantische – nicht sie: sondern vielmehr ihren letzten Todeskampf. – Wir können nicht leugnen, daß uns dieses kosmische Ideenchaos ein bedeutend höheres Interesse abnötigt, als die formale, auflackierte Romantik der Julius Wolff und Genossen, denn es bietet sich hier ganz rücksichtslos eine tatsächliche Persönlichkeit mit ihrem ganzen, wenn auch noch so wirren Innenleben. Wir gewahren hier einen sehr charakteristischen Auflösungsprozeß und somit ist dieses Buch für Einsichtige von hohem Werte. Erhebt man dagegen Anspruch auf eine durch dramatische Vertiefung interessante Handlung, auf künstlerische Wirkungen, wollen wir moderne Konflikte in gültigen Typen lebendig sehen, so sehen wir uns enttäuscht. Dennoch ist das Buch äußerst lesenswert und erweckt ein mannigfaches Interesse.«
Am schmerzlichsten aber mußte es für Conradi sein, daß auch der »Hutten der literarischen Revolution«, M. G. Conrad, nichts von dem Roman wissen wollte. Dieser meinte vielmehr: »Der Roman von Hermann Conradi ›Phrasen‹ ist vom ehrlichen Künstlerstandpunkt, der sich mit der heiligen Kunst keine Scherze erlaubt, die denkbar schmerzlichste Enttäuschung. Es ist ein greulich zerfahrenes und zerfetztes Machwerk.«
Für die Kenntnis von Conradis Welt- und Lebensanschauung sind die »Phrasen« von hohem Werte. Zum erstenmal in seinen Werken klang ein antisemitischer Unterton mit, und Conradi, der erst noch zwei Jahre zuvor dem jüdischen Dichter Daniel Leßmann eine so warm empfundene Studie gewidmet hatte, begann in sich eine immer stärkere Abneigung gegen das Judentum zu empfinden, die ihn später gelegentlich zu rohen Ausfällen fortriß. Er glaubte, wie er später im »Adam Mensch« aussprach, »an das Germanentum, das seine höchste Mission, die Ueberwindung und Knechtung des semitischen Geistes, erfüllen werde«, und er meinte von sich: »Die Rolle, philosemitischen Kulturdünger zu spielen, behagt mir nicht« (an Blume, 23. Juli 1886).
Aber der Roman ist noch in anderer Beziehung bemerkenswert. Von Jugend auf hatte Conradi mit Verehrung zu der Persönlichkeit Christi emporgeblickt, und er tat dies auch dann noch weiter, als er innerlich das Christentum überwunden hatte. Er sah (nach der Erinnerung Dr. Hezels) in Jesus den tragischsten Menschen, der je gelebt. In dem gekreuzigten Heiland erblickte er das Symbol der leidenden Menschheit, und bei seinem Anschauen ward es ihm zu Sinn, wie er in den »Phrasen« schrieb, »als müßte er in die Knie brechen und die Arme zu dem toten Gotte emporstrecken und den toten Gott um eine wahrhaftige Welterlösung anflehen, die alle umfaßte«. Aber nicht immer sah er in Jesus bloß den Helden der sich aufopfernden Menschenliebe und das religiöse Genie, oftmals stellte er sich in Augenblicken eigenen Genialitätsbewußtseins mit ihm als seinesgleichen, als kongenialen Menschen, auf dieselbe Stufe, und diese »intime« Stellung veranlaßte ihn dann gelegentlich zu leichtfertigen Aeußerungen über Jesus, dessen Beziehungen zu den Jüngerinnen er sich nach seinen Lebensgrundsätzen glaubte denken zu dürfen (Erinnerungen R–s). Als einen Ausfluß dieser Stimmung darf man auch das freche »Prost« betrachten, das Heinrich Spalding im Anblick des Kruzifixes ausruft.
Hatten sich in den Sünderliedern Conradis Nietzschesche Gedanken erst schüchtern gezeigt, so traten sie in den »Phrasen« deutlicher hervor. Offen bekennt sich Conradi als Jünger Nietzsches, und in vielen Worten, Wendungen und Aeußerungen gemahnt er an seinen Meister, und der ganze Roman wird so zu einem wertvollen Zeitdokument, an dem man das Eindringen der Nietzscheschen Ideenwelt in das deutsche Schrifttum gut verfolgen kann. Von irgendwelcher gedanklichen Selbständigkeit gegenüber Nietzsche war damals bei Conradi noch keine Rede, noch verehrte er ihn völlig kritiklos und meinte: »Der Keim zum Uebermenschen liegt in jedem. Nur einem gelang die Tat: Nietzsche. – Er hat das dritte Testament geschrieben. Geht und lest seinen Zarathustra –!« (an Blume, 14. Juli 1886). Und voller Zorn war er, als Johannes Schlaf in einer Kritik der Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung (8. Januar 1887) Nietzsche als Parasiten bezeichnete; er erklärte, er werde seinen alten Jugendfreund deswegen ohrfeigen, wenn er ihn träfe. Als interessantes und kaum bekanntes Zeitdokument folge die Schlafsche Kritik im Wortlaut: » Jenseits von Gut und Böse. Von Fr. Nietzsche. Leipzig 1886. – Vorliegendes Buch soll ein Grundriß zu einer Philosophie der Zukunft sein. In der Tat bringt aber der Verfasser bei seiner aphoristisch-Emersonschen Manier nur einzelne Bausteine, denen man's wahrhaftig nicht ansieht, wie sich einst aus ihnen ein festgefügtes System gestalten soll, die vielmehr recht verteufelt danach aussehen, als bröckle mal wieder ein Stück Philosophie ab und bewahrheite sich die trübe Weisheit vieler Skeptiker von dem Bankrotte der Philosophie. – Was dieser Aphorismenweisheit einigermaßen Rückgrat gibt, ist die bei Licht besehen nicht gerade sehr originelle Idee vom »Willen zur Macht« und die von einer »Umwertung der Werte«. Ueber letztere ist manches recht Beachtenswerte beigebracht, wie denn im einzelnen sehr viel, leider oft zu geistreiche Aperçus und viel ganz richtige und leidlich vernünftige Ansichten entwickelt werden. Leider kommt man nicht zum rechten Genuß derselben, da die Idee vom »Willen zur Macht« den Verfasser zu einem geradezu krankhaften Kult der Persönlichkeit und zu einem recht dünkelhaften Selbstbewußtsein verleitet, das sich recht frevelhaft und – recht töricht über die nach Ausgestaltung ringenden Strömungen der Gegenwart hinwegsetzt. – Es gibt einen übertriebenen Begriff der Individualität, ein krankhaft gesteigertes Selbstbewußtsein, das Menschen zu eigen ist, die ganz isoliert von der Gesellschaft stehen, mit ihr nichts zu tun haben wollen, sie verachten, obgleich sie doch ohne sie nicht möglich sind. Leute, die nehmen, geduldet sein wollen, aber nichts geben, nicht fördern: Parasiten. – Die Gesellschaft nennt sie, soweit sie ihr nicht wirklich gefährlich sind: Narren. Solche Leute, die manchmal solche Schrullen haben, daß sie vielleicht den Dionysoskult ernstlich ins XIX. Jahrhundert versetzen, man trifft deren gerade heute viel – ein Zeichen der Zeit – könnte die »Philosophie« des Verfassers züchten.«
Für sein Leipziger Leben war das Erscheinen der »Sünderlieder« und der »Phrasen« von großer Bedeutung. Er wurde – etwa im Mai 1887 – mit Rudolf v. Gottschall persönlich bekannt und brachte wohl durch dessen Vermittlung eine Kritik am 4. August 1886 bei der Leipziger Zeitung unter, ja Gottschall wählte ihn sogar zu seinem Biographen und lieferte ihm Material zu einer Darstellung seines Lebens, die im Leipziger Verlag von Schloemp erscheinen sollte. In den literarisch interessierten Kreisen der Studentenwelt ward Conradi jetzt zu einer Art Berühmtheit, ja bei der damaligen Vereinigung »Tafelrunde« sah man keinen für voll an, der die »Phrasen« nicht gelesen hatte, und man lud den Dichter derselben zu einem Abend ein, erschien aber sehr enttäuscht, als man ihn leiblich kennen lernte. Die Wirkung der »Sünderlieder« auf einzelne der Conradi nahestehenden Studenten war teilweise sehr groß, so vertiefte sich R– die Nacht hindurch und bis in den Morgen hinein in die Gedichte, von denen er nicht loskommen konnte. »Ja, das war endlich einmal elementare Leidenschaft! Aber auch zarte, innige Akkorde erklangen. Die parfümierte Empfindung der Epigonen war in diesen Versen nicht zu spüren. Was aber zu massiv, zu »hanebüchen« auf uns wirkte, – brutal nach Conradis eigentlichem Terminus, nun das war eben genialer Ueberschwang; sicherlich kommandiert auch da ein künstlerisches Müssen. – – Vermöchten wir dies und das nicht zu assimilieren, so hatten wir vielleicht das Punctum saliens nicht erfaßt, und es standen uns bei wiederholter Lektüre neue Einblicke in die Dichterseele bevor, die nach ihrem eigenen Maßstab zu bemessen war. Zum mindesten war's Sturm und Drang, wie ihn freilich der Anempfinder nicht erlebt. Der Kernmensch, in dem die dichterische Anlage Substanz ist, muß ihn durchmachen. Im Wirbel der inneren Erlebnisse wird er bald in den Himmel der Gefühle empor-, bald in den Abgrund der Leidenschaften hinabgerissen. Diese Entwickelungsphase weist über sich hinaus. Sie wird überwunden werden, und dann werden die ruhig großen Werke im abgeklärten Dichtergeiste geboren werden. So war unsere durch die Lektüre hervorgerufene Stimmung« (Erinnerungen R–s).
Nüchterner blieb der Kreis um Hartleben. Ihm gehörte unter anderen auch der Holländer Rudolf Steinmetz an. Er lieh sich von R– die »Sünderlieder« und las sie aufmerksam durch. »Ich fand in diesen Gedichten«, schreibt er selbst An Dr. Ssymank (28. Mai 1899)., »zwar nicht den tiefen Ernst und den direkten Ausdruck desselben wie bei Verlaine, auch nicht die schöne Sprache der Keats und Shelley, wie sie die jungen Holländer wieder boten, aber, da ich von Jugend auf ein Verständnis für die deutsche Lyrik erhalten hatte, trafen mich in diesen geschwollenen und unreifen Liedern doch eine gewisse Leidenschaft, die Freiheit des Ausdrucks und einige bemerkenswerte Gefühle.« Er ging zu Conradi, der sich über den Besuch eines Ausländers sehr freute. »Einigermaßen erstaunt und zu betroffen, um gleich eine Antwort zu finden,« so fährt Dr. Steinmetz fort, »war er aber, da ich ihm sagte: ›Nach Ihren Gedichten zu urteilen, sind Sie wohl noch sehr jung!‹ Er posierte so gern den überreifen, das Leben kennenden Mann! Ich motivierte mein Urteil etwa folgendermaßen: ›Der Ausdruck Ihrer Lieder ist schwülstig, rhetorisch, die Sprache überladen. Sie ziehen zwanzig Worte dem einen ganz richtigen vor; Ihre Gefühle sind noch so die allgemein lyrischen, die jeder junge suchende Mann hat; es ist noch so wenig Abgeklärtes, Ureigenes darin, dagegen sehr viel »deutsche Lyrik«. Aber immerhin: ganz fade, ganz unbedeutend sind sie nicht.‹ Da war er mit sich selbst uneinig, ob er böse sein müßte oder nicht. Mein Besuch war schmeichelhaft, für einen Stümper hielt er mich nicht, das konventionelle Urteil hatte ich nicht, aber demütige Bewunderung gewiß viel weniger. Das war ihm neu. Er kannte bis dahin nur konventionelle, verständnislose Verurteilung oder aber ebenso dumme sklavische Verehrung.« Dasselbe, was Steinmetz zu Conradi gesagt hatte, brachte er auch bei einem von Hartlebens literarischen Abenden vor, und der Erfolg war, daß die Anwesenden, abgesehen von dem für die »Sünderlieder« begeisterten Hezel, die Gedichte höflich ablehnten.
Sehr stark veränderte sich die Stellung Conradis zu seinen Leipziger Freunden nach dem Erscheinen der »Phrasen«. Allgemein unter ihnen war die Enttäuschung über das Werk, und selbst Korn, dem es der Dichter gewidmet, betrachtete es als ein bescheidenes Angeld auf die Zukunft. Aber nicht bloß diese künstlerischen Einwendungen leiteten die Leipziger Genossen Conradis. Mit Rücksichtslosigkeit und Deutlichkeit hatte er in seinem Roman nicht bloß seine Jeßnitzer und Dessauer Bekannten geschildert, die ihm das sehr übel nahmen, sondern auch seine neuen Studiengenossen und sonstigen Leipziger Bekannten. Conradi war schon früher der Meinung gewesen: »Der Dichter hat das Recht, seine Freunde abzuzeichnen. Dabei darf er und muß er meistenteils mehr in sie hineinlegen als gewöhnlich in ihnen steckt.« Eintrag in das Bundesbuch der Lebendigen vom 1. Dezember 1883. S. Bd. I, S. 234. Nach diesem Grundsatze verfuhr er in den »Phrasen« und schilderte seine Leipziger Umgebung unter leicht verhüllten Namen so deutlich, daß man auf die einzelnen mit Fingern zeigen konnte. So erschien Korn als Horn, Hezel als Winkler, R– als Reppin, Dr. Oberbreyer als Dr. Schieferdecker, Bobtschew als Krestow, Trepinski als Lapinski und Adolf Bartels wurde mit einem Bekannten der Berliner Zeit Salomon Weinberg zu Salomon Liebmann verschmolzen. Conradis Jugendfreund Schuster wird unter dem Namen Schneider geschildert, die Magdeburger Freunde Blume, Bohne, Gradnauer und Mänicke erscheinen als Georg Rößler, Hans Faber, Ludwig Friedmann, Felix Jordan. Willy Mertens und Conradis Tante Eichler, sowie seine Geliebte Louise erscheinen unter ihrem wirklichen Namen, ebenso sein Leibbursche Ganske (allerdings mit falschem Vornamen Konrad statt Franz). Unter der Nebenfigur des Dr. Bieber ist Dr. Wirth, unter Matthew J. H. Mackay, unter Dr. Sendlinger Dr. Ellinger zu verstehen. Sein Jeßnitzer Lehrer Kaplan Püschel erscheint als Kaplan Birkenfeld, Dr. Pietschker als Dr. Pohl. Es blieb eine Seltenheit, daß einer von den Geschilderten stolz darauf war, in diesem Schlüsselroman als Problem behandelt zu werden. Das natürliche Gefühl mußte bei ihnen der Zorn über die Darstellung sein, zumal mancherlei Intimitäten geschildert wurden, von denen keiner wünschen konnte, daß sie ans Tageslicht gezerrt würden. Sehr treffend schildert die Stimmung des betroffenen Freundeskreises der Theologe R–: »Im Auge anderer Bekannter Conradis schadeten dem Roman besonders dessen letzte Abschnitte. Daran blieb man kleben, die anderen Partien, worin Conradi kein geringeres Vorbild als der »Grüne Heinrich« von Gottfried Keller vorgeschwebt haben mochte, wurden im Vergleich zu jenen flüchtig gelesen. Die Schilderung des Abends im »Akademisch-philosophischen Verein« und das Weitere bannte bei dem und jenem die Aufmerksamkeit. Man kannte das Wirkliche zum Teil und verglich damit die Dichtung. An dem einen Orte des Romans – z. B. dem philosophischen Vereinsabend – schien einem die Wirklichkeit verzerrt und entstellt; an dem anderen Orte fiel unangenehm auf die Qualität der Einzelheiten, die aus dem Nacheinander des Geschehens herausgegriffen worden waren. Aber auch die Art, wie das, was wirklich geredet und getrieben worden war, von Conradi mit Zutaten versehen und weitergeführt war; die Gedanken und Motive, mit denen er seine Sujets belastet hatte; das niedrige Niveau des Dialogs im Buche, über dem man im wirklichen Verkehre denn doch gestanden zu haben glaubte, – alles das wirkte befremdend auf die, welche den Vorgängen im Leben nahe gestanden hatten.« Auch ward bei manchem durch die rücksichtslose Angabe des Signalements der einzelnen der Auffassung Nahrung gegeben, als ob Conradi mit seinem Buche persönliche Zwecke verfolge, die mit der Kunst nichts zu tun hatten. Insbesondere fühlte sich der Akademisch-philosophische Verein schwer verletzt und kompromittiert, er sandte dem Dichter durch Beschluß vom 6. März 1887 das Widmungsexemplar der »Sünderlieder« zurück und schloß ihm von jetzt ab die gastliche Tür des Vereinslokals. Auch R– hatte wegen der ihn betreffenden Stellen Auseinandersetzungen mit Conradi, die mit dem Abbruche der freundschaftlichen Beziehungen endeten. Die dichterische Freiheit in der Behandlung seiner Stoffe, wozu auch die Personen des Umgangs gehörten, wollte er ihm keineswegs streitig machen, er hatte aber das Gefühl, daß damit des Dichters Verhalten gegen den Freund im vorliegenden Falle nicht gerechtfertigt sei, und daß sich Conradi unwürdig betragen habe, zumal dadurch, daß er von ihm Dinge behauptet hatte, die ihn als Theologen bloßstellen konnten und dazu in keiner Weise der Wahrheit entsprachen.
Am schärfsten jedoch wurde der Gegensatz zwischen Conradi und Dr. Oberbreyer. Auch letzterer hatte Grund, über die Schilderung seiner Person ungehalten zu sein. Er schrieb die schon erwähnte heftige Kritik in den »Grenzboten«, über den »jungdeutschen Phrasenhelden«. Darin analysierte er auch den »talentvollsten Bleibtreuschüler« in wenig schmeichelhafter Weise (Selbstüberschätzung 25 %, überschüssige Sinnlichkeit 20 %, poetische Anlage 12 %, Formtalent 7 %, Sprachbeherrschung 7 %, Welt- und Menschenkenntnis 1 %, politische Bildung 1 %, Idealismus 12 %, Realismus 5 %, Zynismus 10 %). Das einzig Bedenkliche an der Kritik war damals, wo das Sozialistengesetz noch Geltung besaß, die Behauptung, des Dichters Muse sei sozialistisch, selbst anarchistisch. Conradi faßte infolgedessen den Artikel als Denunziation auf, und sofort nach seinem Erscheinen versah der Angegriffene das Exemplar der Akademischen Lesehalle mit einer langen Anmerkung, welche er mit seinem Namen unterzeichnete, und ging auch persönlich zu dem Verleger Grunow. Diesem soll er, was indessen kaum zu glauben ist, eine heftige Szene gemacht haben; er soll so laut geschrien haben, daß es das Personal im Nebenzimmer hörte, und auf den Verleger mit dem Stocke losgegangen sein. Grunow erklärte sich jedenfalls bereit, eine Entgegnung aufzunehmen, aber diese fiel so aus, daß sich die »Grenzboten« weigerten, sie zu bringen, und auch Bleibtreu unterließ es, sie im »Magazin« abzudrucken. Im Sprechsaal von Nr. 36 (3. September 1887, S. 534) sagt Bleibtreu: »Wir mußten kürzlich eine Erklärung Conradis über einen anonymen (aber wohlbekannten) Kritiker der »Grenzboten«, der einen Racheakt gegen Conradis Roman »Phrasen« beging, ablehnen, weil die Gehässigkeit zwar offenbar, aber nicht recht handlich zu packen schien.« Und nun begann zwischen Conradi und Dr. Oberbreyer eine Art Kleinkrieg in Briefen, ersterer forderte mehrere Bücher zurück und drohte, als er sie nicht sofort erhielt, mit »seinem Rechtsanwalt«, wie er sich unter Verwendung einer Hartlebenschen Redensart ausdrückte.
Ungefähr zur gleichen Zeit, wo Conradi mit so vielen Leipziger Bekannten brach – auch mit Adolf Bartels wegen einer Kleinigkeit – begann der Gegensatz zwischen ihm und Hartleben, dessen erstes Prosabuch: »Zwei verschiedene Geschichten« 1887 nach Conradis Vermittlung im Friedrichschen Verlag erschien. Schon Anfang Februar warnte ihn ein Freund vor letzterem, aber er ließ sich zunächst nicht beirren und schrieb noch am 9. Februar 1887 an R–, er könne über Hartleben noch nicht vollständig urteilen, und meinte: »Ich schmeichle mir, auf ihn bis dato nicht ohne Einwirkung geblieben zu sein. Du weißt ja: ich muß an allem, was mir in den Weg kommt, ein bißchen herumkneten. Er ist allerdings aalglatt und zu einseitig geistig organisiert, als daß er für alle Strahlen die brechende Atmosphäre besäße.« Am 4. April machte er in einem Brief sehr abfällige Bemerkungen über das Betragen Hartlebens bei einem Zusammensein in Auerbachs Keller, das Wilhelm Friedrich bei Gelegenheit von Bleibtreus Besuch Conradi wurde, wiewohl er wenig Gesellschaftsmensch war, hin und wieder von Wilhelm Friedrich eingeladen, namentlich benachrichtigte ihn letzterer, wenn er Besuch von Bleibtreu, Heiberg, Alberti u. a. erhielt. Nach Conradis eigenem Geständnis waren dies die vergnügtesten und interessantesten Abende, die er dann in Friedrichs Wohnung oder mit drei bis vier auswärtigen Schriftstellern in irgendeiner Weinstube zubrachte. veranstaltet hatte. Und von da an verschärfte sich allmählich der Gegensatz zwischen beiden Dichtern immer mehr. Aber noch am 10. Juni arbeiteten sie gemeinsam an ihrem Jahrbuche, am 9. Juli dagegen warnte Conradi seinen Verleger vor Hartleben und sprach in schwer beleidigender Weise von ihm. Die Vorfälle sind im einzelnen nicht völlig klar, jedenfalls ist das eine sicher, daß Conradi es ablehnte, als Zeuge in einem wenig schönen Beleidigungsprozeß aufzutreten, den Hartleben gegen die Octaviana damals anstrengte. Conradi soll ihm seine Meinung auf einer offenen Postkarte geschrieben haben, und daraufhin erfolgte der endgültige Bruch. Hartleben übersandte ihm eine Forderung, die Conradi, obwohl kein ausgesprochener Gegner des Duells, doch ablehnte. Nach Aussage eines Freundes soll er dies »aus Gründen der Selbstachtung« getan haben; seine Gegner aber erzählten, er habe auf die Aufforderung, sich zu schlagen, geantwortet: »Wenn du so berühmt wärest wie ich, dann allenfalls: ja!« Nach einem Brief an Friedrich vom 19. Juli 1887 beabsichtigte er, den Streit gerichtlich zum Austrag zu bringen. »Es bleibt mir«, fuhr er fort, »nichts anderes übrig, nachdem Hartleben meine Versöhnungswilligkeit – d. h. meine Sühnebereitschaft – als Feigheit ausgelegt hat.«
Es war ein Verhängnis für Conradi, daß er bei seiner durch das Studium Nietzsches gesteigerten Menschenverachtung eine Kritik kaum mehr ertragen konnte und zudem Anhänger fand, die ihn blindlings bewunderten.
Zu seinen großen Verehrern gehörte Hezel, der den Winter 1886/87 von Leipzig ferngeblieben war und im Sommersemester 1887 dahin zurückkehrte. Durch ihn wurde Conradi mit dem Lockwitzer Oskar Hänichen bekannt, der bald sein unbedingter Anhänger wurde und in ihm die schon länger vorhandene antisemitische Gesinnung nährte. Er war in den neunziger Jahren eine Zeitlang Reichstagsabgeordneter. Für ihn bedeutete Conradi eine geschlossene Weltanschauung, und die Gegner spotteten, seine Lieblingswendung sei »Christus, Wagner und Conradi«. Auch in dem Kreise der Dänin Rosalie Nilsen Diese Dame, die auch von Freunden Conradis mit der berühmten Sängerin Christine Nilsson verwechselt worden ist, war eine geborene Dänin aus sehr gutem Hause, aber völlig verarmt. Es war eine alte, wunderliche Dame mit seltener Begabung und außerordentlichem musikalischen und literarischen Talente, zudem für alles Neue und Oppositionelle begeistert. Sie hatte unter Mazzini im oberitalienischen Aufstande mitgekämpft, war gefangen genommen und zu Gefängnis verurteilt worden. Später hielt sie sich eine Zeitlang in einem Jesuitenkloster in der französischen Schweiz auf, ging dann nach Deutschland, ward begeisterte Anhängerin Richard Wagners und trat in freundschaftliche Beziehungen zu Friedrich Nietzsche, von dem sie einen Dionysoskopf und eigene Kompositionen geschenkt erhalten hatte, die sie als heilige Reliquien aufhob. Sie ließ sich in Leipzig nieder und lebte vom Stundengeben. Sie verkehrte in den Kneipen der Jüngstdeutschen, namentlich mit Edgar Steiger, Hans Merian, Conradi u. a. – Der Verfasser lernte diese zum schrullenhaften alten Mütterchen gewordene Dame wenige Jahre vor ihrem Tode um 1898 bei Hans Merian kennen. verehrte man Conradi schwärmerisch und verglich ihn geradezu mit Christus. Diese Überschätzung seiner Persönlichkeit, die er sich ebenfalls zu eigen machte und in seinen Briefen und Reden merken ließ, mußte ihm in Leipzig unter der Studentenschaft immer mehr Feinde schaffen. Dazu kam der Streit mit Hartleben, an dem sich dessen Verkehrskreis naturgemäß stark beteiligte. Ein Hauptgegner Conradis in diesem Zirkel war Steinmetz. Diesen empörte die souveräne Art, mit der Conradi im Gespräche meinte, er dürfe sich aller Weiber zum Geschlechtsgenuß bedienen, und er erblickte infolgedessen in ihm eine Art moralisches Scheusal. Ebenso erzürnte es ihn, daß Conradi einst einer Kellnerin ein Bändchen Heinescher Gedichte wegnahm und voll Nichtachtung zerriß, trotzdem er wußte, daß es das Geburtstagsgeschenk eines seiner eigenen Freunde war. Von Steinmetz ging auch der Gedanke aus, Conradi durch eine groteske Zeremonie den Aufenthalt in Leipzig zu verleiden. Eines Abends saß ein größerer Kreis, darunter Hezel und Steinmetz, in der »Großen Feuerkugel«, an einem andern Tisch befanden sich Conradi und Hänichen, »Christus und Johannes«, wie die andern spotteten. Nach einiger Zeit zogen Steinmetz und seine Genossen an den Tisch Conradis, stellten sich zeremoniell um ihn herum und brachten ihm feierlich einen Schluck. Conradi war ganz verblüfft, er wußte nicht, ob es eine Huldigung oder eine Verhöhnung sein sollte. Am andern Tag erhielt Hezel von Conradi nahestehender Seite einen merkwürdigen Brief, worin es hieß, er und seine Gefährten hätten sich an Conradi vergangen wie die Juden an dem Messias.
In derselben Zeit, wo Conradi infolge all dieser Vorgänge immer mehr vereinsamte, schrieb er eifrig (etwa seit März 1887) an einem größeren Roman, den er schon länger geplant, an seinem » Adam Mensch«. Die Kunst seiner ersten Jünglingszeit hatte in den Sünderliedern ihre schönsten Blüten hervorgebracht. Die Kunst seiner Studentenjahre gipfelte in diesem Roman und er bedeutete für ihn einen Höhepunkt. Bei der Namensgebung schwebte ihm möglicherweise des Dänen Paludan Müllers » Adam Homo« vor, jedenfalls hatte ihm letztere Wortverbindung schon in den Schülerjahren sehr imponiert. Er führt sie mehrfach an. S. Bd. I, S. 100, 110, II, S. 263. Wie in den »Phrasen«, wollte Conradi auch in seinem neuen Roman einen Typus des Uebergangsmenschen schildern.
Dr. Adam Mensch ist in gewissem Sinne als Persönlichkeit die Vollendung des Heinrich Spalding der »Phrasen«. Er erscheint auch als ein »Mischling von Romantik und modernem Realismus«, als ein Stimmungsvirtuose, der nur dem Augenblick lebt. Während aber in Heinrich Spalding bei aller Zerfahrenheit und bei allem Gebrodel doch noch die feineren inneren Saiten anklingen und er noch nicht alle sittlichen Maßstäbe verloren hat, ist bei Dr. Adam Mensch, diesem geistigen Emporkömmling, der völlige seelische und sittliche Bankerott eingetreten. Adam Mensch erscheint weit eher als eine Verkörperung der Philosophie Max Stirners als der Friedrich Nietzsches, er steht jenseits von Gut und Böse, aber in ihm lebt nichts von der Sehnsucht nach dem Uebermenschen, er strebt nicht danach, durch Züchtung und Veredelung der Triebe diesen höheren Typus mit schaffen zu helfen. Mit der höchsten Ausbildung des Denkens und des ästhetischen Empfindens verbinden sich bei ihm innere Roheit, seelische Verkommenheit, hochgradige Willensschwäche, größenwahnsinnige Frechheit, erbärmliche Feigheit und abstoßende Genußgier, – Eigenschaften, die ihn nach Conradis eigenem Worte zu einem »Scheusal in Menschenfell« machen. Er fühlt sich als modernen Märtyrer, als einen der Besten des jungen Nachwuchses, dessen tragisches Geschick darin läge, daß er die Sphäre nicht finde, in der er allein wirken könne. Er steht über allem, ganz besonders über der »lächerlichen Subalternmoral«, alles wird bei ihm zur Phrase und er bestrebt sich, die soziale Lüge und Aussichtslosigkeit seiner Lage durch physische Ausschweifungen abzustumpfen. »Nach uns die Sintflut!« das ist sein Standpunkt, wiewohl er die Ansicht hegt, daß die herrschende Generation der Zukunft dem vierten Stand entwachsen werde. So schwankt er haltlos zwischen drei Frauen umher, bis er sein Schicksal endlich durch eine reiche Heirat beendet.
Der »Adam Mensch« war nach Hänichens Zeugnis ursprünglich als Novelle gedacht, und zweifellos ist sein Stoff für einen Roman auch etwas zu dürftig. Und doch muß man vom rein künstlerischen Standpunkt bei diesem Werke einen beträchtlichen Fortschritt gegenüber den »Phrasen« feststellen. Abgesehen von dem nachklappenden und matten Schlußkapitel bietet das Werk ein gut in sich geschlossenes Ganzes, und wenn auch sprachliche Unarten, stilistische Mängel und philosophisch sein sollende Stilblüten noch öfter vorkommen, so fühlt man doch, daß sich Conradi auf dem Wege zu einem eigenen Kunststil befindet. Dieser hatte allerdings mit dem damals geltenden naturalistischen – abgesehen von manchen Kraßheiten der Darstellung – kaum etwas gemein, ja er wies durch die feinfühlige psychologische Durchdringung und die subjektive, von Miterleben zeugende Schilderung über den Naturalismus hinaus.
Wie bei den »Phrasen« sammelt sich alles Interesse um den »Helden« des Romans, den Dr. Adam Mensch. Während aber in jenem Werke gar nichts von einem Fortschritt der Handlung zu merken ist und die übrigen Personen bedeutungslose Nebenfiguren sind, wirken sie im »Adam Mensch« mehr aufeinander ein, und der Dichter bemüht sich auch, sie eingehender zu charakterisieren. Am besten dürfte ihm dies bei den Gestalten des Dr. Irmen und seiner Tochter Hedwig gelungen sein. Auf das feinste wird vom Dichter der in Adams Innern vorhandene Dissonanzenreichtum und das ganze verästelte Seelenleben dargelegt, und Conradi zeigt sich als einen Meister dieser psychologischen Vivisektion und als einen tief- und scharfblickenden Herzenskündiger und Entschleierer der Seele, der auch das Un- und Unterbewußte im psychischen Leben seiner Mitmenschen erspürt und erlauert.
Eine leichte und angenehme Lektüre bot Conradi mit seinem »Adam Mensch« nicht. Es steckt ungemein viel Widerwärtiges, Häßliches und Abstoßendes in dem Buche, aber dies alles ist durch den Gegenstand bedingt. Wer wie Conradi einen größenwahnsinnigen Lumpen schildert, muß eben auch die Nachtseiten des Lebens getreulich zur Geltung bringen. Jedenfalls liegt dem Dichter ein Wühlen im Schmutz durchaus fern, und man kann, auch wenn man innerlich derartige Werke ablehnt, den Roman keineswegs als ein unsittliches Buch bezeichnen, zumal die bedenklichen Stellen in anerkennenswerter Weise mit einer gewissen Feinfühligkeit nur angedeutet bleiben.
Die ungemein feine Seelenanalyse Conradis gemahnt auffallend an Dostojewski, und es fragt sich, ob er zu seiner Zergliederungsmethode erst durch das Studium des großen Russen gelangt ist. Das dürfte jedoch zu verneinen sein. Von früh auf besaß Conradi eine Neigung zur Selbstbespiegelung und Zerfaserung von seelischen Vorgängen, und was er in seinen Briefen und in den »Phrasen« nur tastend versuchte, das handhabte er im »Adam Mensch« infolge fortgesetzter »Selbstbeschnüffelung« mit größter Virtuosität. Insbesondere liebte er es, wenn er Kater hatte, seine Stimmungen nach Merians Zeugnis zu sezieren, wobei oftmals sehr viel Feines, oft allerdings auch manches Bizarre herauskam. Ja, es erscheint zweifelhaft, ob er in der Leipziger Zeit von Dostojewski mehr als den Namen und die Titel seiner Werke kannte, wiewohl er ihn schon in der Vorrede zu den »Brutalitäten« als seinen Meister hinstellte. Am 11. August 1887 klagte er Wilhelm Friedrich, daß er den »Raskolnikow« immer noch nicht kenne, dieser antwortete ihm aber, daß er Bedenken trage, ihm bei seinem derzeitigen erregten und verdüsterten Seelenzustande das Buch in die Hände zu geben, da es für ihn vielleicht verhängnisvoll werden könnte. Erst am 8. Oktober – 12 Tage vor Ablieferung des Manuskripts von »Adam Mensch« – erhielt er von seinem Verleger das erbetene Freiexemplar, und Dostojewskis Bücher »Die Gebrüder Karamasow« und »Aus dem toten Hause« las er sogar erst später in München (an Friedrich, 8. Dezember 1888).
Man hat vielfach gemeint, der Dr. Adam Mensch sei identisch mit Conradi wie der Heinrich Spalding in den »Phrasen«. Doch dies ist ein Irrtum. Conradi hat allerdings seinem »Helden« eine Reihe von ihm selbst eigentümlichen Zügen verliehen und ihm Worte und Gedanken in den Mund gelegt, die seiner Weltanschauung entsprachen. Aber er selbst wollte den Adam Mensch als »das korrekte Porträt eines Typus« aufgefaßt wissen, »so in der letzten Generation – und nicht nur in ihr – tatsächlich existiert«. Conradi trägt nun allerdings einen guten Teil der Schuld, daß man den Roman mißverstand und sogar meinte, er habe in seinem »Helden« seine eigene Weltanschauung verkörpern wollen. Wie schon in den »Phrasen« dem Heinrich Spalding so leiht Conradi auch dem Adam Mensch gewisse Messiaszüge, und ganz besonders irreführend wirkt das Motto, ein Ausspruch Hänichens: »Sünde ist das Vergehen wider das Gesetz der Zukunft«, womit scheinbar alles Tun des »Helden« gerechtfertigt wird.
Der »Adam Mensch« war verhältnismäßig schnell auf die »Phrasen« gefolgt, und so erschien der Leipziger Aufenthalt Conradis als eine für seine künstlerische Entwicklung sehr glückliche Zeit. Aber Conradi hatte offenbar selbst die Empfindung, daß in Leipzig seine Rolle ausgespielt sei, und daß er dort kaum mehr etwas erreiche. Auch vermochte er auf die Dauer die Leipziger Luft nicht zu ertragen. Er müsse, schrieb er an Friedrich (24. Aug. 1887), in Verhältnisse kommen, die für seine körperliche und geistige Gesundheit günstiger seien. »Ich muß wieder eine Zeitlang in einer bedeutenderen, anregenderen Natur leben dürfen … Unter dem Protektorate der Leipziger Atmosphäre kann ich allerdings nichts Hervorragendes mehr schaffen.« Er dachte damals daran, Detlev v. Liliencron zu besuchen, er stellte ihn sich als reichen holsteinschen Baron auf Schloß Poggfred vor und hatte noch keine Ahnung davon, daß Liliencron alle möglichen Leute in Bittbriefen – »Liliencronaden« nannte sie später Conradi – fortwährend um Geld bat. Er schrieb ihm schlankweg Von sämtlichen Schreiben Conradis an Liliencron sind nur zwei erhalten, die in dem schönen Buch: In memoriam Detlev Liliencron von Carl Fr. Schulz-Euler (H. W. Rath) Frankfurt a. M. 1909 abgedruckt sind., daß er gern einmal das Landleben kennen lernen möchte, eine gewisse Passion für Pferde, Hunde usw. besitze, und wenn es den Baron nicht geniere, würde er ihn gern auf einige Zeit besuchen, zumal er sehr der Erholung bedürfe. Liliencron war ob dieser Sache humoristisch verzweifelt, schrieb ihm, daß er mit seiner Auguste oft selbst nur Pellkartoffeln zu essen habe, und verzichtete auf Conradis Besuch. Zu seiner Erholung trieb sich daraufhin letzterer Anfang September mit seinem Freunde Hänichen und dessen Vetter, dem in Jena studierenden Chemiker Arthur Adler, einige Tage in dem »dilettantischen« Thüringen herum, ohne Genuß und besondere Stimmung zu finden (an Friedrich. 8. Sept. 1887). Er traf sich auf dieser Reise auch mit R–, dem er sich wieder genähert hatte. Adler war sehr enttäuscht von seinem Wandergenossen Conradi, den er sich auf Grund von Hänichens Schilderungen als eine Kraftnatur an Körper und Geist vorgestellt. Er sah in ihm bald nur einen »Schauspieler des Lebens, der den großen Willensmenschen agiere, ohne es zu sein«; er wunderte sich über seine Schwächlichkeit, die ihm nicht gestattete, eine mäßige Höhe (wohl den Wartburgberg) zu besteigen. Er erhielt den Eindruck, daß auf Conradi die mangelnde Umgebung der Großstadt herabstimmend wirke, und fühlte sich unangenehm berührt, als dieser am Abend einem Tingeltangel zustrebte, wo er mehr aufzutauen begann. Auch ging er ziemlich gelangweilt durch die »geheimrätlichen« Räume des Weimarer Goethehauses. Als aber dort sein Blick auf ein kleines Bild von Reinhold Lenz fiel, wurde er ganz Feuer und Flamme und äußerte sich sehr lebhaft. Nach brieflichen Mitteilungen von Herrn R–.
Bald nach seiner Rückkehr aus Thüringen ward Conradi von Friedrich zum deutschen Schriftstellertage mitgenommen, der vom 24. bis 27. September 1887 zu Dresden stattfand. Bleibtreu war einige Tage vorher nach Leipzig gekommen und begleitete beide. Ihnen schloß sich ein Armenier, der Bankdirektor Abgar Joannissiany aus Tiflis an, der in Friedrichs Verlag die »Armenische Bibliothek« herausgab. Diese Dresdner Tage bedeuteten für Conradi eine Erlösung aus dem Leipziger »Allerlei«, dann lernte er auch Dresden erstmalig kennen, nahm an allen festlichen Veranstaltungen (Bankett, Theatervorstellung usw.) teil und trat vielen Schriftstellern und Schriftstellerinnen persönlich näher.
Conradis schriftstellerisches Leben war bis dahin eine von Erfolg begleitete Aufwärtsbewegung gewesen, jetzt nahte dem Dichter eine schwere Katastrophe durch seinen Bruch mit Friedrich. Von ihm hing er finanziell gänzlich ab, er lebte zum großen Teil von den Vorschüssen und Honoraren, die ihm jener gewährte. Die Mitarbeit an der Nationalzeitung hatte er Ende 1885 verloren, und auch die Honorar zahlende Tägliche Rundschau war ihm bald nicht mehr sicher. Dr. Friedrich Lange, der damalige Herausgeber, suchte ihn, »den Antaster Wichertscher, Spielhagenscher Unfehlbarkeit gegenüber den Machinationen Bodenstedts zu halten« (an Friedrich. 19. Dezember 1886), aber schon seit dem 5. Oktober 1886 mußte er unter dem Pseudonym »Heinrich Keppler« schreiben, bis er endlich am 27. Dezember 1887 endgültig aus dem Blatte verschwand. Schwer griff Friedrich schon dadurch in die Tätigkeit Conradis ein, daß er das von Costenoble abgelehnte »Realistische Jahrbuch« im Juni 1887 nicht in Verlag nahm (an Friedrich. 10. Juni 1887) und so dessen Erscheinen unmöglich machte, denn einen andern Verleger fanden die Herausgeber nicht. Verhängnisvoll für Conradis weiteres Schaffen aber war der Streit wegen seines Romans »Adam Mensch«. Am 20. Oktober übergab Conradi seinem Verleger persönlich das fertige Manuskript, doch scheint es bei dieser oder einer andern Besprechung zu Auseinandersetzungen gekommen zu sein. Conradi fühlte sich beleidigt und ließ durch einen älteren Studenten, der Reserveoffizier war, Friedrich eine Forderung überbringen. Aber kaum hatte dieser vernommen, was der Kartellträger wollte, so sagte er: »Hören Sie, ich zähle bis drei, und wenn Sie bis dahin nicht von selbst hinaus sind, so lasse ich Sie hinausbefördern!« Und er fing an zu zählen, und tatsächlich machte der verblüffte Ankömmling kehrt, ehe jener zu zählen aufgehört hatte. Friedrich machte sich über den Vorfall in einem Brief an Conradi lustig, indem er ihm vorwarf, daß er »in harmlos kindlichster Weise Forderungen in die Welt hinausschreie und seine Sekundanten dann an die Luft setzen lasse«. S. Der Realismus vor Gericht. Sonderabdruck aus der Gesellschaft. 1890. S. 6.
Hierauf teilte Conradi seinem Verleger (am 5. November 1887) mit, daß er den schriftlichen Verkehr auf das Notwendigste beschränken werde, und erklärte bezüglich des »Adam Mensch«: »Ich erkenne nur ein von meinen Prinzipien ausgehendes, ethisch-ästhetisches Urteil an, ich halte nur mich oder meinesgleichen für kompetent darin. Meine Arbeit ›polizeilich‹ … und moralisch ›anstößig‹ zu finden, überlasse ich Säuglingen und solchen, die es wieder werden wollen.« Nach dem 1. Dezember 1887 erfolgte dann nach kurzem Briefwechsel die endgültige Ablehnung des Romans durch Friedrich. Dieser erklärte, daß der Druck desselben ihn mit dem Strafgesetz in Konflikt bringen würde. Er enthalte Verstöße gegen das Strafgesetzbuch, auch könnten mehrfache Stellen als Majestätsbeleidigungen aufgefaßt werden. Dabei sehe er noch davon ab, daß das Manuskript – allerdings sehr entstellte – Schilderungen aufweise, welche sich auf Vorgänge in seinem Hause bezögen. Gegen Rückzahlung des bisher von ihm gezahlten Vorschusses werde die Auslieferung des Romans erfolgen. Da der Verfasser kein Geld hatte, so verblieb sein »Adam Mensch« als Faustpfand bei Friedrich.
Zur selben Zeit, wo Leipzig für Conradi als Wirkungsstätte versank, tauchte ein anderer Ort vor ihm auf, wo er auf mehr Erfolge hoffte: München. Diese Stadt war schon früher das Ziel seiner Sehnsucht gewesen, dort lebte Julius Grosse, M. G. Conrad, Wolfgang Kirchbach, auf deren Unterstützung er glaubte rechnen zu dürfen. Am 9. November 1887 reiste er von Leipzig nach München, Oskar Hänichen und ein Bekannter R–s, der Klaviervirtuose Robert Ernst begleiteten ihn. Arthur Adler hatte sich in den Ferien vergeblich bemüht, seinen Vetter Hänichen von dem Einfluß Conradis frei zu machen; derselbe blieb vielmehr dessen begeisterter Anhänger, und Hartleben äußerte in Weimar R– gegenüber, Hänichen sei ganz »conradesk« geworden. Mit diesem Busenfreunde bezog Conradi eine gemeinsame Wohnung und lebte zurückgezogener als in Leipzig. Doch verkehrte er in mehreren literarischen und andern Zirkeln. Julius Grosse, sein alter väterlicher Freund, über den er so viel in verschiedenen Organen geschrieben und dem er doch niemals eine Zeile davon zugeschickt hatte, wollte ihn zuerst in seine Familie einführen, gab diesen Gedanken aber infolge des Widerstandes seiner Frau auf, welcher Conradi zuwider war. So verkehrte Grosse mit ihm nur in seinem Büro und in einer damals renommierten Weinstube, der »Dichtelei« in der Türkenstraße, wo auch Kirchbach, Lingg und verschiedene Maler und Künstler verkehrten. Aber dort nahm man Conradis unbedingte und oft jugendlich unreife Urteile nicht günstig, sondern ironisch auf, so daß er zuletzt wegblieb. Mit Kirchbach zusammen verkehrte er auch gelegentlich im Schriftsteller- und Journalistenverband, wo damals Ibsen, Maximilian Schmidt u. a. zu finden waren, ebenso gelegentlich im Klub »Zeitgenossen«. Ferner traf er in München eine Anzahl jüngerer Schriftsteller wie Hans v. Basedow, Max Halbe, Julius Hillebrand (Pseudonym Julius Brand), Ernst Kreowski, Heinz Tovote, Franz Wichmann u. a., dagegen kam er mit Conrad nur wenige Male zusammen. Auch Adolf Bartels begegnete er zufällig wieder in einer Vorstellung von Hebbels »Maria Magdalena« und trat mit ihm in wenig enge Beziehungen. Ohne eigentlicher Sozialdemokrat zu sein, stand er dem engeren Ausschuss der damals durch das Sozialistengesetz verbotenen sozialdemokratischen Partei nahe, zusammen mit Carl Korn und einem andern Freunde und überbrachte in des letzteren Namen bei einer Streitigkeit dem Arbeiterführer Ignaz Auer eine Forderung zum Duell.
Der Eindruck, den besonders seine älteren Freunde von ihm gewannen, war nicht sonderlich günstig. Auf Kirchbach machte er den Eindruck eines »psychisch-nervös verbrauchten Jünglings«, und nach Conrads Urteil, der ihn früher in Berlin zuerst gesehen, befand er sich körperlich, in der Leibespflege, in der Kleidung, in den Manieren auf der absteigenden Linie. »Zunächst«, so lautete sein Urteil, »physisch und moralisch »verkatert«, übernächtig, zerfahren, haltlos. Im Gespräch heftig, verbissen wie ein verärgerter sozialdemokratischer Agitator aus jener bösen Zeit. Dazwischen plötzlich herrliche Momente geistiger Größe, majestätischen Aufschwungs. Dann ebenso rasches Versinken in die Gewöhnlichkeit des räsonierenden, schimpfenden, heftig gestikulierenden, im Unschönen exzedierenden verbummelten Genies. Sein Wesen machte einen durchaus ungesunden, mitleiderregenden Eindruck.« Wehmütig berührte es Kirchbach, wenn er ihn durch derbe Humorworte aufrappelte, daß er dann recht trübe lächelte. Zudem bekam ihm das »elende« Klima Münchens nicht, das nach seiner Meinung auf »reizbare, kränkliche norddeutsche Gemüter und Konstitutionen zersetzend« wirkte, er kam aus den »Erkältungen und psycho-physischen Indispositionen« nicht heraus, und drei Wochen lang litt er so fürchterlich an Neuralgie, daß er sich ganz aufgerieben fühlte. »Ostern war es am tollsten«, schrieb er. »Ich habe mich vor Schmerzen auf dem Boden meines Zimmers herumgekugelt. Nun hat mich ein Arzt in seine Klauen gepackt und experimentiert mit einer Chinin-Parforcekur an mir herum. So wird einem das Leben verbittert! O dieses Chinin! Aber ein klein wenig hat's doch schon geholfen« (an Friedrich. 7. Febr. 1888, an Fritsche. 7. April 1888). Nur selten lebte er wirklich auf, wie bei einem Spaziergang mit Kirchbach im Winter. Dieser führte ihn mitten durch den dicksten Schnee, so daß er rote Backen bekam; in Nymphenburg mußte er dann bayerischen Kalbskopf essen, der ganz auf den Tisch gebracht ward, und ein Maß bayrisches Bier dazu trinken, und er fand an diesem kräftigen Leben Gefallen. Aehnliche kurze Augenblicke der Freude erlebte er auch, als er am Silvester 1888 und am Neujahrstage darauf mit dem Ehepaar v. Basedow und mit Franz Wichmann die eis- und schneestarrende Landschaft am Starnberger See durchwanderte und die herrliche Natur mit den Blicken des echten Künstlers betrachtete.
Wovon er eigentlich lebte, wußte in München niemand. Die Schriftstellerhonorare flossen ganz spärlich, von Hause und von Friedrich hatte er nichts zu erwarten, und er lernte die Armut und Not kennen. Treulich teilte sein Freund Hänichen mit ihm, was er besaß, ja er opferte sogar Conradi einen Teil seines Erbes. Bei seinen Bekannten borgte Conradi, wo er konnte, und in der trübsten Zeit bot ihm auch die Schriftstellerin Alberta von Puttkammer eine helfende Hand. In seiner Not übernahm Conradi auch Arbeiten, gegen die sich sonst sein Stolz gesträubt hätte. Als der Stuttgarter Brauereitag sich an Grosse wandte und ihn bat, ein Eröffnungsgedicht gegen Bezahlung zu liefern, überließ der Gebetene die Sache Conradi. Er gab ihm sogar die leitende Idee; er könne – meinte Grosse – eine kleine Szene schreiben, wie Gambrinus als König die Versammlung seiner Untertanen eröffne. »Sie können dabei«, sagte Grosse, »irgendeine Thronrede travestieren. Verlangen dürfen Sie, soviel Sie wollen – 50 oder 60 Mark.« Conradi nahm den Auftrag an, doch erfuhr Grosse später, daß er durch den damaligen Direktor des Schwabinger Sommertheaters die Idee in einem schwung- und wertvollen Prolog für ein Honorar von fünf Mark habe ausführen lassen, das Gedicht gleichwohl mit seinem Namen unterzeichnet und die dafür gezahlten 60 Mark für sich eingestrichen habe. Diese Handlungsweise kann durch die bittere Not Conradis wohl erklärt, aber niemals ganz entschuldigt werden.
Sein erneutes körperliches Leiden, seine materielle Not und das Mißgeschick mit dem »Adam Mensch« lasteten schwer auf ihm während der Münchner Zeit und brachten ihn zeitweise in die trostloseste, verzweiflungsvollste Stimmung, ähnlich der, welcher er in seinem ergreifenden Gedichte: »Der verlorene Sohn« künstlerisch Ausdruck gegeben hat. Auch seinem alten Freunde Paul Fritsche, der als hoffnungslos Erkrankter in seinem »Patmos« Görbersdorf weilte, sandte er in zwei Briefen Geständnisse seiner umdüsterten Seele. Wie eine Ahnung baldigen Todes klingt der Zuruf an den todkranken Freund: »Schreibe mir ausführlicher, wenn Du noch Mitmensch sein darfst, Schriftsteller und Freund. Heute gibt's hier einen herrlichen, tiefblauen, italischen Frühlingstag. Aber mir ist sehr bitter und heiß, fiebrig. Sonst zöge ich mal wieder nach meiner geliebten Benediktenwand Gebirgszug zwischen Tölz und Kochelsee. hinüber. Bald werde ich wohl südlicher wallfahrten. Zieh mit! Nach dem Kap der guten Hoffnung? Ach! Unser Golfstrom hat sich erkältet und der Kapwein ist mit Chloral gemischt. Das ist auch ›modern‹. Ich warte auf dich!« (12. Febr. 1888). Und noch trüber klingt der zweite Brief aus, in dem Conradi in erbarmungsloser Kraßheit ohne Rücksicht auf den Gesundheitszustand des Freundes seine Stimmung schildert und dabei sagt: »Ich bin vollständig Phänomenalist geworden, Kismetiker, ruhe in mir ( quiescat in pace!) und spucke auf alles. Um Gottes willen keine atavistischen Kollegialmonströsitäten! Keine Posen, keinen Ehrgeiz! Keine Phrasen, kein Pathos! Wenn Du irgend kannst, mach Dich recht bald dünne! Du hast's ja bequem genug, nicht jedem wird's so leicht gemacht. Uns allen ist's jenseits der vier Erdpfähle am wohlsten! Lebenstreibhäuselei ist mir ein Ekel! Ob Du nun noch 'n paarmal ins Universum 'reinurinierst, ist egal. Das Loch ist doch bodenlos. – Siehst Du: das sind meine ›aufrichtigsten‹ Gefühle für Dich und – mich! Tirez le rideau, la farce est jouée!!! Wirst Du mir mal wiederschreiben? Zu! Zu! Sterben wir auf dem Felde der Ehre! Im Bette oder in der Gosse! Sela!« (7. April 1888). Fritsche fühlte sich naturgemäß durch diesen Brief tief verletzt, und er schrieb am 8. Mai seiner Schwester Elisabeth: »Mit Conradi habe ich alle Beziehungen aufgegeben; er ist ein brutaler Egoist und größenwahnsinniger Jungdeutscher.« Sie schrieben sich nicht wieder. Am 25. September 1888 starb Fritsche in Frankfurt a. O. Wilhelm Arent schrieb in der »Gesellschaft« ein Gedicht auf seinen Tod. Dieser früh verstorbene Dichter (geboren am 15. Dezember 1863 zu Frankfurt a. O.), der nur zwei größere Gedichtsammlungen: »Mein Herzenstestament« und »Bilderbuch eines Schwermütigen« veröffentlicht hat, nimmt in der Literaturgeschichte der achtziger Jahre eine einsame Sonderstellung ein. Er wurde schon damals wenig erwähnt und findet auch in den Literaturgeschichten kaum Beachtung, selbst nicht bei A. v. Hanstein: »Das jüngste Deutschland. Zwei Jahrzehnte miterlebter Literaturgeschichte« (Leipzig. 1901). Eine kleine Studie über ihn schrieb Dr. Ssymank in der Deutschen Hochschulzeitung vom 20. Dezember 1899 und G. W. Peters widmete ihm eine kritische Würdigung in seiner »Leipziger Anthologie« (1909).
In geistiger Beziehung war die Münchner Zeit für Conradi sehr ertragsreich. Das Mißgeschick mit dem »Adam Mensch« und das enge Zusammenleben mit Hänichen, dessen Lieblingsstudium die Erkenntnistheorie bildete, zogen ihn von seinen künstlerischen Plänen sehr ab und führten ihn philosophischen Studien zu. Er ging jetzt dem schon in Leipzig gehegten Plan zu promovieren mit Ernst nach, er faßte eine Doktordissertation im Anschluß an Carrière ins Auge und schrieb außerdem im Winter 1887/88 an einem naturwissenschaftlich-philosophischen Werke (an Friedrich. 7. Febr. 1888). Er nahm außerordentlich viel Neues auf, er vertiefte sich zusammen mit Hänichen in die Lektüre von Hegels »Phänomenologie des Geistes« und begann wohl damals schon, Nietzsche gegenüber selbständiger zu werden und im Anschluß an Mainländer das soziale Moment stärker zu betonen.
In dieser Zeit der Ruhe, wo Conradi nichts Größeres schuf, kam ihm doch wieder die Sehnsucht nach umfangreicherer schriftstellerischer Betätigung. Die wenigen Gedichte und Skizzen, welche er für die »Deutschen Blätter« (Eger), für die »Gesellschaft«, die seit dem 1. Januar 1887 in W. Friedrichs Verlag erschien, für das von Karl Bleibtreu geleitete »Magazin« und für die Anthologie »Das literarische Anhalt« schrieb Herausgeber Bernard Muschi und Hermann Wäschke. Dessau 1888. Ueber den darin veröffentlichten »Psalm der Leidenschaft« war der Anhaltische Staatsanzeiger sehr böse. S. Gesellschaft 1890, S. 769., genügten ihm nicht. »Ich habe«, schrieb er an Friedrich (17. Juli 1888), »hier den letzten Winter über geistig das denkbar regste und fruchtbarste Leben geführt – ich stehe jetzt auf der Höhe meiner ersten großen Entwicklungsperiode – ich bin bis obenhin gefüllt mit neuen Anschauungen, neuen Motiven, neuartigem Können, aber ich habe nicht die physische Kraft, ich stecke in zu prekären äußeren Umständen, um zwanglos und fortgesetzt künstlerisch und wissenschaftlich das niederschlagen zu können, was mich füllt und erfüllt. Eine ganze Reihe von Arbeiten liegt in den verschiedensten Embryonalformen da. Ein humoristischer Roman ›Meergreise‹« – so schrieb er weiter – »versprach etwas ganz Seltenes, Kühnes, Neues zu werden – man ist ja nie mehr humoristisch als dann, wenn man physisch und psychisch viel und sehr leidet.« Und Anfang Juli 1888 entwarf er auch den Plan zu seiner Aktualitäts- und Agitationsbroschüre: »Wilhelm II. und die junge Generation«. Am meisten aber beschäftigte ihn innerlich ein Problem. »Es gibt nur ein Motiv, das heute wirklich verdient, behandelt zu werden: das ist das Problem des Uebergangsmenschen, wie ich es nenne. Und dieses Problem behandele ich, wenn's unser Herrgott mir in seiner fürchterlichen Huld und Gnade erlaubt – ich bilde mir ein, die einzige Kompetenz dafür zu sein. Ich habe erlebt, was man dazu braucht, ich habe die Kraft, es zu gestalten, ich habe die modernen Gedanken, d. h. die Gedanken der Zukunft! Nur Zeit, Geld, Gesundheit! Ich sprach neulich mit Ibsen und Lingg darüber, entwickelte gestern abend Julius Grosse meine Tendenzen: › C'est la chose par elle-même!‹ Vederemo! Ich habe weiter nichts mehr auf der Welt zu tun als das« (an Fritsche. 7. April 1888).
Als Conradi nach München übersiedelte, leitete ihn wohl zweifellos die Hoffnung, er werde dort mit Hilfe seiner älteren schriftstellerischen Freunde ein neues Arbeitsfeld finden. In dieser Erwartung sah er sich getäuscht. Auch gab es für ihn keine Möglichkeit, einen andern Verleger als Friedrich zu finden. Und so suchte er mit allen Mitteln, eine gütliche Einigung bezüglich des »Adam Mensch« zu erzielen, da er sich einem Schiedsgericht, wie sein Verleger verschlug, nicht fügen wollte. »Ich bin« – meinte er (7. Febr. 1888) – »mir allein kompetent und viel zu sehr … vom »Größenwahn« angekränkelt, als daß ich mich den Eventualitäten eines Urteilsspruches anpassen könnte. Und – sollte er gegen mich ausfallen, falls ich mich diesem Vorschlage fügte – was geschähe dann mit meinem Manuskript?« Aber es vergingen Monate, ohne daß die beiden Parteien weiterkamen, und am 7. Juni 1888 schrieb Conradi heftig: »Als einen Akt absoluter Willkür betrachtet die Retention meines Manuskripts »Adam Mensch« nicht nur das gesunde Gefühl, sondern in gewissen Artikeln auch das Reichshandelsgesetzbuch! Dieses Manuskript ist nach meinem Urteil, das hierbei allein in Frage kommt, vollkommen druckfertig, befindet sich aber seit acht Monaten ca. in Ihrem widerrechtlichen Besitze … Ich sehe – mit vollem Recht nach dem Gesetze! – Ihre Retention meines Manuskripts als Kontraktbruch an, bin also befugt, von andern Offerten sans phrase Gebrauch zu machen.« Gleichwohl war er auch jetzt zu einer gütlichen Beilegung des Streites bereit und schrieb nicht ohne Hoffnung, als Friedrich ihm versöhnlich entgegenkam, von der Ausführung seiner neuen künstlerischen Pläne: »Mein Privat-Barometer hat gerade in der letzten Zeit einen so lächerlich geringen Stand – meine Stimmung und mein Gesamtbefinden sind so schwankend und unberechenbar, daß sich keine Limitierung angeben läßt, wenn nicht bald eine energische Nervenstärkung und eine frische Blutzufuhr – bildlich und sachlich zu nehmen – eintreten. So blicke ich denn mit einer gewissen Hoffnung zu Ihnen hin, der Sie mir die Hand zur Versöhnung gereicht … Wenn Sie von Ihrem Standpunkte aus etwas Geduld und Nachsicht mit mir Andersgeratenen haben und auf meine an sich sehr dornigen Wege öfter das breite, volle warme Licht des Verständnisses und äußerer Anerkennung fallen lassen, so wird das sicher und relativ bald auch seine äußere Belohnung finden. Denn ich besitze viel der Kraft und des Könnens – und muß ich mir diese Kraft und dieses Können unzerstückelt in den boshaften Nagezähnen des Alltagslebens erhalten können« (17. Juli 1888). Als dann Anfang September Friedrich zum Schriftstellertag nach München kam, traf er nach mehrmaliger Verfehlung mit Conradi im Café Luitpold zusammen und erörterte mit ihm während eines mehrstündigen Spaziergangs im Englischen Garten den sie beide betreffenden Streitfall. Conradi kam auf ein monatliches Fixum zu sprechen, und Friedrich machte ihm Hoffnung darauf, doch müsse vorerst die Angelegenheit mit »Adam Mensch« erledigt werden. Beide schieden völlig ausgesöhnt voneinander, und, mit neuem Vorschuß von Friedrich versehen, konnte Conradi abreisen.
Er fuhr über Nürnberg, von wo aus er Friedrich um neuen Vorschuß bat (10. Sept.) nach Eger, wo er Hans N. Krauß, den Herausgeber der »Deutschen Blätter«, besuchte, an denen er seit 1887 Von Krauß herausgegeben und in seinem Selbstverlag (bei A. E. Witz in Eger gedruckt) erschienen seit 1887 die »Deutschen Blätter«, »nicht das Erwerbsunternehmen eines Kapitalisten«, sondern »wenn wir es so ausdrücken dürfen, ein genossenschaftliches Unternehmen einer gewissen Anzahl von Schriftstellern, die sich zu gemeinsamer Arbeit zusammengetan, weil sie es müde geworden, sich in ihrem Schaffen von allen möglichen Rücksichten, Moden, Torheiten und Kindereien hindern zu lassen«. Realistischer Standpunkt, Kampf gegen die »Tyrannei der höheren Tochter«, Aufnahme des ideellen Zeitgehalts in die Dichtung, deutsch-nationaler, volkstümlicher Standpunkt, Beachtung der Mundart (s. Deutsche Blätter 1887, Nr. 6). Ein volles Exemplar dieser seltenen und für die moderne deutsche Literaturgeschichte wichtigen Zeitschrift besitzt die K. K. Universitätsbibliothek zu Prag. mitarbeitete. Von da begab er sich wahrscheinlich über Nordböhmen nach dem Dorfe Lockwitz bei Dresden. Mitte September traf er dort ein, am 25. meldete er Friedrich seine neue Adresse. Hänichens Mutter hatte ihn dorthin eingeladen, und Conradi folgte dem Rufe gern. »Meine materielle Lage«, schrieb er an Friedrich (4. Sept. 1888), »zwingt mich, die Vorteile eines ruhigen Landlebens, unter die auch das konstantere, ungestörtere Arbeiten gehört, zu bedenken.« Sein Freund Hänichen wünschte, daß er recht lange in Lockwitz weile und sich zunächst einmal das von der Seele schriebe, was ihn bis dahin in der Philosophie beschäftigte, und dann sich künstlerisch völlig konzentriere. Diese Hoffnung ward aber nur zu einem Teile erfüllt. Wohl arbeitete Conradi bis Mitte Oktober Tag für Tag an seinem neuen Werke: »Ein Kandidat der Zukunft« »mit innerer Genugtuung, Stimmung, mit erstem Erfolg«. Ueber die Hälfte des Manuskripts aber kam er nicht hinaus, und auch mit der Umarbeitung des »Adam Mensch« ging es nicht vorwärts. Am 16. Oktober erhielt er endlich nach langem Bitten das Manuskript zurück, und wiewohl er über die roten Striche am Rande zornig war und die Ausstellungen Friedrichs als »schmähliche Aeußerlichkeiten« ansah, machte er sich doch sofort daran, das Inkriminierte zu ändern (an Friedrich, 12. und 23. Oktober). Er nahm die Angelegenheit sehr genau, und die Bearbeitung verursachte ihm nach Hänichens Zeugnis große Qual. Dafür war er aber auch entschlossen, den Druck seines Romans auf jeden Fall zu erzwingen. »Geht der ›Adam Mensch‹ verloren, bleibt der Kandidat der Zukunft unvollendet – und alles das andere, was höhere oder niedrigere Wuchsstufen erreicht hat. Das ist mein letztes Wort.« An Friedrich. 12. und 23. Oktober, 5. November 1888. Der Realismus vor Gericht. S. 31.
Wenngleich er in Lockwitz weder für Wohnung, noch für Kost zu sorgen hatte, so fühlte er sich doch nicht recht wohl, und schon am 25. September meinte er: »Zudem kann ich hier kaum noch länger als zwei Wochen bleiben: die Luft ist schwer und feucht, daß ich wieder stark asthmatisch geworden bin und so gut wie gar nicht mehr schlafen kann … Ach! für den Winter ein Weilchen Palermo oder Genf – das würde eine andere Ernte geben!« Trotz seiner Klagen aber blieb er doch bis in die Mitte des November in Lockwitz, da er an »entsetzlicher Beuteldürre« litt. Friedrich bat er von neuem um Vorschuß, »denn«, meinte er, »wenn ich hier auch sonst nichts brauche: ich muß notgedrungen irgendeinem deutschen Schneider mal wieder etwas zuwenden … es wird höchste Zeit«. Zudem bedrückten ihn seine alten Schulden, um deren Regelung er Friedrich ebenfalls bat; er brauchte mindestens »400 Mark zur Ordnung der dringendsten Forderungen«. Ebenso bemühte er sich, mit Friedrichs Hilfe endlich seine nächste Zukunft so zu gestalten, daß er wenigstens eine Zeitlang leben könnte, ohne auf eigenen Erwerb angewiesen zu sein. Er kam auf seinen Münchener Vorschlag zurück, Friedrich möge ihm unter bestimmten Bedingungen ein monatliches Fixum gewähren. »Ermöglichen Sie es mir« – so schrieb er ihm – »ein Jahr einmal nur künstlerisch produktiv sein zu können, meine » Meergreise«, meinen » Modernen Erlöser« abschließen und alles oder wenigstens das Wertvollste von dem, was sich seit Jahren aufgespeichert, projizieren zu können … Diese ewig sich hinzerrende Halbheit, die mich nun schon seit Jahren malträtiert, halte ich nicht mehr aus. Es reibt mich doch noch auf …« Aber Friedrich konnte sich zur Zahlung eines Fixums noch nicht entschließen, ebensowenig zu der eines Vorschusses zur Begleichung der Schulden Conradis, trotzdem letzterer wiederholt dringend bat und flehte: »Handeln Sie an mir, wie ein Vater an seinem Kinde – nun! Kinder sind manchmal auch ungezogen – war ich wirklich »ungezogen«, verzeihen Sie mir! Jedenfalls können Sie sicher sein, daß ich nicht wieder bei Ihnen anklopfe, wenn Sie mir jetzt nicht aufmachen« (30. Okt. 1888). Am 3. November erklärte dann Friedrich, daß nach dem letzten Korrekturbogen nach Abzug des Vorschusses der Rest des Honorars ausgezahlt werde, mehr vermöge er zurzeit nicht zu leisten. Und er blieb trotz Conradis Vorstellungen bei diesem Vorschlage, wenn er auch für später weitere Unterstützung in Aussicht stellte.
Endlich – Mitte November 1888 – verließ Conradi das gastliche Lockwitz. »Verhältnisse eigenster, kompliziertester Natur zwingen mich dazu … Meine durch die ewige Ungewißheit, die stete Spannung, die unerträglichen Aergereien hier nervös erschöpfte Natur muß sofort in andere Luft, wenn sie sich überhaupt wieder erholen und zum Arbeiten stimmen soll. Das Beste wäre für mich,« meinte er, »wenn ich nach München zurückkönnte – erstens ist dort schon meine Promotion eingeleitet – und dann vertrage ich das feuchtkalte Winterklima des Nordens gar nicht mehr. Leipzig hat zu viel Erinnerungen für mich, die ich noch nicht verdaut habe. Berlin ist mir zu aufreibend« (an Friedrich. 3. und 5. Nov. 1888). Gleichwohl wandte er sich wieder nach Leipzig und unterdrückte seine heiße Sehnsucht nach München – nach dem Süden, wie er sagte, »da wir so groß gelebt, so stark gefühlt, so heiß gekämpft um unsres Willens Frieden«, und immer wieder kamen ihm schwärmerische Erinnerungen an München, das er jetzt ganz zu verstehen meinte (an Franz Wichmann. 28. Nov. 1889). Er fühlte sich durchaus in der »Verbannung«, und was er von München als der Zentrale deutschen Geisteslebens alles erhoffte, faßte er in seinem »Brief aus der Verbannung« zusammen, worin er auch seine Abneigung gegen Leipzig und Sachsen eingehend zu begründen suchte. S. Bd. II, S. 54 ff. Interessant ist Conradis Auffassung von dem bayrischen König Ludwig II. († am 13. Juni 1886). Er schreibt darüber an Paul Fritsche (am 21. Juni 1886): »… Und doch liegt diese Welt nach der bayrischen Tragödie, die mich bis auf das feinste Wurzelgefaser erschüttert, schon wie halbverschollen hinter mir … Wie habe ich die letzte Woche verlebt – wie! Wie hat mich dieses Wunderleben auf Schritt und Tritt begleitet! Wie habe ich meine Enge und materielle Beschränktheit da gefühlt – zermalmend empfunden! Ich sage Dir, lieber Paul – dieser tote König kann uns einen Strich durch die Rechnung machen! Das heißt: All mein soziales Künstlerinteresse ist aus den Fugen! Meine alte individuell-exzentrische Natur gebiert sich zurück! Das Schicksal dieses Menschen kann auf uns alle großen Einfluß haben, die wir ihm intim wesensverwandt! Und wir hätten vielleicht einmal die Führer der neuen sozial-künstlerischen Bewegung werden können! Damit wird es wohl vorbei sein …« Seine Absicht bei der Uebersiedlung nach Leipzig war, seinem Verleger nahe zu sein. Er irrte sich aber, wenn er trotz Friedrichs Schreibens von diesem auf größere Hilfe rechnete, und er lernte jetzt die Not in ihrer schlimmsten Gestalt, auch quälenden Hunger kennen. Am 7. Dezember schrieb er auf einen Zettel an Friedrich in nicht ganz fehlerfreiem Französisch: » Il y a trois jours que je n'ai pas dîné ni mangé aucune chose plus épaisse«, und am 18. Dezember meinte er: »Ich lebe jetzt sowieso wie ein Eremit, der einem (!) Bedürfnisse nach dem anderen abschwören muß … Hunger und Arbeit haben mir heute das letzte Körnchen Gehirnphosphor weggefressen – Liliencrönung des modernen Menschen!« Und bitter bemerkte er am 23. Dezember: »Obwohl mir das Feuer auf den Nägeln brennt, friere ich doch famos in dieser friedenbringenden Weihnachtszeit.«
Wohl mußte er damals, wie er selbst schrieb, bei den sehr schmalen äußeren Lebensbedingungen, unter denen er lebte, alle Kraft zusammennehmen, wenn er nicht stolpern und entkräftet liegen bleiben sollte; trotzdem aber gedachte er auch jetzt noch der Seinen in Magdeburg, besonders als das Weihnachtsfest »mit seinen Forderungen und hingehaltenen Händen ihm immer näher aufs Epiderm rückte« (21. Dez. 1888). Um Geschenke zu kaufen, suchte er von Friedrich Geld zu bekommen. Nach Magdeburg zu fahren, war er nicht in der Lage, und sein Freund Hänichen hielt ihn von da geflissentlich fern. Er ahnte, welche trostlosen Zustände in Conradis Vaterhause herrschten.
Das Jahr 1889 gestaltete die Lage Conradis noch trüber. Mit Hänichens Hilfe versuchte er in Dresden eine größere Summe aufzunehmen, und verzweifelt schrieb er (24. Januar 1889): »Die übliche persönliche Lebensnot, allseitige Beklemmung, Drängelei von den Gläubigern und Manichäern – Teufel! Wenn das Zeug in Dresden nicht geht, bin ich wirklich futsch. Länger halte ich mich nicht mehr, länger ertrage ich diese Qual, dieses Arbeiten unter so furchtbar erschwerten Lebensbedingungen nicht mehr!« Und zu dieser Lebensnot gesellte sich noch Krankheit, die ihn oft wochenlang aufs Schmerzenslager warf, und bei der ihn sein Freund Hänichen getreulich pflegte, wenn er ihn nach Merians Meinung auch zuweilen mit kleinlichen, oft lächerlichen Sorgfältigkeiten umgab. Besonders krank war er Mitte März 1889. »Den einen Abend«, schrieb er an Friedrich (15. März 1889), »wo das Asthma am tollsten, erwartete der Arzt ziemlich bestimmt einen Herzschlag – na! Der ganze Krempel wäre ex gewesen – ich wäre nicht am schlechtesten dabei gefahren!« Und er drängte Friedrich immer von neuem wegen eines Fixums. »Ich gehe mit meinen Kräften nach heißestem Kampfe doch noch unter,« klagte er, und am 17. März hatte er die Gewißheit, daß alle Versuche Hänichens, ihm eine größere Geldsumme zu verschaffen, in Dresden wie auch in Leipzig gescheitert seien. Seine einzige Hoffnung beruhte nun auf Friedrich. Ihn bat er jetzt um Vorschuß: »ich muß, wenigstens für ein paar Tage mal essen, mich kleiden können.« Und er fuhr fort: »Ich fühle, daß ich immer mehr und immer schneller meiner künstlerischen Reife und Höhe entgegengehe – dieses Jahr kann vielleicht entscheidend für Sie wie für mich werden – also lassen Sie mich nicht zerschellen – wenn Sie irgend können! – und untergehen, ehe ich wenigstens meine Bücher »Ein Kandidat der Zukunft« und »Ein moderner Erlöser« vollendet – noch ein Jahr für das nächste und zwei Jahre für das, was noch in mir brennt und wühlt – und die Zukunft ist mein – ich weiß, es ginge wirklich zu viel mit mir zugrunde – lassen Sie mich erst dazu kommen, meine realistisch-humoristischen Romane »Meergreise«, »Eine fixe Idee«, »Mamas Menagerie« etc. zu schreiben und mit Hilfe Ihres Fixums ein Jahr mal frei, ungehemmt schaffen können – Sie werden sehen: wir kommen dann sofort in freies, fließendes Wasser. Ich werde, wie ich aus tausend Zeichen, die zu mir kommen, sehe, immer bekannter, man wartet auf größere, entscheidende Taten von mir, mein »Adam Mensch« wird stark auf meine Generation wirken – mein Gott! ich habe ihn vor beinahe zwei Jahren geschrieben – und er steht doch an erster Stelle da! – Jetzt ist der höchste und letzte Moment, wo Sie entscheidend in mein Leben eingreifen können – lieber schieße ich mir in der nächsten Nacht eine Kugel durch den Kopf, ehe ich verhungere – ich!!! Ich!!!«
Es ist bewunderungswürdig, daß Conradi sich damals aufrecht erhielt und die Hoffnung auf die Zukunft nicht sinken ließ. »Ich habe«, schrieb er an Friedrich (12. Jan. 1889), »gearbeitet, was ich konnte, in diesen letzten Wochen, trotz der tollsten, unheimlichsten Entbehrungen, die ich ertragen mußte, trotzdem ich oft körperlich und geistig bis zum Tode erschöpft war! Nun sehen Sie wenigstens einige Resultate! Zunächst! Weitere erfolgen bald! Dabei habe ich noch meinen »Kandidaten der Zukunft« gefördert und an meinem kleineren (Zwischen-)Roman »Der Ehebrecher« und »Gerechtigkeit« geschaffen! Es soll um jeden Preis dieses Jahr mein Wurf- und Siegesjahr werden!« Und tatsächlich nahm Conradi einen kräftigen Anlauf. Am 12. Dezember 1888 war endlich das Manuskript des »Adam Mensch« in die Druckerei gewandert, nachdem es der Verfasser auf Friedrichs Wunsch noch um etwas gekürzt und versichert hatte, daß die vom Verleger beanstandeten Stellen geändert seien. Im Januar 1889 stellte er Friedrich die Skizze »Unterm Nußbaum« zur Verfügung, die sich auf ein Lockwitzer Erlebnis bezog. Von ihr meinte Conradi, sie sei » in puncto Stil und Charakteristik mit zum Besten gehörig, was ich geschrieben – in sehr vieler Hinsicht ganz neu und eigenartig«. Die gleiche Sendung enthielt auch den Essay: »Zum Begriff der induktiven Literaturpsychologik«. Ferner stellte er mehrere andere Artikel in Aussicht: »Ein Brief aus der Verbannung«, »Der Fall Nietzsche«, sowie einen Essay über Dostojewski. »Der Fall Nietzsche« blieb wohl ungeschrieben.
Und so schien es endlich doch hell in Conradis Leben zu werden. Zudem bewilligte ihm Friedrich vom 1. April 1889 ab einen monatlichen Vorschuß von 100 Mark auf Buchhonorarkonto bis auf weiteres, doch solle der Schuldner statt der Zinsen möglichst in jeder »Gesellschaft« einen Beitrag liefern (26. März 1889). Und schon jubelte Conradi: »Nun muß es freier, heller um mich werden – nun werde ich den Stier bei den Hörnern packen und niederschmeißen« (30. März 1889), und er meinte Friedrich gegenüber: »Sie wissen gar nicht, wie dankbar ich Ihnen im Innersten bin für die monatliche Sicherung – ich arbeite jetzt mit ganz anderer Selbstgewißheit und Zukunftshoffnung – Sie werden sehen: ich komme sehr bald durch, mein Reichtum an Geist und Kraft muß sich jetzt erst, wo ich materiell ein wenig besser stehe, seine Form schaffen!« (24. Mai 1889). Zudem erschien endlich am 1. April 1889 der lange angekündigte Roman »Adam Mensch«, und am 18. Juni 1889 konnte Conradi auch seine Broschüre »Wilhelm II. und die junge Generation« abliefern. So wirkte jetzt alles zu seinen Gunsten, und er mußte glauben, er habe wieder einen Gipfelpunkt seines Lebens erreicht. Und mit stolzem, alles verachtendem Selbstbewußtsein blickte er in die Welt, wie besonders folgende Postkarte an Margarethe Halm, seine ehemalige Freundin, beweist:
»Ihre Karte hat mir viel Spaß gemacht! Aber Sie befinden sich in einem korpulenten Irrtum! Der Hauptzweck meiner Karte an Sie war durchaus nicht der, eine Kritik meines »Adam Mensch« von Ihnen zu erbitten – ich wußte ja auch nicht, daß Sie so weit – gekommen, sich für erwerbsmäßige Kritikschreiberei engagieren zu lassen. Meine Bitte galt nur ganz nebenher der ehemaligen Freundin … Verzeihen Sie meinen Fauxpas! Sie scheinen aber doch so ziemlich außerhalb des literarischen Deutschlands zu leben. Sonst würden Sie zweifellos wissen, daß Herr W. Friedrich mein Verleger ist – und daß ich an der Conradschen Gesellschaft ziemlich viel mitarbeite, also zu beiden Herren ziemlich intime Beziehungen besitzen muß … Ich glaube aber: in puncto Ihrer Beziehungen zu ihnen geben Sie sich Illusionen hin, soweit ich die Verhältnisse kenne … Wenn ich eine Kritik für die Gesellschaft wünsche, stehen mir andere Kräfte zur Verfügung, sogar meine eigenen, denn Sie werden deutlich eine Autokritik meines Buches finden … Daß Herr von Basedow – nun! ich habe im vorigen Jahr in München viel mit ihm verkehrt – und da – sollte nicht auch hier eine persönliche Illusion vorliegen? – Vor Ihrer »hohen« literarischen Stellung habe ich sehr wenig Respekt, gnädige Frau – Sie sind ein Weib und nicht mehr so ganz jung, als daß die Zukunft eine künstlerisch sehr spärlich gewesene Vergangenheit rehabilitieren sollte. Verzeihen Sie meine Offenheit – aber ich verzeihe Ihnen auch – nun! ich will nur sagen: Ihre Kühnheit!« S. Liebesbeichte von H. Conradi. Herausgegeben von M. G. Conrad. Eisenach 1909, S. 50 f.
Die Aufnahme, welche der »Adam Mensch« beim literarischen Publikum fand, war sehr verschieden. Besprechungen des »Adam Mensch« erschienen in folgenden Blättern: Blätter für literarische Unterhaltung 1889, S. 580, von Jeannot Emil Freiherr v. Grotthuß; Didascalia 1889, Nr. 128, S. 511 (Herausgeber Adolf Bartels); Die Gesellschaft 1889, Nr. 7, von Margarethe Halm; Deutsche Blätter 1889, S. 223 f., von Hans N. Krauß; Deutsches Dichterheim 1890, S. 182 f., von Dr. Max Oberbreyer; Deutsche Romanzeitung 1890, S. 69-71 (Ein Roman aus der Küche der Jüngsten. Von Wilhelm Bölsche). Eine feinsinnige Analyse des Romans gibt auch die Schrift: »Literatur und Staatsanwalt« S. 71 f. Lobend äußert sich Detlev v. Liliencron in seiner Novelle: »Der Mäzen« II, S. 135 f. – Moderne Dichtung 1890, S. 570 ff. (Vom modernen Individualismus. Von C. M. Kafka). Manche stießen sich an geschmacklose Aeußerlichkeiten im Stil, hielten Conradi und Adam Mensch für identisch und meinten, der Dichter habe wirklich ein Idealbild eines modernen Helden geben wollen. Unbarmherzig zerpflückte Dr. Oberbreyer den Roman, und Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß erklärte: »Ein anderes als pathologisches Interesse kann die vorliegende Leistung nicht beanspruchen.« Aber auch Schriftsteller, welche der Moderne näher standen, wie Wilhelm Bölsche, lehnten den Roman ab. Wilhelm Bölsche meinte von Conradi: »Ein Realist ist er ganz und gar nicht, weder Realist in dem Sinne, der den Realismus mehr in der Methode, in der Gestaltung treu nach den Gesetzen der Wirklichkeit sucht, noch in dem andern Sinne, der im Realismus mehr sachliche Neuerung, Anschluß an die moderne Welt und ihre treibenden Ideen, Herausarbeiten des typisch Modernen und unserer Zeit Eigentümlichen sieht. Wesentlich unter diesem Gesichtspunkte des Pseudorealismus möchte ich seinen neuen Roman hier betrachten … Und wenn ich mich nun so stelle und so messe, so muß ich sagen, Conradis Roman ist schlecht, verfehlt, wertlos und würdelos.« Am besten von den Kritikern erfaßte Hans N. Krauß die Absichten des Dichters. Letzterer habe sich, meint Krauß, »einen Typus herausgegabelt, dessen Vertreter heute zu Hunderten und Tausenden in deutschen Landen emporschießen: den mit allen Salben und Wässern der Bildung geschmierten und gewaschenen, gemütsrohen Lumpen, der sich als Mittelpunkt des Weltalls fühlt und glaubt, er könne alles unter seine Füße treten, was ihm nicht mehr nützt oder Vergnügen bereitet. Diesem Haderlumpen – ich finde kein anderes Wort – ist ein alter, kranker Gelehrter, für den das Leben nichts hatte als Kummer, Sorgen und Enttäuschungen, der aber mit männlicher Festigkeit an seinen Idealen hängt gegenübergestellt. Von Fleisch und Blut sind weiter auch die beiden Frauengestalten Lydia und Emmy. – Conradi ist ein ungemein scharfer Psychologe. Und er weiß das selbst und so opfert er seiner Hauptkunst zuliebe alle Gegenständlichkeit. In dieser Beziehung bildet er zu Zola den reinen Gegensatz. – Prächtig versteht es Conradi, die Begriffe zu fassen und einzelne Teilbegriffe durch Wortmalereien umzuwirken. Sein Stil, als Ganzes betrachtet, hat mir in diesem Werke weniger gefallen, er ist zu kurzatmig, verzettelt. Reale Lebenserfahrungen besitzt Conradi wenig, oder er will sie nicht zeigen. Aber Talent hat dieser Mann viel, sehr viel Talent und dabei einen Mut, der in unserer nickenden Pagodenzeit als Weltwunder angestaunt werden muß. Laßt ihn sich ausleben und er wird Schöpfungen auf die Beine stellen, daß euch das Herz im Leibe lacht.«
Anerkennend über den Roman äußerte sich auch Margarethe Halm. Sie rief sogar ihren Geschlechtsgenossinnen zu: »Ja, ja, Frauen, leset nur den Roman Conradis und veramazont euch mit verstärkender Kraft, denn wäre es schon Schmach für ein Weib, einen diesem Adam ähnlichen Mann zu lieben, so wär's geradezu Verbrechen, solch einen verkommenen Samen zur Brut werden zu lassen … Was die Darstellung Conradis anlangt, so ist seine Art wie Tapetenmalerei. Im Ganzen genommen sieht das vielfach in gebrochenen stumpfen Farben patronierte Muster fast eintönig aus, aber näher betrachtet erkennt man doch, daß jedes Schablonenfigürchen verschieden und doch eigentlich Handmalerei ist. Ein einziges Bild tritt aus diesem Gewirre von Schnörkeln und Arabesken, gleichsam aus diesem, aber kunstvoll geformt hervor, übermenschlich und hehr, und das ist die Gestalt des alten Dr. Irmer, als dieser so schwer am Leben tragende Greis zu dem »Herrn Doktor Mensch«, der ihn fragte, warum er sein »Hundeleben« nicht auslösche, wie zu einem Menschen spricht. Ist's ein Produkt des Unbewußten, das hier den Märtyrer Irmer so erhaben über diese Dreckseele erscheinen läßt, ist's ein vorsätzliches Kraftexperiment des Autors, der mit bewußtem Willen und Können seinen Helden zermalmend ironisieren wollte? Genug davon, ich konnte nicht weiter lesen, als ich zu der echt poetischen Stelle kam, weil mir das Wasser die Augen überlief. Triumph des Genius!«
Einen tiefen Eindruck machte der »Adam Mensch« auch auf Liliencron. Und er faßte seine Stimmung im »Mäzen« zusammen und meinte: »Es ist ein entsetzliches Buch, schonungslos, grenzenlos, Wunden schlagend, Wunden heilend. Ein paarmal war es mir, als müßte ich es fortlegen, aber dann immer sagte ich mir: Es ist von einem großen Künstler geschrieben, von einem Künstler, einem Dichter der Kraft – und las weiter.« Am begeistertsten war unter allen Conradi-Jüngern der frühverstorbene E. M. Kafka. Er erklärte nach Conradis Tode: »So werden es auch erst die kommenden Geschlechter begreifen, daß ›Adam Mensch‹, speziell in seiner literarischen Bedeutung genommen, geradezu ein Ereignis zu nennen ist: der erste Keimtrieb der ›neuen Psychologie‹, die gegenwärtig den entzückendsten Frühlingsduft ihrer Erstlinge über die neudeutsche Literatur auszugießen beginnt.«
Aber der Erfolg Conradis, den er bei der deutschen Lesewelt mit seinem Roman erzielte, war sozusagen nur das Moment der letzten Spannung in seiner Lebenstragödie, dem jäh und furchtbar die baldige Katastrophe folgen sollte. Schon am 14. April hatte Friedrich eine anonyme Postkarte aus Borna erhalten, welche auf das ominöse Wort »verrecken« im »Adam Mensch« hinwies. Am 20. Juni bekam Friedrich den ersten Besuch des Staatsanwalts, bei welchem der »Adam Mensch« und Wilhelm Walloths »Dämon des Neides« wegen Unsittlichkeit und ersterer noch wegen Gotteslästerung denunziert worden war. Am 29. Juni wurde dann Friedrichs gesamter Briefwechsel mit Conradi, und am 19. Juli die gesamten Vorräte beider Romane vom Staatsanwalt Nagel persönlich beschlagnahmt. S. Der Realismus vor Gericht, S. 3. Da das Gericht die Erklärung Friedrichs, er habe die Romane vor der Drucklegung nicht gelesen, für unwahr hielt, fand am 24. Juli sowohl bei Walloth wie bei Conradi eine Haussuchung nach belastendem Material statt.
Durch das Eingreifen des Staatsanwalts in sein Leben ward Conradi sehr überrascht und von seinen großen schriftstellerischen Plänen ferner gehalten, als ihm lieb sein konnte. Aber gebrochen fühlte er sich durch die Aussicht auf den bevorstehenden Prozeß nicht. »Die ganze Geschichte« – meinte er – »kommt mir nun verdammt läppisch und kindisch vor. Jedenfalls ist für mich vorläufig das Notwendigste, wieder gesund zu werden, um von neuem arbeiten zu können – den Kerlen werde ich nachher schon den Standpunkt klar machen, aber ordentlich« (17. Juli 1889), ja er rühmte den »Adam Mensch«, »der soeben im Begriff ist, die allerhöchste Staatsanwaltschaft samt sich selber an die ›Unsterblichkeit‹ auszuliefern – die Staatsanwaltschaft war ja oft schon die Hebamme des Ruhmes, der Berühmtheit – zum mindesten der Berüchtigtheit – indessen es scheint in der Tat ein »Gesetz« zu sein, daß der Weg in die europäische Immanenz über die historischen Strafstationen führt«.
In der zweiten Hälfte des August 1889 verließ Conradi endlich das »gottverfluchte Sauleipzig«, wo man sich »in jedem Punkte, höchstens die Weiber ausgenommen, verraten und verloren« fühle (an Wichmann. 26. März 1889), und er erklärte zusammen mit Edgar Steiger und Hans Merian öffentlich, daß sie alle drei schon jetzt Protest dagegen einlegten, daß ihnen jemals in Leipzig ein Denkmal errichtet würde. Für Leipzigs literarisches Vereinsleben hatte Conradi auch damals kein Interesse. Als am 2. April 1889 dort unter Dr. Rudolf Kleinpauls Vorsitz der »Deutsche Literaturverein« zur Förderung der realistischen Literatur gegründet wurde, war Conradi auf Friedrichs Einladung zwar zugegen, kam aber später höchstens noch zu zwei bis drei Sitzungen. Conradi siedelte nach Würzburg über, Er wohnte dort zuerst Kapuzinergasse 7II, seit Anfang Februar 1890 Heidingsfelderstr. 8III (in der Vorstadt. An Friedrich. 8. Februar 1890). für das sein Freund Hänichen außerordentlich schwärmte (an Jacobowski. 14. Jan. 1890). Dieser begleitete ihn auch, da er dort vom 1. Oktober ab als Einjähriger zu dienen hatte. Aber Conradi war von Würzburg sehr bald enttäuscht, und er strebte wieder fort, da es ihm »mit seiner katholischen Kleinstädtigkeit« nicht besonders behagte und auch Wetter und Klima ganz anders seien, als man ihm geschildert hatte (an Friedrich. 21. und 23. September 1889). Zudem fehlte ihm die Anregung der Großstadt und er stellte deshalb Adolf Bartels, dem damaligen Redakteur der Frankfurter Didaskalia Für dieses Blatt soll Conradi eine mir unbekannt gebliebene Kritik über das Bartelssche Drama: »Johann Christian Günther« geschrieben haben, an dem ihm auffiel, daß es mit dem »Adam Mensch« das »Dreiweibermotiv« gemeinsam habe (an Bartels. 12. Mai 1889). einen kurzen Besuch in Aussicht, denn man müsse »mal wieder eine Großstadt unter den Füßen, vor Augen, im Schädel, in der Lunge haben« (14. Dezember 1889). Während der Universitätsferien hatte Conradi fast noch keinen Verkehr, und er klagte: »Ein wirklich intimes Herzensbedürfnis, philosophische Probleme zu erörtern: das scheint man hier nirgends zu haben, das scheint man gar nicht zu kennen«, und er bedauerte es lebhaft, daß sein Freund Hänichen, »ein rein, exakt philosophischer Kopf ersten Ranges«, bald dienen müsse. »Ich härme mich noch darum, daß er, dessen (vorbereitete) philosophische, hauptsächlich erkenntnistheoretische Arbeiten einmal zweifellos von größter Bedeutung für die Philosophie werden – daß er jetzt ein ganzes Jahr hindurch dem ödesten Maschinalismus zu dienen hat« (an Volkelt. 26. Sept. 1889).
Aber bald fand sich doch ein kleiner Kreis um Conradi zusammen. Neben Hänichen, der seines Dienstes wegen nicht mehr regelmäßig mit ihm verkehren konnte, waren es besonders Carl Korn, der sich nach einem Streit in München mit ihm wieder ausgesöhnt hatte, und Dr. med. Martin Weiß, den Conradi durch Korn kennen gelernt. Außerdem verkehrten in jenem Zirkel ein älterer Mediziner Groß (später Versicherungsagent), und ein jüngerer Mediziner, sowie kurze Zeit ein Jude Citron, den Hänichen trotz seines Antisemitismus zu einer Art Intimus machte. Mehrere von ihnen wohnten bei derselben Wirtin und kamen so häufig zusammen, sie legten abends öfters ein Fäßchen auf oder tranken Tee, wobei sie philosophierten. Alle verspürten, wenn Conradi zugegen, die Atmosphäre einer Persönlichkeit, sie fühlten, daß sie mit ihm anders verkehren müßten, auch wenn sie verschiedener Meinung waren, wie manchmal Martin Weiß, der vom »Adam Mensch« offen sagte, das sei das Widerwärtigste, was er überhaupt gelesen habe.
Gelegentlich verkehrte Conradi mit seinen Freunden in einer stimmungsvollen Weinkneipe, wo er dann bis tief in die Nacht sitzen konnte, manchmal auch in andern Bürgerlokalen; in einem endete einst die Zusammenkunft mit einer echt bayrischen Rauferei zwischen Conradis Bekannten und andern Gästen, und ein junger Postbeamter, der Conradi für einen Kollegen hielt, sagte zu ihm im Gedränge: »Ich kenne Sie; ich werde Sie bei der Oberpostbehörde anzeigen!« Einmal nach dem Mittagessen – sie hatten eben alle reinen Absinth getrunken – belustigten sie sich damit, eine Droschke an den Hinterrädern in die Höhe zu heben, der Kutscher freundete sich sofort an und verlangte, daß sie nun auch ein Stück führen. Sie kamen dabei nach einem nahen Dorfe, und Conradi schrieb dort dem kleinen Wirtstöchterchen etwas ins Stammbuch, indem er ihr sagte, sie sollte es aufheben, es werde später vielleicht einmal Wert haben.
Conradi war nach Würzburg gekommen, um sich zu seinem großen künstlerischen Schaffen zu sammeln und endlich die Werke zu vollenden, die er im Kopfe schon längst entworfen hatte. Wenn er jetzt auch dank dem monatlichen Zuschuß von Friedrich keine materielle Not litt, so kam er doch nicht zu dem erhofften Arbeiten großen Stils. Immer kam etwas dazwischen, was ihn hinderte.
So raubte ihm die Preßfehde mit Dr. Max Oberbreyer sehr viel Zeit. Als ihm nämlich letzterer seine Luzianbearbeitung (Reclams Verlag) übersandt, hatte ihm Conradi geschrieben, er wolle keine »Anzeige« schreiben, sondern es mit einer »Kritik« bewenden lassen (an Oberbreyer. 13. April 1889). Diese Kritik fiel sehr scharf aus, aber Dr. Oberbreyer operierte in seiner Erwiderung derartig geschickt, daß der Herausgeber der »Gesellschaft«, Dr. M. G. Conrad zu der Meinung kam, Conradi sei im Unrecht und habe lediglich aus Rache gehandelt. Er nahm in der »Gesellschaft« das Wort in der Angelegenheit, bevor er es Conradi gab, und verschlechterte dadurch dessen Stellung in der Sache. Conradi war infolgedessen auf Conrad sehr schlecht zu sprechen. Maßregeln und meucheln lasse er sich nicht, einer krankhaften Voreingenommenheit Conrads unterwerfe er sich nicht. »Will Conrad den Kampf – so soll er ihn auf der ganzen Linie haben«. Ganz besonders wütend war er über die Verstümmelung seiner »sublimen und massiven Abführung« Dr. Oberbreyers, welche allerdings trotzdem den Streit zu seinen Gunsten entschied, da er sehr sorgfältig Material zusammengesucht und verarbeitet hatte. S. Gesellschaft 1889, S. 1033 (Kritik Conradis), Erwiderung Dr. Oberbreyers und Erwiderung Conradis, S. 1530 (Schlußwort Dr. Oberbreyers). Brief an Friedrich vom 23. August, 6. September 1889; an Conrad vom 19. Juli, 14. August 1889. So drohte sich an den Streit mit Dr. Oberbreyer ein neuer mit M. G. Conrad anzuschließen. Conradi war auch darüber erzürnt, daß letzterer Manuskripte von ihm schon seit Monaten zurückhielt, ohne sie zu drucken. »Ich dulde diese Bummelei und Vernachlässigung nicht länger« (13. Jan. 1890). Mit der Leitung der »Gesellschaft« war er gleichfalls unzufrieden, und als Dr. Brahm – »natürlich wieder ein Jude!« meinte Conradi – seine neue Zeitschrift: »Freie Bühne« das » repräsentative Organ der realistischen Richtung« nannte, beschuldigte er Conrad, diese Anmaßung verschuldet zu haben. Sie sei nur möglich, »weil Conrad die ›Gesellschaft‹ in der Kritik so verlottert hat – und im übrigen so volle Kompromisse mit geeichten und ungeeichten Juden, mit allen möglichen Familienblättern gemacht hat! Da kommt natürlich nichts Ganzes heraus« (13. Jan. 1890). Doch kam es z. T. durch Friedrichs gütliches Zureden zu keinem offenen Konflikt zwischen beiden Schriftstellern.
Größere Abhaltung verursachte Conradi auch der kommende Prozeß. Innerlich ward er davon tief berührt Die von Alberti über Conradi ausgesprochene Meinung ist etwas übertrieben (s. Der Realismus vor Gericht. S. 4)., wenngleich er renommierend meinte: »Die ganze Anklage ist ja namenlos dumm!« (8. August) und er wünschte den »Dreck von Prozeß« bald los zu sein. In seinem literarischen Arbeiten wolle er sich jedenfalls durch den »Ulk« nicht stören lassen (11. Oktober 1889), und er höhnte, der Staatsanwalt habe mit der jungen Literatur Schmollis getrunken (3. Dez. 1889). Auch wolle er bei der Verhandlung sein und den Herren ein paar heftige Bemerkungen zu kosten geben: »Der deutsche Staatsanwalt und die Kunst – ein famoses Ehepaar!« (20. Nov. 1889). Bei seiner Vernehmung am 10. Oktober trat er nach seinem Brief an Friedrich »mit solcher unglaublichen Sicherheit, Ueberlegenheit, mit solcher salopper Souveränität« auf und schrieb am 16. Dezember ein kurzes stachliges, künstlerisch belangloses Gelegenheitsgedicht, in dem er mit Beziehung auf die ihm vorgeworfene Gotteslästerung meinte, der Staatsanwalt sei das gelungenste Geschöpf Gottes,
»Nur schade, daß der Schöpfer der Knecht
Seiner Geschöpfer inzwischen geworden! –«
Auch war er im Februar 1890 keineswegs davon erbaut, als das Gerücht von der Aufgabe des Prozesses auftauchte. »Ich habe absolut keine Lust,« meinte er, »nach der Willkürspfeife jener Herren zu tanzen« (an Friedrich. 8. Febr. 1890).
Seinen Verleger unterstützte er, indem er sich in einem längeren Manuskript: »Staatsanwaltschaftliches Frag- und Antwortspiel oder Hiebe mit Liebe« eingehend über alle inkriminierten Stellen des »Adam Mensch« äußerte (abgeschickt am 27. August). Auf Grund dieser Aufzeichnungen verfaßten daraufhin Hans Merian und Wilhelm Friedrich eine Rechtfertigungsschrift über Conradis und Walloths Werke, die unter dem Titel » Literatur und Staatsanwalt« bekannt ist. Conradi rühmte ihr nach, sie sei »außerordentlich geschickt, schlagend, überzeugend – und von solchem außerordentlichen dokumentären Wert, daß sie für später einmal eine quellenschriftlich-epochale Bedeutung gewinnen wird … Ich hätte so objektiv und dabei doch so schneidig nicht sein können« (16. Sept. 1889). Allerdings war er mit der Tendenz der Schrift nicht ganz einverstanden. »Mein ›Adam Mensch‹«, meinte er (3. Dez. 1889), »ist ein psychologisch-künstlerisch-kulturelles Dokument ersten Ranges, ob sich nun zehntausend alte oder junge einbalsamierte Heringe in diesem Jahrhundert ihre morschen Zähne daran ausbeißen.« Und er schrieb Friedrich, es wäre ihm lieber, »daß unser Prozeß in einem ganz anderen, eben in dem neuen, der alten Generation entgegengesetzten Geiste geführt würde … Mit der Verteidigungsschrift haben Sie sich im allgemeinen auf den alten, morschen Moralboden gestellt – – – aber die Souveränität der Kunst ist doch nicht als a priori selbstverständlich vorausgesetzt! Ich kann allein von diesem Standpunkt aus operieren – und da ist es mir dann ebenso egal, was so'n erster bester Staatsanwalt über mich denkt, wie es eine psychologische Notwendigkeit ist, daß so'n alter Knabe à la Frenzel mich nicht versteht!« Diese letzte Stelle bezieht sich auf die Urteile, welche Friedrich bei einer Reihe bekannter Persönlichkeiten über die beiden beanstandeten Romane eingeholt hatte (z. T. abgedruckt in der Broschüre: »Der Realismus vor Gericht«, S. 95 f). Das Buch: »Literatur und Staatsanwalt« ist als Handschrift gedruckt (Leipzig. 1889).
Seinem rein schriftstellerischen Schaffen war noch etwas Weiteres hinderlich; er wollte endlich seine Doktorpromotion erreichen. Schon in seiner ersten Leipziger Zeit hatte er sie in Aussicht genommen, in München leitete er sie ein, jetzt in Würzburg betrieb er sie energisch. Brief an Blume vom 23. Juli 1886; Brief an Friedrich vom 3. November 1888; s. besonders die vier Briefe an Prof. Volkelt. Er trat mit dem dortigen Privatdozenten Dr. Neudecker in Verbindung, der sich für ihn bei der Universitätsbibliothek verbürgte und ihm seine Habilitationsschrift: »Studium zur Geschichte der Aesthetik« gab. Auch knüpfte er Verbindungen mit dem Würzburger Professor Dr. Johannes Volkelt an, der in dem kränklich und müde aussehenden jungen Mann schon bei der ersten Begegnung einen nicht gewöhnlichen, ideenreichen Menschen mit bewegtem Innenleben erkannte. Ihm schrieb Conradi in einem offenherzigen Briefe: »Meiner Naturanlage nach bin ich von früh an darauf gestimmt gewesen, mir die philosophischen Probleme, besonders die eschatologischen Charakters, selber zu suchen, zu stellen, zu formulieren – ihren Lösungen nach eigener Kraft nachzustreben. Einzelne Niederschläge davon finden sich zerstreut und angedeutet in allen Schriften, die ich bisher veröffentlicht, in Gedichten u. a. – ich hoffe, wenn sich meine Gesundheit in der nächsten Zeit gestärkt und gefestet, auch dazu zu kommen, meine Ideen in ein systematisch geordnetes Werk, das mich in einzelnen Teilen schon seit Jahren beschäftigt (»Psychophysik der Entwicklung«), zu fügen … doch darüber – darüber haben Zukunftsmächte zu entscheiden …« (26. Sept. 1889). Zum Gegenstand seiner Doktordissertation wählte er das Thema: »Ueber das Verhältnis des Symbolbegriffes zur ästhetischen Illusion«. Für die mündliche Prüfung schlug er als Hauptfach Aesthetik vor, als Nebenfächer Philosophie (Geschichte der Philosophie oder Ethik oder Psychologie) und Literaturgeschichte, eventuell germanische Philologie, später wünschte er zu erreichen, daß er nur in zwei Fächern hauptsächlich seiner sehr leidenden Gesundheit halber geprüft werde (26. Sept. 1889). Professor Volkelt war mit dem Thema der Dissertation einverstanden. »Dieser Umstand hat mir sehr wohl getan,« schrieb Conradi, »die Arbeit rückt mir auch jeden Tag näher – ich glaube, mancherlei Eigenes und Neues zu erbringen – nur muß ich mich vor meinem alten Erbfehler, dem Zuviel, sehr hüten – der Perspektivenreichtum erdrückt mich fast immer.« Aber infolge eines neuen Krankheitsanfalls kam er doch nicht so schnell vorwärts, wie er gehofft hatte, und er teilte Volkelt am 14. November mit: »Ich sehe mich leider gezwungen, den Ablieferungstermin um einige Zeit hinauszuschieben – eine mir sehr unliebsame Notwendigkeit, da ich ursprünglich, wie Sie wissen, hoffte, noch im November mit dem Examen fertig zu werden, um dann in einem wärmeren Klima mir Heilung und Stärkung zu suchen. Nun kommt vielleicht Weihnachten heran – doch: mit oder auf dem Schilde – ich will: für mich Grund genug, meine Absicht unter allen Umständen zu verwirklichen.« An der baldigen Erwerbung des Doktortitels lag Conradi sehr viel, derselbe sei bei unserem Publikum und bei unsern Verhältnissen von Wert, er wolle den Grad erwerben, vielleicht sogar für den Prozeß, auch wünschte er die von Friedrich immer wieder verlangte Photographie, die in der »Gesellschaft« gebracht werden sollte, mit Dr. zu zeichnen, das sei »ausdrucksvoller«. Dann werde er sich bemühen, an irgendeiner Universität anzukommen (an Friedrich, 16. Sept. 1889).
Infolge all dieser Abhaltungen durch andere Arbeiten und Krankheit, zu denen noch ein Liebesverhältnis hinzukam, das einzige mit voller Sicherheit nachgewiesene Geschlechtsverhältnis in seinem Leben, war die Würzburger Zeit arm an schriftstellerischen Erzeugnissen. Nur das Gedicht »Frieden« verdankt jener Epoche seine Entstehung. Seine neuen Pläne waren verschiedener Natur. Er wollte die noch nicht in Buchform veröffentlichten Gedichte in einer Sammlung: »Wolkenschatten« herausgeben, er arbeitete an einem Buche »Ein Titanenrendezvous«, von dem sich im Nachlaß Bruchstücke vorfanden, auch die Biographie Rudolf v. Gottschalls mag ihn beschäftigt haben. Er klagte gerade darüber seinen Freunden, wie große Mühe sie ihm mache; er arbeitete den Stoff wiederholt um, so daß sein ursprüngliches Urteil kaum mehr bestehen blieb, und das Werk, das sich im Nachlaß ebenfalls in Bruchstücken vorfand, zeigte eher, was Gottschall vielleicht hätte werden können. Seinen Standpunkt gegenüber Gottschall hatte Conradi bei der Besprechung von dessen Roman: »Verschollene Größen« gekennzeichnet (Leipz. Ztg. Wissenschaftl. Beilage Nr. 62 vom 4. Aug. 1886). Er sagt dort: »Rudolf v. Gottschall ist zweifellos der vielseitigste aller deutschen Schriftsteller der Gegenwart. Es ist hier nicht der Ort, seiner Wirksamkeit auf den einzelnen Gebieten – in der Lyrik, Epik, Dramatik, Kritik, Literaturgeschichte, im Roman und in der Novelle – ausführlicher Erwähnung zu tun. Hat Gottschall auch nicht immer ein Erstes, ja vielleicht auf keinem Gebiete – wohl eben infolge seiner umfassenden Vielseitigkeit – etwas unerreichbar Einziges geleistet: es ist ein unbestreitbares Faktum …, daß in diesem Schriftsteller die nachklassische Literatur, die Periode von 1830-1880, in gewissem Sinne gipfelt … Noch einmal betone ich, daß sich Gottschalls erste und beste Kräfte auf dramatischem Gebiete ausgeben. Sollten wir doch noch eine Renaissance unserer Bühnenverhältnisse erleben, dann wird Gottschalls Genius wieder zur Betätigung seiner innersten Naturbestimmung gelangen.« Ferner trug er sich mit dem Gedanken einer »Christus«-Dichtung, zu der ihm nach der Vermutung von Adolf Bartels die Anregung wahrscheinlich in München durch das »Christus«-Fragment von Richard Wagner gekommen war, und über die er in seiner zweiten Leipziger Zeit wiederholt mit Hans Merian gesprochen hatte, welcher auch einen »Christus« plante. S. auch Der Realismus vor Gericht. S. 38 (Aussage Merians). In Würzburg trug Conradi seinem Freunde Hänichen wiederholt in rhapsodischer Weise ganze Teile davon aus dem Stegreif vor. Auch an seinem Roman »Gerechtigkeit«, der in Magdeburger Handelskreisen spielt, schrieb er damals (an Friedrich, 6. Sept. 1889). Am meisten aber nahm ihn der Plan zu seinem Roman: »Ein moderner Erlöser« in Anspruch. Nach der Erinnerung Carl Korns hätte er sich in diesem Werke von dem Philosophen Mainländers beeinflußt gezeigt und es würde einen sozialen Grundzug besessen haben im Gegensatze zum »Adam Mensch«. Auch wäre darin ein Lieblingsgedanke Hänichens, daß der Instinkt Intellekt werden müsse, zur Geltung gekommen.
Das literarische Hauptereignis war damals für Conradi zweifellos das Erscheinen seiner Broschüre: »Wilhelm II. und die junge Generation«. Sie, die Conradi für die »tiefste und geistreichste Broschüre der Zeit hielt« (an Friedrich, 16. Dez. 1889), lag augenscheinlich Ende August im Buchhandel vor. Am 6. September spricht er von den günstigen Zuschriften, die er darüber erhalten habe (an Friedrich).
Es ist kaum möglich, eine Analyse dieser rasch hingeworfenen »Signalschrift« zu geben, die das »Präludium« von neuen größeren Werken Conradis bilden sollte. Während der Verfasser sonst in seinen Kritiken einen klaren und sachgemäßen Stil schrieb, gefiel er sich in dieser »zeitpsychologischen Betrachtung« in einer schwülen, verworrenen, dunklen und durch und durch zerfahrenen Ausdrucksweise. Gegen Conradis Manier wetterte unter Anführung einer Stelle seiner Kritik von Engelbert Albrechts »Ger und Howa« der »Kladderadatsch« am 3. März 1889 und warf ihm vor: »Welch ein greulicher Schwefel und Schwulst!« Die saloppe, kraftgenialische, überschwengliche Darstellung ward hier zur unerträglichen Manier, und die sinnlose Fremdwörterwut Conradi meinte im Vorwort! »Gewiß: diese Schrift enthält sehr, sehr viele Fremdwörter – ob sie aber zu vermeiden waren? Der besser Unterrichtete, der tiefer und scharfer Sehende weiß Bescheid darum: das Fremdwort ist nun einmal doch – und wird es vermutlich auch bleiben – das natürliche Motivationsherz des Aphorismus. Das Fremdwort ist das Prinzip der Synthese, es hat Atmosphäre.« Früher hatte er einmal an Ernst Ziel die Fremdwörtersucht getadelt (s. Bd. II, S. 312). machte die Schrift für das große Publikum überhaupt ungenießbar. Auch die maßlosen Uebertreibungen, die kritiklosen Verallgemeinerungen und die stellenweise recht pöbelhaften Anrempeleien bekannter Personen oder ganzer Berufsstände muß von vornherein gegen Conradi einnehmen. Unter dem Wust der schlechtgebauten Sätze befindet sich aber zweifellos manches Geistreiche und Richtige, einzelne Stellen wie die Abschnitte über »Fürstentragik« (Bd. III im Wortlaut) bleiben sicherlich lesenswert, und auch die zeitpsychologische Schilderung des in Gärung befindlichen jungen Geschlechtes jener Zeit, zumal der studentischen Jugend, enthält manches Gute, wenn man sie mit ganz gehöriger Kritik liest und auf das richtige Maß zurückführt. Wenngleich jene Zeit etwas Krankhaftes an sich hatte, einen derartigen Sumpf bot das damalige deutsche Leben doch nicht dar, wie Conradi glauben machen will. Um ein wirklich getreues Bild der Zeit zu entwerfen, dazu besaß er nicht den ruhigen Beobachterblick, trotzdem er oft recht scharf sah. Er bezog alle Dinge sofort auf sich und seine Weltanschauung und gab sie dann trotz ihrer starken subjektiven Prägung als objektive Weltbilder aus. Mit der Person Kaiser Wilhelms II. beschäftigt sich Conradi nur ganz flüchtig, und eine engere, geschweige denn organische Beziehung zwischen ihr und dem Inhalte der Broschüre besteht nicht. Erst im letzten Abschnitt zeigt der Verfasser, worauf er hinauswollte, als er den Titel seiner Schrift wählte. Er erklärt: » Außerhalb seiner Generation steht unser junger Kaiser – muß er stehen –: außerhalb dieser Generation, die zu einem Teile von Plebejern und Emporkömmlingen dargestellt wird, zum anderen Teile von Unglücklichen, »Unzufriedenen«. Das Vaterland? – Nun, die »Vaterlandsliebe«, der »Patriotismus«: er ist ja heute noch das Privilegium der Besitzenden, der besitzenden Plebejer. Frieden ist Stagnation, Verkrampfung, Inzucht – bei den heutigen Bedingungen kaum mehr erträglich. Doch die Zukunft, vielleicht schon die nächste Zukunft: sie wird uns mit Kriegen und Revolutionen überschütten. Und dann? Wir wissen nur: die Intelligenz wird um die Kultur – und die Armut, das Elend: sie werden um den Besitz ringen. Und dann? Wir wissen es nicht. Vielleicht brechen dann die Tage herein, wo das alte, eingeborene germanische Kulturideal, allem Semitismus, seinem gefährlichsten, seinem immanenten Feinde zum Trotz, sich zu erfüllen beginnt. Vorher jedoch wird diese Generation der Uebergangsmenschen; der Statistiker und Objektssklaven; der Nüchternlinge und Intelligenzplebejer; der Suchenden und Ratlosen; der Verirrten und Verkommenen; der Unzufriedenen und Unglücklichen – vorher wird sie mit ihrem roten Blute die Schlachtfelder der Zukunft gedüngt haben – und unser junger Kaiser hat sie in den Tod geführt. Eines ist gewiß: sie werden uns zu Häupten ziehen in die geheimnisvollen Zonen dieser Zukunft hinein: die Hohenzollern. Ob dann eine neue Zeit ihrer noch bedürfen wird –? Das wissen wir abermals nicht. –«
Es ist wohl kaum zweifelhaft, daß die Broschüre, soweit sie Tatsachen verzeichnet und kritisiert, nur einen bedingten Gegenwartswert besaß und auch als Zeitdokument nicht unbestritten bleiben kann. Zeitpsychologisch bedeutungsvoll und zukunftweisend erscheint aber die darin kundgegebene Weltanschauung Conradis. Er, der in den »Phrasen« immer noch zwischen Aristokratie und Sozialismus geschwankt hatte, stellte – wenngleich verschwommen – sein Zukunftsideal auf, das des modernen Individualismus. Graf Gobineau und Friedrich Nietzsche, dem er jetzt übrigens selbständiger denn früher gegenüberstand (s. Bd. III), waren seine Meister, und was 1890 Langbehns sensationelles Buch: »Rembrandt als Erzieher« in klarerer Weise dem deutschen Volke sagte, das hatte der »große, unglückliche, vaterländische Träumer« Conradi So nennt ihn die »Gesellschaft« 1890, Bd. 3, S. 1071. in seiner Schrift wenigstens auszusprechen versucht. Er besaß die feine Witterung für den Wandel, der sich im deutschen Geistesleben vorbereitete. Er fühlte, daß der die Gemüter damals bannende Sozialismus nicht die unbestrittene Zukunftsherrschaft besäße, er meinte: »Der Sozialismus ist die kurzangebundene, brutale Fassung des Lohnproblems, des Problems vom Verhältnisse zwischen Arbeit und Ertrag, d. h. das dargestellte Problem eines gerechten, vernunftgemäßen Verhältnisses zwischen beiden Koeffizienten des Lebens. Der Sozialismus studiert allerdings vorläufig Philosophie, Geschichte, Naturwissenschaften durchaus nicht aus »objektivem« Interesse, sondern aus den ganz verdammt »subjektiven« Gründen und Zweckabsichten: auf diesen Gebieten des menschlichen Wissens und Arbeitens belegendes, begründendes, ausführendes Material für seine praktischen Prinzipien, wie für seine idealen Theoreme zu erheben. Er interessiert sich für Kunst und Literatur – und von diesem Interesse kann überhaupt auch nur in den einzelnen Fachvereinen und Fortbildungsgruppen die Rede sein – beileibe nicht, um ästhetische Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn die Millionen, die den Sozialismus darstellen, nicht am Hungertyphus krepieren, so müssen sie eben auch gerade so viel arbeiten, als sie bei der ungerechten Ablohnung nötig haben, um sich in puncto Nahrung und Kleidung nur über Wasser zu halten.«
So betrachtete Conradi den Sozialismus lediglich vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus, als Weltanschauung vermochte er ihn nicht zu erfassen, ja er behauptete, die richtige Auffassung zu vertreten und »noch genug nationalökonomisches und philosophisches Pulver auf seinen Pfannen zu haben, um seinen Standpunkt entschieden und entscheidend behaupten zu können«. S. E. M. Kafka: Vom modernen Individualismus. Moderne Dichtung. 1890. S. 572 f.
Conradis Gedanken vom modernen Individualismus waren zu neu und eigenartig, um sofort – zumal bei ihrer wirren Darlegung – vom Publikum verstanden zu werden. Man hielt sich an die Aeußerlichkeiten, nahm sich nicht die Mühe, seinen allerdings oft merkwürdigen Gedankengängen nachzuspüren. Man fühlte nicht, daß die maßlose Verurteilung der Gegenwart und der Wunsch nach Vernichtung des lebenden Uebergangsgeschlechtes nur von dem heißen Sehnen nach dem Kommen einer Zeit diktiert wurde, wo man die Rechte des Individuums wieder mehr achtete als in jener vom Sozialismus beeinflußten Zeit. Man glaubte, Conradi wolle weiter nichts als Vernichtung alles Bestehenden, eine schrankenlose Herrschaft des Individuums und ein rohes Ausleben aller menschlichen Triebe und Leidenschaften à la Adam Mensch. Von diesem Standpunkt ging ein Teil der Kritik aus, Bekannt sind mir folgende Kritiken: Magdeburger Ztg. vom 20. September 1889 (Verfasser W. Jensch); Deutsche Blätter 1889, S. 319 f. (Besprecher: Franz Wichmann); Moderne Dichtung 1890, S. 53 f. (Besprecher: E. M. Kafka); Die Gesellschaft 1890, S. 309 (Besprecher: Otto Julius Bierbaum). Das Volk (das Organ Stöckers) s. Gesellschaft 1890, S. 1071. und die Magdeburger Zeitung meinte verurteilend: »Conradi will ernst genommen sein; am besten aber wird er doch bei den Lesern fahren, denen es gelingt, dieses ganze wüste Titanengebaren, diese Freude am betäubenden Schellengeklingel der Phrase, diese kindische Freude an glitzernden, schillernden Orakelsprüchen in den ›Beziehungswinkel unfreiwilliger Komik‹ zu rücken.« Lobender äußerten sich die Jüngeren über die Schrift. Franz Wichmann meinte: »Die herben Worte Conradis werden vielen, vielen in Deutschland wehe tun, aber es gibt Krankheiten, die nur durch rauhes Eisen geheilt werden können. Wer einstigen Sieges gewiß sein will, darf die Wunden nicht scheuen. Es ist eine liebende Hand, die sie dem Vaterlande schlägt. Wer nicht mitläuft in der dumpf brütenden Herde, sondern sich eigenes Denken und Fühlen bewahrt hat, der wird mit freudiger Zustimmung die kernige, eisenscharfe Broschüre Hermann Conradis wieder und wieder lesen.« Als unbedingter Lober des Büchleins zeigte sich E. M. Kafka, nur bemerkte er, daß er Gegner der individualistischen Weltanschauung sei. Bei aller Anerkennung manches Guten erklärte dagegen Otto Julius Bierbaum, er müsse die »mit allerdings genialen psychologischen Exkursen« untermischte »Sammlung von Wortdelirien« beklagen; es wäre ihm unmöglich gewesen, »auch nur die Hälfte dieses wüsten Buches zu verstehen«. Als eine Ironie des Schicksals muß es gelten, daß das Stöckersche »Volk« Conradi, den leidenschaftlichen Antisemiten, zum Juden stempelte und ihm »echt jüdische Frechheit« vorwarf.
Conradi war mit dem Erfolge seiner Schrift wohl zufrieden und schrieb jubelnd an Friedrich (16. September 1889): »Meine Broschüre muß mächtig wirken und Rumor machen – ich bekomme über Leipzig fast jeden Tag Zuschriften Auch manches wenig Schmeichelhafte ward dem Verfasser in solchen Zuschriften gesagt. So empfahl eine anonyme Postkarte an Friedrich (20. September 1889) als Honorar für die Broschüre »eine Eisblase auf den unglücklichen Schädel«. – in Berlin liegt sie überall aus, wie mir Alberti schreibt.« Seine Zukunftshoffnungen wurden immer größer. Zumal in der literarischen Jugend begann er Anhänger zu zählen, und unter ihr näherte sich besonders einer, der sich in seinen ersten Dichtungen von ihm stark beeinflußt zeigte, der junge Ludwig Jacobowski. Dieser hatte sich am 21. Mai 1889 zuerst schriftlich an ihn gewandt und gemeint: »Es gibt gewißlich noch ›literaturbeflissene Judenjungen‹, die für Ihr Wollen und Können die höchste Achtung haben, die ›tief und originell ausgestattete Persönlichkeiten‹ wohl würdigen können, weil vielleicht in ihnen auch ein Lichthauch einer solchen steckt.« Conradi ward sich seines Anhangs bewußt, und stolz schrieb er Friedrich (3. Dez. 1889): »Hinter mir steht eben ein ganzes und ein neues Geschlecht – hier sind Ideen, Probleme, Bewegungen, Tendenzen im Gange, von denen die meisten Ihrer ›modernen‹ Autoren noch keine Ahnung haben! … Ich glaube, ich befinde mich auf dem Wege totaler körperlicher Gesundung. Dann wird man schon allmählich kapieren, was meine Mitarbeiterschaft an der modernen Kultur zu bedeuten hat!« Und mit Selbstgefühl überblickte er die Schriftsteller der jüngstdeutschen Richtung und meinte (an Friedrich, 14. Januar 1890): »Und dann vergessen Sie ganz, daß ich der einzige Ihrer Autoren bin, so angefeindet ich auch sonst sein mag, der eine breite und ganze Zukunft hat, der die neue Generation hinter sich hat – der wirklich weiß, was modern ist! Bleibtreu und Walloth haben sich doch mehr oder weniger ausgeschrieben – Heiberg und Conrad sind peu à peu zu Kreuze gekrochen – wer bleibt? Alberti ist doch viel zu sehr Berliner Schriftsteller, Mensch aus zweiter Hand, wie Sie selbst gesagt, Autodidakt – nun? Liliencron ist doch zu einseitig.« In den Deutschen Blättern 1889, S. 63 f. wird Alberti von Conradi als »schriftstellerische Peripherienatur« bezeichnet, und in der Täglichen Rundschau vom März 1887 meint Conradi, Alberti sei ein »hochbegabter Schriftsteller«, aber das »eigentliche dichterische Fluidum, das dichterisch Tiefsinnige« besitze er nicht.
Das Jahr 1889 war verflossen, ohne daß Conradi seine Promotion erreicht und die in Aussicht gestellten Manuskripte geliefert hatte. Friedrich zahlte ihm das Fixum weiter, das unabhängig von früherer oder späterer Manuskriptlieferung sein und ihm ein unabhängigeres Schaffen ausgereifter Werke ermöglichen sollte. Dagegen lehnte der Verleger es nach der Beschlagnahme des »Adam Mensch« ab, größere Summen außerhalb des Fixums zu zahlen, und auf die ewig neuen Bitten um Geld antwortete er mißmutig, er wolle nicht à fonds perdu zahlen. Conradi wies darauf hin, wie schwer ihn die Zurückhaltung des »Adam Mensch« geschädigt habe, und erklärte, er sei ein Ehrenmann und werde seine Versprechungen halten. Seine Lage drohte sich wieder zu verschlimmern. Daheim bei seinen Eltern erschienen die Verhältnisse trostlos. Sein jüngerer Bruder Willy war auf die schiefe Ebene geraten; sein Vater saß mit gelähmten Füßen zu Hause mittellos und erwerbslos, da er alle Vertretungen infolge seines Gichtleidens verloren hatte. Hänichen, der im März 1890 die Zustände in Magdeburg persönlich sah, bezeichnete sie als grauenhaft und meinte von Conradi: »Es wäre sicherlich die Katastrophe eher eingebrochen, wenn er mit Augen diese Zustände gesehen. Er hätte dies sicher nicht ertragen; denn er hing mit außerordentlicher Liebe an seiner Mutter.« Und Hänichen gedachte eines Vorfalls, wohl aus der Würzburger Zeit: »Ich erinnere mich des Aufschreis Conradis, als er eines Tages den unfrankierten Brief des Vaters unter Aufstöhnen durchgelesen und am Schlusse von der Mutter nur einige Abschiedsworte findet und dazu die – – – Worte: Oh, wie mich hungert« (Hänichen an Friedrich. 19. März 1890). Seine einzige Hoffnung beruhte auf Friedrich. »Lassen Sie mich jetzt im Stich, sitze ich einfach da – mir bleibt bloß der eine Weg dann noch, den ich auch unerschrocken gehen werde: der Tod! Aber vorher erlasse ich ein Manifest an die Menschheit, das sich gewaschen hat!« Friedrich erfüllte Conradis Bitte und gewährte ihm die 100 Mark weiter, mußte aber auf jeden intimeren Briefwechsel vorläufig verzichten, solange sich die Gerichtsbehörde mit ihren Haussuchungen in die sämtlichen Angelegenheiten mischte. In seinem letzten größeren Briefe dankte ihm Conradi: »Im übrigen imponiert mir die ganze Gesellschaft mit ihrer fixen Konfiszierungs- und Spionierungs-Idee nicht im mindesten – ich bin jetzt so erstarkt im moralischen Mut und so ohne jede Menschen- und Weltfurcht, daß ich es auf alles ankommen lasse. Nur daß Sie ewig Hindernisse und Anrempeleien haben, tut mir sehr leid – Sie können fest davon überzeugt sein, lieber Herr Friedrich, daß ich Ihnen einmal nicht bloß durch Worte und auf dem Papiere, sondern durch die Tat vergelten werde, was Sie durch Ihr liebevolles Entgegenkommen an mir getan –« (21. Febr. 1890). Schon früher (am 16. September 1889) schrieb Conradi an Friedrich: »Sie wissen, wie dankbar ich Ihnen bin. Sie haben mir über die schwersten Krisen meines Lebens – im vorigen Winter – hinweggeholfen und mir nachher durch die Gewährung der Monatsraten einigermaßen Schaffensfreiheit und Lebenshoffnung zurückgegeben!« – »Wenn Sie s. Z. nicht gewesen wären, wäre mein großes Talent, das nun einmal Luft und Freiheit braucht und dem Sie allein das genährt haben, wenigstens soweit Sie vermochten – dann also wäre es verloren gewesen – wenn ich noch etwas als Künstler und Schriftsteller leiste, verdanke ich es Ihnen!«
Während so Conradi in einer Welt von Entwürfen lebte und zukunftssicher dem Kommenden entgegensah, überraschte ihn ganz plötzlich der Tod. Außer mündlichen Berichten benutze ich Hänichens Brief an Friedrich vom 12. März 1890 und Korns Brief an John Henry Mackay vom 20. März 1890. Den ganzen Winter über hatte er schon an Katarrhen gelitten, im November kam eine Lungenentzündung dazu, und als er am Weihnachtsheiligabend nach stimmungsvoll verbrachten Stunden mit Dr. Weiß heimging, zeigte sich bei ihm eine heftige Influenza, die ihn noch in derselben Nacht zwang, sich zu Bett zu legen. Aber er überstand das Leiden und konnte am 12. Januar 1890 endlich wieder aufstehen (an Friedrich, 13. Jan. 1890). Ende Februar trat dann ein heftiger Nachwinter ein mit Frost von 10 bis 12 Grad unter Null. Conradi erkältete sich, und erschreckend schnell traten bei ihm wieder die Symptome einer Lungenentzündung auf. Samstag, den 1. März war er noch frisch und gesund, am Sonntag morgen schon heiß und fiebrig. Der hinzugezogene Arzt und sein Freund Dr. Weiß, der telegraphisch von auswärts herbeigerufen ward, fanden den Zustand bedenklich. Auch Conradi selbst hegte am ersten Tage seiner Krankheit die schlimmsten Befürchtungen, ja den Glauben an seinen diesmal erfolgenden Tod, und in der Frühstunde des Sonntags (2. März) verbrannte er eine große Anzahl Manuskripte getreu seinem Wort zu Hänichen, wenn er einmal merken sollte, daß es mit ihm zu Ende ginge, würde er nichts Fragmentarisches an die Nachwelt kommen lassen. Am Dienstag trat die erste Krisis ein, darauf erfolgte Besinnungslosigkeit und bis zum Mittwoch abend geringe Besserung. Aber seine Kräfte nahmen beständig ab, seine Atmungsorgane waren zu sehr geschwächt, und außerdem stand er nach Meinung von Dr. Weiß im Anfangsstadium der Schwindsucht. Nur durch Champagner und schwere südliche Weine konnte man ihn aufrecht erhalten. Er litt furchtbare Schmerzen und rang tagelang mit dem Tode. Carl Korn, Dr. Weiß, seine Wirtin und eine Kellnerin Betty Göttler, von der er sehr hoch dachte, pflegten ihn abwechselnd. Besonders aufopfernd war letztere, sie hielt ihm bei den schweren Hustenanfällen oftmals lange den Kopf, bis er endlich etwas auswerfen konnte. Er machte die fürchterlichsten Anstrengungen zu reden, aber er war kaum zu verstehen. Einmal nur hörte Korn: »Na, ist das Jenseits präpariert, kann man sich's mal ansehen?« und dann am letzten Tage: »Ach, es ist zu langweilig!« Am Freitag erfolgte der zweite heftige Anfall, und Bluttemperatur und Puls stiegen zuletzt so hoch, daß kalte Umschläge und Eisbeutel nichts mehr halfen. Samstag, den 8. März, gegen 5 Uhr erfolgte der dritte heftige Anfall, dem ein Schlaganfall (Herzlähmung) die schlimmste Wendung gab. Und in der Abenddämmerung um 5 Uhr erlöste endlich der Tod den Kranken von seinem qualvollen Leiden. Der behandelnde Arzt stellte als Todesursache Pneumonie (Lungenentzündung) fest, die in Lungenödem (Lungenwassersucht) ausgeartet sei.
Seine drei Freunde Hänichen, Korn und Dr. Weiß standen wie niedergeschmettert am Totenbette Conradis. Sie ließen ihn, da ein anderes Bild von ihm nicht vorhanden war, auf seinem letzten Lager photographieren und nahmen ihm die Totenmaske ab.
Montag, den 10. März ward er zur letzten Ruhe bestattet. Irgendwelche Begleitung eines Geistlichen hatten seine Freunde abgelehnt, da sie nicht im Sinne des Toten sei. Der Viertelsdiener meinte, so etwas sei in Würzburg noch nicht vorgekommen, er müsse erst mit dem Bischof sprechen, und teilte endlich finster mit, daß dieser es erlaube. Es war ein schöner Frühlingsabend, als der Leichenwagen geräuschlos durch die Straßen fuhr, die drei Freunde und die Wirtin Conradis folgten in einfacher Droschke nach, und scheu wie auf das Begräbnis eines Geächteten blickte man aus den Fenstern auf diesen ungewohnten Leichenzug. Unter einer mächtigen Esche ward Conradi begraben, und einer seiner Freunde rief dem Geschiedenen Worte des Andenkens zu. Dann rollten die Schollen dumpf auf den Sarg.
Weder die Eltern noch Friedrich hatten etwas von Conradis Krankheit erfahren, jetzt traf sie wie ein Blitz aus heiterm Himmel die Nachricht von seinem schnellen Ableben. Auch die übrigen Bekannten wurden von der Botschaft überrascht, und bald bildete sich, wie es in solchen Fällen öfters vorkommt, das völlig haltlose Gerücht, Conradi habe durch Selbstmord geendet. Nach den einen hat er sich vergiftet, nach den andern erschossen, nach den dritten S. Adolf Bartels: Handbuch zur Geschichte der deutschen Literatur S. 2, 1909, S. 773, ebenso A. Biese: Deutsche Literaturgeschichte 1911, III, S. 506 und Eduard Engel: Geschichte der Deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts und der Gegenwart, 1908, S. 323. Die Nachricht von einem angeblichen Selbstmord Conradis wurde schon im Aprilheft der »Modernen Dichtung« (1890, S. 276) dementiert. ist er an den Folgen eines mißglückten Selbstmordversuchs gestorben. Genährt wurde das Gerücht offenbar dadurch, daß ein in Magdeburg wohnender Namensvetter kurz vor ihm auf tragische Weise umgekommen und eine diesbezügliche Notiz durch die Tagespresse gegangen war (an Friedrich, 6. September 1889). Auch hatte Conradi selbst ja seit Jahren mit dem Gedanken des Selbstmords gespielt, was seine Freunde allgemein wußten.
Für die literarischen Zeitgenossen bedeutete der Tod Conradis nur in bedingtem Maß ein Ereignis. Den älteren Schriftstellern stand er innerlich zu fern, als daß sie bei dem damals noch hochgehenden Kampfe zwischen den Vertretern des Alten und der Moderne ihn unparteiisch hätten würdigen können, und die von ihm gezeigte Feindseligkeit gegen ihre Bestrebungen trug jetzt dazu bei, daß sie auch bei seinem Tode schwiegen. Und da ihnen der Hauptteil der deutschen Presse nahestand, so erscheint es ganz natürlich, daß die meisten Blätter von dem Ableben Conradis höchstens kurz Notiz nahmen. Bekannt sind mir folgende Blätter: Magdeburger Generalanzeiger vom 12. März 1890 (Nachruf von Dr. Blume), Leipziger Gerichtszeitung vom 12. März 1890, Nationalzeitung vom 13. März 1890, Tägliche Rundschau vom 13.März 1890, Deutsche Presse vom 16. März 1890. Die Nationalzeitung bezeichnete ihn als ein »unausgegorenes heißblütiges Talent«, und die Tägliche Rundschau schrieb: »Der Sturm und Drang der jung-naturalistischen Schule hat sich in Conradi mit am schärfsten ausgeprägt. Ob es ihm noch beschieden gewesen wäre, sich zu einer künstlerischen Klärung durchzuringen, darf man bezweifeln; seine vorhandenen Werke (»Brutalitäten«, »Phrasen«, »Adam Mensch«) zeigen in Form und Inhalt einen geradezu trotzigen Widerstand gegen alles Maßhalten. Wir ehren sein Andenken um seines idealistischen Strebens willen, das nicht in Gefahr kam, sich an eine handwerksmäßige Schriftstellerei zu verkaufen.«
Tiefer wirkte Conradis Tod auf die Jüngeren, und wenn sich in ihre Klagen oft auch der Phrasenschwulst einschlich, so war ihr Schmerz über seinen Heimgang doch ehrlich und echt. Eine unparteiische Würdigung seines Wertes und Wesens durfte man von ihnen damals noch nicht verlangen, und das, was die jüngstdeutschen Organe wie die Deutschen Blätter, die Gesellschaft und die Moderne Dichtung an Nachrufen boten, zeigte fast lediglich, was seine Freunde in schwärmerischer Begeisterung in ihm sahen und von ihm erhofften. Deutsche Blätter 1890, Nr. 3, 4, S. 152 f.: Hermann Conradi. Von Hans N. Krauß. – Die Gesellschaft, Mai 1890: Dem Andenken Hermann Conradis. Von Hans Merian. S. 710 ff.; Das Bild Hermann Conradis. Von Mena*** (Rosalie Nilsen). S. 719 ff.; Eingesandt. Von Liliencron (Gesellschaft 1890, S. 1096). – Moderne Dichtung (Brünn) 1890: Hermann Conradi tot! Von Hans v. Basedow. S. 275 f.; Hermann Conradi. Gedicht von Karl Henckell; Zu Hermann Conradis Tod. Von Martin Weiß. S. 290 f.; Ein Brief über Hermann Conradi. Von Karl Korn. S. 340. – Münchner Kunst 1890, Nr. 11 (März): Hermann Conradi †. Von Julius Brand. S. 83 ff. – Freie Bühne, April 1890: Hermann Conradi als Lyriker. Von Otto Erich Hartleben. S. 347 ff. – Zur Guten Stunde, Heft 10, Jg. 1890: Hermann Conradi †. Von Conrad Alberti. In den Deutschen Blättern rühmte Hans N. Krauß: »Hermann Conradi war ein Dichter; freilich keiner jener Schwächlinge, kein Haus- und Hofnarr, auch kein Vergnügungskommissär jener wenigen Besitzessatten, dafür aber ein Seher und Prophet seines Volkes, wie sie nur die Zeit einer Weltwende gebiert, Künstler und Held … Fressende Not und zehrende Sorge war sein Erbteil, aber nicht eine Stunde konnten sie ihm das Streben hindern nach dem Höchsten, was Menschenkraft und Menschengeist erringen kann. All das Elend konnte ihm nicht eine Zeile erpressen, die gegen seine Ueberzeugung war. Könnt ihr das alle von euch sagen, ihr, die ihr während seines Lebens hinter ihm her waret mit Spießen und Stangen wie hinter einem wilden Tiere? Nun, er ist tot, und ihr könnt Halali blasen. Er hat es selbst gewußt, daß seines Lebens Kreis ein kleiner sein würde.
»Ja! Schrankenlos ist meiner Seele Streben –
Unstet und ruhelos mein armes Leben …«
Und Hans Merian, der Conradi schon früher in einer Broschüre Die sogenannten »Jungdeutschen« in unserer zeitgenössischen Literatur. Leipzig, 1888. Gegen ihn und Edgar Steiger (Der Kampf um die neue Dichtung. Leipzig, 1889) polemisiert Conradi in seinem zweiten »Brief aus der Verbannung«. lobend erwähnt hatte, klagte in der »Gesellschaft«: »Hermann Conradi war einer der Besten, der Edelsten, der Mutigsten unseres Häufleins. Er fiel als ein Held, die Wehr in der Hand. Er ist vorangegangen, uns die Stätte zu bereiten in Walhall. – Hermann Conradi war eine Natur, welche die Widersprüche und Gebrechen unserer ›Uebergangszeit‹ stärker und tiefer empfand als irgendeine andere. Der ›große Riß des Jahrhunderts‹ ging mitten durch sein Herz. Conradi glich einem Baume, dessen Wurzeln die geheimnisvollen Gründe der Vergangenheit umklammerten, und dessen Krone sich frei und stolz in den lichten Höhen der Zukunft wiegte. Der Stamm aber, der diese herrliche Krone trug, war leider schwach – so mußten ihn die Stürme des Lebens knicken.« Und Conradis mütterliche Freundin Rosalie Nilsen (Mena ***) sagte in ihrem Erinnerungsblatt: »Auf dem Forum der Welt gähnt heute ein Abgrund wie einst auf dem Forum Romanum. Die Erde bebt, Flammen und Rauch wirbeln drohend empor. Einen Curtius hat die gähnende Kluft schon verschlungen, wie viele Helden aber werden diesem einen noch nachfolgen müssen, ehe der schauerliche Abgrund sich schließt!«
In der Modernen Dichtung rief Karl Henckell dem geschiedenen Freunde nach:
»Leb wohl, Conradi! Hohn und Spott verschwirrt.
Du hast vollbracht, was nie vergessen wird.
Dein leidschwer Leben, deiner Jugend Pein
Soll unserm Streben Sporn zur Sühne sein.
Und schmerztreu denkend frühgefallner Fechter
Erlösen wir die keimenden Geschlechter.«
Und Martin Weiß erklärte an der Bahre des Dichters:
»Für uns bist Du nicht tot, trotz Deinem Sterben;
Wir ziehen kampffest in die Welt hinaus,
Als Deines Wollens, Deines Strebens Erben;
Als heilig Kleinod wollen wir sie ehren,
Sie gegen eine Welt in Waffen wehren!
So lebst Du fort! Ob Deinem Totenmale
Da leuchten uns, die wir uns ihnen weihn,
Stolz, unverlierbar und wie Firnschnee rein
Im Sonnenglanz die alten Ideale.«
In der Modernen Dichtung nahmen auch zwei Freunde des Verstorbenen das Wort, Hans v. Basedow und Carl Korn, und ihre Ausführungen sind charakteristisch für die große Ueberschätzung, die Conradi bei seinen Freunden zuteil ward. Hans v. Basedow schrieb:
»Hermann Conradi war ein Dichter, der in die Tiefe der Menschenseele hinabtauchte, der die verborgensten Gefühle ans Licht förderte. Er sah da noch, wo andere nicht mehr sahen, fühlte die leisesten Schwingungen, die für die Nerven anderer völlig unempfindlich, – ja, er war sozusagen ein einziger schwingender Nerv. Seine Empfindungsschwelle lag tiefer, als die anderer. Die Empfindungen der gewöhnlichen Menschen setzen erst mit dem Schwellenwerte der Empfindungsmotoren ein – das Wesen Conradis bestand darin, die unter der Schwelle schlummernden Empfindungen ans Licht zu ziehen, ja, ich möchte fast sagen – er vermochte die unter der Reizschwelle liegenden Reize offenkundig zu machen. Eine so sensitive Natur war er, halb mimosenhaft-zart, halb diamant-hart. Conradi hat in seinen Werken ein gut Teil seines Selbst gegeben – auch in ihm waren, wie in Adam Mensch, psychische Untiefen rege, deren Wesenheit zu durchschauen nur dem wahren Dichter gestattet. Conradi besaß ein Uebermaß von Gefühl, welches doch wild zerrissen, grell verachtend war. Zwei Seelen wohnten in seiner Brust. Er haßte, verabscheute die Menschheit, weil er sie liebte. Er verachtete das Leben und lebte doch gern. Er war Zyniker da, wo seine Natur am wärmsten teilnahm. Das sind jene dunklen Vorgänge, die sich unter der Schwelle abspielen. Dem reinen Psychologen ist ihre Entdeckung und Erkennung unmöglich – das ist nur dem psychophysischen Dichter gegeben, der das Seelenleben aus der Empfänglichkeit des Nervensystems, aus den Wärmegraden des Hirns erklärt. Ein solcher Dichter war Conradi, der sich selbst zum Beobachtungsobjekte machte. Sein Empfinden war lauter, und doch zerfetzt, zerfahren – weil er ein moderner Mensch war, nicht ihn trifft die Schuld, sondern das Leben, den Zeitgeist – er lebte in einer Zeit, in die er nicht hineinpaßte. Er dachte zu tief über das Leben nach, ohne zu fühlen, daß unser Leben nur dann erträglich, wenn man nicht darüber nachdenkt. – Was gibt denn der Dichter wieder? – Das, was seine Nerven befähigt sind aufzunehmen und auf das Gehirn zu übertragen, das, worauf die Nerven reagieren. Hierin liegt Conradis Wesen. Er erstand in einer Epoche der sich klärenden Unklarheit, seine Werke spiegeln das Unsichere wider. Er ist ein getreuer Schilderer seiner Zeit – aber er blickte auch hinaus über seine Zeit, nicht phantastisch-mystisch, sondern spekulativ, ausgehend von der Vergangenheit, an der Hand gegebener Analogien, den Entwicklungsgang überschauend und ergänzend. – Hermann Conradi ist Naturalist in des Wortes reinster Bedeutung, d. h. er ist Phänomenalist, denn in anderem Sinne gibt es keinen künstlerisch berechtigten Naturalismus. Absolute Wahrheit ist im Kunstwerk nur in sehr beschränktem Sinne möglich, nur die Wahrheit der Phänomene ist zu fordern. Conradi ist solch ein Phänomenalist, ein Dichter, der seine Motive und Motoren in die Seele ( spiritus agens) verlegt, der also rein psychophysisch verfährt. Die Seele beruht auf der Innervation äußerer Eindrücke, sie ist die Reaktion des Hirnes auf einen innervierten äußeren Anstoß. So schuf Conradi, so motivierte, so ziselierte er die geringste Kleinigkeit seiner Werke.«
Noch überschwenglicher als v. Basedow äußerte sich Carl Korn über seinen toten Freund: »Hätte der Tod unseren Freund mitten aus seiner Entwicklung herausgerissen, wie z. B. Georg Büchner, so könnten wir in der Tragik dieses Schicksals eine gewisse individuelle Erlösung finden. Aber der Fall liegt tiefer, außerhalb der Peripherie der ästhetischen Sentimentalität; hier wurde ein vollständig fertiges Leben, eine breit angelegte Ideenwelt einfach niederbrutalisiert, ein Baum in der glühenden Reife seiner Früchte niedergeschmettert. – Und dann: nicht irgendein Künstler, irgendein Literat ist da gestorben – hier starb vielmehr der Künstler-Prophet, der philosophische Pädagog der zukünftigen Generation. Hätte Conradi nur noch ein paar Jahre leben und jene Werke, deren Plan bereits vollständig konzipiert in seinem Gehirn bereitlag und zu welchen seine vorhandenen Schriften die bloße Ouvertüre bildeten, schaffen dürfen – er hätte sich als Repräsentant einer gewaltigen neuen Kultur manifestiert, einer Kultur, die sich in unsern Tagen abseits vom Wege aufgebaut hat und von der die guten Leute um uns herum keine Ahnung haben. Halten Sie dies nicht für das subjektiv gefärbte, übertreibende Urteil eines trauernden Freundes. Ich werde Gelegenheit haben, Wort für Wort diese Apotheose durch Dokumente zu belegen und zu beweisen. – Die künstlerische Gestaltung dieser Weltanschauung ist nun mit Conradi für immer verloren – sie in ihren Ideen festzuhalten, zu begründen in gewissem Sinne, und zu vertreten ist uns, seinen Freunden, aus einem Herzensbedürfnis zur ersten Pflicht geworden.«
Auch Otto Erich Hartleben, der mit Conradi lange in bitterer Fehde gelebt, senkte an der Bahre des Toten seinen Degen und widmete ihm in der »Freien Bühne« einen anerkennenden Nachruf, worin er sagte:
»Wer diesen Dichter – denn ein solcher ist er gewesen – je gekannt hat und sich seiner eckigen, aber scharfumrissenen Individualität erinnert, den muß die Tragik dieses jähen Endes, die marternde Ironie dieses Ausgangs ergreifen. Ungemeßne, durch keinerlei Enttäuschungen je zu zerstörende Hoffnungen barg seine Brust: Die Zukunft war ihm das Reich der Erfüllung nicht nur aller idealistischen Forderungen, welche sein Sinnen und Trachten beherrschten, sondern auch seiner eigenen, heißen Lebenswünsche. Und dieser ›Zukunftsmensch‹, der auch sein ganzes Empfinden und Handeln nur mit dem Maßstab der Zukunft gemessen haben wollte, er mußte einer tückischen, schnell hinraffenden Krankheit in einem Alter erliegen, da ihm kaum die ersten Blütenträume reiften. Mag man über den ästhetischen und moralischen Charakter seiner Erscheinung denken, wie man will, einer Teilnahme an seinem plötzlichen Tode wird sich niemand entziehen können. – Conradi war gewiß alles andere, nur kein ›Realist‹. Diejenigen also, welche heutzutage ihr Urteil lediglich mittels dieses Schlagworts regulieren, müssen ihn schlechthin verwerfen. Für andere aber wird Conradi immer ein Dichter heißen. Die blutlosen Unflätigkeiten, welche er als ›Brutalitäten‹ hat drucken lassen, der bis zum Blödsinn lebensunwahre psychologische Mystizismus seiner beiden ›Romane‹, das schnurrige Fremdwörtermosaik seiner Broschüre ›Wilhelm II. und die junge Generation‹ – alles das brauchte für mich gar nicht zu existieren – es stört mich aber nicht in meiner Bewunderung für den Dichter der ›Lieder eines Sünders‹, für den Lyriker Hermann Conradi … Die ›Lieder eines Sünders‹, soweit sie eben nicht direkt etwas ›bedeuten‹ sollen, d. h. soweit sie naiv sind, erscheinen als rückhaltlose Selbstbekenntnisse eines unsagbar unglücklich veranlagten modernen Rebellen, gegeben mit einer großartigen Sprachvollendung. Diese letztere ist um so bemerkenswerter, um so auffallender, je häufiger wir Conradi im Kampfe mit Geschmacklosigkeiten beim Prosaschreiben unterliegen sehen. Seine Sprache war eben der Vers, es ist ordentlich, als ob er erst in der gebundenen Rede zur Natur, zur Einfachheit, zur Besonnenheit in der Diktion durchdringt …«
Am sachlichsten urteilte von allen Jüngeren wohl der Münchner Freund Conradis Hillebrand (Julius Brand) in der »Münchner Kunst«. Er schrieb:
» Hermann Conradi. Er zählte erst 27 Jahre – welche Summe von Entwürfen und Hoffnungen ist mit ihm zu Grabe getragen, denn sein dichterisches Talent war echt und stark, und sein Geist wühlte sich immer tiefer und energischer ein in die Probleme der Gegenwart, ›der Uebergangszeit‹. Seine Lyrik ist gedankenvoll und formschön. In mächtigen Rhythmen flutet sie dahin, bald in majestätischem Zorn die Dämme der Konvention zerreißend, bald im weltverlorenen Liebestraum in sich versinkend. Aber wie ein selbstherrlicher König thront über seinen Liedern der freie Gedanke. Er war in einem Grade wie vielleicht keiner der jüngern Realisten ein Kind unserer Zeit. Sohn armer Eltern, mit fast krankhaft feinem Nervensystem begabt, stand er zeitlebens zwischen Proletariat und Bourgeoisie, beide übersehend, aber weder im einen noch in der andern festen Halt findend. Ein Anhänger Nietzsches, verlor er sich mit jedem Jahr tiefer in den Irrgarten der Spekulation. Er betrachtete es als die Aufgabe seines Lebens, den Uebergangsmenschen darzustellen – seine beiden erschienenen Romane › Phrasen‹ und › Adam Mensch‹ sollten nur die Ouvertüre dieser großen, das moderne Leben in seinen intimsten Fasern erfassenden Romankomposition sein. Kühner wie in den Phrasen ist die geistige Disziplinlosigkeit, der wie ein Samum Herz und Geist ausdorrende Skeptizismus der jungen Generation nicht offenbart worden. Kühner, rücksichtsloser wie in ›Adam Mensch‹ ist der kleinlich klügelnde Egoismus, ist die sexuelle Raubgier, kompliziert durch eine höchst modern-nervöse Mimosennatur, niemals dargestellt worden. Sein ›Wilhelm II. und die junge Generation‹ faßt in großen Zügen, einseitig aber blendend und sehr oft erhellend, wie eine Momentphotographie die hippokratischen Züge unseres Jahrhunderts auf. Alle Bücher Conradis überraschen durch ihren psychologischen Scharfsinn, packen durch ihre oft dämonisch tiefe Kenntnis des modernen Menschen, zeigen eine glänzende Kunst der Plastik; aber alle sind mit Ausnahme der Lieder zersetzt von Analyse, Skeptizismus und Selbstironie. Seine Gedichte zeugen auf jeder Seite vom mächtigen Talent des Verfassers – Conradi hatte Individualität durch und durch, was man von wenigen der modernen Lyriker sagen kann, er beherrschte die Sprache mit virtuoser Leichtigkeit, keiner der jung-realistischen Dichterschule erreicht ihn, was lyrische, unmittelbar aus der Gedankenesse hervorlodernde Pracht und Glut der Form betrifft. Und der Lyriker Conradi wird es sein, der fortlebt als Zeuge unserer krankhaft vibrierenden, widerspruchsvollen Zeit.«
Für Conradi selbst hatte der Tod das Gute, daß er ihm ersparte, den Ausgang seines Prozesses zu erleben. Am 23., 26. und 27. Juni 1890 fand die Hauptverhandlung über die drei inkriminierten Romane: »Der Dämon des Neides« von Wilhelm Walloth, »Adam Mensch« von Hermann Conradi und »Die Alten und die Jungen« von Conrad Alberti statt. Es ist hier nicht der Ort, ein Urteil über alle genannten Werke abzugeben, welche zu diesem für die Literaturgeschichte wichtigen Realistenprozeß Veranlassung gaben. S. C. Alberti: Der Realismus vor Gericht. Sonderabdruck aus der Gesellschaft. 1890. – Wolfgang Heine: Das Leipziger Autodafé. Moderne Dichtung. 1890, S. 565 ff. – Ernst Kreowski: Strafgesetz und Schriftsteller. Münchner Kunst. 1890, S. 216 f. (9. Juli). Die drei Romane waren bei W. Friedrich erschienen. Wenn auch der Staatsanwalt, wie man erzählte, das Ziel dabei verfolgt haben soll, »das jungdeutsche Wespennest auszuräuchern«, zweifellos mußte er nach erfolgter Denunziation pflichtgemäß gegen die Romane einschreiten, wenn er die Anzeige für gerechtfertigt ansah. Gewiß hatte Conradi in seinem »Adam Mensch« manche heikle Situationen geschildert, was im Hinblick auf den damals noch in der Hauptsache herrschenden literarischen Geschmack etwas Ungeheuerliches und Kühnes war, aber er hatte dabei nicht mehr oder weniger getan als was vor ihm die Dichter (auch die deutschen Klassiker und Shakespeare) als ihr gutes Recht angesehen. Nur in einem war er über sie hinausgegangen: indem er bei der Erwähnung von Christi Kreuzestod einen zweifellos unpassenden Ausdruck gebrauchte, machte er sich nach landläufiger Anschauung einer Gotteslästerung schuldig. Allerdings dürfen wir ihm durchaus glauben, daß er das beanstandete Wort, das vom Anfang an im Manuskript stand und trotz Vorstellung eines Freundes von ihm nicht geändert wurde, keineswegs in böswilliger Absicht gebracht hat. Er wollte vielmehr nur versuchen, unter Zurückgehen auf die alte, viel plastischere Bedeutung des Ausdrucks eine höchst lebendige Vorstellung von dem Leiden des sterbenden Heilands hervorzurufen, Die Anklageschrift sagt darüber: »Wird es ihr öfter nicht doch zu Sinn, als müßte sie aufspringen, einmal laut – laut aufschreien – aufschreien, wie Jesus, ehe er am Kreuze … –! Der Ausdruck … wird nur vom Tier, und auch da, – im Gegensatze zu ›verenden‹ nur im wegwerfendsten Sinne gebraucht. Angewandt auf die Person Christi und dessen Opfertod, bringt das Wort in der Gleichstellung jener Verehrung und Heilighaltung erfordernden Persönlichkeit mit den niedrigsten Kreaturen der Schöpfung, Verachtung des Heiligen zum Ausdruck; enthält demnach obige Satzverbindung eine in beschimpfenden Aeußerungen erfolgte Lästerung Gottes. Daß die Lästerung öffentlich erfolgt ist, und dadurch Aergernis gegeben wird, bedarf keiner weiteren Darlegung.« (Der Realismus vor Gericht. S. 5.) Hierzu sagt Conradi in den handschriftlichen Bemerkungen: »Staatsanwaltschaftliches Frage- und Antwortspiel«: »Von einer bewußten Brüskierung, die sehr geschmacklos und fad gewesen wäre und tausendmal schärfer hätte gegeben werden können, wenn sie beabsichtigt gewesen wäre, kann keine Rede sein. Der Zusammenhang ergibt, daß der Ausdruck nur aus einem tiefen unwillkürlichen Mitleidsaffekt heraus gebraucht ist! Er hat an sich durchaus nichts Unehrerbietiges, drückt vielmehr nur das furchtbare Schicksal eines Menschen aus, der von allen verlassen allein und hilflos eben – …!! Und gerade das qualvolle, ungerechte Sterben und Zu-Tode-gemartert-werden Christi am Kreuze möchte bei Berücksichtigung aller Verhältnisse, die tatsächlich vorliegen, einen derartigen Ausdruck verdienen, wenn es in seiner ganzen Entsetzlichkeit vergegenwärtigt werden soll. Uebrigens erklärt der Zusammenhang, in dem das Wort gebraucht ist, jedem, der absichtlich nicht anders sehen will, den Sinn, der hier allein Geltung haben kann, vollständig!« Außerdem vergleiche man die schöne, von echter Freundschaft zeugende Aussage Hans Merians und das Gutachten von Dr. Rudolf Kleinpaul beim Realistenprozeß (s. Der Realismus vor Gericht. S. 37-41). zu dem er auch jetzt noch, wie die schönen Ausführungen in seiner Broschüre bewiesen (s. Bd. III.), mit großer Verehrung emporblickte. Seine Mißachtung des herrschenden Sprachgebrauchs mußte er schwer büßen, und diesem Verstoß hatte er es mit zu danken, daß sein Roman durch Richterspruch am 27. Juni 1890 zur Einziehung und Vernichtung verurteilt ward.
Von seinen literarischen Zeitgenossen ward Conradi schnell vergessen. Wohl schmückten seine Freunde und Mitkämpfer auf dem Würzburger Friedhof sein Grab mit einem schlichten Gedenkmal, S. den Aufruf in der »Gesellschaft« (1890, S. 1564). dann aber nahm sie der literarische Tageskampf voll in Anspruch. Nur der eine oder andere gedachte seiner länger, und Hermann Bahr prophezeite gar, in hundert Jahren werde man den Abschnitt der neuesten Literaturgeschichte, der das zwanzigste Jahrhundert beginne, von Conradis Namen aus datieren. S. Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte 1893, IV. 1a, 9 (Verfasser Adolf Stern). Wolfgang Kirchbach lieh in seinem Roman »Der Weltfahrer« seinem Conrad Hermann manche Züge des verstorbenen Conradi, Adolf Bartels, der ihm 1893 in der Frankfurter Didaskalia ein Erinnerungsblatt widmete, verschmolz ihn und Hartleben in seinem »Dummen Teufel« zu einer Figur, Karl Henckell behandelte ihn in einer kleinen, liebevollen Studie in seinen »Modernen Dichterabenden« Zürich 1895. Auch in der Sammlung »Sonnenblumen« widmete Henckell dem Toten eine besondere Nummer., und Edgar Steiger schrieb über ihn verständnisvolle Worte im ersten Bande seines Werkes: »Das Werden des modernen Dramas« (1898). In den wissenschaftlichen Literaturgeschichten spielte Conradi nur eine wenig bedeutende Rolle, und erst in neuerer Zeit wandte man sich ihm wieder mehr zu. So versuchte 1899 Arthur Moeller-Bruck eine eingehende Würdigung in seinem Bändchen »Neutöner« (Berlin), M. G. Conrad gab die »Liebesbeichte« (zwölf Briefe und zwei Postkarten an Margarethe Halm) heraus (zuerst in der »Gesellschaft« 1900, dann Eisenach. 1909) und Carl Fr. Schulz-Euler veröffentlichte ein Conradisches Manuskript in Buchform: »Friedrich Hebbel in seinen Tagebüchern«. Frankfurt a. M. 1908. Kürzlich habe ich festgestellt, was dem Herausgeber unbekannt war, daß die Conradische Studie in völlig gleicher Gestalt bereits im »Magazin« (1887 S. 318 ff.) abgedruckt ist. Aber tiefere Spuren hat Conradi sonst nicht hinterlassen, und so schien sich seine Ahnung voll zu bewahrheiten, daß man ihn bald allgemein vergessen werde (Bd. I, Seite 77).
Frühzeitig war Conradi durch den Tod aus seiner Bahn gerissen worden. Was ging mit ihm zugrunde? Diese Frage erhebt sich an seinem frühen Grabe. Zweifellos starb in ihm eine eigenartige Persönlichkeit, ein echtes Ergebnis einer an Keimen so reichen Uebergangszeit. »Ich bin nun einmal eine Natur« – sagte er von sich selbst (Bd. I, S. 43) – »die auf das geharnischte Zusammenspiel der Kontraste hin gestimmt ist … Die Gegensätze der Zeit in ihrer ganzen tragischen Wucht und Fülle, in ihren herbsten Aeußerungsmitteln zu empfinden: dafür bin ich nun einmal besonders disponiert.« Er fühlte in sich die ganze Macht der Vergangenheit, aber er spürte auch schon das Wehen einer neuen Zeit. In einer Epoche des gewaltig wirkenden Sozialismus vertrat er kühn einen ausgeprägten Individualismus, ja er war in der deutschen schönen Literatur dessen erster Herold, ehe die Philosophie Nietzsches ihren Siegeszug antrat. Er fühlte sich durchaus als »Pädagogen der Zukunft«, als den Führer einer sozialkünstlerischen Bewegung, von der er erhoffte, daß sie die deutsche Kultur um- und neuschaffen würde.
Auch als Künstler nahm er durchaus eine Sonderstellung ein. Mitten in einer Zeit, wo der Naturalismus zur Blüte kam, die Objekte herrschten und die Individualität des gestaltenden Dichters von ihnen zurückgedrängt wurde, bezog er als Individualist alle Objekte auf sich und schuf mehr in dionysischem Rausche aus den tiefsten seelischen Abgründen seines Innern heraus das von ihm Geschaute zur dichterischen Wirklichkeit um. So war er alles andere als ein Naturalist trotz vieler Kraßheiten. Das zeigte seine Lyrik, das bewies auch der »Pseudorealismus« seiner beiden Romane. Er selbst faßte seine Richtung als »psychologisch-romantisch-imperatorischen Notwehr-Realismus« auf – ein Begriff, den er in seiner Broschüre »Wilhelm II. und die junge Generation« eingehend erläuterte (s. Bd. III.). Zu einem vollen Ausreifen kam er nicht. Möglich ist es – und sein »Adam Mensch« und seine letzte Novelle »Unterm Nußbaum« deuten darauf hin –, daß seine künstlerischen Gaben noch entwicklungsfähig waren. Unvergängliches hat er nur in einzelnen seiner Gedichte geschaffen; was er sonst hinterließ, blieb ein Bruchstück, das der Nachwelt wohl Rätsel aufgab, aber nichts zu ihrer Lösung beitrug.