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Wenn dem Mäzli zuweilen die Zeit etwas lang wurde, fielen ihm plötzlich allerlei Persönlichkeiten ein, die ein dringendes Verlangen nach seiner Gesellschaft empfinden könnten. In allen diesen Tagen war es sehr mit der Unterhaltung der Leonore beschäftigt gewesen; denn während der Schulstunden der Geschwister war es ihre einzige Gefährtin und empfand es als grosse Pflicht, Leonore in unausgesetzter Kurzweil zu erhalten, wobei es selber auch darin verblieb. Nun waren einige Ferientage für die Geschwister eingetreten, und Leonore war so von ihnen allen umgeben und hauptsächlich jeden Augenblick des Tages so von Mea in Anspruch genommen, dass das Mäzli ganz ausser Tätigkeit gesetzt war. So lief es schon am ersten Ferientag der Mutter den ganzen Tag lang nach mit der Versicherung: »Heute muss ich wirklich einmal die Apollonie besuchen, sie erwartet es schon lange, und Loneli ist gewiss ganz traurig, dass ich so lange nicht komme.« Endlich gab die Mutter Gehör und erlaubte es für den Nachmittag.
Auf seiner Wanderung zu Apollonie kam dem Mäzli noch mehreres in den Sinn. Kaum war es denn auch bei der alten Freundin angelangt und hatte sich auf sein Stühlchen zu Loneli hingesetzt, das gar nicht traurig aussah, sondern sehr lustige Augen machte, sagte Mäzli gleich: »Heute muss ich dann auch noch den Herrn Schlossvogt besuchen, das habe ich so lange vergessen, und ich habe es ihm versprochen.«
»Nein, nein, Mäzli, wir haben viel anderes zu tun«, sagte die Apollonie ablenkend, »wir müssen nachsehen, ob die Pflaumen am Bäumchen dort in der Gartenecke schön blau werden, und zu den Hühnern müssen wir gehen, denk, da sind junge Hähnchen gekommen, die musst du nur einmal sehen, da willst du nicht mehr weg von ihnen.«
»Doch, nachher, wenn ich sie gesehen habe, muss ich dann gleich den Herrn Schlossvogt besuchen, das habe ich ihm versprochen«, behauptete Mäzli.
»Das hat er nun schon lange vergessen; er weiss gar nichts mehr von dir«, wollte die Apollonie abwehren. »Weiss denn die Mama, dass du dort hinauf wolltest?«
»Nein, es ist mir erst auf dem Weg in den Sinn gekommen, aber ich muss jedenfalls gehen«, versicherte Mäzli; »wenn man etwas versprochen hat, muss man es immer halten und um jeden Preis, das hat der Kurt gesagt.«
»Herr Trius wird dich ja gar nicht hineinlassen«, wandte Apollonie noch ein.
»Doch, er muss, jetzt kenne ich den Herrn Schlossvogt gut, und der fürchtet sich kein bisschen vor dem Herrn Trius, das habe ich ganz gut gemerkt«, sagte Mäzli, unentwegt an seinem Vorsatz festhaltend.
Apollonie sah ein, dass sie mit Worten nicht weiterkam, sie nahm sich vor, Mäzli mit den jungen Hähnen und anderer Kurzweil solange hinzuhalten, bis es zu spät sein würde, zum Schloss hinaufzusteigen. Mäzli beschaute mit Vergnügen die jungen Hähnchen und die blauenden Pflaumen; aber alles wurde etwas rasch abgetan. Dann sagte es entschlossen: »Nun muss ich gleich gehen, weil es so weit ist; aber wenn du lieber daheim bleibst, so kann gewiss Loneli mit mir kommen, wir finden den Weg ganz gut.«
»Was denkst du auch, Mäzli!« rief Apollonie aus, »der Herr Trius würde euch schön empfangen, wenn ihr zwei da angereist kämt und begehrtet eingelassen zu werden; da könntet ihr etwas erfahren, das euch nicht gefiele! Nein, nein, das ist nichts. Wenn’s denn sein muss, so komme ich selber mit.«
Nun ging Apollonie, sich zu dem Gang zu rüsten; denn zum Schloss hinauf ging sie niemals im Gartengewand, und wenn sie auch keinem Menschen begegnen sollte. Loneli hätte auch gern sein Näschen ein wenig in die Sache gesteckt und gewusst, wer denn der Herr Schlossvogt sei, den Mäzli besuchen wollte, wenn es doch nicht Herr Trius war. Es suchte schnell noch Mäzlis Antrag zu unterstützen, dass es als Begleitung nach dem Schloss mitgehen könnte; dann müsste die Grossmutter sich nicht erst anders anziehen; aber davon wollte diese gar nichts wissen. »Du darfst dich unterdessen mit deinem Strickstrumpf dort aufs Bänkchen unter den Birnbaum setzen. Da kannst du ein schönes Lied singen, bis wir wiederkommen; es wird ja nicht lange währen, das seh ich im voraus!«
Nun wanderte sie aus, Mäzli sorgsam an der Hand haltend. Herr Trius erschien schon am Tor, bevor da geklingelt wurde; er hatte seine Augen überall. Er warf einen grimmigen Blick auf das Mäzli, dann, ohne nur abzuwarten, was Apollonie sagen wollte, machte er das Tor in einer Weise auf, dass ein kleines Persönchen, wie das Mäzli war, auch gerade durchschlüpfen konnte, ohne stecken zu bleiben. Augenblicklich schlüpfte Mäzli durch und lief den Berg hinan. Gleich wurde das Tor wieder geschlossen. »Ich werde mich wohl nicht durchzwängen, wenn Sie schon nicht alle Riegel zustossen, Herr Trius!« sagte Apollonie ein wenig beleidigt. »Wenn man ein Kind in seiner Obhut hat, so brauchte man es auch nicht so von einem anzuschneiden, dass man gar nicht weiss, wo es hinkommt. Sie können mich wohl hereinlassen, dass ich dem Kinde nachsehen kann, ich will ja nichts weiter.«
»Verboten!« sagte Herr Trius.
»Warum lassen Sie denn das Kind ein?«
»Befohlen!«
»Befohlen? Was? Vom Herrn befohlen?« rief Apollonie aus. »Jetzt sehen Sie, Herr Trius, ein Kind, das er gar nicht kennt, befiehlt der Herr einzulassen, dass es im Garten spazieren gehen kann, und die alte Dienerin, die doch nachsehen sollte, wie es mit allem drinnen steht, darf er nicht einlassen? Sie haben es ihm nie recht gesagt, wie ich komme und wieder komme und hinein möchte, dass ich ihm die alte Ordnung herstellen könne, sie wollen es nur nicht und wissen doch nicht einmal, welches Bett er hat und ob die Kissen einen Überzug haben, das haben Sie ja selbst gesagt. Wenn das die selige Frau Baron wüsste, sie hätte ja keine Ruhe, wo sie ist. und daran sind Sie schuld, das sehe ich jetzt wohl. Aber das sage ich Ihnen, wenn Sie es denn nicht recht ausrichten wollen beim Herrn, um was ich immer bitte und flehe, so weiss ich wohl einen anderen Weg, ich kann auch einen Brief schreiben!«
»Hilft nichts!«
»Was hilft nichts! Das werden Sie wohl nicht voraus sagen können! Sie wissen ja noch gar nicht, was im Brief steht. Der Herr Baron wird wohl seine Briefe noch selbst lesen«, eiferte die Apollonie.
»Nimmt keine Briefe an aus der Gegend.«
Das war ein Schlag für Apollonie, die schon mit grosser Zuversicht ihren neuen Gedanken erfasst hatte. Zunächst sagte sie nichts mehr und liess den Herrn Trius ungestört hin und her wandern.
Mäzli hatte seinen Weg eifrig fortgesetzt. Jetzt stand es oben und schaute über die Terrasse hin. Richtig, dort im Schatten des grossen Baumes lag der Herr, ausgestreckt auf dem langen Sessel, ganz wie das erstemal; auch die golden schimmernde Decke lag auf seinen Knien. Mäzli rannte auf ihn zu: »Guten Tag, Herr Schlossvogt. Sind Sie vielleicht ein wenig böse auf mich, dass ich so lange nicht gekommen bin?« rief es ihm schon von weitem entgegen. Jetzt war es da. »Es ist nur wegen der Leonore«, fuhr Mäzli fort, »sonst wäre ich schon lange wiedergekommen; aber wenn die anderen in der Schule sind, kann sie ja nicht so allein sein. Ich muss dann bei ihr bleiben, und ich will auch ganz gern, weil sie so nett ist. Alle Menschen haben Leonore so gern, ganz schrecklich gern, auch Kurt und Bruno, immer bleiben sie daheim, weil Leonore da ist. Sie sollten nur wissen, wie sie ist. Sie würden sie auch sogleich furchtbar gerne haben.«
»So«, sagte der Herr, indem etwas wie ein Lächeln um seinen Mund zuckte, »das wird deine Schwester sein?«
»Meine Schwester? Nein, gar nicht, gar kein bisschen«, sagte Mäzli in grossem Erstaunen über einen solchen Irrtum. »Sie ist ja die Schwester von Salo, wissen Sie, der bei uns war und dann nach Hannover ging, und sie muss auch wieder nach Hannover gehen, sobald sie gesund ist. Aber Mama wird ganz traurig, wenn sie sagt, nun könnte Leonore bald fortreisen müssen, und Mea wird noch viel trauriger und weint. Und Leonore will auch nicht gern fort; aber sie muss, und einmal hat sie furchtbar geweint, weil sie nicht heimgehen kann, gar nie, weil sie eine Heimatlose ist, und solange sie lebt, muss sie eine Heimatlose sein. Das hat die Bettlerin gesagt, die mit den zwei Kindern da war. Die waren alle drei Heimatlose, und Leonore hat gesagt: ‘Eine solche bin ich auch’ und hat so furchtbar geweint, dass wir alle in den Garten hinaus mussten, vielleicht weil sie noch viel mehr hätte weinen müssen, wenn es ihr in den Sinn gekommen wäre, dass wir alle daheim sind bei einer Mama; denn sie hat gar keine und auch keinen Papa und gar nichts. Aber wissen Sie, sie ist nicht so eine Heimatlose in einem zerfetzten Rock wie die anderen; sie sieht ganz anders aus, und jetzt kann sie vielleicht bei der Apollonie daheim sein in dem kleinen Haus unten am Berge, und dann kann Salo zu ihr heimkommen in die Ferien, und dann haben sie eine Heimat. Nur Mama glaubt es noch nicht; sie meint, das könne nicht sein; aber Leonore will es so gern, und ich will sie auch einmal zu Ihnen bringen.«
»Wer bist du, Kind? Wie heisst du?« fragte jetzt der Herr in kurzem Ton.
Mäzli schaute ihn ein wenig verwundert an.
»Ich bin das Mäzli und heisse auch so«, sagte es dann, »und Mama heisst wie ich; aber man sagt nicht so zu ihr, man sagt zu ihr: ‘Frau Pfarrer’ oder Mama, und Onkel Phipp sagt zu ihr: ‘Maxa’ und Leonore sagt zu ihr ‘Tante Maxa’.«
»Ist dein Vater Pfarrer von Nollagrund?« fragte der Herr.
»Er ist ja schon lang im Himmel, wissen Sie, noch ehe wir hier waren, war er schon im Himmel, und dann wollte Mama wieder nach Nollagrund gehen, weil sie hier daheim war. Aber jetzt wohnen wir nicht im Pfarrhaus, sondern dort, wo der Garten ist mit den vielen kleinen Wegen und immer in der Ecke ein grosser Johannisbeerbusch, da und da und da.« Das Mäzli wies mit seinem Zeigefinger auf dem Löwenfell genau die Ecken an, wo die Johannisbeerbüsche standen. Der Herr Schlossvogt hatte sich in den Sessel zurückgelegt, er sagte nichts mehr. »Ist es Ihnen etwa ein wenig langweilig?« fragte Mäzli teilnehmend.
»Jawohl«, war die Antwort.
»Haben Sie kein Bilderbuch?«
»Nein.«
»Oh, dann will ich Ihnen schon eins bringen; ganz bald will ich wiederkommen und dann — aber vielleicht haben Sie auch Kopfweh?« unterbrach sich Mäzli, »wenn meine Mama so die Stirne zusammenzieht wie Sie, dann hat sie Kopfweh, und dann muss man ihr frisches Wasser holen, dass es besser wird; so will ich es schnell holen.« Mäzli lief schon.
»Lass das, Kind«, rief ihm der Herr nach, »im Schloss ist niemand, du findest keins.«
Das kam aber dem Mäzli seltsam vor, dass niemand da sein sollte, dem Herrn Schlossvogt ein wenig Wasser zu bringen.
»Ich will schon jemand finden«, sagte es geschäftig und lief eilig davon, den Abhang hinunter bis zum Tor, in dessen Nähe Herr Trius immer noch hin- und herwandelte.
»Sie sollen auf der Stelle zum Herrn Schlossvogt hinaufgehen«, sagte es, vor ihm stillstehend, »Sie müssen ihm kaltes Wasser bringen, weil er Kopfweh hat; aber ganz schnell!«
Herr Trius warf einen entrüsteten Blick auf Mäzli, als wollte er sagen: »Wie darfst du mir so kommen?« Dann riss er das Tor auf: »Erst da hinaus, dass geschlossen werden kann«, brummte er wie ein erboster Bär, und nachdem Mäzli hinausgehüpft war, warf er das Tor schmetternd in die Angeln, drehte den ungeheuren Schlüssel zweimal um und stiess mit Wucht den Riegel vor, als wollte er zeigen, dass man da noch lange nicht nach Belieben eindringen könne.
Unweit des Tores hatte sich Apollonie in den Schatten gesetzt und kam nun Mäzli entgegen.
»Du bist lange da oben geblieben«, sagte sie; »was hat der Herr gesagt?«
»Nur ganz wenig; aber ich habe ihm viel erzählt«, berichtete Mäzli. »Aber er hat Kopfweh, und denk nur, kein Mensch bringt ihm kaltes Wasser, und der Herr Trius dreht noch zuerst alle Schlüssel und Riegel um, ehe er geht.«
Nun brach die Apollonie in einen solchen Jammer und in solche Klagen aus, dass es in Mäzli einen Widerstand erregte.
»Er hat ja jetzt schon lang das Wasser, der Herr Trius wird es ihm wohl geholt haben; du brauchst nun nicht mehr so zu jammern«, sage es ein wenig ungeduldig. Aber das war wie Öl ins Feuer.
»Ja, was der tut oder nicht tut, das weiss kein Mensch«, jammerte Apollonie noch lauter. »Da liegt der Herr krank, und der Diener stolpert im Gut umher und fragt nicht, wessen er bedarf, und lässt alles zugrunde gehen! Da ist auch nicht ein Kohlköpfchen, noch ein einziges Erbsenstäudlein mehr zu sehen. Kein Erdbeerchen, kein Himbeerchen, keine goldenen Aprikosen mehr am Spalier, nicht ein einziges Pfirsichlein! Diese Wirtschaft, diese Wirtschaft! Hier, wo die Ordnung der Frau Baron herrschte!« Jetzt musste die Apollonie einmal ums andere ihre Augen wischen; denn diese Erinnerung, verbunden mit dem, was jetzt vorging, presste ihr immer die bittersten Tränen aus. »Das verstehst du nicht, Mäzli«, fuhr sie fort, als sie wieder ein wenig erleichtert war; »aber siehst du, gern gäbe ich einen Finger meiner rechten Hand weg, wenn ich nur auch jede Woche einen Tag hinein könnte, dass ich dem Herrn alles ordnen könnte, wie es sein sollte, und auch den Garten rüsten und das Gemüsefeld. Was ihm der alte Soldat zu essen gibt, ist ja scheussliches Zeug.«
Mäzli hörte nicht gern jammern, es dachte immer schnell auf Abhilfe.
»Du brauchst nicht so furchtbar zu jammern«, sagte es jetzt; »du kannst ihm ja von deinem Milchbrei kochen, ich will ihn schon hinauftragen, dann hat er etwas Gutes, viel besser als solches Gemüse, tausendmal besser.«
»Ach, du glückliche Unschuld! Ja, vor vierzig Jahren!« rief Apollonie aus, stellte aber nun ihren Jammer ein. Mäzlis Antworten hatte ihr doch ein Gefühl davon gegeben, dass es noch kein rechtes Verständnis für ihre aufregenden Lebenserfahrungen hatte.
Mäzli wanderte nun, fröhlich plaudernd, an der Seite der Apollonie dahin und wollte gleich bei der Ankunft zu Hause der Mutter alles Erlebte erzählen; aber dazu sollte Mäzli heute nicht mehr kommen. Die Mutter hatte absichtlich verschwiegen, was der letzte Brief der Damen Remke enthalten hatte; sie wollte den Kindern diese zwei letzten kurzen Wochen des Zusammenlebens nicht mit der Aussicht auf die nahe Trennung trüben. Aber ein Brief von Salo an Bruno, der soeben angelangt war, enthielt die bestimmte Nachricht, schon in zehn Tagen werde die eine der Damen erscheinen und alsbald mit Leonore zurückkehren, da es dieser nun so gut gehe. Dazu bemerkte Salo, er könne sich nicht recht auf die Rückkehr der Schwester freuen; er lese aus jedem ihrer Briefe, wie glücklich sie im Hause der Tante Maxa mit ihr und den Kindern zusammen fortwährend sei, und er könne ihr wohl nachempfinden, wie schrecklich schwer ihr der Abschied und das Fortgehen werde. Und wenn er daran denke, wie schwer sie sich hier wieder eingewöhnen werde, so vergehe ihm erst recht alle Freude über ihr Kommen. Bruno hatte gleich den Brief vorgelesen und hatte damit eine solche Bestürzung und solchen immer lauter werdenden Jammer hervorgerufen, dass die Mutter nicht wusste, wie den Ausbrüchen des Leides auf allen Seiten zu wehren sei. Leonore sass freilich lautlos mitten in dem aufgeregten Kreis; aber sie würgte und schluckte umsonst ihre aufsteigenden Tränen zurück, sie liefen ihr unaufhaltsam die Wange herab.
Mea bat und flehte in der aufgeregtesten Weise: »Hilf uns doch, Mutter; schreib doch nur an die Damen, dass es nicht sein könne; lass doch Leonore nicht fort!«
Bruno behauptete leidenschaftlich, kein Mensch habe das Recht eine Kranke auf eine Reise zu schleppen, wenn der Arzt es nicht wolle; und er wolle es nicht; denn noch das letzte Mal, als er dagewesen sei, habe er gesagt, noch einen Monat solle man für Leonore zugeben, da wäre kein Tag zuviel daran.
Kurt rief immerzu: »Es ist ganz unnatürlich, Mutter, es ist ganz unnatürlich! Wir wollen sie alle gern behalten, du auch, und sie will gern bei uns bleiben, und nun soll sie mit Gewalt fort! Das ist doch unnatürlich!«
Lippo hatte sich ganz nahe an Leonore herangedrängt; er wollte sie so gerne trösten. Dass er nicht mehr sagen durfte: »Bleib du nur bei uns«, war ihm noch gut in Erinnerung geblieben; aber er hatte einen anderen Trost gefunden.
»Weine du nur nicht, Leonore«, sagte er ermutigend, »sobald ich gross bin, schenkt mir Onkel Phipp ein Haus und viele Wiesen, er hat es mir versprochen. Dann bin ich Landwirt, und dann schreib ich dir auf der Stelle, dass du zu mir kommst, dann bist du bei mir daheim, und dann kommt Salo zu uns in die Ferien.«
Leonore musste mitten in den Tränen ein wenig lächeln über den Trost; aber dann kam ihr das Weinen noch mehr, im Gefühl, wieviel Liebe sie hier von allen empfing, die sie nun verlassen musste, um vielleicht nie wieder zu ihnen zurückzukehren. Die Mutter wollte dahin und dorthin beschwichtigen; aber da sie keine bestimmte Hoffnung zu geben vermochte, wurden die Klagen nur immer lauter.
Mitten in diese Aufregung hinein kam Mäzli seelenvergnügt und erfüllt von seinen Erlebnissen. Gleich wollte es eingehend erzählen, was der Herr Schlossvogt gesagt habe, und dann, was es selbst gesagt, und was sich dann nachher ereignet habe. Aber kein Mensch hörte zu, viel zu sehr waren alle von ihren eigenen aufregenden Gedanken in Anspruch genommen, als dass sie anhören konnten, was das Mäzli mit dem Schlossvogt verhandelt habe. Für alle war der Schlossvogt Herr Trius, und niemand hatte ein besonderes Interesse für diesen. So geschah das Unerhörte, dass Mäzli begehrte, ins Bett zu gehen, bevor nur das Abendlied gesungen und der erste Mahnruf zum Aufbruch gegeben worden war. Die gedrückte Stimmung, die allgemein herrschte, war so wenig nach Mäzlis Geschmack, dass ihm sogar dieser Rückzug noch erfreulicher erschien.
Bis jetzt hatte Mea immer noch im stillen gehofft, die Mutter werde am Ende doch noch einen Weg ausfindig machen, wie Leonore noch dazubehalten sei, wenn auch nicht für immer, wie Apollonie es mit ihr hatte einrichten wollen, aber doch noch für eine lange Zeit. Nun war auf einmal alles aus und der Tag der Trennung schon ganz nahe. Mea sah so völlig unglücklich aus, als sie am anderen Morgen zur Schule ausziehen musste, dass die Mutter sie nicht ohne einen Trost ziehen lassen konnte.
»Nur noch diese zwei Tage sollst du gehen, Mea«, sagte sie, »die nächste Woche sollst du frei haben, dass du noch die ganze Zeit mit Leonore zusammensein kannst.«
Es war Mea lieb, das zu hören; aber sie antwortete nicht und lief schnell weg; alles, was mit Leonore zusammenhing, rief jetzt nur neue Tränen bei ihr hervor.
Leonore sah heute soviel blasser aus als alle die letzten Tage, dass Frau Maxa sie ganz bekümmert ansah. War vielleicht die Genesung doch nicht so gründlich, wie man geglaubt hatte, dass diese Nachricht von der Abreise Leonore gleich so sehr angriff, wie man ja sehen konnte? Auch Frau Maxa ging schweigend und gedrückt umher, so schwer war ihr seit langer Zeit nichts geworden, wie die Trennung von diesem Kinde, das sie wie ein eigenes liebte, das ja auch wie ein eigenes an ihr hing. Der Druck lag schwer auf allen. Bruno sprach kein Wort, Kurt stand da und dort in einer Ecke herum und kritzelte in sein Notizbuch ein, was ihn bedrückte; aber diesmal zeigte er keinem seine Verse. Die tragische Stimmung, die darin herrschte, hätte Bemerkungen von Bruno hervorrufen können, die Kurt in diesem Falle nicht ertragen konnte. Lippo trippelte immer leise der Leonore nach und sage ihr von Zeit zu Zeit seine Trostworte wieder; aber vor lauter Mitgefühl in einem so kläglichen Tone, als wäre es die traurigste Mitteilung, die er ihr zu machen hatte. Nur Mäzli schaute noch mit fröhlichen Augen in den Tag hinein und hüpfte vor Freude, dass die Sonne auch heute schien.
»Du kannst ein wenig mit Leonore spazieren gehen, Mäzli«, sagte die Mutter gleich nach Tisch, als die anderen Geschwister wieder zur Schule gewandert waren; »Leonore muss hinaus, sonst wird sie uns wieder viel zu blass. Du musst einen netten Weg einschlagen, Mäzli, vielleicht zur Apollonie hinauf.«
Sehr bereitwillig holte Mäzli sein Hütchen herbei, und die Kinder zogen aus. Nachdem sie eine kleine Strecke über den Garten hinaus zurückgelegt hatten, stand Mäzli plötzlich still.
»Jetzt kommt mir etwas in den Sinn«, sagte es, »ich muss gewiss noch einmal zurückgehen, du kannst nur hier waren, ich will gleich wiederkommen.«
Dann rannte Mäzli zurück. Wirklich kam es bald wieder, unter jedem Arm ein grosses Bilderbuch tragend. Es waren die grössten, die es besass; denn bei seiner Auswahl hatte es gedacht: je grösser die Bücher, je grösser die Freude dessen, der sie sehen soll.
»So, nun will ich dir sagen, was mir in den Sinn gekommen ist«, sagte es, wieder bei Leonore angelangt. »Siehst du, oben beim Schloss, unter dem grossen Baum, sitzt ein kranker Herr Schlossvogt, dem habe ich versprochen, dich mitzubringen, und noch etwas bringe ich ihm, aber du weisst nicht, warum er das braucht, du hörst es dann droben; wir wollen jetzt zu ihm hinaufgehen.«
»Aber Mäzli, ich kenne ja den Herrn gar nicht und er mich nicht«, wandte Leonore ein, »da kann ich nicht hingehen, er hätte es ja vielleicht gar nicht gern, und deine Mutter weiss ja auch nichts davon, dass wir dahin gehen wollen; ich glaube, wir können das nicht tun.«
Aber Mäzli hatte keineswegs im Sinn, sich nun wieder von dem vorgenommenen Gang abbringen zu lassen.
»Jetzt habe ich schon alles bei mir, was ich mitbringen muss, und der Herr Schlossvogt wartet auf uns schon den ganzen Tag, so kannst du ja sehen, dass wir gehen müssen. Mama sagt auch, man müsse die kranken Leute besuchen und ihnen etwas mitbringen, das ihnen wohltut, und nun sitzt er ganz allein den ganzen Tag unter dem Baum und hat furchtbare Langeweile und dann noch Kopfweh, und kein Mensch kommt und bringt ihm etwas, und es ist gar nicht recht von dir, wenn du jetzt nicht mitkommen willst, wenn er uns doch erwartet.«
Mäzli hatte sich in einen solchen Eifer hineingeredet, dass es jetzt nicht nur selbst die feste Überzeugung hatte, es wäre das grösste Unrecht, wenn sie nicht sogleich den Herrn Schlossvogt besuchen würden, sondern auch der Leonore ein ähnliches Gefühl beigebracht hatte.
»Ich will ja gern hingehen, wenn du denkst, es sei dem kranken Herrn recht«, sage sie, »ich wusste nur nicht, ob wir es auch tun dürfen.«
Nun war Mäzli wieder zufrieden, und mit fröhlichem Geplauder führte es Leonore den schönen Weg zwischen den duftenden Weisen und reich behangenen Apfelbäumen hinan, dem hohen Gittertor zu. Die Glocke zu ziehen war nicht nötig, Herr Trius hatte die Heransteigenden längst bemerkt und stand nun unbeweglich hinter dem Tor. Die Kinder blieben am Tor stehen in der Erwartung, dass er es aufmachen würde. Er bewegte sich nicht.
»Wir wollen den Herrn Schlossvogt besuchen«, sagte Mäzli, »machen Sie nur bald auf.«
»Zwei, nein«, war die Antwort.
»Doch, wir müssen beide hinein, der Herr Schlossvogt erwarte uns«, behauptete Mäzli, »ich habe versprochen, Leonore mitzubringen, machen Sie nur auf!«
Herr Trius bewegte sich nicht.
»Komm, Mäzli, wir wollen zurückgehen«, sagte Leonore leise, »du siehst, er will nicht aufmachen, vielleicht soll er auch nicht.«
Aber so leicht war Mäzli nicht von seinem Vorhaben abzubringen.
»Wenn er denn nicht aufmachen will, so will ich so furchtbar laut schreien, dass es der Herr Schlossvogt oben hört«, sagte es ein wenig trotzig, »dann wird er schon etwas sagen, er wartet ja auf uns, und ich kann ganz laut schreien, hör nur: ‘Herr Schlossvogt’!«
Wirklich musste der hohe Schrei eine gute Strecke weit dringen.
»Schweig, kleines Ungeheuer!« sagte Herr Trius, blau vor Zorn; aber er machte schnell das Tor auf.
»Vielleicht dürfen wir doch nicht hinein«, sagte Leonore; aber Mäzli zog sie kräftig hinein und liess nun ihre Hand nicht mehr los, bis sie der Terrasse nahe waren; es wollte nicht, dass sie so nahe am Ziel doch noch zurückbleibe. Jetzt packte Mäzli schnell sein zweites Bilderbuch, das ihm Leonore abgenommen hatte, wieder unter den Arm und fing an zu rennen.
»Komm nur, Leonore, dort sitzt er schon, siehst du?«
Mäzli rannte dem grossen Föhrenbaum zu.
»Guten Tag, Herr Schlossvogt; nicht wahr, nun bin ich bald wiedergekommen?« rief es ihm fröhlich entgegen. »Alles habe ich mitgebracht, was ich versprochen habe. Da sind die Bilderbücher, zwei; denn nur eines ist so bald fertig angeschaut!«
Mäzli legte seine beiden Bücher auf das Löwenfell, und jetzt kramte es in seiner Tasche herum: »Da, das habe ich Ihnen noch mitgebracht.« Mäzli legte ein winziges Pfeifchen von Elfenbein in seine Hand. »Das hat mir Kurt einmal geschenkt, und jetzt will ich es Ihnen schenken. Wenn Sie dann Kopfweh haben, und der Herr Trius ist weit weg, dann können Sie ihm nur pfeifen, dass er kommt und Ihnen Wasser holt. Er hört es weit, weit weg; denn es pfeift furchtbar, versuchen Sie nur einmal! Und dann habe ich noch Leonore mitgebracht.«
Der Herr fuhr ein wenig auf und schaute um sich. Leonore war schüchtern hinter dem Sessel stehen geblieben, Mäzli zog sie jetzt heran. Der Herr warf einen durchdringenden Blick auf das herzutretende zarte Mädchen, das kaum wagte, die grossen, dunklen Augen zu ihm zu erheben. Unter seinem langen, durchdringenden Blick wurde Leonore glühend rot und mit kaum hörbarer Stimme sagte sie: »Vielleicht durften wir nicht hier heraufkommen; Mäzli meinte, wir dürften, wir könnten vielleicht etwas für Sie tun. Aber wenn Mäzli auch kommen durfte, so sollte es vielleicht nicht noch jemand mitbringen, dann tut es mir so leid!«
»Nicht doch, Mäzli meinte es gut mit mir, ich sollte auch die Freundin kennen lernen«, sagte der Herr nicht unfreundlich. »Wie heisst diese Freundin?«
»Leonore von Wallerstätten«, antwortete diese.
Eben fiel ihr Blick auf die zwei grossen Bücher, die auf des Herrn Knien lagen.
»Darf ich die Bücher weglegen?« fragte sie, »sie sind vielleicht ein wenig schwer.«
»Jawohl, aber von Mäzli war es lieb, sie hier heraufzutragen, Mäzli meint es gut mit mir«, wiederholte der Herr Schlossvogt, »nachher will ich die Bücher auch betrachten.«
»Darf ich auch das Kissen zurechtmachen? So ist’s nicht gut für Sie«, sagte Leonore, das Polsterkissen heraufziehend, an das der Kranke sich lehnen sollte und das schon lange seine richtige Lage nicht mehr inne hatte.
»Ja, so ist’s gut, sehr gut«, sagte der Kranke, und mit Behagen legte er sich in den Sessel zurück.
»Oh, wie schade, das wird nicht festhalten, es fällt wieder herunter«, sagte Leonore bedauernd. Da fehlt ein Band. Wenn ich nur gleich eines hätte und Nadel und Faden; aber vielleicht dürfen wir morgen wieder —.« Nun erschrak sie über ihren Vorschlag, vielleicht war es viel zu frei von ihr, ihn zu machen, sie schwieg verlegen. Aber Mäzli löste sie schnell ab und versicherte getrost, morgen würden sie wiederkommen und alles mitbringen, was nötig war.
Jetzt fragte der Herr Schlossvogt Leonore, woher sie komme und wo sie lebe.
Sie erzählte, dass sie schon seit mehreren Jahren, nachdem Sie eine Grosstante verloren, bei der sie mit ihrem Bruder gelebt hatte, in einem Institut in Hannover lebe.
»Hast du keine Verwandte mehr?« fragte der Herr, indem er sie immer genau beobachtete.
»Nein, keine, weder vom Vater noch von der Mutter her, als nur ein Onkel, der schon seit vielen Jahren in Spanien lebt, und der nie mehr zurückkommen wird, wie uns die Tante sagte, und kein Mensch weiss, wo er ist Wenn wir das wüssten, wir hätten schon lange an ihn geschrieben, und Salo würde zu ihm reisen, sobald es ihm nur erlaubt würde, und ich ginge auf jeden Fall mit ihm.«
»Warum denn?« fragte der Herr.
Leonore schaute ihn erstaunt an.
»Er ist ja der Bruder unseres Vaters«, sagte sie, »wir könnten ihn ja lieb haben wie einen Vater. Er ist der einzige Mensch, dem wir gehören könnten. Wir haben schon immer gewünscht, wenn wir ihn nur einmal aufsuchen und mit ihm zusammen sein könnten!«
»Nein, das könntet ihr nicht, den kenn ich, ich war auch in Spanien«, sagte der Schlossvogt kurz.
Über Leonores Gesicht ging ein Leuchten, als wäre eben in ihrem Herzen ein grosses Glück aufgegangen.
»Sie kennen unseren Onkel, Sie wissen, wo er ist?« rief sie mit einem hohen Rot der Freude auf den Wangen aus. »Oh, sagen Sie mir doch, was Sie von ihm wissen!«
Wie sie mit ihren jetzt völlig strahlenden Augen so erwartungsvoll zu dem Herrn aufschaute, da war es, als müsse er sich erst ein wenig auf die Antwort besinnen.
Plötzlich sagte er mit Bestimmtheit: »Nein, nein, den könnt ihr niemals aufsuchen. Euer Onkel ist ein alter kranker Mann, bei dem können junge Leute nicht leben. Er soll in seinem alten Eulennest, wo er sitzt, nur allein bleiben. Nein, da könnt ihr nicht hin.«
»Aber wenn er doch allein ist und alt und krank, da sollten wir doch viel eher zu ihm hin, als wenn er eine Familie hätte«, sage Leonore lebhaft, »da kann er unser Vater sein und wir seine Kinder, und wir können ihn pflegen und bei ihm sein und ihn lieb haben. Oh, wenn er nur nicht so weit weg wäre! Aber wenn Sie mir nur sagen wollten, wo er ist, so könnten wir an ihn schreiben, und er könnte uns erlauben, zu ihm zu reisen, sonst dürfen wir keine Schritt tun; denn Herr von Stiele in Hannover will, dass Salo noch viele Jahre studiere, und er hat über uns zu befehlen. Nur unser Onkel hätte das Recht, uns zu sich zu rufen. Oh, sagen Sie mir doch, wo er ist!«
»Und die Entbehrungen beim alten Onkel, und die Einsamkeit und die Langeweile, keine Gesellschaft, nichts als ein verwildertes Felsennest und ein kranker Mann darin, wie dann?« sagte der Herr in kurzer Weise.
»Oh, dann wäre es ja so herrlich, einmal daheim zu sein bei einem lieben Onkel und Salo dabei!« fuhr Leonore in unverändertem Verlangen fort. »Nur eine einzige Entbehrung wäre dabei, aber die tut noch viel weher, wenn ich wieder in dem Hause in Hannover bin, wo ich nie daheim sein kann.«
»Nun?« wollte der Herr wissen.
»Dass ich nicht mehr bei Tante Maxa sein kann und bei den Kindern allen.«
»So wollen wir diese Tante Maxa um Rat fragen, wie sie darüber denkt, so wird es dir auch recht sein, Kind?«
»O ja, gewiss«, entgegnete Leonore erfreut.
Beim Gedanken an Tante Maxa kam ihr aber plötzlich in den Sinn, dass diese ja gar nicht wusste, wo sie und Mäzli hingegangen waren, und nun waren sie auch schon so lange fortgeblieben. Sie mahnte Mäzli zu schnellem Aufbruch und reichte dem Herrn Schlossvogt ihre Hand.
»Du machst mir wohl eine Bestellung, Leonore«, sagte er, »du sagst deiner Tante Maxa, der Schlossherr, den sie einmal gut gekannt, würde sie gerne besuchen; aber er könne sich nicht bewegen; ob er erwarten dürfe, dass sie einmal zum alten Schloss hinaufstiege?«
Mäzli streckte nun auch schnell seine Hand zum Abschied, und da es eben bemerkte, dass das Kissen schon wieder weggerutscht war, fiel ihm noch etwas ein: »Die Apollonie wollte Ihnen schon gerne alles in Ordnung machen; aber der Herr Trius lässt sie nicht herein«, berichtete es, »und sie wollte gerne einen Finger von der rechten Hand weggeben, wenn sie alles tun könnte, was der Herr Trius nicht versteht.«
»Komm nun, Mäzli«, sagte Leonore, die das Gefühl hatte, der seltsamen Mitteilung könnten noch andere folgen, die ebenso unverständlich wären; denn sie konnte nichts von Mäzlis Worten verstehen. Aber der Herr Schlossvogt lächelte, als habe er etwas verstanden.
Vor ihrem Hause stand die Mutter Maxa, umringt von den Kindern, alle in höchster Spannung nach den zwei fehlenden ausschauend. Es war nicht zu begreifen, wo Leonore und Mäzli so lange bleiben konnten. Endlich sah man die blauen Bändchen von Leonores Hut im Winde flattern. Die Kinder stürzten ihr entgegen.
»Woher kommt ihr denn? Wo seid ihr denn so lange geblieben? Wo seid ihr nur die ganze Zeit gewesen?« tönte es nacheinander.
»Im Schloss«, war die Antwort.
Jetzt wurde die Aufregung noch grösser.
»Wie konntet ihr dort hineinkommen? Wer hat euch aufgemacht? Was habt ihr denn im Schloss getan?« Alle fragten miteinander, eine Antwort konnte kaum gehört werden.
»Ich bin gar nicht das erstemal beim Herrn Schlossvogt gewesen, sondern schon oft«, sagte jetzt Mäzli sehr hörbar; denn es wollte verstanden werden.
Leonore hatte der Mutter Arm genommen und ging mit ihr voraus. Sie wollte ihren Auftrag bestellen; es lag ihr selbst soviel daran, dass sie kaum erwarten konnte, der Tante Maxa die Mitteilung zu machen.
Kurts Teilnahme an Mäzlis Eindringen ins Schloss war zu gross, als dass er sich von einem ersten unverständlichen Bericht hätte abschrecken lassen; er musste wissen, wie dieses Ereignis zustande gekommen war und wie es eigentlich verlaufen war. Aber die beiden kamen nicht weit miteinander.
Sobald Mäzli erzählen wollte und einmal vom Herrn Trius, einmal vom Herrn Schlossvogt sprach, da sagte Kurt schnell: »Das ist ja nur einer und immer derselbe, mach doch nicht zwei daraus. Der Herr Trius ist der Schlossvogt von Wildenstein, das weiss alle Welt, und das ist einer und nicht zwei.«
Dann sagte Mäzli: »Der Herr Trius ist einer und der Herr Schlossvogt ist der andere, das sind zwei und nicht einer.«
Nachdem sie dann dreimal so weit miteinander gekommen waren, sagte Bruno: »Lass es doch, Kurt, Mäzli meint eben, wenn man denselben Menschen einmal Trius und einmal Schlossvogt nennt, so gebe es zwei daraus.«
Da rannte das Mäzli fort und rief bekräftigend vor sich her: »Es sind doch zwei, es sind doch zwei.«
Unterdessen hatte Leonore erzählt, wie Mäzli ihr vorgeschlagen, den kranken Herrn Schlossvogt zu besuchen, was sie erst nicht wollte, bis es ihr Mäzli als ein Unrecht dargestellt hatte, und was dann weiter geschehen war, und was für Fragen er an sie gestellt hatte.
»Und denk nur, Tante Maxa«, fuhr Leonore fort, »der Herr kennt unseren Onkel in Spanien. Er sagte, er sei auch da gewesen, unser Onkel lebe ganz allein und sei alt und krank, und ich hätte so gern gewusst, wo er sei, und bat den Herrn, es mir zu sagen; aber er meinte, das helfe nichts, da können wir doch nicht hin. Aber ich sagte, wir könnten doch schreiben, und denk, Tante Maxa, zuletzt hat er gesagt, so wollen wir dich um Rat fragen.« Nun gab Leonore seine Bestellung an die Tante ab. »Er sprach aber nicht vom Schlossvogt, wie er zu Mäzli gesagt hatte, sondern vom Schlossherrn, den du einmal gut gekannt habest«, schloss Leonore. »Oh, denk, Tante Maxa, wenn wir doch noch zu dem Onkel hinkommen könnten! Du hilfst doch dazu, dass wir an ihn schreiben könnten!«
Mit immer grösserer Spannung hatte Frau Maxa zugehört. Sie war innerlich so erregt, dass sie kein Wort sagen konnte. Was ihr das ganze Herz bewegte, davon durfte sie ja nicht sprechen, wusste sie doch noch gar nicht, was der Schlossherr in seinem Sinne trug. Der laute Jammer, in den jetzt Mea ausbrach, deckte der Mutter Stillschweigen.
»Oh, Leonore, wenn du nach Spanien gehst, dann sehen wir einander in unserem Leben nie mehr, dann kommst du natürlich nie, nie mehr hierher!« jammerte Mea in der grössten Aufregung.
»Glaubst du wirklich?« fragte Leonore niedergeschlagen; denn die Wahl, wenn sie wirklich an sie käme, um diesen Preis oder gar nicht nach Spanien zu reisen, würde ihr doch schwer werden.
»Eine Reise nach Spanien ist gar keine so leicht ausführbare Sache, Kinder«, sagte die Mutter, »ihr braucht euch eine solche weder zum Leid noch zur Freude auszudenken, es steht gewiss keine solche in Aussicht.«
Als nach dem heute sehr verspäteten Abendbrot Kurt noch einmal eine Forschung über den einfachen oder den Doppelvogt auf Schloss Wildenstein anstellen wollte, da erklärte die Mutter, nun sei nicht nur für die Kleinen, sondern für alle die Zeit gekommen, sich zur Ruhe zu begeben. Bald darauf lag die ganze lebendige Schar in tiefem Schlaf in den Kissen. Nur die Mutter wachte noch, in ihren Gedanken versunken im stillen Zimmer sitzend. Erst jetzt konnte sie über die Worte nachdenken, die der Schlossherr ihr hatte sagen lassen. Was konnte sie für Hoffnungen darauf bauen? Oder sollte er nur über Leonores Verhältnisse mit ihr sprechen wollen, nun er sie gesehen und von ihr gehört hatte, wie wenig sie sich in dem Hause daheim fühlte, wo sie lebte? Aber ihr Hin- und Herdenken führte ja zu nichts. Der liebe Gott, der doch selbst die Türen aufgemacht, die so fest verrammelt waren, wusste ja, warum dies geschehen sollte. Ihm übergab sie alles und legte sich mit dankendem Herzen nieder; denn dass ihr der Weg zu dem, der mehr als jeder andere Leonores Geschick in der Hand hatte, geöffnet war, erfüllte sie mit tiefem Dank und der frohen Zuversicht, dass die Hand, die diesen lange verschossenen Weg aufgetan, auch ein in Bitterkeit verschlossenes Menschenherz sich selbst und anderen zum Heil und zur Freude öffnen konnte.