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Einleitung.

Heute sind die jungen Literaten ja anders! … Aber um 1880 herum waren es noch tolle Feuerköpfe, die sich ihrer Unreife nicht schämten – kampfgewandt, organisiert, zielbewußt. In wenigen Jahren hatten sie die alte Epigonenwelt zusammengedroschen und eine neue, die zwar nur provisorisch sein konnte, aufgerichtet. Ohne viel Schönheit und Anstand; nur daß sie der Zeit und der Richtung des deutschen Volkes entsprach, das sich in blutigen Kriegen trotzig sein Selbst bewahrt, den uralten Traum der Einigung mit ehrlichem Wirklichkeitssinn in die Tat umgesetzt hatte, als neue, imposante Macht so den Nationen gegenübergetreten war und nun im Kulturwettstreit Sieg reihte an Sieg. Unendliche Entwicklungsmöglichkeiten eröffneten sich; Städte schossen in die Höhe, überall schienen Fabriken über Nacht aus der Erde zu wachsen – gewaltige Maschinen bemächtigten sich des Lebensrades und begannen es mit beängstigender Geschwindigkeit zu drehen. Da allerdings mußten Menschenhände zu Millionen entbehrlich werden, da wurde der Sinn der Arbeit entwertet und einem stumpfsinnigen Handlangertum Tür und Tor geöffnet – da irrten Hungernde und Grollende durch die finster gewordenen schmucklosen Straßen – – ein unbekanntes Gespenst trat auf: Die soziale Frage. Neue Sorgen, neue Kämpfe – erbitterter, schwieriger, hoffnungsloser, weil es die eigene, noch etwas unerfahrene, von der Zeit übermannte Seele galt! …

Bloß ein Gebiet war von all dem unberührt geblieben: die Kunst – eine Welt für sich, aber weit verästelt und verknüpft mit den Lebensansichten der Gebildeten. Eine Schattenkunst, die von dem nachgelassenen Erbe der Klassiker zehrte, sich in holden Träumen erging, »poetisch« war – inmitten der rasenden und stampfenden Maschinen. Eine Kunst, die Vogel-Strauß-Politik trieb, indem sie sich vor der vollkommenen Technik und ihrer Folgeerscheinung, der ungelösten sozialen Frage, verkroch. Also ein unbrauchbares seniles Monstrum, das sicherlich nur aus Versehen das eiserne Jahr 70 überstanden hatte!

Und nun erschien das junge Geschlecht – aufgewachsen in dem neuen Milieu, von seinen Bedingungen durchdrungen. Es sah die soziale Not, die Ohnmacht der Kunst, die doch Lebensführerin sein sollte, – – es begann den Kampf mit der gleichen Energie der Maschinen, die die feinsinnigen Gebildeten so in Schrecken gesetzt hatten. Und im Handumdrehen drang man durch, pflanzte ein Banner auf und triumphierte. – –

Doch dann zogen die Jahre ins Land; die Kämpfer wurden reifer und ruhiger. Sie gingen ihren eigenen Interessen nach – neue »Richtungen« kamen auf in der Kunst – – jetzt zeigte es sich erst, wie sehr diesen Leuten ein ständig dominierendes Genie fehlte.

Das Banner vereinsamte, und heute wissen wir kaum, wer es in die Zukunft tragen wird.

 

Es ist vielleicht etwas kühn, in dem frühverstorbenen Hermann Conradi dies schmerzlich entbehrte Genie sehen zu wollen. So wie er als einer der jüngsten Kämpfer auftritt, ist er allerdings von einer unglaublichen Unreife – nur so, wie er stirbt, scheint er voller Verheißungen. Aber wie er damals sich als geistiger Führer (nicht als Propaganda-Mann – da gab es andere reifere Männer) zu behaupten wußte, möchte man annehmen, daß es ihm auch in Zukunft geglückt wäre. Und wie er sich in den wenigen Jahren seines wirklich ernsten Künstlertums, in denen er nach vielem Ringen den eigenen Ton fand, überraschend schnell entwickeln konnte, – warum hätte er da später nachlassen sollen, wo er doch nachgewiesenermaßen zehnmal soviel an Kraft und Ausdauer besaß wie die anderen, die sich nach ihm richteten – bewußt an ihn anknüpften?

Im Vorspiel der Tragödie ist er gefallen. Er gilt als ihr Symbol; er ist das Dramolett im Drama: im voraus hat er es seinem ganzen Umfange nach in eigener Brust durchzukämpfen, ohne Beistand – ein zarter sentimentaler Jüngling, der sich kaum von der Heimatstradition losgerissen hat, mit allen Symptomen des Uebergangsmenschen behaftet. Schließlich befällt den Hilflosen eine unnatürliche Berserkerwut; seine Ungezogenheiten, seine unbegründeten Zynismen gehen ins Ungeheuerliche. Zum Problematiker ist er verdammt, zum Prellstein zwischen zwei Zeiten – wie etwa Christian Günther oder Lenz. Und unerbittlich genug: das Opfer scheint nötig zu sein, um dem Unbekannten zum Sieg zu verhelfen. Ein einzelner mußte erst die neuen Probleme innerlich durchkämpfen, erproben und in praktische Formeln umsetzen; eine Bresche mußte geschaffen werden! Wie in der Schlacht ein Soldat vorstürmt und das feindliche Bollwerk in die Luft sprengt, damit die anderen durchdringen können – über seine zerrissene Leiche hinweg. Bei uns freilich durfte das kein beliebiger »Gemeiner« sein; dieses große Opfer zum Wohle einer neuen Zeit erforderte einen wirklichen ausgezeichneten Helden, den Besten unter den Besten. Und da hatten eben die jungen Naturalisten ihren vorläufig einzigen Führer herzugeben!

Conradi ist sich seiner Bestimmung vollauf bewußt; tapfer weiß er zu sterben und weiß auch den Gedanken zu ertragen: in dem allgemeinen Durcheinander vergessen zu werden. Es ist möglich, daß er früher, als er im stillen berechnete, niedergerissen wurde – seine Krankheit, die ihn von Kind auf begleitete, kam dazwischen! Hätte er seine Bahn beschließen können, wäre es ihm sicherlich doch noch möglich geworden, sein Werk wenigstens für die nächsten Jahrzehnte zu sichern. So liegt es gänzlich verschüttet; und so ist das Leben seines Schöpfers fast zu einer Sage geworden. Grausames unverdientes Geschick! …

 

Derjenige, der den Gedanken anregte, der Nachwelt das Fragment des Unglücklichsten der jungen Generation zu erhalten, war ihr glücklichster heiterster Genosse – Otto Julius Bierbaum. Nun ist auch er diesem Unglücklichen in den Tod gefolgt; und dieses Buch, an dessen Entstehung er so lebhaften Anteil genommen, mußte ohne sein Geleitwort fertiggestellt werden. – Geplant sind fünf Bände, von denen zunächst drei der Öffentlichkeit übergeben werden. Sie bringen Conradis Lyrik, die der Allgemeinheit bis auf die »Lieder eines Sünders« zum großen Teil unbekannt geblieben ist, die »Faschingsbreviere«, die Romane, die verstreuten Novellen und die essayistischen Schriften. Alles, was Conradi geschrieben hat, zu sammeln, war natürlich unmöglich! Von seinen Briefen bringt die im ersten Band erscheinende Biographie eine große Anzahl charakteristischer Proben.

Berlin, im März 1910.
Gustav Werner Peters.


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