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Also singend gelangten sie zu einem komischen Zwergstädtchen, das bloß aus einer einzigen Straße bestand. «Weidenbach», belehrte Gesima. Am Eingang des Städtchens stand Hansli in feindseliger Stellung, die Beine gespreizt, mit höhnischem Gebärdenspiel ein Stück Brot vorzeigend und verzehrend, in der Hoffnung, Neid zu erwecken; aber beim Näherrücken des gefährlichen Kanoniers stahl er sich vorsichtig um die Ecke, den Durchpaß freigebend, und die Verbündeten zogen in Weidenbach ein.
Appetitliche Gerüche von Fleischbrühe und Körbelkraut grüßten die Vorübergehenden; aus kühlen, verhängten Stuben klapperten Teller und Löffel, ein sonnenfeindlicher Hut- und Handschuhladen entsandte einen muffigen Hauch fremdländischen Aroms. Durch schwarze Hausflure gewahrte man besonnte Hofwinkelchen, ähnlich den Sentisbrugger Glückseligkeiten, nur auf andern Stengeln. Auf der Schattenseite der Straße trieb ein Scherenschleifer seinen Wetzstein, daß das Schnurren und Kritzen das stille Städtchen erfüllte. Neben ihm erschien, aus einem Hausgang tretend, von einem Völklein neugieriger Kinder gefolgt, eine Magd mit einer Mäusefalle, gleichgültigen Blickes das Städtchen nach Zerstreuungen absuchend, als ob sie ein Haushaltungsgeschäft besorgte wie ein anderes. Eine aufgeregte Katze schmiegte sich kosend an ihre Füße, weiche, flehende Töne gespannter Mordlust jammernd. Schaudernd beschleunigte Gerold seine Schritte und schaute kummervoll zum Himmel, ob nicht das teuflische Henkerspiel dort oben einen Schmutzfleck in der Welt zurücklassen werde. Neben der Herzensangst des Mitleids quälte ihn überdies ein dumpfes Schuldgefühl, da ihm sein Gewissen zuflüsterte, alles, was immer geschehe, gehe die Verantwortlichkeit sämtlicher Gegenwärtiger an. Und dazu surrte das Rädchen des Scherenschleifers geschäftig weiter, und seine scharfen Messer kreischten so schrill, daß es einen bis ins Knochenmark fror, wenn man sich an die Stelle des Wetzsteines lebendiges Fleisch dachte. Als er aber seinen Abscheu vor dem schauderhaften Benehmen der Katzen mit den Mäusen aussprach, wurde er von Gesima gescholten.
«Geschieht den Mäusen nichts als recht», urteilte sie, «warum fressen sie die Vorhänge!»
Vor einem Zuckerbäckerladen am Ausgang des Städtchens gestand Gesima, Hunger zu verspüren. «Ich habe kein Geld», bedauerte Gerold. «Hingegen ich! fünfzig Rappen!» Und überredete ihn einzutreten.
«Guten Tag, Kinder, was ist euch gefällig?» fragte die freundliche Verkäuferin. Nach einigem Zaudern entschied sich Gesima für Pomeranzen. «Wieviel für fünfzig Rappen?» «Vier, und eine fünfte obendrein, weil ihrs seid. Aber ist das nicht, oder täusche ich mich, Gesima Weißenstein von Bischofshardt? Wie kommen denn Sie dazu, Fräulein, am heißen Mittag zu Fuß auf der Landstraße zu reisen? Wollen Sie nicht vielleicht ein wenig ausruhen und einen Teller Suppe essen?» Doch Gesima verneinte dankend.
Jenseits des Städtchens spähten sie nach einem Plätzchen, wo sie die Pomeranzen am behaglichsten verspeisen könnten. Über dem Straßenbord auf der Höhe eines Wiesenraines ruhten zwei Heuwagen, haushoch überladen, zur Heimfahrt bereit, aber noch nicht mit Pferden bespannt. In den Zwischenraum dieser beiden Wagen setzten sie sich wie in ein Stübchen, mit einer leuchtenden, weißen Wolke zum Dach. Nun klaubte das Mädchen mit der Daumenbreite die dicken, pelzigen Goldschalen zu einem Kranz auseinander und bot das Kunststück ihrem Beschützer an. «Nimm!» Während sie so einträchtig schmausten, schlich sich unten auf der Straße Hansli herbei und guckte ihnen zu, furchtsam und begehrlich wie ein fremder Hund vor der Gasttafel; es fehlte bloß, daß er winselte. «Kannst fasten», riefen sie ihm schadenvergnügt zu, «hasts verdient, ist dir gesund», und so oft sie eine Pomeranze erledigt hatten, schickten sie ihm die Schalen ins Gesicht. Dann warf er den Kopf nach allen Richtungen, wie der Dächsel, wenn eine Wespe vorüberfliegt, prüfte mit gierigem Blick die enttäuschende Bescherung und nahm betrübt seine demütige Kapuzinerstellung wieder ein.
Ein Hausierer, den Wiesenrain schräg hinansteigend, erschien vor dem luftigen Speisestübchen, auf den Schultern statt der Epauletten grellfarbige Tücher, Hosenträger und Springseile, in dem baumelnden Hängekorbe Knöpfe, Ringe, Nadeln, Salben, Schwefelhölzchen, ein ganzer Jahrmarkt. Und beim Gehen stützte er den Korb mit dem Knie, als ob er Drehorgel spielen wollte.
Gerold ließ er unbehelligt, dagegen das Mädchen suchte er mit zudringlichen Aufmunterungen heim, indem er ihr die Kinkerlitzchen vor die Augen spiegelte. Sie bog verächtlich den Kopf weg, als ob er ihr Ungeziefer vorgehalten hätte. Als jedoch ein Springseil an die Reihe kam, glänzten ihre Augen. Nun erlaubte er ihr, das Springseil versuchsweise zu benützen. Da sprang sie lustig in dem Schwungrade herum, wie der Mann im Monde, warf dann plötzlich das Seil weg, setzte sich nieder und schloß die Augen, dem Händler den Rücken kehrend. Jetzt hielt jener das Seil dem Gerold unter die Nase, so lange, bis dieser ganz verlegen wurde. «Wir haben kein Geld», munkelte er endlich kleinlaut und wandte sich ebenfalls ab.
Nachdem der Krämer noch eine Zeitlang in seiner Verkaufsstellung beharrt hatte, ohne sich um die verneinende Mimik des Kanoniers zu kümmern, stieg er den Rain hinab auf die Straße und machte sich an Hansli, welcher, die Hände in den Hosen, dem Handel aufmerksam zugesehen hatte. Der gaffte eine Weile das Springseil an, schnitt dann plötzlich ein schlaues Gesicht, griff in die Tasche und zeigte mit einladenden Winken dem Mädchen seinen Fünffrankentaler. Sofort eilte Gesima zu ihm hinunter, schmiegte sich an ihn und empfing nach kurzer Verhandlung das ersehnte Springseil zum Geschenk glückselig aus Hanslis Händen. Hierauf zogen sie beide, Hansli und Gesima, fröhlich ab, mit den Schultern aneinanderklebend und unter geheimnisvollem Zischeln spöttische Blicke nach dem verlassenen Kanonier zurücksendend, welcher mit zornigen Schritten nachfolgte, um das treulose Mädchen zur Pflicht zurückzumahnen.
«Du bist ja bloß ein Storch!» rief sie ihm schnippisch zu, sobald sie einen überfallssichern Zwischenraum hinter sich gelegt hatte, und Hansli ergänzte die Schmähung, indem er es für vollständig richtig und vernünftig ausgab, daß Gesima keine Gemeinschaft mit einem so unwissenden Buben pflegen möge, der mit elf Jahren noch nicht einmal gelernt habe, daß man nur ein einziges Mal auf der Welt sei und das nämliche Erlebnis nicht zweimal erlebe. Hiermit liefen sie beide in siegreichem Trab davon, mittelst dessen sie sich rasch entfernten. Dazwischen hopsten sie zur Abwechslung beiläufig über die Steinhaufen zu beiden Seiten der Straße, Hansli zu Fuß, seine Freundin im Flug durch das Schwungrad; schließlich tauchten sie am Horizont unter, Stück für Stück von den Füßen aufwärts, bis sie gänzlich versanken.
Gerold aber war empört, einfach empört. Erstens darüber, daß seine Reisegefährtin, mit welcher er vor wenigen Minuten noch so traulich die ›Regimentstochter‹ gesungen, seine Verbündete, mit welcher er sich zum Kadettenball versprochen hatte, verräterisch zum Feinde überlief, zweitens über die schändliche Veröffentlichung seiner Geheimnisse. Es war das erste Mal gewesen, daß er überhaupt einem Menschen mitgeteilt hatte, er sei ein Storch gewesen und erlebe manches zweimal; wenn er es Gesima anvertraut hatte, so war das selbstverständlich unter der stillschweigenden Bedingung geschehen, sie betrachte es als einen Beweis der Freundschaft und behalte es bei sich. Und nun geht sie und schwatzt es aus und gibt ihn der Lächerlichkeit preis! Das fand er gemein, einfach gemein. Vor Groll stieß er mit den Fußspitzen den Staub vor seinen Füßen auf, daß er wie in einer Wolke einherwandelte. Dann warf er das treulose Geschöpf verächtlich aus dem Sinn. Was brauchte er eine Gesima! was ging ihn das ganze falsche Mädchengeschlecht an! Er hatte Besseres als das: seinen schönen Kadettengeneral, der ihm nicht untreu werden konnte, weil er ja sein Gefangener auf Ehrenwort war. Und nun überließ er sich wieder der beseligenden Vorstellung, wie der schöne Feind, vor ihm auf das linke Knie sinkend, sich ihm ergab, indem er ihm den Säbel waagrecht hinreichte und mit seinen blauen Augen um Gnade flehte. Weiter vermochte er die Geschichte mit aller Gedankenanstrengung nicht zu führen, er fiel ewig in diese einzige Szene zurück, die aber enthielt eine solche Süßigkeit, daß er gar nicht ungerne daran kleben blieb, wie die Fliege an einem Milchtropfen.
Während er dieses wonnige Erlebnis im Herzen abhandelte, schickte er gleichzeitig seine Blicke in die Wirklichkeit auf die Weide; das eine störte das andere nicht; im Gegenteil: je andächtiger er dem inwendigen Bilderspiel zuschaute, desto schärfer sahen seine Augen nach außen.
Die Straße führte durch grüne Wiesen und gelbe Rapsäcker wie zwischen blühenden Gartenbeeten. Oben am lerchendurchjauchzten Himmel türmten sich leuchtende Weißwolkenberge, in den Feldern gaukelte eine Kavallerie von Schmetterlingen, und die ganze Welt war vom Sonnenglast wie mit Fenstern überspiegelt, so daß die Luft flimmerte und zitterte. Von Menschen war keine Spur zu erblicken, wahrscheinlich wegen der sogenannten Mittagshitze. Was sie doch immer für ein unbegreifliches Gezeter gegen die ›Hitze‹ anhoben, die Erwachsenen! Er hatte den Grundsatz: je heißer, desto lieber, denn je heißer, desto mehr Farben zwischen Himmel und Erde, desto mehr Wohlgerüche im Walde, desto mehr Leben auf dem Felde.
Dagegen Bremsen, ja, deren gab es eine Unmenge; von allen Nummern und Tonarten. Die summten dumm-tölpisch um ihn herum, wie betrunkene Racheengel um ein böses Gewissen; seine gesamte Uniform von oben bis unten war von den Musikanten gesprenkelt, grau auf dem dunkelgrünen Waffenrock, schwärzlich auf den hellen Hosen. Die Bremsen nahm er gelassen mit, ließ sich auch von den Blutstropfen nicht ärgern, die ihm von den Wangen herunterrieselten. Nur wenn ihn eine gar zu frech in die Hand stach, zielte er, ohne sich zu beeilen, nach dem Blutsauger und patschte ihm auf den Kopf. Dann fiel das Glotzauge rücklings auf die Straße, gabelte mit den Beinen, spielte mit den Armen Violine und vergrub sich mit rüttelnden Bewegungen in den Staub.
Er war zufrieden, und ihm war wohl. Hatte er nicht recht gehabt? was brauchte er Gesima! allein war ihm am wohlsten.