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Am anderen Morgen durfte Salo bei seiner Schwester eintreten, um Abschied von ihr zu nehmen. Sie schaute ihm so heiter entgegen, dass er ganz erfreut fragte: »Ist dir schon soviel besser als gestern, Leonore?«
»Oh ja, mir ist so wohl hier, als wäre ich hier daheim«, antwortete sie mit leuchtenden Augen. »Es ist gerade so, als wäre unsere Mutter vom Himmel heruntergekommen, mich zu pflegen.«
»Ja, und wenn du erst aufstehen und herunterkommen darfst und die ganze Familie kennst, da wirst du dich erst recht freuen«, sagte Salo, »da wirst du erst recht das Gefühl haben, du seiest in einem Hause, zu dem du gehörst, als wäre es deine Heimat.«
»Oh, wie schade, dass du fort musst, Salo«, seufzte Leonore; aber die Tränen kamen nicht unaufhaltsam wie gestern; es war ein ganz anderes Zurückbleiben für sie, als sie gestern vor sich gesehen hatte.
Nun trat Frau Maxa wieder ein. Sie hatte einen Augenblick das Zimmer verlassen, damit die Geschwister sich allein sehen konnten. Es war Zeit für Salo abzureisen. Nun nahm er Abschied von der Schwester; heute war es ihm viel schwerer, selbst fortzugehen, als Leonore zurücklassen zu müssen, wie es noch gestern für ihn gewesen wäre.
»Ich kann jetzt gar nicht mehr sagen: ich hoffe, du kommst mir bald nach; ich wünsche dir ja, dass du noch lange dableiben könntest«, sagte er fröhlich, und Leonore lächelte ganz befriedigt dazu. Unten beim Wagen stand Onkel Phipp, zur Abreise bereit, die Kinder kamen alle auf Salo losgerannt. Nun folgte ein Abschied, als verliesse ein langjähriger Freund der Familie, in der er ganz als ein Glied aufgenommen war. Jedes der Kinder zeigte sein Leid in besonderer Weise. Mäzli rief fort und fort: »Komm bald wieder, Salo, komm bald wieder!«
Als der Wagen jetzt dahinrollte und alles still wurde, und Salo nur von weitem noch die weissen Tücher die letzten Grüsse nachschwingen sah, musste er schnell ein paar Tränen wegwischen. So wohl und heimatlich hatte er sich noch nie und nirgends gefühlt, und nun musste er so weit fort und kam vielleicht nie mehr zurück.
Als um die Mittagszeit die Kinder aus der Schule heimkehrten, waren sie alle noch so erfüllt von Salos Erscheinen und seinem viel zu schnellen Verschwinden, dass sie sämtlich ein brennendes Verlangen hatten, der Mutter ihre Eindrücke mitzuteilen und sich ihrer immer regen Teilnahme erfreuen zu können. Immer hatte auch das eine oder andere wieder vergessen, dass man jetzt die Mutter nicht aufsuchen durfte, und wollte plötzlich die Treppe hinaufrennen. Aber da traf es auf unerwarteten Widerstand. Lippo hatte sich gleich nach der Heimkehr an die Treppe gestellt, um aller Übertretung zu wehren. Auch ihm hatte die Mutter überall gefehlt, als er nach Hause kam; aber er hatte sich gleich erinnert, was sie für ein Verbot gegeben hatte. Nun fiel ihm aber ein, dass die anderen es vergessen und übertreten könnten. So stellte er sich auf der ersten Stufe fest, und wie eines der Geschwister heranrannte und, des Verbots vergessend, hinaufstürzen wollte, hielt er es mit beiden Händen fest und schrie: »Man darf nicht! Man darf nicht!« und dazu so laut, dass jedes vor Schrecken wieder fortlief; denn das Jammergeschrei musste ja bis ins Zimmer der Kranken hinaufdringen. Nur Käthi erkannte Lippos wertvolle Tätigkeit; denn es war ihr übergeben worden, die Kinder zurückzuhalten, wenn sie das Verbot vergessen sollten; aber ihr Ermahnen wäre nicht so erfolgreich gewesen, das wusste sie aus anderen ähnlichen Erfahrungen. Um diese Zeit sass Mäzli vergnügt am Tisch der Apollonie und verspeiste mit Lust einen schneeweissen Milchbrei, den nur die Apollonie so schön zu bereiten verstand und der niemals fehlte, wenn Mäzli an ihrem Tische sass.
Für Loneli waren es immer grosse Festtage, wenn Mäzli zu Besuch kam; dann ging es so lustig zu bei Tisch; denn Mäzli hatte immer viel von daheim zu berichten, was für Loneli ungeheuer kurzweilig war. Auch musste es an solchen Tagen nicht, wie sonst immer, der Grossmutter genau berichten, was es in der Schule gewusst und nicht gewusst hatte. Diese wollte immer pünktlich wissen, wie es seine Schulpflichten erfüllte, und zu diesen Mitteilungen fand sie die Zeit des Mittagessens am geeignetsten, weil man dann nichts anderes darüber versäumte. So sass auch heute Loneli in heller Freude neben dem Mäzli, das immerfort von Salo erzählte, der so freundlich sei wie kein anderer Junge, und soviel netter als alle die anderen. Das hätten Bruno und Mea und Kurt auch gesagt, und sonst sagten sie nie dasselbe, sondern immer jeder etwas anderes. Der Schilderung hörte auch die Apollonie ernsthaft zu und nickte dabei dann und wann mit dem Kopfe, wie um zu sagen: ja, ja, Salo heisst einer nicht umsonst, das kenne ich. Der Gegenstand der Unterhaltung hielt sie auch viel länger auf ihrem Platze fest, als sie sonst gewohnt war, da sitzen zu bleiben.
Plötzlich fuhr sie dann erschrocken auf: »Ist das möglich? Es geht ja schon auf ein Uhr! Mach, mach, Loneli, du wirst nicht zu spät in die Schule kommen wollen! Wir haben auch etwas zu tun, Mäzli und ich, einen Gang zu machen; wohin es geht, sage ich dann auf dem Wege.«
Erst müsse sie aber noch ihr Geschirr sauber machen, unterdessen könnte ja Mäzli in ihren Garten gehen, meinte Apollonie. Dieser Meinung war das Mäzli nun gar nicht; es wollte zusehen, wie die Teller so hübsch gewaschen und getrocknet und hernach schön in eine Reihe geordnet und aufgestellt wurden, das war für Mäzli sehr unterhaltend. Nun zog die Apollonie noch eine gute Schürze und ein schönes Halstuch an, dann packte sie allerlei Hemden und Tücher und Strümpfe in einen grossen Korb, und nun zogen die beiden aus.
»Wohin gehen wir jetzt?« fragte Mäzli, den Korb musternd, »wem bringst du alle diese Ware?«
»Die gehören dem Herrn Trius«, antwortete die Apollonie, »nun gehen wir zum Schloss hinauf, bis zum Tor mit den grossen Pforten von Eisenstäben. Dort muss man die Glocke ziehen, dann kommt der Herr Trius und nimmt den Korb in Empfang. Dann kannst du dort hineingucken, bis er wieder mit dem leeren Korb zurückkommt.«
»Sieht man dort den Garten, wo die grossen Resedablumen stehen, die der Mama so gut gefallen?« fragte Mäzli.
»Ja, ja, das ist freilich der Garten«, entgegnete Apollonie mit einem tiefen Seufzer; »aber die grossen Rosen- und Resedabeete sind nicht mehr da, jetzt müsste man lange herumsuchen, um nur noch ein paar der schönen Reseden zu finden.«
»Man muss nur hineingehen, dann findet man sie schon«, sagte Mäzli mit Sicherheit.
»Ja, was denkst du, Mäzli, das darf kein Mensch. Siehst du, gar keinen Menschen lässt der Herr Trius in den Garten hinein und zum Schloss hinauf«, wiederholte die Apollonie mit Nachdruck. »Ja, wenn man dürfte, ich wäre schon lange hinauf, oh wie gern, und wie wär’s auch so nötig! Oh, wie muss es in den Zimmern aussehen! Wenn ich auch nur ein einziges Mal hineindürfte, nur auch zum Nötigsten.« Vor lauter Bekümmernis vergass Apollonie ganz, dass sie zu dem kleinen Mäzli sprach.
»Dann brauchst du ihm auch nicht soviel Hemden und Strümpfe zu bringen, wenn er dich nicht in den Garten hineinlässt! Bring ihm nur gar nichts«, rief das Mäzli erzürnt aus.
»Nein, nein, siehst du, Mäzli, das sind seine Strümpfe und seine Hemden, ich habe ihm nur alles geflickt und gewaschen«, sagte die Apollonie erklärend, »und dann kann der Herr Trius auch nicht machen, was er will. Siehst du dort oben, wo die Fenster offen sind — nein, das kannst du jetzt noch nicht sehen; dort ist ein kranker Herr Baron, der will nicht, dass jemand in den Garten hereinkomme, und er ist der Herr und hat zu befehlen, und da darf man nicht zuwiderhandeln. Siehst du, dort kann man schon deutlich die offenen Fenster sehen.«
»Sieht man den bösen Herrn Baron auch?« fragte Mäzli, indem es forschend hinaufguckte.
»Ich habe nicht gesagt, dass er bös ist, gar nicht, Mäzli, nur dass er zu befehlen hat«, berichtigte Apollonie, »und sehen kannst du ihn nicht, er liegt krank im Zimmer. Sieh, sieh, da standen die schönen dichten Himbeerhecken.« Apollonie zeigte auf wildes Gestrüpp, das an der Schlosshalde hinaufkletterte. »Ach, ach, wie war das so anders! Da gingen die zwei Prachthecken hinauf und so herum, und weit dort drüben kamen sie wieder herunter. Tagelang schmausten die Jungen daran und die Mädchen nicht weniger, und nachher habe ich erst die grossen Töpfe voll eingekocht, und jetzt! Und jetzt! Wie sieht es da aus! Lauter Gesträuch und Gestrüpp, alles verwildert ringsum! Nein, dass es hier oben einmal so aussehen könnte, das hätte kein Mensch glauben können, der das alles gekannt hat, wie ich es gekannt habe!«
Mäzli war von dem Verfall nicht sehr ergriffen. Es hatte schon lange seine Augen auf das hohe Portal gerichtet, das am Ende der Steigung zu sehen war und immer höher schien, je näher man kam.
»Nimmt der Herr Trius auch seinen dicken Stock mit, wenn er zum Tor herunterkommt?« fragte es jetzt, behutsam um sich schauend.
»Ja, ja, ohne den geht er nicht umher; aber du hast nichts zu fürchten, Mäzli«, beruhigte die Apollonie, »der tut uns nichts, ich wollte es ihm nicht raten. Sieh, dort kommt er schon. Er hat uns schon ausspioniert, der sieht ringsum alles, was vorgeht.«
Schon stand Herr Trius mit dem Stock in der Hand am Gitter und öffnete. »Recht so«, sagte er, nahm den Korb entgegen und wollte gleich wieder zuschliessen.
»Nein, nein, Herr Trius, so ist’s nicht gemeint«, wehrte die Apollonie, das Tor mit kräftiger Hand zurückstossend und sich in die Öffnung stellend, »ich mache alles pünktlich und wie es sein muss und tue es gerne, weil Sie zum Schloss gehören; aber ein Wort können Sie mir schon gönnen. Ich will wissen, wie es dem Herrn geht.«
»Gleich!« war die Antwort.
»Gleich, was heisst das?« gab die Apollonie zurück. »Passen Sie denn auch auf, wie er schläft? Und kochen Sie ihm auch recht? Was isst denn der Herr?«
»Hirsch und Wildschwein.«
»Was? So was kochen Sie ihm? So saures fettes Zeug? Ist das ein Essen für einen Kranken? Was sagt denn der Doktor dazu?«
»Nichts.«
»Was, nichts? Er muss doch sagen, was der Kranke essen soll. Welchen Doktor haben Sie denn? Doch einen rechten? Der Herr kümmert sich gewiss nicht darum. Haben Sie den von Sils geholt? Der ist sorgfältig.«
»Nein.«
»Welchen haben Sie denn?«
»Keinen.«
Apollonie warf ihre Arme in die Höhe vor Aufregung. »Da liegt der Herr Baron krank und verlassen, und kein Mensch holt einen Doktor herbei! Wenn die selige Frau Mutter wüsste, wie es jetzt da zugeht! Nun muss ich hinein, so kann’s nicht gehen. Lassen Sie mich hinein, der Herr soll mich nicht sehen. Ich will ihm nur etwas kochen, das ihm gut tut, und nur verstohlen sehen, wie es im Zimmer aussieht, und steht er etwa einmal auf, schnell das Bett ordnen. Lassen Sie mich ein, Herr Trius, Sie wissen, ich tue Ihnen gern alle Dienste, lassen Sie mich nur den kranken Herrn besorgen!«
Die Stimme der Apollonie war ganz bittend geworden.
»Verboten!« war die trockene Antwort.
»Aber ich bin ja keine Fremde; ich habe ja dreissig Jahre im Haus gedient«, eiferte die Apollonie. »Ich weiss ja, was sein muss und was der Herr haben muss. Es geht nicht zu in dem Haus, wie es sollte, das muss ich doch wissen. Ich denke, ich bin eine alte Bekannte vom Haus. Ich will nur jeden Tag für eine Stunde kommen, um auch das Nötigste zu tun, wie es sein muss.«
»Verboten! Mag sein, wer will«, sprach Herr Trius unabänderlich in demselben trockenen Ton. Die Apollonie mochte bitten oder zürnen in ihrer Aufregung, für ihn war es dasselbe. Sie hatte sich so ereifert in ihrer Sorge um den kranken Herrn, dass sie alles andere darüber vergessen hatte.
»Wo ist das Kind?« rief sie plötzlich in grossem Schrecken aus, »ums Himmels willen, wo ist das Kind hin? Sicher ist es zum Schlossgarten hinaufgelaufen!«
Jetzt wurde auch Herr Trius lebhaft. Er schlug plötzlich mit Wucht das Gittertor zu, drehte den ungeheuren Schlüssel um und riss ihn schnell aus dem Schloss; denn dass die Apollonie jetzt in ihrer Aufregung alles zu tun imstande wäre, um das Kind aufzufinden, das war ihm klar.
»Hexenvolk!« murmelte er zornig und schwang seinen Stock in ganz bedrohlicher Weise, indem er dem Schloss zulief.
»Herr Trius!« schrie ihm die Apollonie aus allen Kräften nach, »wenn Sie mir das Kind anrühren, so haben Sie es mit mir zu tun, hören Sie? Halten Sie den Stock herunter; es muss sich ja fürchten, wenn es Sie sieht!«
Jetzt war er verschwunden. Während Apollonie mit Herrn Trius so eifrig ins Gespräch gekommen war, dass sie beide einander fest anschauten, er in starrer Unbeweglichkeit, sie in brennender Aufregung, war Mäzli leise und flink wie eine Maus zwischen beiden durchgeschlüpft und unverzüglich dem Schlosse zugewandert. Jetzt musste der Garten mit all den schönen Blumen kommen; aber er kam nicht. Gestrüpp und Gebüsch und Grasplätze mit gelben Glitzerblumen, wie sie auf allen Wiesen wachsen, waren zu sehen; es war gar nicht, was Mäzli erwartet hatte. Jetzt betrat es die Schlossterrasse und schaute sich um, ob von da aus der Blumengarten zu sehen wäre. Dort am Ende der Terrasse, wo das Wäldchen begann, dort unter dem grossen Föhrenbaum schimmerte etwas wie feurige gelbe Blumen. Mäzli lief schnell dahin. Nein, das waren keine Blumen, es war ein gelbes Fell wie von einem Löwen, das so in der Sonne schimmerte. Mäzli musste nähergehen, um recht betrachten zu können, was wohl unter dem Fell stecke. Jetzt erhob sich plötzlich ein Kopf und zwei scharfe Augen waren auf Mäzli gerichtet. Auf dem langen Sessel, über welchen die Löwendecke gebreitet war, hatte sich eine Männergestalt erhoben; diese blickte nach dem Mäzli hin. Sobald es sah, dass da ein Mensch und nicht etwa ein Löwe war, näherte es sich und fragte zutraulich: »Wissen Sie etwa, wo die alten, echten, herrlichen Resedablumen sind, die meine Mama immer im Schlossgarten gesehen hat?«
»Nein«, erwiderte kurz der Befragte.
»Vielleicht weiss es der Herr Trius; aber man darf ihn nicht fragen. Fürchten Sie sich auch vor dem Herrn Trius?« fragte Mäzli angelegentlich.
»Nein.«
»Aber er geht immer mit einem dicken Stock umher, und Kurt hat ein Lied gemacht, wo er alles sagt, was Herr Trius tut«, plauderte Mäzli weiter, »es fängt so an:
‘Herr Trius lebt von alters her
Und ist ein Mann von Stolz;
Und wen er trifft, den prügelt er
Mit seinem Stock von Holz.’
Jetzt weiss ich nicht mehr weiter; aber es ist noch lang. Aber jetzt will er ein Lied auf den Salo machen, weil der so nett ist; das hat er heute morgen gesagt, als Salo fort war, und wir haben ihn alle so gern, und Bruno hat gesagt, wenn er ein dummes Lied mache, so zerreisse er’s ihm.«
»Heisst denn hier alles Salo und Bruno?« fuhr der Herr zornig auf.
»Nein, gar kein Mensch als nur Bruno, wissen Sie, mein Bruder«, erläuterte Mäzli, »und Salo war nur gestern da, und heute ist er wieder weit fortgereist. Aber er ist nicht gern fortgegangen, und wir wollten ihn so gern bei uns behalten; aber er durfte nicht, und wenn dann seine Schwester wieder gesund ist, so muss sie auch wieder fort. Aber wir kennen sie noch nicht; sie heisst Leonore.«
»Wer hat dich hierher geschickt?« donnerte der Herr jetzt das Mäzli an. Es schaute ganz erstaunt zu ihm auf.
»Nein, es hat mich kein Mensch geschickt, wenn doch gar niemand weiss, wo ich bin, nicht einmal die Apollonie«, bewies das Mäzli. »Ich bin nur fortgelaufen, weil die Apollonie soviel dem Herrn Trius zu sagen hatte und ich die Resedablumen suchen wollte. Denn ich bin jetzt den ganzen Tag bei der Apollonie zu Besuch, weil die Mama oben immerfort bei der kranken Leonore sein muss und nicht gut herunterkommen kann, und weil ich Käthi nicht recht folge und sie kochen muss, darum bin ich nun alle Tage bei der Apollonie. Oh, da kommt er«, unterbrach sich Mäzli plötzlich erschrocken und schmiegte sich, hilfesuchend, an den neuen Bekannten an. »Nicht wahr, Sie helfen mir schon, wenn er mir etwas tun will?« flüsterte es vertrauensvoll.
Herr Trius kam herangelaufen; den Stock streckte er vor sich her wie ein Wahrzeichen seines Berufes. Jetzt machte der Herr im Sessel eine leise Handbewegung gegen ihn hin. Sofort kehrte Herr Trius um und verschwand wieder auf demselben Wege.
»Tut er mir nun nichts mehr, wenn ich zum Tor hinunterkomme, wo er steht?« fragte Mäzli, sich nun wieder ein wenig von seinem Beschützer entfernend; denn im Schrecken vor dem nahenden Stock hatte es sich fest an ihn geklammert.
»Nein«, erwiderte er kurz; aber seine Stimme war nicht mehr so streng wie zuerst. Das merkte Mäzli augenblicklich; auch war es so dankbar, dass er den Herrn Trius so schnell verscheucht hatte; es wollte ihm so gern auch einen Gefallen tun.
»Müssen Sie immer ganz allein hier sitzen? Kommt kein Mensch zu Ihnen?« fragte es jetzt teilnehmend.
»Nein.«
»Oh, dann will ich schon wieder zu Ihnen kommen, dass Sie nicht so lange allein bleiben müssen«, sagte Mäzli tröstlich. — »Kommt denn der böse Herr Baron nie in den Garten zu Ihnen?« fragte es noch vorsichtig.
»Wo ist der?« war die Gegenfrage.
»Wissen Sie das nicht?« fragte Mäzli erstaunt. »Dort oben, wo die Fenster offen sind.« Mäzli schaute hinauf, sie standen weit offen; so trat es ganz nahe an den Sessel heran und flüsterte behutsam: »Dort liegt ein kranker Herr Baron, und wenn die Apollonie schon sagt, er sei nicht böse, so habe ich doch ganz gut gemerkt, dass man ihn fürchten muss; oder fürchten Sie ihn nicht?«
»Nein.«
»Dann fürchte ich mich auch nicht vor ihm«, sagte Mäzli, ganz sicher geworden; denn dass der Herr den mächtigen Herrn Trius so leicht verscheucht hatte und sich auch vor dem bösen Herrn im Schloss nicht fürchtete, gab ihm volle Zuversicht in seinen Schutz gegen alles, was da droben zu befürchten war.
»Nun will ich heimgehen; aber ich komme dann bald wieder.« Mäzli bot schön seine Hand und wollte höflich seinen Abschiedsgruss sagen; aber es kam auf einmal nicht mehr weiter, es wusste keinen Namen und keinen Titel.
»Ich bin der Schlossvogt«, half der Herr dem stotternden Mäzli zurecht. Jetzt konnte das Abschiednehmen in aller Ordnung vor sich gehen. Dann lief das Mäzli zurück, dahin, woher es gekommen war, und richtig, da stand der Herr Trius innerhalb des Portales, die Apollonie ausserhalb; der vorsichtige Mann hatte nicht mehr aufgemacht. Der aufgeregten Apollonie traute er zu, sie könnte mit Gewalt in den Garten eindringen, um dem Kinde nachzustürzen.
»Gott Lob und Dank, dass du wieder da bist!« rief sie, als Mäzli heraustrat und sie es wieder an der Hand hatte, nachdem Herr Trius sein Tor kräftig zugeschlagen und dem Besuche zugleich den Rücken gewandt hatte.
»Wie machst du einem angst und bange! Wie konntest du mir so fortlaufen? Ich wusste ja gar nicht, wo du hingekommen warst!«
»Du brauchtest gar keine Angst zu haben«, sagte Mäzli mit Sicherheit, »ich war die ganze Zeit beim Herrn Schlossvogt, und bei dem hat man gar nichts zu fürchten, und auch den Herrn Trius nicht.«
»Was, beim Schlossvogt? Was sagst du, Mäzli? Wer hat dir gesagt, das sei der Schlossvogt, bei dem du warst?« Apollonie sprach so aufgeregt, als wäre Mäzli jetzt noch von allem Unheil bedroht.
»Er hat es mir selbst gesagt, und er war ganz allein unter dem grossen Baum. Da sitzt er immer allein; aber ich gehe dann bald wieder zu ihm«, berichtete Mäzli.
»Nein, nein! Was denkst du, Mäzli? Wenn er nichts gesagt hat, so darfst du das nicht nur so aus dir tun. Aber der Herr Trius wird schon dafür sorgen, dass du nicht mehr hineinkommst«, sagte die Apollonie, sich selbst über Mäzlis Vorhaben beruhigend.Aber was Mäzli selbst bemerkt hatte, redete ihm so leicht keiner aus.
»Ja, wenn er dürfte«, sagte es fast ein wenig höhnend.
Heute durfte Loneli das Mäzli am Abend nach Hause bringen. Es gehörte zu Lonelis Hauptfreuden, einen Gang nach dem Hause der Frau Maxa machen zu dürfen, denn seine allerbesten Freunde waren ja Kurt und Mea. Da Loneli immer und gegen alle gefällig war, wurde es häufig mit allerlei Aufträgen von einem der Schulkinder an das andere betraut, besonders in Fällen von gespannten Verhältnissen, wo man nicht mehr miteinander sprach, sondern durch einen dritten verkehren musste. So hatte es eben heute nach der Schule noch einen Auftrag an Mea bekommen, da war es nun so froh, ihn noch ausrichten zu können.
Mea hatte durch Loneli der Elvira neuerdings einen Vorschlag zum Frieden zugehen lassen; denn solche Zustände des Schmollens und beständigen Rückenkehrens konnte sie nicht mehr ertragen. Schon zweimal vorher hatte sie versucht, die erbitterte Elvira wieder freundlich zu stimmen, aber vergebens. Im Unrecht war sie nicht, das fühlte Mea wohl; aber lieber als diese Schmollerei ertragen, wollte sie der Elvira noch einmal freundlich nachgehen. Vor Kurt durfte sie es freilich nicht sagen, der hätte es nicht gelitten oder ein schreckliches Lied darauf gemacht; aber Loneli war verschwiegen, darauf konnte Mea zählen. Eben stand sie am Fenster und sah Loneli herankommen. Sie lief ihm gleich entgegen.
»Ich habe dir etwas furchtbar Trauriges von der Elvira zu berichten«, sagte Loneli ganz niedergeschlagen.
»Was denn, was denn?« wollte Mea schnell wissen.
»Sie will nie mehr Freundschaft mit dir machen, solange sie lebt. Ich soll dir das sagen, hat sie mir aufgetragen, sonst hätte ich es nie gesagt«, fügte Loneli hinzu, »weil es mich so traurig macht.«
Mea musste sich besinnen, was sie eigentlich getan hatte. Sie hatte der Freundin eine Ungerechtigkeit vorgehalten, weiter gar nichts, dafür wollte diese sie für alle Zeit mit Entziehung der Freundschaft bestrafen.
»So soll nur Elvira schmollen bis in Ewigkeit, ich lasse sie machen«, sagte Mea jetzt, zu Lonelis Verwunderung ohne alle Traurigkeit, »es gibt auch noch andere Menschen auf der Welt und heute vor der Schule oder nachher hätte ich so gern Elvira erzählt, wer bei uns gewesen ist; denn ich habe noch nie solche Freude an einem Besuch gehabt. Und dann wollte ich ihr noch sagen, wen wir jetzt noch im Hause haben, nur noch nicht kennen; aber sie drehte mir immerfort mit allem Fleiss den Rücken zu. Siehst du, Loneli, es war ein so netter Besuch da, ein Junge, so alt wie Bruno, und seine Schwester liegt krank bei uns oben im Hause. Wir dürfen sie jetzt noch nicht sehen; aber ich freue mich so darauf, dass sie zu uns herunterkommt; denn wenn sie so nett ist wie ihr Bruder, so ist sie das netteste Kind, das wir je gesehen haben.«
Lonelis lebhafte Augen sprühten vor Teilnahme bei der Schilderung der neuen Erscheinung.
»Wie heisst sie denn?« fragte es gespannt.
»Leonore«, teilte Mea mit.
»Oh«, fiel Loneli gleich ein, »meine Grossmutter hat auch ein junges Fräulein gekannt, das hiess Leonore, und sie sagt immer, so etwas, wie das Fräulein war, ganz wie ein Engel vom Himmel, könne es gar nicht mehr geben.«
»Ich bin froh, wenn die kranke Leonore nicht wie ein Engel vom Himmel ist, sonst will sie gewiss gar keine Freundschaft mit mir machen«, sagte Mea schnell, »Elvira kündet sie mir ja alle paar Wochen wieder auf, und ist doch noch lange kein Engel vom Himmel.«
»Vielleicht tut sie das gerade, weil sie noch lange kein Engel vom Himmel ist«, meinte Loneli.
Nun mussten beide ein wenig lachen. Loneli hatte manchmal so ein Wörtlein, das unerwartet das rechte Licht auf eine Sache warf, was besonders für Kurt ein Hauptvergnügen war.
In diesem Augenblick ertönte ein durchdringendes Freudengeschrei aus dem offenstehenden Hause: »Mama kommt! Mama kommt!«
Der Wächter Lippo hatte sich gleich wieder auf seinen Wachtposten an der Treppe aufgestellt, sobald er aus der Schule zurückgekehrt war, und er hatte wirklich wieder Arbeit genug gefunden. Erst hatte Kurt schon wieder das Verbot vergessen und musste zurückgescheucht werden, dann hatte sogar Bruno noch einen Versuch gemacht, ganz leise zur Mutter hinaufzugelangen, und hatte einen fürchterlichen Lärm hervorgerufen.
Sie wollten ja beide nichts Böses, sondern der Mutter nur schnell unter der Tür ein Wort sagen; aber Lippo war in die grösste Aufregung geraten. Da war doch ein festes Gebot gegeben, und sie wollten es übertreten. Seinem grossen Lärm mussten sie weichen.
Dann war noch ein fremder Herr gekommen, der war in zwei Sprüngen schon mitten auf der Treppe; aber Lippo hatte seinen Rockzipfel erwischt und hielt ihn mit beiden Händen fest, laut schreiend: »Man darf nicht, man darf nicht!«
Der Herr hatte sich lachend umgewandt: »Lass nur los, Kleiner, ich bin der Doktor, ich darf schon. Der Onkel hat mir gesagt, wohin ich muss, so weiss ich meinen Weg. Aber du bist ein löblicher Wächter, dich kann man brauchen.«
Auch noch bei seiner Rückkehr hatte der Doktor den Wächter, der noch auf demselben Platze stand, eine Stütze der guten Ordnung genannt und gesagt, wenn er je einen zuverlässigen Wächter brauche, so werde er nach dem Lippo verlangen.
Jetzt aber erhob Lippo ein grosses Freudengeschrei. Er sah plötzlich die Mutter die Treppe herunterkommen, und man musste doch glauben, dass sie noch einen ganzen Tag oder zwei abgesperrt bleiben und gar nicht zum Vorschein kommen würde.
»Mama kommt! Mama kommt!«
Nun hatten sie alle den Ruf vernommen. Mea war schon gleich hereingestürzt, Loneli mit sich ziehend. Dann rannte von der einen Seite Bruno, von der anderen Kurt heran, und jetzt kam noch das Mäzli wie ein abgeschossener Pfeil und fuhr mitten in alle hinein. Die Mutter war fest eingeschlossen.
»Mama, denk doch —«
»Oh, hör nur, Mama —«
»Nun muss ich dir erzählen, Mama —«
»Weisst du, Mama?« —
So ertönten ringsum alle Stimmen auf einmal.
»Morgen, Kinder morgen«, sagte die Mutter, »wir können uns alle freuen, dass wir so bald wieder zusammenkommen. Ich wollte eines von euch zur Apollonie schicken, nun sehe ich Loneli hier, das ist mir lieb.«
Frau Maxa erklärte nun Loneli, was es der Grossmutter ausrichten sollte: Der Arzt war dagewesen und hatte die kranke Leonore schon viel besser gefunden, die Fieber hatten sehr abgenommen, er befürchtete nichts Schlimmes mehr. Doch sollte Leonore noch mehrere Tage das Bett hüten und darum eine Pflegerin haben, besonders auch für die Nacht. Nun wäre keine bessere Wärterin zu finden für die Kranke als die Grossmutter Apollonie, und wenn diese sich einrichten könnte, für einige Tage und Nächte herzukommen, so wäre Frau Maxa für sich und die Kranke sehr froh, und der Grossmutter würde die Pflege nicht schwer werden, Loneli sollte ihr nur sagen die Kranke heisse Leonore.
Nun aber liess die Mutter sich nicht aufhalten; auf alle Fragen, mit denen sie jetzt bestürmt wurde, kam die Antwort: »Morgen, Kinder, morgen«, dann war sie wieder nach dem Krankenzimmer hinauf verschwunden.
»Sag mir dann auch, wie sie ist, wenn du sie gesehen hast, ich möchte es so gerne wissen«, sagte Loneli, als es sich von Mea verabschiedete, die versprach, dem teilnehmenden Loneli vorweg in der Schule Bericht von allem zu geben.
Am Morgen darauf erschien die Apollonie so früh am Hause der Frau Maxa, dass noch nicht einmal die Tür aufgeschlossen war; sie pochte leise. Nach einiger Zeit erschien Käthi mit noch etwas verschlafenen Augen.
»Wer wird aber auch so früh schon umherzappeln?« fragte sie ein wenig ärgerlich; denn es war ihn nicht recht, dass die Apollonie wissen sollte, wie kurze Zeit sie erst auf den Füssen war.
»Das ist die Zeit, da mein Tag anfängt«, sagte Apollonie; »aber zappeln tu ich deswegen nicht, das überlasse ich denen, die spät aufstehen. Ich komme, die Frau Pfarrer in der Krankenpflege abzulösen.«
»Sie hat ja noch gar nicht gerufen!« warf Käthi hin.
»Desto besser, sonst wär ich schon zu spät gekommen; aber etwas arbeiten kann man überall«, damit trat Apollonie in die Wohnstube ein und begann, diese in Ordnung zu bringen, so wie es jeden Morgen sein musste.
Das liess Käthi gern geschehen. Zum Dank wollte sie nun gleich ein kleines Gespräch mit ihr anfangen; aber dazu war Apollonie nicht aufgelegt. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken, dem hing sie nach: Wer war die kranke Leonore, die sie pflegen sollte?
Konnte es möglich sein — eben wurde droben geklingelt. Apollonie lief hinauf. Frau Maxa machte die Tür auf und liess sie eintreten. Leonore sass hell erwacht auf ihrem Bett. Ihr reiches, lockiges Haar fiel ihr weit über die Schultern herab, die dunklen, ernsthaften Augen schauten verwundert auf die Apollonie, die unverwandt nach dem Mädchen blickte, während ihr die Tränen unaufhaltsam die Wangen herabrollten.
»Ach, ach«, sagte sie, nun sie sich ein wenig fassen konnte, »da muss man nicht fragen, woher diese Leonore stammt, ach, es ist ja, als komme die alte Zeit zurück. Ja, so sah sie aus, ganz so, wie sie aufs Schloss kam, nur nicht ganz so blass.«
»Leonore«, sagte Frau Maxa jetzt, »Frau Apollonie hat deine Mutter wie auch deinen Vater gut gekannt, so dachte ich, sie würde dir eine liebe Pflegerin sein.«
»O ja, gewiss«, erwiderte Leonore freudig, indem sie der Apollonie freundlich ihre Hand entgegenstreckte, »dann erzählen Sie mir auch von ihnen alles, was Sie wissen, nicht wahr?« Wie gerne wollte Apollonie das tun, aber jetzt musste sie vor Erregung nur immer noch die Augen wischen.
Der Jubel, als die Mutter nun herunterkam und anzeigte, dass sie nun wieder bei den Kindern bleiben würde, wollte gar nicht enden. Die ungewohnte Trennung war ihnen viel länger und schwerer geworden, als sie sich’s vorgestellt hatten. Aber nun war alles überstanden, die Mutter war wieder da und gehörte ihnen wieder ganz und gar für alle Zeit.
Heute sollte aber nun eine Teilung der Mutter vorgenommen werden, schlug Bruno vor, damit jedes zu seinem Recht gelange; denn jetzt hatte sich so vieles angesammelt, das mitzuteilen war, dass jeder Gehör verlangte. Würden sie aber alle miteinander auf die Mutter losschreien, wie es auch schon vorgekommen war, so hätte keines einen Gewinn davon, denn sie würde keines verstehen. Also sollte heute jedes die Mutter eine Stunde lang ganz allein für sich haben, natürlich dem Alter nach.
»Die erste Stunde nach der Schule von elf bis zwölf gehört also mir«, bewies Bruno.
»Dann komme ich an die Reihe von eins bis zwei!« rief Mea, die nicht eben Mitteilungen, aber soviele Fragen für die Mutter bereit hatte, dass sie meinte, sie könnte gut drei Stunden brauchen. Die Fragen betrafen alle die kranke Leonore.
»Von vier bis fünf komme ich dran«, sagte Kurt, der mit seiner Stunde sehr einverstanden war; denn er gedachte sie ein wenig auszudehnen. Der Rest der Zeit bis zum Abendessen gehörte dann den beiden Kleinen, die konnten nicht soviel auf einmal zu sagen haben. Er dagegen hatte immer einen solchen Haufen von Beratungen mit der Mutter aufgespeichert, dass er durchaus ein gutes Stück Zeit brauchte, um damit fertig zu werden.
Die Mutter erwartete bestimmt, Brunos Unterredung werde einen letzten, heftigen Widerstandsversuch gegen das Zusammenziehen mit den Brüdern Knippel zum Gegenstand haben. Wie sehr war sie erstaunt, als sie bemerkte, dass diese Sache ganz in den Hintergrund gekommen war vor der lebhaften Teilnahme an dem Geschick seines neuen Freundes Salo.
Dass dieser so allein stand und keinen Menschen hatte, der ihm helfen wollte, dass er dazu komme, für sich und seine Schwester irgendeine Heimat zu gründen, war jetzt Brunos steter Gedanke, der ihm keine Ruhe liess. Da musste doch die Mutter einen Rat wissen, das hoffte Bruno bestimmt, und sie würde es gewiss gerne tun, sie hatte ja die Eltern der beiden schon lieb gehabt und nun die Kinder noch dazu.
Er hatte wohl recht darin: wie gerne hätte Frau Maxa da geholfen! Sie sagte es ihrem Sohn; aber sie musste ihm zugleich erklären, dass sie da keinen Rat wisse, dass sie gar kein Recht habe, sich in die Erziehung dieser Kinder zu mischen, was sie doch tun würde, wenn sie ausfindig machen wollte, wie Salo seine Studien verlassen und eine Tätigkeit ergreifen könnte, die ihn schneller zu seinem Ziel brächte. Der Herr, von dem Salo gesagt hatte, er habe zu befehlen, sei wahrscheinlich ein Verwandter seiner Mutter, der die Sorge für die Kinder übernommen habe.
Bruno war sehr niedergeschlagen. Wenn sonst die Mutter einem nicht gleich raten oder helfen konnte, so sagte sie doch zum Schluss noch: »Wir wollen schon sehen!« So blieb immer noch eine Hoffnung übrig, dass sie doch noch helfen könnte. Das sagte sie heute nicht, so war denn nichts mehr zu hoffen. Aber die Mutter sah so traurig aus, als sie Bruno ihre Machtlosigkeit bewies, dass er wohl verstand, es war nicht aus Mangel an Teilnahme, dass sie nicht half, es tat ihr selbst weh genug, dass sie nicht zu helfen vermochte.
Bruno ging so still und betrübt hinaus, wie man ihn noch kaum gesehen hatte.
Ganz anders kam Mea von der Unterredung mit der Mutter dahergehüpft. Nicht nur hatte ihr die Mutter mitgeteilt, so liebenswürdig und dankbar für jede kleine Freundlichkeit, so fein und bescheiden sei Leonore, wie sie gar kein zweites junges Mädchen kenne, sondern noch etwas, das Mea über alles erfreute: Leonore, hatte die Mutter wiederholt gesagt, freue sich so sehr darauf, mit Mea zusammenzukommen, mit der sie im gleichen Alter war, sie hatte nur Furcht davor, dass Mea sie bald zu langweilig finden würde. Alle Mädchen im Institut sagten ihr, sie sei langweilig, weil sie so oft traurig war und nicht anders konnte. Jetzt war Mea aufs höchste gespannt auf die Erscheinung der Leonore, für die sie nun schon eine so lebhafte Freundschaft gefasst hatte, dass sie keinen Gedanken mehr hatte, der nicht mit Leonore zusammenhing, und gar nichts mehr sprechen konnte, ohne dabei irgendwie die Leonore zu erwähnen.
»Nun muss ich wirklich ein Lied auf die heftig ausbrechende Freundschaft machen«, sagte Kurt am Abend, als Mea nach wiederholten Malen noch einmal fragte: »Aber gelt, Mutter, wenn Leonore herunterkommt, und der Herr Doktor sagt, sie sei nun gesund so lässest du sie doch noch nicht abreisen, dann können wir ja erst recht einander kennen lernen?« Wie eine brennende Rakete fuhr Mea gegen den Bruder auf, nachdem er seinen Vorschlag gemacht hatte. »Nein, Kurt, das sag ich dir, das tust du nicht!«
»Mea, Mea«, sagte mahnend die Mutter, »siehst du, ich werde ja tun, was in meiner Macht liegt, um Leonore so lange als möglich bei uns zu behalten; aber —«
»Aber wenn du deine armen Brüder so entsetzlich anfährst vor ihren Ohren, so wird sie vor Schrecken die Flucht ergreifen und sich nicht wieder sehen lassen«, — beendete Kurt schnell den angefangenen Satz der Mutter.
Mea musste ein wenig lachen über diesen wenig getroffenen Stil der Mutter.
»Mein lieber Kurt«, sagte die Mutter, »ich kann auch ohne deine Hilfe meine Sätze noch zu Ende bringen. Eigentlich wollte ich sagen, ich werde kaum viel erreichen können, da Leonore wohl von den Damen nach ihrem Ermessen zurückgeholt wird. Aber ich muss nun zugeben, ein wenig Wahrheit war wirklich in Kurts Worten. Leonore hat ein so feines und zartes Wesen, dass sie wohl einmal erschrecken könnte, wenn du so leidenschaftlich auffährst, Mea.«
Als zwei Tage darauf der Arzt wieder erschien, konnte er sich nicht genug darüber verwundern, wie schnell der Zustand seiner jungen Patientin ein anderer geworden war. »Wäre meine Kranke nicht noch so sehr jung«, sagte der Doktor zu Frau Maxa, die ihn aus dem Zimmer begleitete, »ich würde sagen, da stecke ein Kummer dahinter, irgendein inneres Leiden, das sie hier in der liebevollen Behandlung und guten Pflege ablegen konnte. Aber bei einem Kinde ist das kaum zu denken.«
Auf die Frage der Frau Maxa, wann Leonore nun wohl das Zimmer verlassen und ihre Tage mit den allerdings sehr lebendigen Kindern zubringen dürfe, antwortete er: »Gleich von morgen an, und nichts Erfrischenderes für sie, als eine Schar lebendiger Spielgenossen.«
Damit verabschiedete er sich. Auf der Treppe traf er auf die hinaufsteigende Apollonie. Sie trug ein grosses Brett mit allerlei guten Sachen darauf als Abendessen für die Kranke.
»So ist’s recht!« sagte der Doktor, »schon der Anblick der guten Dinge macht Appetit!«
»Ja, die Kranke isst ja nur wie ein Vögelchen«, sagte die Apollonie; »aber die Frau Pfarrer sagt, sie müsse etwas auslesen können, sonst habe sie gar keine Lust. Aber wie geht es denn, Herr Doktor? Sie wird uns doch wieder ganz gesund? Ist sie nicht geradezu wie ein Engel vom Himmel?«
»Die kenne ich nicht so ganz genau; aber es wird schon so was sein«, sagte er, »und mit einer guten Pflege bringen wir sie auch durch. Für die werden Sie schon sorgen, Frau Apollonie, man könnte meinen, Sie hätten mit dieser Pflege das grosse Los gewonnen.«
»Das hab ich auch, Herr Doktor, das hab ich auch!« rief sie dem Forteilenden nach.
Noch nie war im Hause der Frau Maxa ein Ereignis mit solcher Spannung erwartet worden, wie das Erscheinen der Leonore im Kreise der Familie. Die Mutter holte sie aus ihrem Zimmer herunter, sobald die Morgenschulstunden zu Ende und die Kinder alle beisammen waren. Die drei älteren standen in stummer Erwartung auf einem Häuflein beisammen, während die beiden kleinen sich mit weit aufgesperrten Augen an der Tür aufgestellt hatten. Leonore trat ein und grüsste eines der Kinder nach dem anderen so freundlich und vertraulich, als wäre sie eine alte Bekannte von ihnen. Sie hatte sich ja so an die Mutter angeschlossen und sie lieb gewonnen, dass sie in ihren Gedanken den Kindern schon nahe stand, bevor sie diese nur gesehen hatte. Das gefiel den Kindern ganz ausserordentlich und war etwas ganz anderes, als was sie erwartet hatten; denn jedes hatte angenommen, Leonore sei von so besonderer Art, dass man sich ein wenig vor ihr genieren müsse. Nun war sie aber so, dass jedes fühlte, es könne eine ganz besondere Freundschaft mit ihr errichten, und sich vornahm, das auch auszuführen. So kam es, dass wenige Minuten nach ihrem Eintritt Leonore von den Kindern umringt in ihrer Sofaecke sass, wo die Mutter sie hingebracht hatte; denn allzu kräftig sah sie noch nicht aus. Mit freudeleuchtenden Augen suchte sie alle die Fragen und Vorschläge und Mitteilungen zu erwidern, die an sie gerichtet wurden. Es musste ihr immer wohler zumute werden in ihrer neuen so ungewohnten Umgebung; denn Leonore sah nach und nach so rosig aus, wie Frau Maxa sie noch nicht gesehen hatte. Mea hatte schon einen fertigen Plan im Kopf, wie sie es anstellen wollte, um mit Leonore nun auch dann und wann allein zu sein und so recht bekannt und vertraut mit ihr werden zu können. Nun alle Geschwister ein solches Wohlgefallen an Leonore fanden, war es nicht so leicht, sie allein für sich zu bekommen. Wenn nur die Mutter ihre Einwilligung zum Plane geben wollte! Sobald die Mittagszeit da war, da Mea ihrer Pflicht als Ordnerin des Tisches nachgehen musste, lief sie erst schnell der Mutter nach; sie konnte nicht warten, bis sie dieser ihre Angelegenheit vorgetragen hatte. Zu ihrer ungeheuren Freude war die Mutter sogleich ganz mit ihr einverstanden. Mea wünschte, den Platz der Apollonie in Leonores Zimmer einzunehmen; was noch in der Nacht für diese zu tun wäre, wollte sie so gern tun, wenn sie nur bei ihr sein dürfte. Die Mutter fand, einer besonderen Pflege bedürfte ja nun Leonore nicht mehr, und sollte ihr in der Nacht etwas zustossen, das nicht vorauszusehen war, so wäre Mea schnell unten, um die Mutter zu holen. »Leonore wird dir soviel sein, ohne dass sie selbst es weiss«, schloss die Mutter, »dass ich mich freue, wenn du auch etwas für sie tun kannst.«
Frau Maxa teilte den Entschluss der Apollonie mit und meinte, sie werde ja auch froh sein, wieder heimgehen zu können.
»Für diesen Engel täte ich mit Freuden alles, was in meinen Kräften liegt«, erklärte sie, »gern ginge ich in die Wüste für immer, könnte ich ihr nur dadurch eine Heimstätte verschaffen.«
Als sie nach Tisch kam, um von Leonore Abschied zu nehmen, drückte ihr diese herzlich die Hand und dankte ihr warm für ihre gute Pflege.
»Ich werde es gar nie vergessen, wie freundlich Sie mit mir gewesen sind, Apollonie«, sage sie herzlich. »Sobald ich hinaus darf, will ich Sie auch besuchen, und dann, wissen Sie, dann kommen wir vielleicht erst recht zusammen.«
»Ach ja, wenn so etwas sein könnte! Sie müssen mit der Frau Pfarrer darüber reden«, sagte Apollonie. Dann ging sie.
Nun erzählte Leonore, wie Apollonie ihr die schöne Heimat ihrer Eltern und das herrliche Leben auf dem Schloss geschildert habe, und wie sie ihr dann geantwortet habe, sie würde gar nicht eine so schöne Heimat begehren, wenn sie nur ein ganz kleines Plätzchen ihr eigen nennen dürfte, wo sie mit Salo daheim wäre. Da hatte die gute Apollonie ausgefunden, sie könnten vielleicht bei ihr wohnen, sie würde ihren allen Platz geben, bis auf ein kleines Kämmerchen, und dann könnte sie ihnen alle Dienste tun, so dass sie sonst gar niemand bedürften. Das wäre nun so wundervoll, meinte Leonore, wie sie sich nichts Herrlicheres denken könnte; dann könnte sie immer zu Frau Maxa und den Kindern kommen, und Salo hätte eine so ungeheure Freude, wenn sie ihm das schreiben könnte.
»Ja, das kannst du«, fiel Mäzli schnell ein, »da kann man gut wohnen, und Loneli ist dann noch da und tut, was man will. Und die Apollonie kocht immer, was man am liebsten hat.«
»Die Mazen und die Spatzen,
Die denken nur ans Atzen!«
fügte Kurt hinzu.
Bevor noch Mäzli von der Mutter in Erfahrung bringen konnte, was das Atzen sei, um den Spottspruch beantworten zu können, hatte diese sich schon zu Leonore gewandt.
»Liebes Kind, ich möchte nicht, dass du dich in einen Gedanken einleben würdest, der nur zu einer Enttäuschung führen kann«, sagte sie. »Unser erster Ausgang soll zu Apollonie sein, damit du sehen kannst, von welch einem Häuschen die Rede ist. Und dann wäre ja doch das Haupthindernis nicht gehoben, Salo braucht noch Jahre, bis er so weit ist.«
»Eben darum habe ich gedacht, bei der guten Apollonie zu wohnen, wäre für uns so prächtig, wie sonst nirgends«, meinte Leonore. »Zu ihr könnte ich gut allein einziehen, weil sie auch da wäre, und für alle Ferien könnte Salo dann zu mir heimkommen, bis er zuletzt ganz bei mir daheim bleiben könnte, so nahe bei Ihnen allen.«
Leonore hatte sich offenbar schon tief in den Gedanken dieses Daheims eingelebt und sah nun eben mit solchem Verlangen nach Zustimmung zu Frau Maxa auf, dass diese es nicht über sich brachte, ihr gleich die ganze Hoffnung zu nehmen. Sie zog vor, die Sache fürs erste fallen zu lassen, konnte man erst einen Gang zu Apollonie machen, so musste sich Leonore selbst überzeugen, dass sie sich Unausführbares vorgestellt hatte.
Lag auch in den dunklen Augen der Leonore fast immer ein Ausdruck der Traurigkeit, so konnte sie doch auch einmal herzlich fröhlich aussehen. So war es am heutigen Abend, wie sie mitten unter den Kindern sass, wo jedes ihr am nächsten sein wollte und ihr soviel zu erzählen hatte, dass sie ein Gefühl überkam, als sei sie heimgekommen in eine Familie, zu der sie gehörte. Es hatte auch jedes sein besonderes begründetes Verhältnis zu ihr: Bruno als naher Freund ihres Bruders sah sich als ihren Beschützer und Vertrauten an, der über sie zu wachen hatte, dass ihr kein Leid, aber viel Liebes geschehe. Mea, die schon alle die Tage her keinen anderen Gedanken mehr, als die neue Freundin gehabt hatte, brachte dieser nun auch die ganze Wärme ihres freundschaftdurstigen Herzens entgegen. Kurt sah es als seine dringende Pflicht an, die etwas düster gestimmte Leonore mit aller Macht aufzuheitern. Lippo war immer noch ein wenig unter dem Endruck seines Wächteramtes und drängte sich sorgsam an Leonore heran, als hätte er sie zu hüten. Mäzli war überzeugt, dass es den Gast zu unterhalten hatte, und erzählte von allem, was es wusste, je ein Stück, und dann wieder etwas Neues. Auch die Familie Knippel lernte Leonore bei dem Anlass kennen. So verstrich die Zeit für alle ungeheuer schnell, und ein grosser Jammer brach los, als die Mutter fand, nun möchte es für Leonore genug sein, dieser erste Tag des Wiederaufgestandenseins durfte nicht zu lange ausgedehnt werden.
»Und nach diesem ersten Tage wird nun noch mancher kommen, den wir so fröhlich zusammen verleben werden«, fügte sie hinzu, »dessen wollen wir uns doch nun freuen.«
»Es werden vielleicht nicht soviele sein, ich bin wirklich heute schon ganz wohl«, sagte Leonore mit einem Seufzer.
Frau Maxa lächelte.
»Dafür wollen wir doch Gott danken, dass es so ist. Eine rechte Erholung hast du aber doch noch nötig, und die soll dir, hoffe ich, bei uns noch zuteil werden.« Dann begleitete sie die beiden Mädchen nach ihrem hochgelegenen Zimmer hinauf, um sich zu versichern, dass da oben nichts fehle; denn schon heute sollte ja Mea die alleinige Hüterin der doch noch nicht so ganz Genesenen sein. Mea war so geartet, dass sie in jeder neuen Freundin etwas ganz Besonderes voraussah; denn ihre Einbildungskraft war nicht weniger in Tätigkeit bei jeder neuen Bekanntschaft, als ihr warmes Herz, das sie einer solchen entgegenbrachte. So kam es denn, dass Mea viele Täuschungen zu erleben hatte; denn so wie sie sich vor der näheren Bekanntschaft vorgestellt hatte, dass diese Freundinnen sein müssten, waren sie nun gewöhnlich nicht, was Mea dann viel Leid bereitete. Sie wollte dann so gerne das schöne Bild festhalten, das sie sich gemacht hatte, und doch stimmte es gar nicht mit dem, was sie an der Freundin erlebte; dann kämpfte sie meistens so lange darum, bis der Bruder Kurt mit seiner gewohnten Deutlichkeit ihr die volle Erkenntnis der wirklichen Dinge beibrachte. Da war dann keine Hilfe mehr; was einmal so klar bewiesen war, musste sie gelten lassen. Sobald aber eine neue Erscheinung auftauchte, die die schnell geweckten Freundschaftsgefühle der Mea erregte, so ging diese ihr trotz aller Enttäuschungen sogleich mit ganz denselben Erwartungen auf etwas Besonderes entgegen, das war nun einmal nicht bei ihr zu ändern.
Eine Woche war nun vergangen, seit Leonore den ersten Tag als Genesende im Kreise der Familie zugebracht hatte. Mea, die nicht nur die Stunden des Tages, wie die anderen Geschwister, mit ihr zubrachte, sondern auch noch die spätere Abendzeit, und diese dann ganz allein in der grössten Vertraulichkeit mit ihr verlebte, war in hellem Entzücken über die neue Freundin. Jeden Augenblick des Tages, den Mea zu Hause verbrachte, suchte sie an Leonores Seite zuzubringen, und musste sie sich zu Zeit der Schulstunden von ihr trennen, so kannte sie auf dem Hin- und Herwege keinen anderen Gesprächsgegenstand mehr als Leonore.
Wunderbarerweise hatte Kurt noch kein einziges Mal sein Sprüchlein vorgebracht, das er sonst bei solchen Freundschaftsanfällen der Mea anwandte: »Es wird schon noch anders kommen!« Im Gegenteil, er stimmte eifrig in die Freude von Mea über die ganz unvergleichliche Bekanntschaft ein, und es schien wirklich, als sei er diesmal selbst von dem »Freundschaftsfieber« angesteckt, wie er in ähnlichen Fällen gewohnt war, Meas Zustand zu nennen.
Bruno musste unter einem ähnlichen Eindruck stehen. Während er sonst in den Freistunden mit seinen Büchern in einer Ecke sass und sich um nichts kümmerte, was die anderen trieben, setzte er sich jetzt immer gleich in den fröhlichen Kreis und hatte meistens etwas zu erzählen oder vorzuzeigen, um Leonore zu unterhalten, und alles wurde in so zahmer, ruhiger Weise getan, als könnte sich Bruno kaum anders gebärden.
Lippo fühlte sich so behaglich in der Nähe der immer freundlichen Leonore, dass er sich fortwährend so nah als möglich zu ihr hielt. Nie hatte sei ein ungeduldiges Wort gegen ihn, wie eingehend und genau er ihr auch seine Erlebnisse erzählen mochte, immer ermunterte sie ihn, nur fortzufahren und schützte ihn erfolgreich vor allen spöttischen Bemerkungen der Geschwister. Von Zeit zu Zeit sage er dann vertraulich und fest überzeugt, dass dies für alle das beste wäre: »Bleib du doch nur immer bei uns, Leonore, da bist du doch daheim, wenn du sonst keine Heimat hast«, was er ja aus ihren eigenen Worten gehört hatte.
Dann wurde Leonore aber ganz dunkelrot, als hätte Lippo sie auf einen Gedanken ihres Herzens betroffen, den sie doch gar nicht hegen durfte. Als die Mutter das einmal bemerkt hatte, sagte sie im gewohnten letzten Abendgespräch dem Lippo, er dürfe diese Worte nicht wiederholen. Es wäre ja für sie alle eine ganz ungeheure Freude, Leonore hier zu behalten; aber das könne nun einmal nicht sein, und davon zu sprechen, tue Leonore nur weh. Nun es ein festes Verbot war, davon zu sprechen, übertrat es auch Lippo nicht wieder. Aber in seinem ganzen Tun zeigte er Leonore so deutlich als nur möglich, dass er sie am liebsten immerfort in seiner nächsten Nähe behalten wollte.
Mäzlis grosse Liebe, die es für Leonore gefasst, zeigte sich besonders darin, dass es sich gedrungen fühlte, seine hilfreiche Hand für sie in Tätigkeit zu bringen. Denn dass Leonore das nötig hatte, erkannte Mäzli aus vielen Zeichen, besonders auch daraus, dass sie auf einmal ganz traurig aussehen konnte, wenn gerade alle im Kreise zusammensassen und am allerlustigsten waren und Leonore eben noch ganz fröhlich mitgemacht hatte. Aber es wollte ihr schon helfen, es wusste wohl wie: es wollte der Apollonie sagen, wie schön sie alles für Leonore einrichten müsse und dann auch noch für ihren Bruder, der für die Ferienzeit immer herkommen würde. Es hatte aber im Sinne, diese Vorbereitungen selbst zu überwachen, damit alles so schön würde, wie es für Leonore sein müsste.
Diesmal musste die neue Freundin der Mea wirklich etwas besonderes an sich haben, dass die Geschwister alle von demselben Zug zu ihr erfasst waren und jedes ihr gern zulieb tun wollte, was es nur tun konnte. Was das besondere an ihr war, wusste keiner so recht zu sagen, es war eben ihr ganzes Sein und Wesen, das so ganz anders war, als dasjenige aller der Freundinnen der Mea, die bis jetzt aufgetreten waren, darin stimmten sie alle überein. Noch nie hatten auch die Kinder erlebt, dass ein Kind von ihrem Alter so höflich gegen jedermann war, die Küchenkäthi gar nicht ausgenommen, wie Leonore, und dass sie für die Geschwister alle nur herzliche und liebevolle Worte hatte und doch jedes freundliche Wort von ihrer Seite so aufnahm, als sei es etwas, für das sie besonders dankbar sein konnte. Das war ihnen etwas ganz Neues, aber auch so Wohltuendes, dass jedes bei sich dachte, wenn es doch nur alle anderen auch so machen wollten, dann könnte es selbst auch ganz gut so handeln, und dann gäbe es gar keine Streit- und Haderszenen mehr, die doch auch dann und wann zwischen den Geschwistern vorkommen konnten und schliesslich doch wieder allen leid taten. Nur eines hatten die Kinder bei Leonore zu bedauern, dass sie immer mitten in der fröhlichsten Unterhaltung so traurig werden konnte, dass auch die anderen eine Zeitlang nicht mehr froh zu sein vermochten. Leonore tat zwar, was sie konnte, um die Eindrücke zu überwinden, die plötzlich so niederschlagende Gedanken in ihr aufwecken konnten; aber nicht immer konnte sie die frohe Stimmung wiedererlangen, manchmal war der Eindruck zu tief gegangen. Die Mutter sagte dann tröstend, wenn Leonore nur erst hinauskommen und dann täglich mit den Kindern durch Feld und Wald streifen könne, dann werde sie kräftiger werden, und manches, das jetzt drückend auf ihr liege, komme ihr dann nicht mehr so schwer vor.
Wenige Tage nachher kehrten die Kinder alle mit roten Wangen und strahlenden Augen von ihrem ersten Gang mit Leonore über die nahen Hügel zurück. Der frische Bergwind hatte sie so belebend durchweht, dass das Gefühl des Wohlseins aus all den jungen Gesichtern lachte.
Auch Leonores sonst immer noch so blasse Wangen waren von einem rosigen Hauch angeweht. Die Mutter trat aus dem Garten auf den Weg hinaus, um die Kinder zu empfangen.
»Oh«, rief sie erfreut aus, »wie gut hat dieser erste Lauf getan! Leonore sieht aus wie eine frische Apfelblüte!«
Mit grosser Zärtlichkeit fasste sie Leonores Kopf zwischen beide Hände, um sie so recht anschauen und sich der rosigen Farbe auf dem zarten Gesichte recht freuen zu können. In dem Augenblick trat eine bettelnde Frau an die Gruppe heran, an jeder Hand ein kleines Mädchen führend, die beide in ihren zerfetzten Röckchen kaum recht bedeckt waren. Die Bettelnde blickte nach Frau Maxa hin, dann sage sie: »Ja, ja, so kann man schon Freude an seinen Kindern haben, wie die Frau sie hat, sie weiss wohin mit ihnen, die haben ein gutes Dach. Aber solche Heimatlose, wie die zwei, denen wäre besser, sie wären nicht da, die bleiben ihr Leben lang heimatlos, das ist das Traurigste von allem.«
Dann streckte sie ihre Hand aus; denn Frau Maxa war jetzt aufmerksam geworden. Leonore hatte schnell ihr Tuch vom Hals genommen und ihre Jacke ausgezogen.
»Darf ich es ihnen geben?« fragte sie leise Frau Maxa.
Aber die Bettelnde hatte ihre Bewegung schon verstanden und streckte ihre Hand nun nach Leonore hin.
»Das junge Fräulein hat ein Herz für die Heimatlosen, wenn es schon nicht weiss, was das ist; vergelt’s Gott, vergelt’s Gott!«
Leonore schaute bittend zu Frau Maxa auf, diese nickte jetzt bejahend. Es wäre doch etwas spät gewesen, der Leonore zu erklären, was die eigentlich für besser hielt; sie nahm sich vor es nachher zu tun, für folgende Fälle. Die arme Frau dankte mit vielen Worten für alles Gute, das sie erhalten, und wollte dem jungen Fräulein durchaus noch die Hand für die zwei schönen Stücke küssen; aber Leonore war gleich fortgelaufen. Mea lief ihr nach. Drinnen im Zimmer fand sie Leonore , die noch eben auf dem Spaziergang so herzlich fröhlich gewesen, wie sie in ihrer Sofaecke, den Kopf in die Hände gedrückt, bitterlich weinte.
»Was hast du, Leonore? Warum musst du denn so schrecklich weinen?« fragte Mea erschrocken.
Leonore konnte nicht gleich antworten. Nun waren auch die Mutter und die anderen Kinder eingetreten, und alle umringten mit Staunen und grosser Teilnahme die weinende Leonore.
»Geradeso bin ich«, sage sie jetzt aufschluchzend, »eine solche Heimatlose, und wer einmal heimatlos ist, der bleibt sein Leben lang heimatlos, das hat die Frau gesagt, und ich glaube es auch, man darf sich ja nicht eine Heimat suchen, und sonst findet man ja keine.«
Leonore war noch nie in so leidenschaftlichen Schmerz ausgebrochen. Frau Maxa schaute sie bekümmert an.
»Im tiefen Herzen ist sie auch eine Wallerstätten«, sagte sie sich, »dann steht ihr mehr Kampf bevor, als ich glaubte.«
Sie winkte den Kindern, sie sollten ein wenig nach dem Garten hinausgehen. Dann setzte sie sich zu Leonore hin, nahm ihre Hand in die ihrige und wartete, bis das heftige Weinen aufgehört hatte. Dann sagte sie in ihrer liebevollen Weise: »Leonore, erinnerst du dich, wie du mir droben in unserer Krankenstube, als ich an deinem Bette sass, erzählt hast, dass du unter den Musikheften deiner seligen Mutter ein Lied gefunden hättest, das du dir selbst immer wieder zum Troste sagst, wenn du Mut und Vertrauen verlieren wolltest, dass der liebe Gott auch an dich und deinen Bruder denke, und dass er auch für euch sorge, sowie er weiss, dass es für euch gut ist, wenn ihr es auch nicht erkennen könnt? Hast du nun vergessen, was dir tröstlich war? Kannst du mir nicht den Vers sagen, den du am liebsten sangst?«
»O ja, das kann ich«, sagte Leonore, »es ist der Vers:
‘Herr, der du alles wohl gemacht,
Ich will nichts, als was du willst schenken,
Du machst es nicht, wie wir gedacht,
Du machst es besser, als wir denken.’.«
»Ja, wenn ich das wieder so recht festhalten kann, dann wird es mir auf einmal viel wohler«, setzte Leonore nach einer kleinen Weile mit ganz anderer Stimme hinzu, »dann kann ich wieder fröhlich werden, weil ich weiss, was wir, Salo und ich, gar nicht ausfindig machen können, das kann der liebe Gott ja doch allein für uns tun. Aber wenn dann alles wieder so bleibt und gar keine Aussicht ist, dass es anders werden kann und wir nicht einmal etwas suchen und tun dürfen, dass es anders wird, dann muss ich denken, es bleibt gewiss immer so mit uns, und die Frau hat es ja auch gesagt: wer einmal heimatlos ist, der muss es sein Leben lang bleiben.«
»Nein, Leonore«, sagte jetzt Frau Maxa, »dieses willkürliche Wort, das die arme Frau im Jammer ausgestossen hat, weil sie keine Hilfe für ihre Kinder vor sich sieht, sollst du nicht annehmen als etwas, das nicht anders sein kann, so ist es nicht. Du kannst ja wohl nicht absehen, wie es mit euch anders kommen kann; aber du weisst, du darfst immer wieder den lieben Gott bitten, dass er dir festes Vertrauen gebe in seine liebevolle Fürsorge und dann ihm alles überlassen, das wird dir wohl tun. Dann musst du auch nicht mehr unruhig hin- und herdenken, wie du finden könntest, was ihr so sehnlich wünscht, was doch immer nur neue Enttäuschungen für dich bringt.«
Leonore war jedem Wort der Frau Maxa aufmerksam gefolgt. Eine Weile schaute sie noch nachdenklich vor sich hin, dann sagte sie: »Tante Maxa« — schon lange hatte sie darum gebeten, Frau Maxa so nennen zu dürfen, und diese hatte es herzlich gern zugegeben — , »darf ich auch nicht mehr an das Häuschen der Apollonie denken? Gibt es auch eine Enttäuschung, wenn ich hoffe, dass wir dort eine Heimat finden könnten?«
»Ja, liebes Kind, es ist völlig unmöglich, dass du je dort mit deinem Bruder wohnen könntest. Ich weiss das ganz bestimmt, sonst würde ich dir nicht so entschieden eine Hoffnung vernichten, die dir lieb geworden ist.«
Es tat der Frau Maxa selbst weh, diese Hoffnung so ganz abzuschneiden; aber sie fand es nötig; denn die Apollonie würde in ihrer masslosen Liebe und Verehrung nie das Herz haben, Leonore etwas abzuschlagen, auch wenn sie wusste, dass es unmöglich sein würde.
»So will ich gar nicht mehr daran denken und mich nur freuen, dass ich noch bei euch bleiben darf«, sagte Leonore, indem sie Tante Maxa mit herzlichem Vertrauen umfasste.
Später am Abend, als die Kinder wieder fröhlich zusammensassen und Leonore ihr Leid überwunden hatte, kam ein Brief aus Hannover an die Mutter. Sie hatte den Damen von der erfreulichen Genesung der Leonore Mitteilung gemacht und hinzugefügt, noch einige Wochen der Erholung in der stärkenden Höhenluft halte der Arzt für nötig, und sie selbst wünsche nichts so sehr, als Leonore noch so lange als möglich in ihrem Hause zu behalten. Die Antwort der Damen war voller Dankbezeigungen für die gütige Hilfe in der grossen Verlegenheit. Für die nächsten zwei Wochen würden sie gerne noch die grosse Freundlichkeit der Frau Pfarrer annehmen, dann würde eine der Damen erscheinen, um Leonore zurückzuholen.
Frau Maxa schaute mit schwerem Herzen nach dem Kinde hinüber, das sie lieb gewonnen hatte wie ein eigenes, und das sie nun bald wieder ziehen lassen sollte, und nicht nach einer Heimat, das fühlte sie wohl; das Haus der Damen war keine solche für Leonore geworden. Wie schwer dem Kinde selbst das Fortgehen würde, wusste sie wohl; es machte ihr Leid um so grösser. Aber sie konnte nichts tun, sie hatte kein Recht auf das Kind. Das einzige, was ihr blieb, war, der Dame die Bitte vorzulegen, ihr Leonore doch je und je für ihre Sommerferien zu überlassen. Die Fröhlichkeit der Kinder wollte sie heute abend nicht mehr trüben mit der Nachricht, die der Brief enthielt.