Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Beim Götti Statthalter

Wie er lachte, der Götti Statthalter, als er ihnen bei den ersten Häusern von Schönthal entgegenkam! lachte, lachte, schon von weitem, mit einem aus tiefster Brust schallenden Gelächter, daß man, ob man wollte oder nicht, mitlachen mußte. «Ihr seid ja Mohren!» rief er ihnen zu. Dann lärmte er alles Volk links und rechts aus den Häusern und zeigte mit den Fingern nach den herankommenden Kadetten. «Die schaut an, die, die!» donnerte seine Löwenstimme, «das, das, das sind doch einmal echte, wahre, gesunde, unverdorbene Buben! so, so, so sollten sie sein.» Dazu knirschte er, ballte die Fäuste und blickte zornig in die Ferne.

Zum Gruß nahm er den Hansli auf seine linke, den Gerold auf seine rechte Seite und drückte sie zärtlich gegen sich, so daß seine weiße Weste ganz schwarz von dem Abdruck ihrer Pulverköpfe wurde. «Wieviel Uhr meint ihr eigentlich, daß es sei?» schmunzelte er mit pfiffigem Augenzwinkern. «Elf Uhr!» riet der Kleine, «ein Uhr!» steigerte Gerold. – Wiederum entließ der Götti fröhliches Gelächter. «Habt ihrs gehört?» rief er unter die Leute, «elf Uhr! ein Uhr! – Zieht doch einmal meine Uhr aus der Tasche und seht nach.» «Vier Uhr», meldete Hansli verblüfft. «Die Uhr geht nicht», versetzte Gerold geschwind, mit gescheitem Blick. «So halt sie ans Ohr.» Sie ging. Jetzt strich er ihnen zärtlich über die Wangen. «Gute Buben», schmeichelte er, mit kosendem Ton, etwa so, wie man zu einem Pferde spricht, während man ihm den Hals streichelt. Und auf dem ganzen Weg bis zur Statthalterei mußte klein und groß heraus, um die gesunden, unverfälschten Naturbuben zu bewundern.

«Halt! still! kein einziges Wort des Vorwurfs!» wehrte er einer schwachen, blassen Frau, die mit entsetztem Gesicht und erhobenen Armen aus der Statthalterei hervoreilte, «nicht eine Silbe des Tadels! Ich würde dem Himmel auf den Knien danken, wenn einer der Buben da mein Sohn wäre, statt –» Den Rest des Satzes verschluckte er, doch seine Augen rollten vor Zorn und Haß. Die schwache Frau aber kehrte um und verschwand. «Haltet euch nur an mich», sagte er hierauf vertraulich zu den Kadetten, «meine Frau meint es ja gewiß seelengut, allein vom Kindergemüt versteht sie so wenig wie die übrigen Frauen, wenigstens wenn es sich um Knaben handelt.»

Als er jedoch die beiden nur so an den Eßtisch setzen wollte, der draußen fast auf der Straße zwischen den Oleanderbüschen gerüstet war, erschien seine Frau wieder, um Einspruch zu erheben, zwar mit tonloser, beinah versagender Stimme, doch mit zähem, entschlossenen Willen. Sie dulde und erlaube es einfach nicht, daß jemand in so verwahrlostem Zustande mit kohlschwarzen Gesichtern und Händen und zerrissenen und staubigen Kleidern sich an den Tisch setze; erst müßten die Kinder gewaschen und notdürftig hergerichtet werden und überhaupt wieder halbwegs menschlich und anständig aussehen. Und behielt schließlich die Oberhand, trotz dem Achselzucken des Statthalters und seinem Maulen über die Herzlosigkeit und Grausamkeit des weiblichen Geschlechtes.

Also wurden die Kadetten in eine Schlafstube neben dem Höfchen befördert, dort von der Statthalterin und der Monika ausgezogen, ihre Kleider zum Schneider, ihre Schuhe zum Schuhmacher geschickt («aber sofort! und so geschwind als nur möglich, nur das Allernotwendigste, denn in einer Stunde müßten die Kinder wieder verreisen»), sie selber, einer nach dem andern, Gerold voran, auf den Tisch gestellt, eingeseift, gekämmt, gestriegelt und gebürstet. Während dieses Geschäftes hörte man durch die Wand den Statthalter im Nebenzimmer spektakeln: «Ihr, der Ihr einen Kutscher vorstellen wollt, und noch dazu einen herrschaftlichen, Ihr solltet doch wissen, daß man einem Pferd, ehe man es anspannt, zu fressen gibt; geschweige denn einem Menschen.» Ob er denn keinen Funken Gefühl in der Brust habe, daß er zweien armen unschuldigen Kindern, die von morgens acht Uhr bis nachmittags vier Uhr nichts im Magen gehabt haben, zumute abzureisen, ehe sie gegessen hätten.

Der Kutscher schien etwas zu erwidern, was man nicht verstehen konnte. «Das ist nichts als elendes, faules, einfältiges Geschwätz», lärmte der Statthalter weiter, «Ihr kommt noch bequem nach Bischofshardt. Im Gegenteil, in der Abendkühle gibt es weniger Staub, und die Bremsen sind den Pferden nicht mehr so aufsässig. Nur ein Tierquäler ohne Herz und Gemüt kann auf den Einfall kommen, bei dieser infernalischen Hitze ein paar arme unschuldige Rößlein auf der Landstraße in Schweiß zu jagen. Und dem Wagen wird es wohl auch kein Rad abknappen, wenn er noch ein Viertelstündchen wartet.»

Dann blieb es eine geraume Weile still nebenan. Hernach tönte es: «Guten Abend, Herr Statthalter.» «Guten Abend, Herr Balsiger; was gibts Gutes? womit kann ich aufwarten?» «Ich glaube, Herr Statthalter, es ist besser, wir lassen Gesima allein abfahren, und die Buben kommen morgen vormittag mit der Post nach; falls Sie etwa nicht Platz für beide haben sollten, so bin ich gerne bereit, den einen von ihnen, oder auch beide, über Nacht zu mir zu nehmen.»

«An und für sich hätte ich durchaus nichts dagegen, daß die Buben die Nacht in Schönthal blieben», antwortete der Statthalter nach einer kleinen Pause, mit nachdrücklicher Betonung, «denn es sind brave, gesunde, unverdorbene Buben. Sie sind mir auch nicht feil, niemand braucht sie mir abzunehmen. Aber bei mir heißt es: ein Wort ist ein Wort; es ist zwischen uns abgemacht worden, sie sollten heute mit Gesima in des Landammanns Wagen nach Bischofshardt fahren.»

«Bei mir heißt es ebenfalls: ein Wort ist ein Wort. Aber es war abgemacht worden, um zwei Uhr werde man fahren, und jetzt ist es bald fünf, und bis die Buben gegessen haben, kann es sechs Uhr werden.»

«Sechs Uhr ist nicht zu spät; in zwei Stündlein ist ein Wagen von hier in Bischofshardt.»

«Meinetwegen, so sei es sechs Uhr, wenns nicht anders sein kann; aber dann muß ich dringend bitten, nicht eine Minute später.»

«Auf eine Minute früher oder später wirds auch nicht ankommen.»

«Ich bitte um Verzeihung, wenn es um vier Stunden Verspätung nicht angekommen ist, so kommt es schließlich auf eine Minute an.»

Jetzt erhob plötzlich der Statthalter seine Stimme zum donnernden Gebrüll, daß die Wände zitterten: «Herr Balsiger, ich bin ein einfacher Gemütsmensch. Aber wenn ich auch von Kunst und Ästhetik und Klassik und all dem überspannten Zeug nichts verstehe, so weiß ich doch, was recht und unrecht ist, und vielleicht besser als mancher, der sich wunder wieviel auf seine Bildung zugute tut. In welchem Gesetz, Herr Balsiger, steht denn geschrieben, daß ich nicht ebensogut ein Anrecht auf ein wenig Freude in der Welt haben sollte wie ein anderer? Bis dato kenne ich keinen solchen Paragraphen. Aber das hätte ich nicht von Ihnen erwartet, Herr Balsiger, daß Sie mir geizig und neidisch die Minuten vorrechnen würden, um mir das Stündchen Gegenwart der braven Naturbuben zu verkürzen. Ich bin ein Gemütsmensch, Herr Balsiger, ich habe auch einen Lichtblick nötig. Woher aber soll ich den sonst beziehen? Jedenfalls nicht von meinem Max. Weshalb übrigens gerade ich dazu verdammt bin, einen solchen Duckmäuser zum Sohne zu haben, ist mir noch heutigen Tages ein Rätsel. Da machen sie ein gewaltiges Wesen und Geschrei über den Sentisbrugger Dolf wegen ein paar Liebeleien und einiger lumpigen tausend Franken Schulden. Ich tauschte mit Vergnügen den Max gegen den Dolf. An dem Dolf ist doch wenigstens Natur und Rasse, und wenn er auch ein bißchen über die Schnur haut, mein Gott, das sind Jugendstreiche, die man strafen, aber auch verbessern und verzeihen kann, und oft geben die wildesten Füllen später die besten Rößlein. Dagegen so ein weibischer, saft- und kraftloser Kopfhänger, der einem nicht ehrlich und offen in die Augen sieht, vom Morgen bis zum Abend in den Wäldern herumschleicht, sich von aller Welt absondert, an keinem gesunden körperlichen Spiel, an keinem fröhlichen Fest, an keiner Versammlung teilnimmt, sich besser dünkt als alle andern und doch hinten und vorn nichts ist und nichts kann – die Galle überläuft mir, wenn ich nur daran denke.»

«Daß wir zwei über Ihren Max verschiedener Meinung sind», erwiderte der Herr Balsiger ruhig, «wissen wir schon lange. Doch jetzt ist nicht von Max die Rede, sondern von Gesima und den Buben. Ich wünsche einfach einen bestimmten Bescheid. Kann ich darauf rechnen, daß die Buben punkt sechs Uhr reisefertig sind? Wenn ja, gut, so wartet der Wagen; wenn nein, so laß ich Gesima allein fahren. Also, ich bitte um eine deutliche Antwort; ich denke, das wird wohl kein unbilliges Ansinnen sein. Oder?»

Da lenkte der Statthalter ein. «Gut, gut, einverstanden, ich habe ja nie im mindesten etwas dagegen gesagt. Aber die Kinder können ja ebensogut direkt von hier abfahren; schicken Sie doch einfach um sechs Uhr den Wagen zu mir. Und Gesima soll ein halbes Stündchen früher kommen, damit die drei Kinder Zeit finden, Freundschaft zu schließen.»

«Das hat etwas für sich. Also ich schicke ungefähr in einer halben Stunde die Gesima und um sechs Uhr den Wagen.»

«Abgemacht. Und nichts für ungut, nicht wahr, Herr Balsiger? Ich bin ein einfacher Gemütsmensch und verstehe nicht, meine Worte auf die Goldwaage zu legen. Auf Wiedersehen.»

«Auf Wiedersehen.»

All die Zeit, da der Statthalter redete, hasteten der Statthalterin Hände, welche den Gerold pflegten, in aufgeregter Eile; wenn er mit der Antwort einsetzte, zuckte sie zusammen, als ob man ihr an einen hohlen Zahn rührte; erhob er die Stimme, so suchte sie den Atem; wie er aber gegen den Sohn wetterte, irrte sie fieberhaft in der Stube umher und faßte allerlei Gegenstände an, ohne zu wissen, was sie tat oder tun wollte.

Nachdem Gerold als erster säuberlich hergestellt und angekleidet war, entließ ihn die Statthalterin. «Sobald dein Bruder gleichfalls fertig ist, könnt ihr essen.» Der Götti Statthalter jedoch, empört über diese ›Grausamkeit‹, befahl, dem Gerold sein Essen sofort aufzutragen, und als Monika dem Befehl trotzte, schickte er den Wachtmeister Mazzmann in die Küche, die Suppenschüssel zu holen, worauf Monika sich endlich herbeiließ. Nun bediente er eigenhändig den hungrigen Kanonier mit der Sorgfalt eines Krankenwärters, redete ihm beweglich Appetit zu, lobte ihn wegen seiner Natürlichkeit, liebkoste ihn mit weichen, schmelzenden Seufzertönen, wie wenn man einen Kanarienvogel lockt, damit er einem Zucker aus dem Munde nehme, so daß Gerold in Wonne und Freundschaft schwamm. Bis zum Gemüse, da änderte sich die Szene. «Das sind Rapünzlein», schmeichelte der Statthalter, «oder Schwarzwurzeln, wenn du das besser verstehst. Die habe ich eigens für euch kochen lassen; liebst du die Rapünzlein?»

«Nicht gar so sehr.»

«Sags nur offen, du brauchst dich nicht zu fürchten, ich bin doch kein Tyrann. Ja oder nein?»

«Nein.»

Da schickte ihm der Götti Statthalter einen häßlichen, stechenden Blick zu: «Nun gut; es zwingt dich ja kein Mensch, sie zu essen, wenn du sie nicht magst. Aber was ich nicht leiden kann, das ist, wenn man sich ziert und Faxen macht und Komödie spielt. Da hast du die Rapünzlein, die du so gerne magst; also laß die Stempeneien, greif zu, iß, und laß dirs schmecken; es sind genug da.» Hiemit häufte er ihm den Teller voll Rapünzlein, und Gerold mußte sie wider Willen aufessen.

«Es sind noch mehr da, falls du etwa wünschest. Willst du noch mehr? sags offen!»

«Nein, ich danke.»

Der Götti Statthalter runzelte die Stirn und rollte die Augen. «Gerold, Gerold», drohte seine Stimme mit feindseliger Betonung, «ich habe dich bisher für einen gesunden, unverdorbenen, wahrhaftigen Buben gehalten. Was ich auf den Tod nicht ausstehen kann, das ist ein hinterhältiges, duckmäuserisches Benehmen. Also gesteh es ehrlich und aufrichtig, wenn du noch mehr begehrst, und sag nicht nein.» Und schob ihm abermals den gehäuften Teller voll hin. So oft Gerold, der einfach nicht mehr konnte, mit Essen einhalten wollte, warf ihm der Götti einen hässigen Blick zu, wenn er dagegen weiter würgte, nannte er ihn einen guten, braven Buben. Schließlich, als es dem angsterfüllten Opfer gelang, sich von dem halsnotpeinlichen Stopftisch zu retten, «Gelt, wir zwei verstehen einander?» triumphierte der Götti Statthalter, hängte ihm eine Flinte über die Schulter, drückte ihm ein Signalhorn in die Hand: «So, jetzt spaziere das Dorf hinab und zeig dich.»

Gehorsam spazierte Gerold durchs Dorf, mitunter einen Ton durch das Signalhorn tutend. Dabei geriet er an einer höllisch tosenden Fabrik vorüber, auf den Turnplatz; dort setzte er sich auf die Wippschaukel, und blieb halt von selber sitzen, die Glieder ein wenig müde, der Körper schwer, die Seele schläfrig, der Blick von einer Steinkugel gefesselt, die in der Lohe lag und merkwürdige Wunder von Licht und Schatten offenbarte. Da rasselte der Sentisbrugger Postwagen mit dem Marti auf dem Bock an ihm vorüber und hielt zwei Häuser weiter unten still.

«Ich hatte gemeint, ihr wäret schon längst schnurrentum kurrentum in Bischofshardt», rief ihm der Marti zu, während er vom Bock sprang.

Den Postwagen mochte er sich näher ansehen. Dieser beneidete gelbe Wagen also hatte noch vor einer Stunde das Glück, das Haus der Großeltern zu schauen, oder, wer weiß, vielleicht sogar den Großvater und die Großmutter selber oder den Onkel Dolf! Und der Staub hier auf seinem Schulterleder ist Staub von Sentisbrugg! Und wie sonderbar: nach ihm von Sentisbrugg abgefahren, jetzt mit ihm gleichzeitig hier und in einigen Minuten vor ihm weg nach Bischofshardt! Ein eigentümliches Denkgefühl, als stieße die Vergangenheit mit der Deichsel neben ihm vorbei der Zukunft ein Loch in den Rücken.

Während seines Rundgangs um den Wagen schenkte er dem Inhalt einen Blick. Hinten in der großen Omnibusabteilung war nichts Lohnendes: farbloses, graubraunes Volk. Dagegen vorn im Sonntagsbehälter, oder, wie der Marti ihn taufte, im «Affenkasten», wo die Nixverstandewu einzusteigen pflegten, saß ein feines, junges Dessertmenschenpaar, die Frau mit einem Gesicht wie eine Prinzessin aus dem Märchen, obwohl ganz einfach gekleidet, und der Herr hatte Augen, welche mehr Augen waren als andere Augen. Diese Menschen nun gefielen ihm; deshalb stieg er auf den Wagentritt und steckte den Kopf durch das Fenster, um sie sich anzuschauen; da winkten sie ihm beide freundlich lächelnd zu. Als sie aber anfingen, im verstohlenen sich zu umschlingen wie die Schlangen und einander abzuküssen, schämte er sich und trat vom Postwagen zurück.

Jemand schupfte ihn an die Schulter: der Hansli.

«Sie ist jetzt da.»

«Wer?»

«Das Modegeschöpf, das Mädchen, die Gesima.»

«Wie sieht sie aus?»

«Lächerlich: eine rote Mähne bis ans Ende der Welt, eine Kappe ohne Schirm auf dem Kopf wie ein Teller, ganz dünne Beinchen und ein schwarzweißer Rock wie ein Damenbrett.»

Und beide lachten laut auf ob solch einer Menge komischer Eigenschaften. Dann zogen sie heim, um sich an der possierlichen Gestalt des kuriosen Modegeschöpfes zu erlustigen.

Ein prachtmäßiger, himmelblauer Zweispännerwagen wartete vor der Statthalterei mit einem ebenso blauen Kutscher auf dem Bock, der eine unendlich lange Geißel steif aufrecht hielt wie ein Ulan die Lanze; aber er schien schlechter Laune und hatte einen ganz roten Kopf. Ob sie nicht wüßten, wann man endlich abfahren könne, fragte er die Buben, ohne sich nach ihnen umzudrehen oder auch nur den Kopf zu bewegen, und worauf man denn eigentlich noch warte.

Ehe sie ihm jedoch antworten konnten, kam der Götti Statthalter aus der Haustür geschnoben:

«Dieses verdammte Zappeln und Drängen und Zwängen habe ich nachgerade bis zum Halse satt. Ich bitte um höfliche Antwort auf eine höfliche Frage: Wer hat hier dem andern zu befehlen? der Kutscher dem Regierungsstatthalter? oder der Regierungsstatthalter dem Kutscher?»

«Ich bin dem Herrn Landammann Weißenstein sein Kutscher. Der Herr Landammann hat mir befohlen, spätestens um sechs Uhr mit den Kindern in Bischofshardt zurück zu sein; jetzt ist es halb sieben, und wir sind noch immer in Schönthal.»

«Mit dem Landammann werde ichs schon ausmachen; das geht mich an. Ihr habt Euch nicht darum zu kümmern.»

«Ich habe mich freilich um den bestimmten Befehl meines Dienstherrn zu bekümmern.»

«So fahrt denn! fahrt! fahrt in des Teufels Namen! wenn Ihrs vor Bauchweh nicht länger aushalten könnt!»

«Ja, ists ernst gemeint? Darf ich mich darauf berufen, Sie hätten mir befohlen, ohne die Kinder heimzufahren?»

Jetzt zweifelte der Statthalter und zauderte; dann antwortete er in verträglicherem Ton: «Wer hat denn jemals behauptet, Ihr solltet ohne die Kinder fahren? Ich meinte bloß: fahrt einstweilen ruhig und langsam gegen die Friedlismühle voraus, die Kinder kommen in einer halben Minute nach.»

Da lüpfte der Kutscher die Schultern, erhob die Geißel und setzte den Wagen in Gang.

Mit Wollust hatten die Buben dem Zank beigewohnt, nun aber, nach dem letzten Aktschluß, stürmten sie ins Haus. «Im Höfchen ist sie», belehrte Hansli; deshalb bogen sie vom Hausgang in die Schlafstube, um von dort das Modegeschöpf fürs erste einmal unbemerkt zu beobachten.

Richtig, da war sie leibhaft im Höfchen, auf einem Paar riesiger Stelzen zwischen den Kapuzinerblumenbeeten umherhopsend, daß ihre rote Mähne hoch über das Läubchen hinweg die Luft fegte, wie der Turbanschweif eines galoppierenden Pascha.

Mit Siebenmeilenschritten gabelte sie den Wänden entlang, bald tiefer, bald höher steigend und die hölzerne Schere regelmäßig auf- und zuklappend; schwenkte dann stolpernd nach der Mitte, beschrieb dort mit den Zirkeln zwei Viertelskreisbogen, einen links herum, den andern rechts herum, und spreizte endlich die steifen Storchenbeine spazierend auf dem Fleck, wie die Rekruten beim Strafexerzieren, indem sie zugleich ein Liedlein von ihrer Staffelei erklingen ließ.

Vor Zeiten, als sie noch ein lutschendes Sabbelfräulein gewesen, sang sie, habe sie mit einem Kadetten vorlieb genommen. Seit sie jedoch die Schule besuche, fordere sie, wie billig, einen fertigen, garantierten, patentierten Offizier. Der müsse sich indessen sehr beeilen, denn wenn sie einmal in Pension käme, sei dann ein Major das Allerniedrigste, womit sie sich begnüge; billiger könne sie es unmöglich geben.

Das Liedlein reimte sich, und zur besseren Behauptung markierte sie jeweilen den Gleichklang mit den Stelzfüßen.

Am Schlusse, nachdem sie gesungen hatte: «Aber wirklich zum Altar führt mich bloß ein General», stampfte sie mit den Krücken.

«Nicht ›General‹», rief sie, «sondern ›Generar‹.»

Dann variierte sie: «›Aber wirklich zum Altal‹ – Ach was Manschetten!» lachte sie, wischte mit den Stolperstöcken über das Pflaster, als ob sie die Spuren des Unsinns aus dem Gedächtnis tilgen wollte, und nahm endlich, mutwillig trällernd, ihren gigantischen Rundgang wieder auf.

Ob diesem Lustspiel sahen die Brüder einander ins Gesicht und brachen gleichzeitig wie auf Verabredung in ein schallendes Hohngelächter aus; dann betraten sie das Höfchen.

Sobald Gesima die Kadetten erblickte, hüpfte sie flugs mit geschlossenen Fittichen vom Stapel, wie der Sperling vom Sims, und während hinter ihr die Stelzen langsam die Waffen streckten, stand sie schon dicht vor den Knaben, in bescheidener Haltung, vertrauensvoll mit ausholendem Arm die Hand darbietend, die Fläche nach unten.

Sie nahmen jedoch den Gruß nicht an, sondern stemmten die Fäuste auf die Hüften und umgingen prüfend den seltsamen Käfer, worauf sie ihrem Ergötzen abermals mit Hohngelächter Luft machten.

«Böse Buben!» schalt Gesima, vor dem schimpflichen Empfang flüchtend.

In diesem Augenblick tönte ein schriller Pfiff durch das Haus, ein das Ohr verletzender, das Herz beleidigender Befehlspfiff, wie man ihn einem ungehorsamen Hunde nachpfeift. «Schnell, schnell, ihr Buben!» mahnten erschrockene Stimmen aus dem Hause, «der Götti Statthalter hat gepfiffen.»

Der Götti Statthalter saß schreibend in seiner Amtsstube, in schöner, aufrechter Haltung, die Zigarre im Mund, mit zufriedener Miene. «Setzt euch», lud er ein, auf zwei Stühle links und rechts an seiner Seite deutend. «Aber ihr dürft euch nicht bewegen, solang ich schreibe, denn das stört mich.» Und fuhr fort zu schreiben. Nach einer Weile bemerkte er milde: «Ein anderes Mal, wenn ich wieder pfeife, bitte ich mir aus, daß ihr im Sturmschritt gesprungen kommt und nicht erst alle möglichen anderen Beschäftigungen vornehmt. Sie laufen euch ja nicht davon.»

«Wir wußten halt nicht, daß das Pfeifen uns gelte», entschuldigte sich Gerold.

«Ich mache euch auch keinen Vorwurf», erwiderte der Götti sanft, «ich sage bloß, ein anderes Mal müßt ihr schneller kommen. – Und hier ist für jeden von euch ein Fünffrankentaler. – Schon gut, schon gut, es braucht keinen umständlichen Dank. – Aber so bleibt doch sitzen! Ihr dürft zusehen, wie ich schreibe, nur müßt ihr euch ruhiger verhalten als bisher.»

Die Statthalterin näherte sich auf den Fußspitzen dem Schreibenden. «Hast dus befohlen, der Wagen solle fortfahren?»

«Der Wagen ist fortgefahren und ist nicht fortgefahren.»

«Wenigstens ist er nicht mehr da.»

«Liebste, beste Frau, wenn du nur nicht immer künstlich Schwierigkeiten schaffen wolltest, wo keine sind; überlaß das ruhig mir; ich habe alles besorgt.»

«Aber ich muß doch wissen, ob die Buben hier bleiben oder nicht, damit ich die Betten rüsten kann.»

«Laß mich nur erst schnell den Brief fertig schreiben, dann will ich dir alles erklären.»

Jetzt polterte Monika herein, rücksichtslos, mit Trampeltritten. «Der Karl, der Reitknecht von Balsigers, ist da», meldete sie rufend, «er solle die Gesima heimholen.»

«Er soll, was ich ihm sagen werde. Zunächst soll er einmal hereinkommen. – Und was tut denn die Gesima allein im Hause? warum ist sie nicht bei den Buben? Ruft sie doch. Und holt mir die Pantoffeln, Monika. – Mazzmann, bist du da?»

«Hier, Herr Statthalter.»

«Würdest du so gut sein und diesen Brief im Vorbeigehen auf die Post tragen?»

«Mit Vergnügen, Herr Statthalter.»

«Wo ist der Landjäger Weber?»

«Nebenan im Wachtzimmer.»

«Schick ihn her. – Aha, da bist du ja, Gesima. Nun, wie stehts mit Leib und Leben? Freust du dich, mit den Buben zu reisen, oder fürchtest du dich etwa vor ihnen?»

Gesima schnellte einen prüfenden Bück nach Gerold, einen zweiten nach Hansli, dann lächelte sie: «O nein, ich fürchte mich nicht vor ihnen.»

«Du bist ein vernünftiges Mädchen, gescheiter als manche Erwachsene; gelt, du begreifst, nicht wahr, daß gesunde Naturbuben nie böse sind; böse sind nur die Duckmäuser – Ihr, Karl, was begehrt Ihr?»

«Herr Direktor Balsiger hat mir aufgetragen, das kleine Fräulein heimzuholen, nachdem Ihr den Wagen fortgeschickt hättet.»

«Das hat Euch der Herr Balsiger unmöglich aufgetragen; Ihr müßt ihn falsch verstanden haben. Denn erstens war der Wagen überhaupt nicht fortgefahren, und zweitens ist zwischen mir und dem Herrn Balsiger etwas anderes abgemacht worden. Geht nur heim – die Gesima bleibt hier, – und sagt dem Herrn Balsiger, ich lasse ihm sagen, es bleibe bei dem, was abgemacht worden ist.»

Der Reitknecht zögerte. «Ich möchte mir erlauben, höflich zu bemerken …»

«Hier ist gar nichts weiter zu bemerken, es ist alles deutlich und klar. Adieu. – Ihr, Weber, Ihr seid ein zuverlässiger Bursch. Ihr begleitet die drei Kinder bis zur Friedlismühle, wo der Wagen des Landammanns auf sie wartet. Ihr könnt ja den Weg durchs Höfchen über die Wiesen nehmen, er ist kühler und weniger staubig und nur ein ganz geringer, unbedeutender Umweg. – Aber jetzt, Kinder, auf die Reise! hüpp, huppla, hopp! es ist die höchste Zeit! worauf wartet ihr eigentlich? Und bitte keine unnützen Zeremonien und Abschiedssentimentalitäten, die kann ich nicht leiden. Huppla, vorwärts, marsch!» Und schob die Kinder in den Hausgang.

Die Statthalterin trat ihm zaghaft in den Weg. «Aber bist du denn auch vollkommen sicher», wagte sie, «daß der Wagen wirklich in der Friedlismühle wartet? hast dus dem Kutscher auch deutlich genug gesagt?» Ehe er antworten konnte, brach sie plötzlich in krampfhaftes Weinen aus, daß sie sich an ihn halten mußte. Mitleidig lehnte er sie an seine Brust und redete gütig auf sie ein, mit sanfter, tröstender Stimme: «Es sind die Nerven; du spürst die Hitze und das Gewitter in der Luft. – Weißt du was: leg du dich ein halbes Stündchen ruhig aufs Bett, das wird dir gut tun.» – Dann rief er mit Donnerstimme: «Monika, ist der Max, der Schleicher, noch immer nicht heim?»


 << zurück weiter >>