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Eugenia

Erster Gesang

I

«Und» – sprach zum Ehrenpädagogen Gryllos
Der Archipädagog Rhinoblokos,
«Wie mit den Sprachen stehts mit allem andern:
Algebra sehr schwach, Aufsatz ungenügend,
Geschichte höchstens eins bis zwei im Durchschnitt,
Dabei ein wahrhaft grauenvoller Mangel
An Ordnungssinn. Schwerlich vergeht ein Tag,
An dem er weder Heft noch Buch vergäße.
Daß man ihn einen Umschlag um den Deckel
Je machen lehre, geb ich auf. Sein Zimmer
Gleicht einem Schlachtfeld. Federn, Bürsten, Schriften
Und Röck und Strümpfe liegen auf dem Boden;
Und regelmäßig jeden Gottesmorgen
Kommt er zu spät; das Schlafen, das versteht er.
Und dies ist um so ernster und betrübter,
Wenn wir bedenken, daß Johannes längst
Kein Kind mehr heißen darf; er ist jetzt vierzehn!»
Behaglich brummend von dem samtnen Polster
Gab Gryllos ihm begütigend zur Antwort:
«Rhinoblokos, mein hochverehrter Amtsfreund!
Gewiß, ich geb es zu, der schwere Auftrag,
Dem Ihr zum Wohl des allgemeinen Besten
Euch unterzieht, ist sicherlich kein leichter.
Allein Johannes hat auf Nachsicht Anspruch.
Nicht nur, daß seine Mutter sich so schön
Bei ihrem Tod der Anstalt hat erinnert,
Auch Krateros, sein Vater, nimmt von weitem
Stets an uns teil, wie er denn neulich wieder
Mit einer prächtgen Mißgeburt von Nashorn
Für unser Theoreum uns beschenkt hat.
Doch was viel mehr bedeuten will: Eugenia,
Des Grafen Dukas Witwe und zugleich
Die reichste Frau des ganzen Abessinien,
Ist seine Patin. Wer vermags zu sagen?
Das Menschenleben ist ein Hauch im Winde;
Zwar ist sie jung und blühend, doch ein Unglück
Geschieht so leicht, zumal bei ihrer Kühnheit;
Ein Sturz vom Pferde – Gott verhüt in Gnaden:
Gewiß wird sie die Stätte, wo ihr Täufling
Genießt der Bildung unschätzbare Wohltat,
In ihrem letzten Willen nicht vergessen.»

Hoch schwoll vor Zorn empor Rhinoblokos:
«Das eben ist der Aussatz des Methodiums:
Dies Seitwärtsblicken und dies Rücksichtnehmen
Und dies Begünstigen der reichen Söhnlein!
Ich wollt es Euch nicht sagen, doch Ihr zwingt mich:
Johannes ist ein schlechter, grundverdorbner,
Im Mark verfaulter Wüstling. Liebesbriefe
Schreibt er an meine Tochter! Liebesbriefe!
Ein solcher ammennäsger Daumenlutscher
Von vierzehn Jahren! Wahrlich, der fängt früh an!»
Und ein Papierchen aus der Tasche kramend
Begann und las er mit erregter Stimme:
«‹Anbetungswürdige, geliebte Dora!
Die Sterne Deiner Augen, die gleich Blitzen
Mein Herz verwunden und des Lebens Sonne
Hinwürgen, wie der Tiger würgt die Taube,
Versengen mir des Schlafes schwarze Wohltat,
Und all mein Dasein welkt wie Sand am Meere.
Ich würde Dir noch vieles schreiben, aber
Es ist schon spät; auch bin ich etwas schläfrig.
Wozu auch schreiben! Bald, geliebte Dora,
Wird mich von meiner Qual der Tod erlösen,
Und stumm nur aus den Tiefen meines Grabes
Werd ich mit hohler Stimme flüstern: Dora!
Entschuldige die schlechte Schrift, ich muß
Im Finstern schreiben, daß Dein dummer Vater
Es nicht bemerkt. Auf ewig Dein – Johannes.
Nachwort: Darf ich so frei sein und Dich bitten,
Ob Du vielleicht auf meinem Grabe – ach! –
Beim Abendglockenklang mich hie und da
Besuchen willst? Es würde mich so freuen!
Vorausgesetzt natürlich, daß Du Zeit hast.›
Nun, wie gefällt Euch das? In seinem Alter!
Denn haltet fest, daß der, der dieses schreibt,
Kein Kind mehr ist, dem mans zur Not verziehe,
Er weiß jetzt, was er tut, denn er ist vierzehn!»
Verlegen hörte Gryllos diese Nachricht.

«Verehrter Freund», versetzt er, «dieser Brief
Ist zu beklagen, ja er ist ein Fehler.
Indessen wißt Ihr denn so ganz genau –
Ich frage nur, ich will ja nichts behaupten –,
Ob nicht ein wenig Eure eigne Tochter
Selbst auch ein kleines bißchen daran Schuld trägt?»
Das kleine bißchen war indes zu viel
Dem Archipädagogen. Boshaft blickend
Begann er: «Heißt nicht Eure Tochter Mia?»
Drauf nochmals in die Tasche fühlend las er:
«‹Bild meines Herzens, Kleinod meiner Seele!
Einzig geliebte, unschätzbare Mia!
Oft hab ich mich gefragt: Was ist es wohl,
Daß mich das Silberlächeln Deines Mundes,
Das gleich den Perlen Frühlingsrosenfluten
In meinem Innern weckt und all mein Fühlen,
Kalt wie Kristall und eisern gleich dem Demant,
Mit unbekannter Feuersglut vergoldet?
So hab ich mich gefragt und drauf gesprochen:
Wenn das nicht Liebe heißt, was heißt es denn?
Heißt es nicht Liebe, gleich dem wunden Schwan
Den purpurtrunknen Samt des Abendrots
Mit kräftgen Flügelschlägen zu durchschwimmen.
Dann wiederum in finstrer Mitternacht
Hinab zu tauchen in das eigne Herz
Und von den tiefsten Klippen der Verzweiflung
Schaudernd des Daseins Rätsel abzulösen:
‹Bin ich?› so heul ich, und es brüllt: ‹Versteht sich!›
Noch eine andere Frage plagt mich immer:
Wie kommt es nur, daß solch ein himmlisch Wesen
Wie Du den Inbegriff der Häßlichkeit,
Gryllos, zum Vater mochte wählen? Mia!
Errette mich aus diesem Wahn des Zweifels,
Und sprich das Zauberwort, das gleich dem Donner
Ein Meer der Lust erschließt: ‹Ich liebe dich› –
Es wäre mir der Inbegriff der Wonne,
Wenn Du in Deiner Antwort statt der Tinte
Dein Herzblut brauchen wolltest. Sennahoj.
Lies dieses Wort von hinten, doch versprich mir,
Es keinem Menschen zu verraten. Nicht wahr?
Es weiß es niemand außer mir und Dir.›»

Die Augen schloß der Ehrenpädagog,
Als man von seiner Tochter das ihm vorlas,
Und sein Gesicht verschwand in seinen Locken.
Drauf knurrt er leis und murmelte die Antwort:
«Ein Abgrund der Verworfenheit – mir schwindelt –
Tut sich vor meinen Augen auf! Ein Glück
Für seine edle Mutter, daß sie tot ist,
Sonst, fürcht ich, würde sie die Nachricht töten.
Wenn etwas allenfalls zu seinen Gunsten
Noch sprechen dürfte, wärs allein der Umstand,
Daß er sich wenigstens mit seiner Neigung
An würdge Töchter hält und wohlerzogne.»
«Von dieser Krankheit will ich Euch noch heilen»,
Erwiderte der Amtsfreund, und ein Päckchen
Geheimnisvoll entfaltend, las er weiter:
«›O Fatime, Du leicht beschnellte Palme!
Vor Deiner holden Lippen süßem Pfühl
Was ist der Saft der Datteln, was der Feigen?‹
Der Brief gilt einem braunen Dattelmädchen,
Und dieser – unsrer schwarzen Wäscherin:
›Ein jedesmal, wenn ich aus Deinen Händen,
Pataputa, die hochbeglückten Linnen
Zurück empfange, weht ein Wohlgeruch,
Ein Duft wie Paradiesessehnsuchtsgluthauch –‹
Falls Ihr noch nicht genug habt, les ich weiter,
Ganz wie Ihr wünscht, hier sind noch andre Briefe.»
Der Ehrenpädagoge saß nicht mehr;
Mit kleinen Sprüngen auf dem Boden hüpfend,
Umlief er immerfort die grünen Stühle,
Bis daß er endlich mit gewichtger Miene
Verkündete den folgenschweren Machtspruch:
«Johannes ist entlassen! Das Methodium
Ist nicht ein Stelldichein entnervter Laster,
Kein Schandhaus, keine Pflegestatt der Wollust!
Und ohne seine Mutter, die so schön
Bei ihrem frühen Hinscheid unsrer Anstalt
Sich hat erinnert, förmlich müßt er mir
Und feierlich den übrigen zur Warnung
Verstoßen werden. Aber suchet nun
Aus Euren Pädagogenphilosophen
Den Jüngsten und den Schönsten, die geschickt sind,
Auch äußerlich mit Anstand unsre Anstalt
Würdig den stolzen Rittern zu beweisen.
Auch sollen sie mir keinenfalls versäumen,
Bei ihrer Rückkehr einen kleinen Umweg
Zu nehmen nach dem Schloß der Gräfin Dukas.
Das Wohl des Besten heischt, daß wir die Patin
Nicht übergehn. Daß sie die schlimme Botschaft
Mit jeder Rücksicht und mit aller Schonung
Vorbringen sollen, das versteht sich, denk ich.»
Sprachs, und die Schwelle hastig überstrauchelnd
Verschwand er weichen Watscheins nach dem Hausflur.

Doch rachedürstend seine Pädagogen
Verglich und prüfte jetzt mit scharfem Geist
Der stolze Sieger. Dann die Klingel ziehend
Entbot er Omikron, das hübsche Männlein,
Neben Digamma vor sein strenges Antlitz.
Eilends gehorchten die geschulten Diener
Und eilends auch die Philopädagogen,
Und einer wie der andre überstiegen
Und über krochen sie geschickt die Schwelle,
Sich immerfort verneigend und die Köpfe
Vor großer Höflichkeit zusammenstoßend.
Doch als sie nun in tiefer Demut schweigend
Sich aufgestellt und klebten an den Wänden,
Erhob der Archipädagog den Anspruch:
«Geliebte, wackre Pädaphilogogen!
Es herrscht der wichtge Anlaß, das Methodium
Durch zwei erlesne Männer, schön und würdig,
Den Rittern darzutun. Nämlich Johannes,
Der böse Krebs und Aussatz, ist entlassen.
Solches zu melden seinem edlen Vater,
Entsend ich euch nach seiner Burg Lykaon,
Ich will den Weg euch deuten; merket auf:
Sobald ihr ostwärts unsre schöne Hauptstadt
Verlassen habt, so steigt den Weinberg aufwärts,
Bis sich die Straße kehrt und einen Schlags
Liegt unter euch die Talschlucht des Chrysorrhas.
Daselbst zerstreuen sich die Wege linkshin.
Laßt diese sämtlich liegen – ihr versteht doch? –
Und überschreitet rechter Hand die Brücke.
Dann nehmet immer die gerade Straße,
Ihr könnt nicht fehlen. Wandelt ohne Zaudern,
Bis ihr im ebnen Feld am Waldessaum
Entdeckt ein festgebautes kleines Schlößchen;
Es ist das einzge weit und breit; da wohnt er.
Bringt ihm die Meldung mit der größten Schonung,
Und daß wir erst nach reiflicher Erwägung,
Gezwungen durch die allerhöchste Not,
Zu solchem Schritte blutend uns entschlossen.
Und dankt ihm nochmals für das schöne Nashorn,
Die prächtge Mißgeburt mit sieben Beinen,
Und daß wir seiner trefflichen Gemahlin,
Der unvergeßlichen Angelika,
Bei diesem Anlaß wieder uns erinnern –
Bleibt dort die Nacht, er wirds nicht anders dulden.
Am andern Morgen zieht nach Megateichos
Hinüber zu der jungen Gräfin Dukas,
Eugenia, des Johannes hoher Patin;
Die Straße werdet ihr von Krateros
Erfahren, wenn er euch nicht selbst dahin führt.
Dort gilt es nun, zur Ehre des Methodiums
Die Anmut eures Umgangs zu bewähren.
Ich sag euch weiter nichts, das Zartgefühl
Wird euch das Richtige empfehlen. Hier
Die sieben Liebesbriefe von Johannes
Nehmt mit zum Zeugnis; aber braucht sie nur,
Wenn ihr es anders gänzlich nicht umgehn könnt.
Und nun, Gott sei mit euch, geliebte Kinder!
Verirrt euch nicht und geht mir nicht am Abgrund!»
So sprach Rhinoblokos, und still und traurig
Umstanden ihn die beiden, öfters seufzend
Und munkelnd von Versäumnis und von Pflicht
Und von den schwer entbehrten Lehrgenüssen.
Doch als sie nun in ihrer kleinen Kammer
Sich einzig fühlten, schlossen sie die Tür
Und streiften ihre Schuhe von den Füßen,
Und jeder seines Gegners Hals umfallend,
Vereinigten sie einen kecken Strumpftanz.
Sie konnten beide heute nicht recht schlafen;
Wenn aber einer endlich mühsam einschlief,
So schlich der andre heimlich auf den Zehen
Und stahl ihm seine Decke oder zupft ihn
An Kinn und Ohr und Nase; wo sie dann
Mit leisem Kichern neulings sich umarmten.
Bis daß beim Morgendämmerlicht der Notschlaf
Die Runde machte und gebieterisch
Beruhigte die übernächtge Menschheit,
Den Wandrer hemmend und den Sitzenden
Verräterisch von hinten niederdrückend;
Doch wen er liegend antraf, diesem schnürt er
Mit offenkundiger Gewalt das Zwangshemd
Fest um die Brust und band ihn an die Bettstatt,
Worauf er ihm den Japanesenschild
Hielt vor die Augen, erstens unbeweglich,
Dann mählich immer höher, bis er endlich
Den Schild mit hocherhobnem Arm vorwegzog
Und huschte raschen Sprunges vor die Glastür.
Da herrschte tiefes Schweigen um und um,
Und nur des Tages luftgestalte Wellen
Erklangen zarten Singens hinterm Vorhang.

II

Und es begann zum Morgenstern die Sonne:
«Was gibt es Neues? Schönen guten Morgen.»
Und höflich dankend gab er ihr zur Antwort:
«Weißt dus noch nicht? Wir haben heute Ferien.»
Und wie sie nun vor freudigem Erstaunen
Nicht glauben wollte die willkommne Botschaft,
Erzählt er ihr des weiten und des breiten,
Was alles sich aus Anlaß des Johannes
Begeben und daß spätestens um sechs Uhr
Sie sollte wecken beide Pädagogen.
Und froh erregt erwiderte die Sonne:
«Ist die Natur schon aufgestanden? Meinst du,
Sie wiß es? Hast du nichts von ihr gesehen?»
Und nochmals gab der Morgenstern zur Auskunft:
«Die ist schon längst auf allen hohen Bergen,
Nach Kräutern suchend mit dem Pharmazeuten.»
Jetzt gar eindringlich bettelte die Sonne:
«Mein lieber Freund, ich will dirs einst vergelten.
Sage, sie sollten doch den Strahlenkragen
Mir hurtig schicken und den neuen Glanzhut.
Und meine Kinder dürften, wenn sie wollten,
Ein wenig mit mir fahren bis zum Stadttor.»
Und gar gefällig lief der Stern von dannen.
Und also schickten sie den Strahlenkragen
Und auch den Glanzhut und die beiden Knäblein.
Dieselben setzte sie auf ihre Knie,
Und einen ungeheuren Bilderbogen,
Bemalt mit allen möglichen Gestalten
Von Mensch und Tier und jeder schönen Landschaft,
Gab sie in ihre Hände. Und die Knäblein
Entzückten Seufzens wiesen mit den Fingern,
öfters erfragend eines Tieres Namen
Und ob es böse sei und ob es beiße.
Und welche Bilder sie genug besehn,
Die schoben sie zur Seite, daß der Bogen
In langem Streifen glänzte durch den Luftraum.
Inzwischen die Natur am hohen Berge
Hub an und sprach zu ihrem Pharmazeuten:
«Phönix! es scheint, wir haben heute Sonntag.
Des wollen wir geschwind zum Gottesdienst
Nach Haus, du kannst mir ja beim Singen immer
Rhabarber kochen und Lavendel brauen,
Weil ich derweilen spiel am Physharmonium.»
Und also eilten sie geschwind nach Hause.
Und Phönix in der Apothekenküche
Knetete Teig und sang und briet und braute,
Daß von den Alpenkräutern durch den Schornstein
Entströmt ein Wohlgeruch über den Erdkreis,
Weil die Natur, verklärten Angesichts,
Behandelte die riesenmächtge Orgel;
Benützend all die unterschiednen Pfeifen,
Sowohl die Hummel- als die Menschenstimme,
Den Vogelsang, das Flötchen und das Echo;
Sogar des Windes und des Wassers Rauschen
Ahmte sie deutlich nach und ganz natürlich.
Freilich sie konnte leider gar nicht singen.
Und Phönix auch, den frommen Pharmazeuten,
Hörte man kaum. Er war nur zu bescheiden.
Doch selber das Harmonium prächtgen Vollklangs
Erfüllte Berg und Tal mit rundem Wohllaut.

Doch die Gelehrten, als sie pünktlich sechs Uhr
Wurden geweckt von der getreuen Sonne
Und sahn den Strahlenkragen und den Glanzhut,
Und atmeten die alpenduftgen Kräuter,
Und auch von fern das prächtge Physharmonium
Hörten sie singen aus den Ferienwäldern,
Dünkten sie sich verjüngt um vierzig Jahre,
Und Übermuts verließen sie das Hoftor.

Die Klingel zogen sie an denen Häusern,
Und kam ein hübsches Kind des Wegs zu hüpfen,
So spielten sie das Schachbrett: hier der weiße
Und dort der schwarze Läufer, daß das Pferdchen
In arger Klemme ängstlich hin- und hersprang,
Nebst andern Jugendkünsten, die wir kennen.
Doch als sie nun gelangten an den Weinberg,
Da zwinkte Omikron das eine Äuglein
Und redete und sprach vergnügten Lächelns:
«Verehrter Freund, bestreit es, wie du willst,
Ich habe jetzt ein Töpfchen, das beweist mir,
Daß Mamenuphis keineswegs zu Neujahr
Neuntausendsiebenhundertsechsundvierzig
Am Nachmittag geboren wurde, sondern
Um zwei Uhr morgens.» Über diese Kühnheit
Entsetzte sich Digamma, und mit Nachdruck
Den Finger tupfend auf des Freundes Schulter,
Entgegnet er und lehrte mit Entrüstung:
«Der Schluß ist falsch, denn Onokephalos,
Wie ich so schön und klar im letzten Jahrgang
Der Abessinischen Monatshefte nachwies,
Bezeugt durch einen alten Backstein wörtlich,
Daß Mamenuphis, als er auf die Welt kam,
Das Tageslicht erblickte. Merk den Ausdruck!
Nun wissen wir aus Philopompos Moros,
Daß es zu Mamenuphis Zeiten nachts
Um zwei Uhr dunkel war in Abessinien;
Wenn also Mamenuphis nachts um zwei Uhr
Geboren wäre, könnte dieser Backstein
Unmöglich schreiben, daß er dazumal
Das Tageslicht erblickte, sondern würde
Geschrieben haben: ‹Er besah das Nachtlicht.›»
So schlug er seinen Gegner mit dem Backstein,
Doch dieser wehrte sich mit seinem Töpfchen.
Sie wußten nicht mehr, was um sie geschah.
Sie merkten weder Weg noch Steg. Sie folgten
Einzig dem Zufall ohne Halt noch Aufsehn.
Bis daß zuletzt ihr Eingeweide kläglich
Hub an zu näseln von Dreikönigen,
Während im Magensack der grobe Magen
Das Speiserohr hinaufschrie: «Nun, wann kommts denn?»
Ei, wie verstarb da plötzlich Mamenuphis!
Die Philologen rieben sich die Äuglein.
Und siehe da! Ein wunderbares Schloß
Auf hohen Gartenmauern, in Zypressen
Und Rhododendren und Limonenhainen
Erschien vor ihren Augen. Aus den Fenstern
Entstieg von Tauben und von Edelfinken
Ein wonnevoller Jubel; doch zunächst
Der Straße, hinterm grünen Gartengitter,
Vergnügten sich zwei Mägdlein auf der Sandbahn.
Das größre blond von zauberhafter Schönheit,
Das andre aber guckt aus schwarzen Äuglein.
Die Reife schlugen sie mit harten Stäbchen,
Und an das Gitter seine Bäcklein drückend
Berief und fragte Omikron den Blondling:
«Sag an, du kleiner goldgelockter Blondling,
Wie heißest du? und welches ist dein Alter?
Und ist das kleine Bräunchen deine Schwester?
Und jenes Schloß da oben, wem gehört es?
Und hat euch auch Mama erlaubt, so frei
Den Reif zu schlagen auf der glatten Sandbahn?»
Mit heller Stimme rief der kleine Blondling:
«Ich heiße Xanthe Dukas, und das freut mich.
Und nächste Woche werd ich siebenjährig,
Und dies ist meine Schwester; aber Bräunchen
Ist nicht ihr Name, sondern Pardelis
Oder auch einfach Pardel, das ist kürzer.
Und jenes Schloß mit allen Stachelbeeren
Gehört Mama, doch wenn sie tot ist, mir.
Und das ist aber eine dumme Frage,
Ob sie erlaubt hat, auf dem Sand zu jagen,
Sonst täten wirs ja nicht.» Mit diesen Worten
Hieb sie den Reif und schwang die feinen Füßchen.
Doch blitzend aus den Äuglein rief das Bräunchen:
«Wart, Xanthe, deine Schwester läßt dir sagen:
An dir ist auch kein einzges gutes Haar!
Siehst du denn nicht, wie diese armen Leute
Verhungert sind und alt und schwach und elend?
Anstatt zu schwatzen konntest du doch wohl
Zuerst das Gitter auftun.» Also sprechend
Hing sie mit beiden Fäustchen an dem Schlüssel
Und dreht ihn um mit ihres Körpers Schwerkraft.
«So», sagte sie, «kommt jetzt mit mir, ich will
Euch zu Mama begleiten.» Sprachs, und munter
Bestrafte sie den Reif für seine Faulheit.
Was sollten tun die guten Pädagogen?
Sie hatten wenig Zeit, sich zu besinnen,
Das kleine Pardel reizte sie mit Zuruf.
Und also folgten sie dem schmucken Mägdlein
Durch den gewundnen Sandpfad nach der Höhe
Und zu der Doppeltreppe mit dem Vorsprung.
Ein Löwenbrunnen stand auf diesem Vorsprung;
Da kletterte auf einem Knie das Pardel
Geschickt hinan und sog aus einer Röhre.
Das Wasser zischt und spritzt ihr um die Nase.
Doch auf den Zehen sittig sich erhebend,
Erhaschte Xanthe den gediegnen Becher
Und biß hinein und rollt ihr blau Geäuge.
Und als natürlich nun das braune Unkind
Mit einem Knie ausgleitend patscht ins Wasser,
Da lachte sie ein Grübchen in die Wange
Und eins ins Kinn und half ihr aus dem Beckicht.
Und über diesem tanzten sie mit Hopsen
Auf einem Bein hinüber in den Hausflur.

Aber vom Garten her mit leichtem Anstand
Kam eine schöne Frau und grüßte freundlich:
«Seid mir willkommen», sprach sie, «werte Gäste!
Womit kann ich vielleicht euch höflich dienen?»
Sie wußten beide viele alten Redner,
Doch heute reden ist der ältste Redner.
Anstatt der Antwort suchten sie die Tasche
Und fanden sie und schenkten ihr die Brieflein.
Und baß verwundert hub sie an zu lesen:
«‹Ein jedesmal, wenn ich aus deinen Händen,
Pataputa, die hochbeglückten Linnen –›
Der Brief ist nicht für mich», versetzte sie,
«Ich heiße nicht Pataputa.» Und weiter
Die Briefe überfliegend, fuhr sie fort:
«‹Anbetungswürdige, geliebte Dora –›
Auch dieser nicht, mein Name ist Eugenia.
‹Bild meiner Seele! Kleinod meines Herzens!
Einzig geliebte, unschätzbare Mia!›
Ihr täuscht euch sicher in der Wohnung, Freunde,
Wir haben hier auf Megateichos weder
Dora, noch Mia, noch Pataputa.
Wer schreibt denn diese Zettel?» «Mamenuphis,
Und er läßt vielmal danken», sprach Digamma,
«Für Eure Mißgeburt und Euer Nashorn
Und Eure sieben mißgeratnen Beine.»
Die Antwort half Eugenia auf die Fährte;
Und als sie erst den Pädagogenzierat
Mit ihrem Blick gemustert, sprach sie lächelnd:
«Verzeiht mir, liebe Freunde, meine Blindheit!
Ihr stammt gewiß vom Vorrat des Methodiums?»
Dies jähten sie mit fröhlichem Gekicher.
«Und diese Verslein flickt mein teurer Täufling?
Richtig, da steht es ja: ‹Johannes.› Nun,
Wie geht es ihm? Was treibt er in der Schule?
Ein bißchen faul gewiß und etwas unnütz?»
Nicht länger konnte Omikron sich halten,
Und lauten Lachens hub er an: «Johannes
Scheint mir ein wackrer, kreuzbegabter Junge.
Viel weiß er nicht, und lernen tut er gar nichts.
Indes in meiner Jugend macht ichs auch so.»
«Wohlan, das freut mich», sprach die Gräfin. «Dank
Für eure gute Nachricht, doppelt Dank,
Daß ihr um mich den weiten Weg nicht scheutet,
Zumal in eurem Alter. Aber kommt
Jetzt speisen. Heute seid ihr meine Gäste.
Ihr dürft es nicht verschmähn, schenkt mir die Ehre.»
Gern schenkten sie der Gräfin diese Ehre,
Und nicht verschmähten sie das fette Truthuhn.
Zwar alsolange noch die schöne Witfrau
Am Tische saß und bittend sie ermahnte,
Gebrauchten sie den Löffel für das Truthuhn
Und für das Brot benützten sie die Gabel,
Doch als sie nun mit reiferem Verständnis,
Um Nachsicht bittend, ihren Platz verlassen,
Mit beiden Händen packten sie den Trutfuß,
Und mit den Zähnen zerrten sie das Brot ab,
Bis daß sie endlich jung und satt und rundlich
Sich schlichen nach dem Hausflur und geschwind,
Weil eben niemand war umher zu schaun,
Geduckten Haupts entwichen nach der Straße.
Doch als sie kaum sich einer vor dem andern
Zusammenfanden auf der sichern Straße,
Vergnügten Lächelns bohrte Omikron
Den Gegner mit dem Finger und begann:
«Was glaubst du wohl, mein biederer Digamma:
Wenn sich die Sphinx an einer Menschenkeule
Den Magen überlud, hat man den Tierarzt
Gerufen oder Hausarzt?» Und Digamma
Verwarf die Arme: «Sicherlich den Tierarzt.»
«Wohlan, dann durfte mithin auch ihr Vater
Sie auf den Viehmarkt schleppen und ihr Fleisch
Nach dem Gewicht verkaufen?» «Nein, gewiß nicht.»
«Warum denn nicht, wofern sie doch ein Tier war?»
Das ärgerte den grämlichen Digamma.
Doch jener bohrt ihn nochmals an und fragte:
«Und wenn sie nun die Eilpost von Athen
Nach Theben nahm, was meinst du, mußte sie
Im Hundekasten liegen? Oder sprach man:
‹Zieht es vielleicht? und ist vielleicht dem Fräulein
Das Rückwärtsfahren lästig?› Und verhalf ihr
Mit ihren vielen rätselhaften Schachteln?»
So bohrt und sägt und schabt er unbarmherzig
In einem fort den kitzlichen Digamma.
Bis dieser endlich äußerster Verzweiflung
Das Schweigen brach und mit gewaltgem Eifer
Anfing, den Unterschied von Mensch und Tier
Ihm bloßzulegen und ihn zu belehren
Vom Tod und von der Zähigkeit der Seele,
Von Zeit und Raum und von dem Weltenursprung.
Doch an dem Weltenursprung stand sein Gegner;
An diesem Punkte hatt er ihn erwartet.
Unter dem Chaos lag er auf der Lauer,
Und als der andre harmlos jetzt vorbeischritt,
Blies er ihm rasch den Weltstaub in die Augen
Und übertüncht ihm das Gesicht mit Urbrei.
Darob entspann sich eine Riesenweltschlacht.
Denn wenn sie früher schlechterdings mit Backstein
Und alten Töpfchen fochten ihren Streit aus,
So warfen sie sich jetzt die Sonnen häuflings
An Hals und Kopf und schützten sich mit Monden.
Von Protein und kieselsauren Säuren
Dampfte und dunstete die heiße Walstatt.

Da scholl von einer frischen Weiberstimme
Von hintenher der gelle Gruß und Warnruf:
«Du lieber Gott, ihr lieben Gogologen,
Was wollt ihr hier? Was tut ihr in dem Krautfeld?
Ich heiße Eva, komme von der Gräfin,
Und wie sie sich entschuldge – läßt sie sagen –,
Daß sie euch nicht den Wagen mitgegeben,
Und wie sie hoffe, daß ihr auf dem Rückweg
Kommet zu Gast, damit sies euch vergüte.»
So rief sie, und nachdem sie erst ihr Ziel
Gründlich erfragt, empfahl sie den Gelehrten
Gar freundlich ihr Geleit und ihre Führung.
Sie hatt ein gutes Herz und überdies
In jedem Dorf und Weiler einen Tanzschatz,
Und also führte sie das schlaue Langbein
In jedes Dorf und gegen jeden Weiler.
In jedem Dorf und Weiler wohnt ein Tanzschatz,
Den pochte sie heraus, und jetzt mit Flüstern
Und jetzt mit Zischeln pflückte sie ein Ständchen.
Doch immer folgsam folgten die Gelehrten.
Darob entschwand der Tag. Und wie sie nun
Hinter dem Mühldamm jenseits des Chrysorrhas
Steigend gelangten auf das hohe Blachfeld,
Lustwandelte gedankenschwer der Abend
Im Purpurschleppkleid durch die stille Wiese,
Während die Sonne überm niedern Walde
Stand auf dem Tritt und sprach zu ihrem Führer:
«Fahre du nur einstweilen langsam heim.
Ich komme später nach. Das linke Pferd
Bringe zum Schmied, er soll es gleich beschlagen,
Und sieh auch, ob die Räder alle fest sind.»
Mit diesen Worten sprang sie auf die Erde,
Und den Diamantenkranz aus ihren Locken
Hing sie an einen Baum. Die Funken sprühten
Und flammten weithin durch die grüne Waldnacht.
Und schüchtern Pan, der arme Ziegenknabe,
Schlich durchs Gebüsch. Das war ein Wiedersehn
Und Küssen und ein inverliebtes Kosen!
Und süßen Weinens lispelte der Knabe:
«Wie bist du gar so schön und reich und vornehm!
Und dein Gewand ist schwer von Gold und Seide.
Ich aber bin ein schlechter Hirtenknabe.»
Da tat die Sonne die Gewänder von sich
Und spannte sie als Zelt und Vorhang. Rosig
Erhellten sie den Hain in mildem Zwielicht.
Und wieder flüsterte der zarte Knabe:
«Und wollen wir nicht lieber die Diamanten
Verstecken, daß uns nicht verrät der Aufschein?»
Und also ungesehn im Waldesdüster,
Im duftgen Zelt mit inniger Umarmung
Genoß er jetzt, der arme Hirtenknabe,
Der Liebe süßen, unnennbaren Reichtum.
Allein der Abend auf der stillen Wiese,
Bebend, das Dichterblatt in seiner Rechten,
Begann mit tiefbewegter voller Stimme
Das hohe Lied von Liebesleid und Sehnsucht
Hinaus zu singen in den dunklen Frieden,
Und wie Verdienst und Edelmut und Tugend
Bleibt unbelohnt, doch jeder Himmelspreis
Wird hingeworfen einem niedern Findling.
Darob erglühten seine schönen Wangen
Vor Zorn und Scham, während von tiefer Trauer
Verdunkelte der Purpur seines Kleides.
Und sieh, von nah und fern die Nachtigallen
Flogen herbei und setzten sich vertraulich
Auf seine Schultern; wo sie nun mit Zuspruch
Und weichem Trösten suchten ihn zu heilen.
Doch immer schwärzer ward des Abends Purpur.
Entmutigt flogen weg die Nachtigallen,
Und alle Welt ward stumm vor großem Mitleid.

Auch ebenfalls die beiden Pädagogen
Verspürten etwas wie der Liebe Wehmut.
Nämlich sie hatten längst geheimen Blinzelns
Bewundert Eva, das gesunde Langbein,
Sei es betrachtend ihrer Schultern Zickzack,
Sei es die plumpe Anmut ihres Hergangs.
Und als nun durch des Abends stille Schatten
Sie einsam wanderten im hohen Blachfeld,
Da wuchs ihr Mut, und auf den Zehen schleichend
Umstrichen sie mit Räuspern und mit Hüsteln
Von links und rechts das hocherstaunte Langbein.
Am Arm der Dirne hing ein Korb voll Krebse,
Ein Huldgeschenk des Müllers am Chrysorrhas.
Und weil sie nun vor alten Rednern gänzlich
Nicht wußten, ob sie eher mit dem Nennwort
Sollten beginnen oder einem Vorwort,
So brauchten sie die Krebse jetzt als Fürwort
Und baten um den Korb als eine Wohltat.
Eva erlaubte gerne diese Wohltat
Und schritt voran und sang ein Galgenliedchen,
Während gar hochgeehrt und stolzbewußt
Schleppten die Pädagogen ihre Wohltat.
Da sprach ein junger Krebs zu seiner Krebsin:
«Geliebte Krusta, meine süße Freundin,
Besteige meinen Rücken, ob du nicht
Ein leises Murmeln hörst und das Gewässer
Erblickst des lustig schäumenden Chrysorrhas.»
Geschwind gehorchte die getreue Krusta,
Dann von dem Rücken gab sie ihm die Antwort:
«Unglück und Weh, hochedler Skerevissos!
Ich höre weit und breit kein leises Murmeln,
Und auch kein Wasser schäumt durchs trockne Blachfeld,
Und nur der Mond schwimmt lautlos durch die Gräser.»
Und nochmals sprach der tapfre Skerevissos:
«Wohlan, so laß mich steigen nach dem Blachfeld,
Ob ich vielleicht, vom Tode dich zu retten,
Ergründe zum Chrysorrhas einen Durchgang.»
Mit diesen Worten stürzt er sich vom Korbrand.
Und als er theatralisch erst ein Weilchen
Für tot gelegen, Mitleid anzurühren,
Kroch er gar munter rückwärts in ein Mausloch.
Und Krusta, ohne längeres Besinnen,
Sprang jenem nach mit einem leisen Angstschrei.
Es hatte aber Krusta sieben Brüder,
Welche mit einem heiligen Gelöbnis
Geschworen ihrem greisen Vater, niemals
Von Krusta sich zu trennen. Diese faßten
Sich bei der Hand, und in vereinter Kette
Sprangen auch sie hinunter in den Abgrund.
Und zu Hexapodos, dem bärtgen Häuptling,
Kam das Gerücht der wunderbaren Rettung.
Der schnallte sich den Panzer, strich den Schnurrbart.
«Freiheit und Krebsheit», rief er, «auf zum Kampf!»
Ob dieser Rede ward ein wilder Aufruhr.
In großen Massen stürzte sich das Krebsvolk
Zur Mauer und erkämpfte seine Krebsheit.
Umsonst bemühten sich die Philosophen,
Sie wehrtens nicht, sie warens nicht erfahren;
Sie wußten nicht den Daumen zu gebrauchen;
Sie stachen ängstlich mit dem Zeigefinger.
Des spottete das Krebsvolk, und in kurzem
Blieb nur zurück der altersschwache Häuptling.
Diesen gedachten sie gewiß zu halten.
Doch einstmals, als sie wie gewöhnlich blindlings
Mit ihren Fingern nach ihm spürten, faßt er
Geschwind Digammas Ärmel, wo er nun
Heimtückisch kroch von hinten nach dem Kragen,
Später vom Kragen in die Seitentasche;
Dort blieb er ruhig liegen auf der Lauer.

Inzwischen kamen sie zu einem Schlößchen.
«Hier ist Lykaon», sprach die schmucke Magd
Und heischte höflich dankend ihre Krebse.
Zwar wie sie jetzt den Korb gar sehr erleichtert
Und auch kein einzig Krebslein drinnen vorfand,
Stemmte sie beide Fäuste auf die Hüften
Und rang nach Atem. Ähnlich wie das Wasser
Aus einer Flasche allzu engem Hals
Nicht kann entrinnen, weil die vielen Tropfen
Sich streiten und ein jeder erst voran will,
Und gleich wie kleine Kinder, wenn die Mutter
Nicht alsobald gehorcht, zunächst nicht wissen,
Ob sie in Es-Dur eher oder Ces-Dur
Beginnen sollten, also schnappte Eva.
Freilich wofern sie ihre Stimme vorfand,
Kein kleines Redchen hätten die Gelehrten
Mit angehört, verziert mit seltnen Titeln.
Die Rede kam zu spät, denn bei der Haustür
Brach jetzt ein Doggenpaar mit rauhem Husten
Hervor. An ihren langen Ketten tanzten
Und hüpften sie und sprangen auf die Stufen
Und bissen in die Luft zum leckern Vorschmack,
Bis daß ein Licht erschien und auf der Schwelle
Ein Riese trat hervor, da krochen sie
Mit Winseln augenblicklich in ihr Häuschen,
Und nur die Ketten klirrten scharf am Boden.
Und Krateros mit seiner Donnerstimme
Erhob den Gruß: «Wer seid ihr? und was wollt ihr,
In später Nachtzeit streichend durch die Landschaft?»
Und rachedürstend gab die Magd zur Antwort:
«Zwei alte Narren sind es vom Methodium.»
Sie hätte gerne gründlich und erschöpfend
Ihr Herz geleert nach diesem ersten Anfang,
Doch kaum vernahm der Recke vom Methodium,
So öffnet er die Arme, und mit Tränen
Umfing er sie und trug sie nach dem Hausflur.
«Seid mir willkommen», rief er, «würdge Väter!»
Dies nenn ich meines Lebens schönsten Festtag.
Denn längst schon in den Tiefen meines Herzens
Hab ich herbeigesehnt die hohe Stunde,
Da ich zu euren Füßen als ein Schüler
Genieße unerschöpfliche Belehrung.»
Und als er erst durch seinen treuen Diener
Mopswest den Tisch geschmückt mit staubgen Flaschen
Und auch zu größerer Gemütlichkeit
Heraufbeschworen seine schwarzen Doggen,
Begann er zu genießen die Belehrung.
Die Menschen lassen gerne sich belehren,
Indem sie ihren eignen Witz bescheren.
Ehe die würdgen Pädagogen nur
Ein Plätzchen fanden für ein einzig Wörtchen,
Benützte schon der Held den hohen Festtag.
Und als sie erstens fest und sicher saßen,
Kramt er umständlich seinen müden Gästen
Sein Wissen dar, das er aus wengen Büchern
Und vielem Mißverstand sich selbst gesammelt
Im Alter nach der kriegerischen Sturmzeit.
In jeder Kunst und jeder Wissenschaft
Wußt er Bescheid, und keine Dunkelheit,
Die er nicht alsobald und leicht erklärte.
Es war sein Spruch nicht immer unanfechtbar:
Die Erde nannt er einen grünen Vogel,
Und jede Krankheit heilt er ganz natürlich
Und einfach, ohne Arzt, mit etwas Leinöl.
Doch wenn nun die Gelehrten ab und zu
Versuchten einen untergebnen Einwand,
Ein solch Gesicht, als hätt er Senf und Pfeffer
Verschluckt, verzog der Recke, samt durchstach
Sie mit dem Blick und seufzte tief vor Mitleid,
Daß sies geratner fanden, ihr Bedenken
In rot und weißen Weinen zu ertränken.
Und also fuhr er fort und holt allmählich
Den ganzen Vorrat seines Theoreums:
Nilpferde, Krokodile, Katzen, Schlangen
Und unterschiedne fremde Fisch und Vögel,
Bis daß bei der Gelegenheit er endlich
Gedachte seines vielgeliebten Söhnleins,
Wie der ihm mangelte und wie so schön
Er unter seiner väterlichen Leitung
Erlernen konnte das gesamte Wissen
Samt Jagd und Krieg und jede fromme Arbeit,
Und wie er widerstrebend nur, der Patin
Zulieb, ihn abgegeben nach der Hauptstadt.
Gern hätten die Gelehrten jetzt den Anlaß
Benützt und sich entledigt ihres Auftrags;
Des war nun keine Möglichkeit, denn schon
Nach einer andern Richtung unaufhaltsam
Und unerschöpflich überfloß der Wortstrom:
Nach Abessiniens kläglicher Regierung
Und nach dem Tierkreis des gehörnten Landrats,
Und wie man nach dem letzten Sieg umsonst
Erobern konnte das erschrockne Libyen
Nebst Afrika mit dem gesamten Schwarzvolk,
Wofern man Zephyropater, den alten
Hirnschwachen Fridolin und Friedensfriedrich,
Vermied und selber ihn erkor zum Feldherrn.
Ob diesen Reden ward er mählich hitzig,
Lauter und lauter dröhnte seine Stimme,
Daß selbst die Doggen, seinen Zorn bemerkend,
Bellten von fern nach dem gehörnten Landrat.
Vor solchem Dreiklang zitterte das Zimmer.
Nur die Gelehrten, von dem langen Wandel
Ermüdet und dem ungewohnten Krebsfang,
Vernahmen nicht den ungeschlachten Lärmen,
Sie schliefen sanft und schnarchten wie die Götter.
In ihrem Schlummer nickten sie mitunter,
Das nahm der wackre Monolog für Beifall.
Bis mählich aus Digammas Seitentasche
Hexapodos bedeutsam und verschmitzt
Hervorkroch, um den Leib ein Liebesbrieflein.
Gern stockt ein Redner mitten in der Rede,
Oft hat er keinen Krebs dazu vonnöten.
Dem Riesen schmolz das Wort auf halber Zunge,
Und auch die Doggen, als sie sahn das Kriechtier,
Sprangen mit eingekniffnem Schwanz zur Seite,
Indessen seinerseits Hexapodos
Mißtrauisch musterte das Theoreum
Und mit erhobner Schere scheu zurückwich.
Ob solcher Stille wachten auf die Schläfer.
Schlaftrunken und verwundert blickten sie
Auf all den Schrecken und die offnen Mäuler.
Da kam ein Wäglein in den Hof gefahren,
Und Schritte hallten auf dem Flur, und wichtig
Erschien Mopswest mit einem feinen Brieflein.
Das Brieflein lesend ward der Recke fahl.
Die Fäuste ballend stürzt er nach dem Stallhof
Und nahm sein Pferd und jagte durch den Mondschein.
Doch welch ein Jammern tönt ihm nach und Weinen?
Die Doggen sinds, sie lecken sich die Nasen.
Plötzlich durch die geschloßnen Scheiben setzen
Sie auf den Hof, und überspickt mit Scherben
Purzeln sie bissgen Knäuels durch das Blachfeld.

 

Zweiter Gesang

I

Es gibt gottlob auch Menschen, die die Wahrheit
Erkennen trotz den Päd- und Philologen.
Sobald auf Megateichos die Gesandten
Verschwunden waren nach dem saftgen Krautfeld,
Den Zeigefinger legt Eugenia mahnend
An ihre Stirn und sprach zu ihrem Weibswitz:
«Wenn sich zwei Pädagogen auf die Spur
Begeben nach den elterlichen Höhlen,
Das ist kein gutes Zeichen; nimm hinzu
Die holden Verslein an die lieben Mägdlein ...»
Und weiter malte sie sich Krateros
Vor Augen und sein ungezähmtes Wesen;
Und also von Gedanken zu Gedanken
Ward ernst ihr Fühlen und ihr Antlitz traurig.
Und als sie nun auf ihrem Zimmer einsam
Im Schaukelstuhle lag und nur der Vögel
Beglückender Gesang vom Erdgeschoß
Erhellte das mittsommerliche Schweigen
Und ab und zu vom Garten, wo die Kinder
Sich jagten, scholl ein übermütger Lustschrei,
Da wiederholte sie die alten Zeiten:
Im fernen Niederlande sah sie sich
Am blauen See in ihrer lichten Heimat;
Die Blumen blühten schöner dazumal,
Hold schien die Welt, die Menschen waren besser.
Drei edle Brüder, ritterlich und gut,
Beschützten sie, und rings am Seegeländ
Wohnt ein erlesner Nachwuchs von Gespielen.
Doch überm Wasser in der stillen Waldbucht
Gedieh Angelika, die treuste Freundin,
Das Urbild der Geduld und sanften Anmut.
Sie saßen auf der Insel Hand in Hand
Und rieten in die Zukunft. Anders kam es:
Den ungeliebten Männern weihte sie
Der Mutter Klugheit und des Vaters Machtspruch.
Dann sah sie sich enthoben nach Lykaon.
Dort lag die treuste Freundin auf dem Todbett.
Sie sprach kein Wort in ihren langen Leiden;
Doch als das Ende nahte, suchte sie
Hastig und ängstlich ihrer Freundin Hand,
Und großen Blickes, wie die Kranken blicken,
Bat sie und flüsterte: «Mein Kind Johannes.»
Ob der Erinnrung schwamm ihr Aug in Tränen,
Und plötzlich sprang sie auf, und von der Treppe
Befahl sie händeklatschend nach dem Hausflur:
«Laßt eilig zäumen meine schwarzen Traber,
Und meinen leichten Wagen zieht vom Stallhof.»
Geschwind gehorchten die geschulten Diener,
Und über kurzem schnoben vor dem Wagen
Die schwarzen Traber stämpflings nach dem Schloßhof,
Und also fuhr die schöne Frau von dannen.
Doch wie sie nun nach einem weiten Umkreis
Erschien am Gartengitter in der Tiefe,
Schnell sprangen beide Mägdlein aufs Gesims
Und schrien und riefen durch den grünen Käfig:
«Wo willst du hin, was bringst du mit?» Und herzhaft
Begehrte Xanthe: «Bring uns einen Freier,
Du weißt, von Haselnuß mit Mandelaugen.»

Es war die Stunde, wenn der Weltenkreisel
Steht oben im Zenith und schwankt und zittert,
Undeutlich, ob er richtig nach dem Abend
Vollende seinen Umgang oder rücklings
Hinunterfalle nach dem ewgen Ursprung.
Um jene Zeit und Stunde kam die Gräfin
Nach Leontopolis, der kleinen Hauptstadt,
Und zu den hohen Mauern des Methodiums.
Ob ihrer Ankunft ward ein großer Eifer,
Wie ja die Archirhinoblöken immer
Gar zierlich tun vor zwei geschirrten Rossen:
Er wußte nichts, es tat ihm leid, denn er
Verehrt und liebt und schätzte sehr Johannes,
Doch Gryllos – und so weiter, wie es Brauch ist.
Eugenia, sehr gerührt und baß empfänglich,
Bedankte sich und forderte den Täufling.
Da trat aus der Genossen stummer Schar
Ein kleiner Riese sündenschuldbewußt
Hervor, gewärtig jedes scharfen Urteils.
Zwar ob dem unverhofften Riesentäufling
Ward etwas weiß und rot die junge Witfrau.
Doch wie sie nun in dem gewaltgen Aufbau
Vernahm der Mutter offnes, gutes Auge
Und die geliebte Sanftmut ihres Mundes,
Bot sie zum Gruß ihm herzlich ihre Hand
Und lud ihn ein mit unverhohlner Freundschaft.
Zögernd gehorchte der erstaunte Pätling,
Und unter der Gespielen stillem Neid
Und lauter Zierlichkeit der Rhinoblöken
Rollte der Wagen nach der tiefen Hauptstadt.
Still saß Johannes in der Ecke, träumend
Genoß er dieses Märchen, Erd und Himmel
Erschienen seinem Blick in Käfergoldglanz.
Im Gegenteil die Gräfin, innig glücklich,
Eins mit sich selber und des Himmels Segen
Verspürend in dem Dank der toten Freundin,
Erging sich in vertraulichem Geplauder,
Jetzt dies und das erfragend aus dem Schützling,
Jetzt ihn verständigend von Megateichos,
Von Haus und Hof und von den trauten Mägdlein.
Dabei gedachte sie der leckern Xanthe.
Und wo zunächst von Backwerk eine Schauburg
Sich auftat, kaufte sie sich einen Freier
Von Haselnuß, gar jung und frisch und zärtlich,
Doch statt der Augen Mandeln und Rosinen.
Und über diesem reisten sie vors Stadttor.

Doch als sie nun gelangten an den Weinberg,
Da war die Straße blind von weißem Kalkstaub
Und heiß und schwer die Luft, und die Zikaden
Pfiffen und trommelten aus dem Gemäuer.
Und hinterm Sonnenberg die Himmelskühe
Stiegen herauf in dichtgedrängter Herde,
Öfters sich stoßend oder plumpen Aufsprungs
Steigend auf ihres Vordermannes Rücken.
In ihrer Mitte der gewaltge Zuchtstier
Busiris, düstern, fürchterlichen Anblicks.
Langsam verließ er jetzt die andre Herde,
Noch ruhig grasend und das Schreckensantlitz
Abseits gewandt mit zugekehrten Hüften.
Und durch den Himmel lief die Schreckenskunde:
Seht ihr Busiris weiden hinterm Dornhag
Und wie er näher kommt und immer größer.
Und haufenweise durch die Nektarfelder
Flohen die Bauern, weil die Bäuerinnen
Verzweifelt schrien und liefen nach den Kindern.
Da bracht ein kleiner Knabe diese Botschaft:
«Pasiphae die Hirtin läßt euch sagen:
‹So schreit doch nicht und haltet euch doch ruhig,
Und daß um Gottes willen doch die Sonne
Nicht näher komme mit dem roten Wagen!›»
Und also stellten sie den Sonnenwagen,
Und alles Leben zwangen sie zum Schweigen.
Außer allein im Weinberg die Zikaden,
Welche vor Furcht und Schrecken außer Sinnen,
Pfiffen und trommelten mit tollem Eifer.
Doch hinterm Dornenhag der böse Zuchtstier
Zog langsam herwärts mit den weißen Kühen.
Wenn er ein wenig nur den Nacken aufhob,
So sprangen hinter den geschloßnen Läden
Die Bauern rückwärts und die Kinder flennten,
Und wenn er seinen Leib im Grasen kehrte
Und hielt sich schräger Richtung nach der Sonne,
So stockte jedem in der Brust der Atem.
Doch sieh, wer schreitet da dem Ungetüm
Furchtlos entgegen, ohne Wehr und Waffe?
Das ist Pasiphae, die junge Hirtin.
Behende steigt sie über Zaun und Hecken,
Mit weitem Umweg, bis die rote Sonne
Lag hinter ihr, der eigne Schatten vor ihr.
Da brach sie sich ein grünes Haselzweiglein,
Dann zog sie festen Schrittes vor Busiris.
Und zwar die weiße Herde grüßte traulich
Mit ihren Mäulern schnüffelnd um die Herrin,
Allein Busiris wich ihr feindlich aus
Und bog den Kopf und stampfte mit den Füßen.
Und es begann und sprach die mutge Hirtin:
«Ei, sag mir doch, mein Freund, was soll das heißen!
Wenn du nicht augenblicklich herkommst, nie mehr
Werd ich dich nennen mein geliebtes Schätzchen
Und dich liebkosen mit dem Haselzweiglein.»
Und siehe da, der fürchterliche Unstier
Kam richtig langsam her mit dumpfem Brüllen,
Und beides, mit der Hand und mit dem Zweiglein
Liebkoste sie den schauerlichen Schatzmann.
Und über dem mit ungemeiner Vorsicht,
Stetig bedacht, die Sonne zu verhehlen,
Führte sie ihn und lenkt ihn nach der Heimat.
Da wagte sich die Sonne wieder vorwärts,
Und alle Herzen füllten sich mit Atem.

Gleichfalls Eugenia, fahrend überm Weinberg,
Blickte befriedigt nach den weißen Kühen.
«Es geht vorüber», sprach sie zu Johannes.
Darauf bemerkend ihre armen Traber,
Wie sie im heißen Kampf mit bösen Bremsen
Den Kopf verwarfen und die Beine stießen,
Vergeblich schaudernd mit den glatten Bäuchen,
Fügte sie bei: «Wir könnten, wenns dir recht ist,
Den Umweg nehmen durch die Gartenstraße.
Es ist dort nicht so heiß und nicht so staubig.
Doch wenn du etwa hungrig bist, so sags nur
Ganz ungescheut, du bist jetzt wie mein Kind.
Also was meinst du, bist du einverstanden?»
Gar einverstanden war damit Johannes,
Gern säß er ewig in dem linden Wagen.
Und also fuhren sie zur Gartenstraße.
Und als sie kamen vor die Gartenstraße,
Da schien sie nicht so heiß und nicht so staubig.
Nämlich gewaltge Mauern links und rechts
Verengerten den Weg zur schmalen Gasse,
Während von oben riesige Platanen
Beherrschten aus dem finstern Blätterdach
Den Durchgang, geisterhafte Schatten strahlend,
Daß wie von Wasser rieselte der Luftraum;
Luftraum durchscheinend in den Hochgewölben,
Doch überm schwarzen Boden undurchsichtbar.
Zugwinde buhlten kosend um den Eingang,
Doch selber aus des Sonnenkellers Tiefen
Strich kühlend durch die Landschaft ein Gebräu
Von Bäderduft und blumigen Aromen.
Des schnupperte Johannes mit der Nase,
Eugenia aber ließ die schnellen Traber
Im Zügel halten, daß sie führen schrittweis.

Und also schrittweis zogen sie durchs Waldtor.
Geblendet ward ihr Auge, Mitternacht
Erschien ihm der verdeckte Kellerdurchgang;
Einzig mit Ohr und Nase spürten sie
Die Blättersymphonien und das Gemurmel
Der Wasserfälle plätschernd durch die Gärten.
Nur ab und zu, wenn über ihren Häupten
Ein Brücklein, blau mit Blumen überhängt
Und schräg von Sonnenfluten übergossen,
Sich bog von diesem nach dem andern Ufer,
Da ruht ihr Blick und haftete begierig
Und sog den Schein und trank die süßen Farben.
Dann später, mehr befreundet mit dem Dunkel,
Vernahmen sie im dämmerhaften Laubdach
Ein goldnes Funkeln und diamantnes Blitzen
Von Fliegen, welche gleich den Spinnenfäden
Und gleich dem Weberschiffchen, das da hastig
Hinwärts und herwärts schießt, geraden Querstrichs
Lautlos die unterhauchte Luft durchkreuzten.
Und wieder später lernten sie das Sehen,
Fortschreitend von den plumpen Unterschieden
Zum feinverständgen Lesen, bis sie endlich
Deutlich erkannten mit entzücktem Herzen
Die viele wundersame, keusche Schönheit
Der Schattenkünste, wenn die weiße Mauer,
Stufig verdunkelt bis zum nächtgen Schwarz,
Diente zum Zeichenbrett jedweder Anmut,
Und nicht allein zum Zeichenbrett, doch selber
Den dunkeln, farbenglühenden Platanen
Als Widerpart und Augenpunkt und Leuchtfaß;
Wo zwischen dieser und der andern Sonne
Der braun und goldne Luftstaub langsam kreisend
Stieg auf und nieder wonnigen Gewölkes.
Sanft wandelte die Straße berg- und talwärts.
Öfters im tiefern Grund ein Eisentor
Erlaubte durch das schmale Gitterfenster
Den Einblick in die Gartenparadiese,
Wo nun das Auge mit verbotner Neugier
Eilfertig schaute durch den finstern Park
Bis nach dem Haus und in den schwarzen Hausflur
Und selber durch den schwarzen Hausflur jenseits
Hinaus ins Sonnengold und in die Wiesen.
Fuhren sie wieder auf dem lichtem Hügel,
Wo aus dem Nesselwald und Klettendickicht
Brombeeren überwucherten die Mauer,
Kaum daß ein Strahlenfeuer heißen Atems
Durch eine Lichtung brütete des Wirrsals,
Geschah von Bienen und von bunten Käfern
Ein Summen und ein Surren; fette Echsen
Brieten behaglich auf dem Rost des Kalksteins,
Indes ein braunes Volk von Schmetterlingen
Umgaukelte das Unkraut; zwar die Künstler,
Die prächtgen, selbstbewußten Sonnenfalter,
Schwammen abseits in schönheittrunkner Andacht;
Auch ab und zu ein großer, stolzer Dichter
Vergrub sich in den Schatten, regungslos
Beschauend seiner holden Schwester Anmut.
Die beiden Freunde während dieser Lustfahrt
Waren gar still, sie dachten mit den Augen.
Sie ruhten aus an Geist und Leib und Seele,
Erstens geschaukelt von dem Wiegelwagen,
Zweitens beruhigt von der sanften Schönheit.
Wenn sie nicht schliefen, war es, weil sie träumten.
Und also unvermerkt und fortgetragen,
Gelangten sie zuletzt an einen Obstpferch.
Ein junger Kirschbaum hing aus diesem Obstpferch
Tief in den Weg, des bückte sich Johannes,
Aber Eugenia eines sündgen Einfalls
Griff über sich und brach, die edle Diebin,
Mit ihrer feinen Hand ein kleines Zweiglein.
Dann froh des Raubes, gleich als hätte sie
Vollbracht ein vaterländisches Gemeinwerk,
Begann sie, gänzlich aufgeweckt und munter,
Die süße Mahlzeit, ein gekniffnes Fäustchen
Beständig haltend vor den Mund, die Steine
Hineinzublasen, welche sie sodann
Nachlässig streute nach der harten Kiesbahn.
Doch wird ihr Täufling auch kein Kirschlein beißen?
Sie steckt ihm jedes zweite, treu gezählt,
Mit ihren eignen Fingern durch die Lippen.
Des hat er keinen Grund, sich zu beklagen.
Und weil das süße Zweiglein nicht so klein war,
Hatten sie reichlich Arbeit alle beide.
Doch in die Ferne lauschend sprach sie plötzlich:
«Jetzt ist es vier Uhr. Hörst du, wie es läutet?»
Und siehe da, er hörte, wie es läutet.
War es auch leise, wars nur desto holder.
Nämlich der Glöckner drunten in der Hauptstadt
Läutete gar gewaltig laut um vier Uhr.
Doch oben in des Turmes luftger Halle
Die Echomägdlein, fliegenden Gewandes,
Hingen am Seil und tanzten mit der Glocke.
Und kaum daß sich ein Klang zur Reise fortschwang,
So flogen sie ihm nach, und wenn sie erst
Ein Phonogäbelchen ans Ohr gehalten
Mit klugen Blicken, gleich wie wers versteht,
So sangen sie den fünften Oberton
Anschwellend und mit tadelloser Reinheit.
Freilich der Glöcknerklang im ersten Anfang
Brüllte gewaltig laut aus seinem Erzmaul.
Allein die Mägdlein hatten längern Atem,
Daß, wenn der andre nach und nach erlahmte,
Sie sangen immer herrlicher und klarer,
Und auch indem sie reisten durchs Gebirge,
Kamen die Kinder Antiphons als Zuzug,
Füllend den Dreiklang mit der Knabenstimme.
Und also um so ferner, um so holder.
Deshalb je mehr der Glockenton verhallte,
Je eifriger Johannes und Eugenia
Neigten den Kopf und falteten die Stirn
Und lauschten lächelnd nach dem duftgen Singklang.
Doch als sie nunmehr an der letzten Halde
Hinunterrollten in den offnen Gau,
Plötzlich begann erschreckt die schöne Diebin:
«Ei, sag mir doch, du junger lockrer Pätling,
Wie ist so schwarz dein Mund, und deine Zähne
Sind bläulich anzuschaun wie Ackerveilchen.
Auch auf dem Kinn strahlt dir ein saftger Samtfleck.
Nicht gleicht dem deinen mein Gemünd, so hoff ich.»
Keck gab zur Antwort ihr der muntre Pätling:
«Nicht weiß ich, gleicht dir mein Gemünd und gleicht nicht,
Doch einen bunten Regenbogen seh ich
Gar artig schimmern rings um deine Lippen.
Freilich dein Kinn ist rein und glatt und sauber
Wie frischer Schnee und Elfenbein und Maimilch,
Doch deine Zähne scheinen dunkle Rosen.»
Und überdem verglichen sie die Hände.
Und siehe da, der Patin Fingerspitzen
Waren in Blut getaucht, und blaue Flammen
Verzogen sich anmutig nach der Wurzel.
Und auch im Mittelgrund des linken Fäustchens
Erglänzt ein feuerfarbener Kometstern.
Da mit Entsetzen rief die schöne Gräfin:
«Laß laufen deine Rosse, treuer Wagner!
Laß laufen sie, wie schnell sie nur vermögen,
Bis daß wir kommen zu der alten Straße
Und zu dem Hohlweg nach dem klaren Brunnen.»
Geschwind gehorchte der getreue Wagner
Und streckte seine Arme. Und erleichtert
Sahn sich die Rappen an und riefen seufzend:
«Nun Gott sei Dank!» und hoben ihre Knie.
Von ihrem kräftgen Hufschlag prasselten
Und polterten die Kiesel an den Wagen.
Gleich einem Traum an beiden Wegesufern
Schwanden die Bilder. Gärten und Paläste
Verschmolzen und verschwammen. Aber deutlich
Die Waldeshügel und entlegnen Schlösser
Reisten von fern in breitem Doppelfestzug
Grüßend heran, erst langsam, dann beschleunigt,
Bis sie gelangten zu der alten Straße
Und zum verlaßnen Hohlrain nach dem Brunnen.
Daselbst den Wagen ließ Eugenia halten.
Dann jung und rührig und bewegungsdurstig
Ging sie zu Fuß mit ihrem Freund und Pätling.
Heiß war der Wald im Abendstrahl. Gewürzig
Von Öl und harzgen Nadeln dufteten
Die Föhren. Mächtige Ameisenburgen
Umlagerten den Sandrain, wo die Blumen
Gediehn in den veralteten Geleisen.
Und hie und da ein Holzstoß weiten Klafters
Verengerte die Gasse. Also einzeln
Erklommen sie die Heide mit der Durchsicht.
Da aber wandte sich und sprach die Gräfin:
«Siehst du, Johannes, dort in den Zypressen
Das lichte Schloß? Dort oben wirst du wohnen!»
Und offnen Blicks ihn fassend mit den Augen
Fügte sie herzlich bei: «Laß uns nun hoffen,
Daß dirs zum Glück gedeihe und du nie
Bereuest und beweinest diesen Tag
Und daß wir gute Freunde werden. Des
Gib mir die Hand.» Und zitternd und errötend
Nahm er die Hand und drückte sie mit Stammeln.
Nach diesem kamen sie zum klaren Brunnen,
Da wuschen sie ein jeder seine Zähne
Und die geschwärzten Lippen. Aber ewig
Verblieben blau gemalt der Gräfin Finger.
Und also streifte sie geschwind die Ärmel
Zurück zum Ellbug, und die runden Knöchel
Auslangend ließ sie jetzt die Silberwasser
Plätschern und sprudeln über ihre Hohlhand,
Weil ihr Gefährte von der andern Seite
Behandelte und rieb mit großer Andacht
Die adeligen Pfötchen, die mit Frösteln
Verschwanden weichlich zwischen seinen Pranken.
Doch siehe, vier verräterische Bächlein
Schlichen von ihren hohen Armen heimlich
Abwärts in ihre Achseln. Heftig schreiend
Und tanzend unterbrachen sie die Arbeit.
Doch als sie erstens fleißig sich geschüttelt
Und warm getrocknet, rief die mutge Gräfin:
«Sag an, Johannes, melde mir die Wahrheit:
Gefällt es dir, daß wir in diesem Wäldchen
Entdecken manch ein grünes Plätzchen? Oder
Ist müd dein Fuß und krank dein Riesenkörper?»
Und fröhlich rief der wohlgelaunte Pätling:
«Nach Wahrheit meld ich dir, ehrwürdge Patin:
Heil ist mein Fuß und gar bereit mein Körper,
Dir nachzufolgen nicht allein ins Wäldchen,
Sondern ins Wüstenland und rund herum
Um Afrika nach Indien und nach China
Und von daselbst zurück und durch Europa.»
Und also gingen sie zu untersuchen
Und zu entdecken manch ein grünes Plätzchen,
Bis daß sie an des Hügels Gegenseite
Gerieten über ein geheimes Grastal,
Woselbst im tiefen Grund ein freundlich Bächlein
Sich wand durch Lorbeer zwischen Weidenbuschwerk.
Dort setzten sie sich unterm Waldessaum,
Und mit den Händen zupfend in dem Rasen
Belauschten sie die schwermutvollen Lieder
Der Bäuerinnen, die in rotem Kleid
Mit Sensen und mit Rechen reihenweis
Vollzogen stolzen Schrittes ihre Arbeit.
Vor ihren Füßen auf der dunklen Halde
Purzelten Kinder köpflings nach dem Heufeld.
Sie saßen, bis die abendlichen Nebel
Mit feuchten Fingern rührten an ihr Antlitz.
Und über diesem wählten sie den Heimweg.

II

Schon lagen Wald und Feld in blauen Schatten,
Als sie gelangten vor die hohe Heimat.
Und auf dem Abendberg die Heliosonne
Hub an und sprach zu ihren Geodäten:
«Hochedle Jungfraun, werte Geodäten,
Wir wollen nun noch schnell vor Tagesschluß
Die Winkel zeichnen und die Parallaxen
Berechnen, daß wir morgens unsre Flugbahn
Pünktlich beginnen an der rechten Stelle.
Seht ihr dort hinten am Zypressenhügel
Das schöne Schloß? Man nennt es Megateichos.
Dort stellt euch auf und gebt mir von den Fenstern
Deutliche Zeichen mit dem weißen Blendlicht.»
Und flugs die wohlgeschulten Geodäten
Eilten dorthin pneumatischer Geschwindkraft.
Und als sie erst den Abstand jedes Fensters
Genau geprüft mit ihrer güldnen Meßschnur,
Standen sie still und reichten sich die Hände.
Und siehe da, aus ihres Gürtels Nabe
Entströmt ein wunderbares weißes Blendlicht.
Das funkelte und strahlte sternenförmig
Mit Glitzern und mit Blitzen durch den Luftraum.
Und also schrieb die Heliosonne jetzt
Die Winkel auf dem Trigonomenwagen.
Auch öfters eine rasche kurze Auskunft
Begehrte sie mittels des Telegraphen,
Drückend am Knopf der Deichsel oder lieber
Leise, doch deutlich flüsternd durch das Sprachrohr.
Und immerdar die klugen Geodäten
Gaben ihr gut Bescheid aus weiter Ferne,
Auch wichen sie deshalb nicht von den Fenstern.
Sie taten keinen Wank, und prächtgen Feuers
Strahlt immer herrlicher das Blend- und Glühlicht,
Bis daß beendet war die weise Arbeit.
Und auf ein Zeichen die gelehrten Fräulein
Kehrten zurück und zogen mit der Herrin
Vom Abendberg nach ihrer schönen Heimat
Kosmopolis, der weiten, luftgen Weltstadt.
Allein das junge Volk der Chromomaler,
Anfänger ohne Amt, begehrten dringend,
Daß sie doch dürften noch ein kleines Stündchen
Vor Tagesschluß lustwandeln auf der Erde,
Ihnen zu einem schönen blauen Abend.
Und ebenfalls die Chromomalerinnen
Verlangten ihren schönen blauen Abend.
Man könnt es ihnen füglich nicht verweigern,
Vorausgesetzt natürlich, daß sie sich
Bestens betrügen ohne großen Lärmen
Und daß sie jedenfalls noch vor der Nacht
Zu Hause wären in Kosmopolis.
Heilig verschwur sich des das junge Mischvolk.
Und also nahmen sie den blauen Abend
Und gingen wandelnd auf der tiefen Erde.
Sie machten wirklich keinen großen Lärmen,
Sie zogen flüsternd durch die Dämmerstille.
Freilich die Maler turnend auf den Dächern
Und kletternd auf der Pappeln höchste Wipfel;
Allein die Malerinnen Arm in Arm
Weilten am liebsten in den dunkeln Gärten
Bei denen Purpurrosen, wo sie paarweis
Die Naschen drückten in die wulstgen Kelche
Und seufzten Ach und Weh vor großer Wollust.
Bis daß die Nacht hervorkroch aus den Wäldern,
Und zögernd aus dem schönen blauen Abend
Eilten sie heim mit schmerzlichem Bedauern.
Ich glaub es wohl: sie hatten keine Kinder,
Das Nest zu wärmen und mit Händeklatschen
Sie zu empfangen, tanzend vor der Haustür.

Anders auf Megateichos: Schon von weitem
Liefen die beiden Mägdlein auf der Straße
Jubelnd heran und meldeten mit Schreien:
«Besuch ist oben: Onkel Alexander
Und Theodor, und Tante Hippognome,
Und viele Herrn und schrecklich viele Fräulein.»
Sie hörten keine Warnung. Wildlings hingen
Sie hinten an und krochen in den Zwiespann.
Ob man sie schalt, sie lachten um Verzeihung.

Jetzt heimlich blinzelnd nach dem Riesentäufling
Frug Xanthe vorweis aus den blauen Augen:
«Ist das der Freier, den ich soll erhalten?»
Und blinzelnd blitzt Eugenia ihr die Antwort:
«Noch nicht, mein Kind, später vielleicht kanns werden.
Doch mögen viele Fischlein bis dahin
Noch schwimmen durch den schäumenden Chrysorrhas.»
So fuhren sie gar lustig in den Schloßhof.
Da war nun große Freud und große Arbeit.
Es mochte unbedingt durchaus Eugenia
Die Gäste halten bis zum nächsten Morgen,
Doch jene wollten jedenfalls nach Hause.
Darob geschah ein eifrig Widerstreiten:
Vernünfte schützten vor die Herrn und Fräulein,
Eugenia trotzte mittelst Weibesanmut.
Und weil nun stets auf Erden Weibesanmut
Gar sanft den Sieg gewinnt in allen Dingen,
Behielt sie richtig alle samt und sonders
Gefangen ohne Gnad und ohne Mitleid.
Die Fraun und Fräulein wurden weich geborgen,
Die Ritter tat man unter, wie es anging.
Plötzlich entsetzte sich und schrie die Gräfin
Und eilte fort und schrieb ein hastig Brieflein.
Und als sie rasch den Wagner herbeordert,
Empfahl sie ihm das Brief lein und gebot ihm:
«Gleich rüste deinen Schnellfuchs und ein Wäglein,
Lykaon kennst du ja? Wohlan, so eile,
Und übergib dies Brief lein Krateros,
Und wenn du unterwegs dem langen Leichtsinn
Eva begegnest, nimm sie strengstens mit dir.»
Inzwischen schleppten die geschäftgen Diener
Viel Stuhl und Tische nach dem kühlen Garten,
Und einen kleinen, aber guten Imbiß
Deckten sie auf, weil das nun einmal sein muß.
Selber die Gräfin aber führte jetzt
Ihr Volk zu Tisch, sitzend am obern Ende;
Wo sie nun weniger mit vielem Fleisch
Als vieler Freundlichkeit und Herzensanmut
Belebt und unterstützte die Gesellschaft,
Jeden befragend und den Schüchternen
Zum Vorschein nötigend mit holdem Lächeln.
Gern fand bei ihr ein froher Einfall Beifall,
Und jeglichen Gedanken suchte sie
Von irgendwo der Wahrheit zu verknüpfen,
Gings nicht am Kopf, wohlan am Bein der Wahrheit.
Da ward gar wohl den Rittern und den Fräulein.
Nämlich den Rittern wohl bei denen Fräulein,
Den Fräulein aber wohl bei denen Rittern.
Doch mit Besorgnis fragte sich Eugenia:
Wie aber richt ich an ein kleines Springnis?
Und ihren jungen Bruder Alexander
Rief sie herbei und raunt ihm in die Ohren.
Der ging verschwinden nach dem lichten Schloß,
Und kaum war er verschwunden, so erscholl
Mit lustgem Klang die Orgel aus dem Springsaal.
Des trippelten die Gäste mit den Zehen
Und tänzelten zum Saal, und Herrn und Fräulein
Umfingen sich und sahn sich in die Augen.
Danach geschah ein ungeheures Springnis.

Zwar anfangs gingen sie noch ganz vernünftig,
Sich hübsch verbeugend und einander grüßend,
Doch bald begannen sie das Bein zu knicken
Und sich zu drehn und hin und her zu schwenken,
Dann in gedrängten Knäueln durch den Saal
Eins um das andre sich herum zu wälzen.
Noch später brauchten sie den glatten Boden
Als Eisbahn, wo sie paarweis nun mit Schleifen
Und Gleiten glitschten nach der andren Seite
Und jagten sich und suchten zu entlaufen.
Und wieder später hüpften sie geschwind
Ein wenig von dem Boden, um zu zeigen,
Daß er der größre sei, bis daß sie endlich
Verstörten Angesichts und wilden Blickes
Sprangen herum wie Birk- und Wiedehöpfe.
Da galt kein Einhalt mehr und kein Vernunftwort.

Die Kinder trippelten und knickten munter.
Sie hätten auch das Hüpfen nicht verachtet,
Wenn nicht die Mutter mit gemachtem Ernst
Sie strengstens wies zu Bett, da galt kein Säumen.
Sie wollten sich zum Trost die treuen Freier
Ans Kissen drücken. Dieses ward gestattet.
Und auch daß sie ein wenig knusperten
An denen Fingern, aber weiter ja nicht.
Im Schatten eines Pfeilers hielt inzwischen
Johannes sich verborgen, stets bedacht,
Wie er sich unentdeckt von Stund zu Stunde
Hinziehe durch die unerlaubte Nachtzeit.
Jetzt tönt es Mitternacht, jetzt ein Uhr morgens.
Mit jedem Schlage wuchs sein Selbstbewußtsein,
Bis eines Mals, als eben die Gesellschaft
Sich rüstete zum langen Barbaros,
Ein fürchterlicher Lärm erscholl vom Schloßhof.
Und bangen Heulens in den offnen Saal
Stürzte der Gräfin Windspiel, hart verfolgt
Von zwei großmächtgen Doggen. Zeternd flohn
Die Fraun, die Herrn begehrten Waffen. Während
Johannes köpflings übersprang die Treppe.
Eugenia aber, bleich vor Zorn und Schreck,
Biß sich die Lippen und besah die Diener.
Sieh da, ein Riese, stürmend durch die Saaltür,
Der stampfte wilden Schrittes vor die Gräfin
Und fuhr sie an mit seiner Donnerstimme:
«Wer ist es, der da wagt, mein eigen Kind
Mir zu entwenden? Augenblicklich heisch ich
Mein väterliches Recht, wie es mir zukommt!»
Murrend an ihrer Wirtin Seite stellten
Die Ritter sich zum Schutz; doch diese wehrte
Mit ihrer Hand und sprach zu ihrem Dränger:
«Herr Krateros, mein ungeschlachter Nachbar,
Hier ist kein Theoreum. Eh ich Euch
Der Antwort würdge, schafft die Hunde auswärts!»
Und als er widerwillig dies geleistet,
Fügte sie rasch hinzu mit scharfer Stimme:
«Ist es auch Ritterart, Herr Krateros,
In einer Witwe Haus um Mitternacht
Mit Drohen einzubrechen wie ein Räuber?
Wer hat Euch eingeladen? Habt Ihr etwas
Mit mir zu handeln, gut, so kommt gebührlich
Des Tags in einer angemeßnen Kleidung!
Ich werd Euch nicht entweichen. Oder glaubt Ihr,
Johannes werde wohl von heut auf morgen
In meinem Schlosse Schaden leiden? Hab ich
Solchen Verdacht um Euch verdient? Antwortet!»
Erst schwieg der Recke etwas sehr beschämt,
Doch rasch sich schüttelnd, künstelt er den Zorn
Von neuem an und rief mit bitterm Ärger:
«Wenn sich einmal die unvernünftgen Weiber
In eine Sache mischen, hilft kein Arzt mehr.
Wars nicht genug, daß meine selge Gattin –
Sie war ein treues Weib, nur gar einfältig –
Den Knaben mir verzog mit Fühleleien?
Auch Ihr verdarbt mir ihn. Wollt ich ihn strafen,
Stets wart Ihr mir zuwider, und zuletzt
Benütztet Ihr ein wohlgelauntes Stündchen,
Um mir den einzgen Sohn, mein höchstes Kleinod,
Hinweg zu sprechen in die kalte Fremde;
Anstelle daß er unter meiner Führung
In jeder Kunst und jeder Wissenschaft
Der erste ward und unter kräftgem Handwerk
Herrlich gedieh zu heldenhafter Mannheit,
Hat man mir ihn gemacht zu einem faulen,
Entnervten Jämmerling und feigen Träumling.
Was soll er eigentlich auf Megateichos
Bei all dem Weibsvolk und den Unterröcken?
Wollt Ihr ihn lehren Puppenspielen, klatschen,
Beten und Strümpfe stopfen? Meint Ihr denn,
Ich werd es dulden, daß man meinen Sohn
Erniedrige zu einem Spiegelgucker,
Süßholz- und salbenduftgen Apfelseifling?»
Die lange Zeit der ungefügen Rede
Bezwang Eugenia sich und rang nach Fassung.
Nachdem er aber kaum erschöpften Atems
Ein wenig innehielt, den Sieg genießend,
Trat sie vor ihn und warf ihm zu die Antwort:
«Ich habe wenig Übung, daß man mir
In solchem Ton und solchen Redefugen
Begegne. Aber weils Euch nicht mißfällt,
Vor meinen Gästen und vor meinen Dienern
Mich zu verklagen ohne Scham noch Rücksicht,
Ertragt auch ebenda den Trotz der Wahrheit.
Wenn man, Herr Nachbar, eine solche Meinung
Verspürt von Weibeswert und Weibeshoheit,
So bleibt man unvermählt, damit man nicht,
Wie Ihr getan, die edelste der Frauen
Des Lebensglücks und jeder lichten Hoffnung
Beraubt zu ihrem frühen Tod – Ihr seufzt?
Ihr tut mir leid, ich weiß, Ihr seid nicht bös,
Ihr liebtet sie, das heißt auf Eure Art.
Und also tut Ihr auch an Eurem Knaben.
Daß ich ihn einst entzog aus Eurem Hause,
Geschah, nachdem ich sah das arme Kind
Zusammenschrecken, wenn der Vater heimkam.
Und heute nahm ich ihn zu mir, damit
Sein gutes Herz, das Ihr mit Eurer Rauheit
Euch mehr und mehr entfremdet, nicht in Groll
Und Bitterkeit und Haß für Euch entbrenne.
Ihr werdet mirs einst danken, aber mit
Und ohne Dank gehorch ich meiner Pflicht.
Ich bin Johannes Patin, und nicht das nur,
Auch seine Mutter, kraft dem heiigen Willen
Der sterbenden Angelika. Mithin
Hab ich nicht minder Recht an ihm als Ihr.
Ists Euch genehm, so mag Johannes selbst
Entscheiden zwischen seinen beiden Eltern.
Er ist nicht weit; befehlt, ich laß ihn rufen.
Wollt Ihr das nicht, so geht den Weg des Rechtes.
Hier steht der Oberrichter Abessiniens,
Mein Bruder Theodor; sein Spruch ist Urteil.»
Wahrheiten gibt es zwei in Abessinien,
Die eine aus dem Tugend Wörterbuch
Steckt jeder auf den Hut zur Selbstverzierung.
Die Wahrheit aber, die aus Mut geformt ist,
Bleibt allerwärts ein äußerst selten Kleinod,
Doch wo es einmal aufblitzt, wirkt es Wunder.
In Tränen schmolz der alte Krateros,
Der Feindin bot er bieder seine Rechthand.
Nur daß er ganz bescheiden noch versuchte:
«Wer aber wird den Jungen hier belehren
Und ihm verstärken seinen starken Aufbau?»
Nach einer frischen Wahrheit ist den Weiblein
Auch wohl gestattet ein gesundes Lüglein.
Sie sprach nach links und rechts von vielen Lehrern
Und Weisen aus der Stadt und aus dem Blachfeld.
Dann rasch sich nach den Gästen kehrend rief sie:
«Wir standen glaub ich vor dem Barbaros!»
Ein jedes Kind verstand den Barbaros
Zu springen und ihn auswärts auch zu singen,
Des sangen sie ihn fröhlich im Gemeinchor.
Allein vertraulich an dem Rock der Wirtin
Klebte der Recke, seine Augen strahlten.
So gründlich hatte niemand noch vorher
Ihm wohlgetan mit einem kräftgen Wortstreich.
Er fühlte sich so leicht, so rein, so munter.
Doch als nun immerfort der Barbaros
Vor seinen Augen hüpft und lacht und neckte,
Da runzelt er die Stirn und biß den Schnurrbart,
Verächtlich blickend und die Schultern zuckend,
Bis daß er plötzlich eines jähen Ingrimms
Eugenia packte mit dem Heldenarmbug
Und riß sie durch den Saal mit wildem Hohnruf.
«Wohlan, ihr Stümper! ihr weißnäsgen Lecker»,
Schrie er, «paßt auf, ich will euch zeigen, wie
Zu meiner Zeit man sprang den Barbaros!»
Drauf stürzt er drohend mit erhobnem Arm
Mit ihr gradaus in ungestümem Sturmschritt.
Des stob die Festgesellschaft auseinander.
Viermal nach jeder Richtung stürmt er vorwärts.
Doch als er nun den weiten Saal entvölkert
Und an die Wand gedrückt die blasse Menschheit,
Schickt er sich an zu einem Heldenumgang.
Allein mit einem solchen Schneckenschlaflied,
Wer soll da springen einen Barbaros!
«Schneller», befahl er, «schneller, schneller!» Schon
In Fiebereile raste der Gesangchor,
Da brach ihm die Geduld, mit Fersenstampfen
Und Armeschwenken trieb er an den Rhythmus.
Und als er plötzlich eines kühnen Armschwungs
Hinweggewirbelt seine Mitgespielin,
Bog er sich seitwärts und verwarf die Arme,
Und hämmernd, pochend, dreschend mit den Füßen
Umkreist er sie und drehte sich im Kreisen,
Dann unversehns in einem Gegenrhythmus
Erfaßt er sie mit einem lauten Zornruf
Und warf sie weg und faßte sie von neuem,
Und also fort in immer schnellem! Laufschritt,
Bis daß er eines wohlgelungnen Angriffs
Plötzlich sie hob empor mit beiden Armen
Und trug sie fort mit einem prächtgen Mundkuß.
Darob geschah ein Donnersturm des Beifalls.
In dichten Massen stürzte die Gesellschaft
Um den beglückten Sieger, ihn begrüßend
Mit Hand und Mund und höchlich ihn belobend,
Indes Eugenia mit belebten Wangen
Die Rose nestelte aus ihrem Wellhaar
Und mittelst ihrer Busendemantnadel
Sie ihm befestigte zum Dank und Springlohn.
Nie war ein Sieger stolzer und beherzter.
Mit heißen Augen zehrt er auf die Wirtin,
Und ohne daß sie ihm behutsam auswich,
Raubt er sie nochmals fort zu längerm Mundkuß.
Allein die kluge Witfrau, welterfahren,
Traute dem Frieden nicht; sie war nicht ruhig,
Bis sie ihn hatte über dem Chrysorrhas.
Sie wußte wohl, die welterfahrne Witfrau,
Daß, wenn zwei Gegner einsmals sich versöhnen,
Es ist geratener, aus sichrer Ferne
Sich Blümchen zuzusenden und zu Neujahr
Ein hübsch Geschenklein, neben einem Brieflein;
Anstatt zu warten, bis der innre Zwiespalt
Neulings gefährde die geleimte Freundschaft.
Sie traute nicht dem Frieden. Schmeichelnd rief sie:
«Nun spannet eilends an den Hochzeitswagen
Und alle weißen Rosse. Anders nicht
Als nur im Sechsgespann darf solch ein Springer
Mir fahren in die ruhmbekränzte Heimat.
Auch leget fette Hühner und Phasianen
Dem Wagen bei, damit mein schmucker Kämpfer
Den Leib erfrische nach der wackren Arbeit.»
Der Recke wußte nicht, wofür ers nehme.
Hieß sie ihn bleiben, blieb er gar nicht ungern.
Doch weil sie immerdar mit artgen Reden
Und lieblichen Gebärden ihn umspielte,
Nahm ers für Höflichkeit; und als sie noch
Ihm lächelnd aus dem Bart ein graues Härchen
Geschwind gezupft mit zweien weißen Fingern,
Zog er sich friedlich schmunzelnd nach dem Stallhof.
Allein was macht man mit dem schweren Schlachtgaul?
Den spannt man hinten an den Hochzeitswagen.
Daselbst begleitet von dem heisern Röcheln
Der müden Doggen schnauft und stöhnt das Schlachtmaul.
Doch horch, was klingt jetzt aus des Wagens Höhle
Für ein Mauspfeifen und ein Hornposaunen?
Das ist in seinem Schlaf der wackre Recke,
Das Haupt gestützt auf einen Fettphasianen.
Sechs Rosse ziehn das wandelnde Museum
Und förderns kaum; sie hemmt die Riesenlast
Des Steines, den sie aus Johannes Herzen
Gewälzt, als er verstohlen durch das Fenster
Erspähte seinen Vater auf dem Heimweg;
Samt einem zweiten, zierlicheren Steinchen
Aus dem Gemüt der Gräfin. Selbstzufrieden
Sah sie den Wagen rollen durch den Mondschein.

III

Doch eh die Gräfin wiederum betrat
Den Vorraum und den prächtgen Spiegeldurchgang
Zum Springsaal, wo der ewge Barbaros
Von neuem schon ertönte durch die Mondnacht,
Gefiel es ihr, die Treppe zu besteigen
Und zu belauschen ihre trauten Kindlein,
Sowohl die Mägdlein als den neugebornen
Urwüchsgen Knaben. Dieser sang und sprang
Und turnte mit dem Tische durch das Zimmer.
Des war nun weiter wenig zu besorgen,
Und als sie noch vor ihrer Mägdlein Kammer
Vernommen hatte die gewaltge Stille,
Da ward ihr Herz gesund von jungem Frohmut,
Und leichten Schwebens wie ein Frühlingslenzhauch
Glitt sie hinunter nach dem lichten Springsaal.
Gesund von jungem Frohmut ward ihr Herz.
Sie ahnte nicht, die unglückselge Mutter,
Die Missetat, das sündliche Verbrechen,
Das in der stillen Kammer leis sich zutrug.
Nämlich sobald die Kinder aus dem Springsaal
Waren entstiegen mit den süßen Freiern,
Geschwinde flüsterte die kluge Xanthe:
«Höre, du Fratz, ich will dir etwas sagen.
Glaubst du nicht auch vielleicht, es wäre besser,
Wenn wir an denen Freiern lieber gar nicht
Weder versuchten weder auch nur leckten?
Denn dieses weiß ich ganz bestimmt zum voraus,
Wenn ich einmal begonnen anzufangen,
So ist es aus, ich stehe dann für nichts mehr,
Drum laß uns lieber mit geschloßnen Augen
Nur gleich die Freier stecken unters Kopfbett.»
Gar einverstanden war die kleine Pardel.
Und so versteckten sie die guten Freier
Geschloßnen Auges hastig unters Kopfbett,
Und als sie erstens hurtig und geschickt
Sich ausgezogen und die Kleidchen alle
Gebührlich hingelegt und hübsch geordnet
Und auch das Hemdchen mit verschämtem Blick
Und abgekehrtem Antlitz flugs gewechselt,
So hopsten sie mit einem kühnen Luftsprung
Lachend ins Bett und pusteten das Licht aus.
Sie hatten nach dem Schlafe nicht zu suchen;
Der lag schon längstens fröstelnd in den Linnen,
Und wie er kaum die beiden warmen Mägdlein
Verspürte liegen neben sich im Bettuch,
Umschlang er links und rechts sie mit den Armen
Und drückte sie selbander tief ins Kissen.
Doch sei es nun der ungewohnte Lärm
Des Barbaros, der sang und sprang im Springsaal,
Kaum hatten sie geschlafen wenge Stunden,
Plötzlich das Löwenköpfchen lüpfte Xanthe
Und setzte sich zurecht und schaute um sich.
Und siehe da, im monderhellten Zimmer
Zu ihrer Rechten stand ein weißer Engel;
Der hielt den Katechismusfinger aufwärts
Und litaneit und sang ihr unaufhörlich
Vereint mit dem Gewissen einen Bußpsalm.
Sie konntens nicht, sie sangen beide greulich,
Indessen an des Bettchens linker Wand
Ein schwarzer schöngekämmter Bösewicht
Organisierte von dem süßen Freier
Ein wunderbares Feenzaubermärchen.
Und nicht allein. Ihr eignes trautes Bäuchlein
Stimmte dem Argen zu, rundlichen Schmeicheins.
Freilich bestand sie tapfer die Versuchung.
Doch als nun selbst der jugendliche Freier
Mit seinem weichen Mandelbariton
Begann von Haselnuß und Theobrom
Zu singen durch das Kissen an ihr Herzchen,
Da stahl sich heimlich eine große Träne
Aus ihrem Aug und abwärts an der Wange
Zur Nase, von der Nase unversehns
Mündete sie in Xanthes offnem Mündchen.
Gar salzig schmeckte da die scharfe Träne.
Des nahm als Gegengift von unterm Kissen
Geschwind das arme Kind ein süßes Bröslein.
Doch das Gewissen mächtigen Verwunderns
Begann erstaunt: «Da sind Korinthen drin.»
Und Xanthe sprach: «Ich glaub, es sind Korinthen.»
Und nochmals sprach und fragte das Gewissen:
«Ja, wenn Korinthen drin sind, ists was andres.»
Und ebenfalls der Katechismusweißling
Bettelt und bat sie wegen der Korinthen.
Doch schadenfroh erwiderte das Mägdlein:
«Habt ihr mir nicht gegönnt die Nüß und Mandeln,
So sollt ihr auch nicht haben die Korinthen.»
So sprach sie, und mit einem tüchtgen Biß
Fraß sie dem treuen Freier jetzt ein Ohr ab.
Und also fort mit Knuspern und mit Nagen,
Bis sie bewältigt den gewaltgen Gutmann.
Zwei lange Stunden dauerte die Arbeit,
Denn gar ein winziges Karaußenmäulchen
Stand zu Gebot dem Menschenfressermaidlin;
Und als sie eben kaum den letzten Fuß
Hinabgewürgt mit Schlingen und mit Ringen,
Fiel sie ins Kissen, und ein süßer Traum
Betört ihr haselnußernes Bewußtsein.
Im Gegenteil das Pardel, unbekümmert
Um all den Lärmen, schlief bis an den Morgen;
Da reckte sie den Arm und rieb ein Auge.
Sie hatte nicht gegessen noch vergessen
Den Bräutigam, und kaum war sie erwacht,
So schob sie ihre Händchen unters Kopfbett –
Doch siehe da, sie fingerten ins Leere.
Sie sucht ihn hier und dort, sie hob das Kissen –
Plötzlich an ihren Knien spürte sie
Ein Klebrichtes, und siehe da, der Freier
War totgequetscht und breit zu Quark gelegen;
Des blieb sie eine kleine Weile sprachlos.
Dann ihre Schwester zupfend bei der Nase
Frug sie um Rat und was sie dazu meine,
Und ob sie trotzdem nicht vielleicht den Leichnam
Verspeisen dürfte ohne Sünd und Schaden.
Und matter Zunge mit gedehnter Stimme
Erwiderte die Schwester faul und dickicht:
«Pfui, daß dich doch! du braunes Meerkaninchen!
Meinst du, ich würde je in meinem Leben
Von dir mich wieder lassen küssen? Wäh!»
Gehorsam schämte sich das Meerkaninchen,
Und als sie erstens selber vielmal «Pfui»
Und «Wäh» gerufen, sprang sie aus dem Bettchen
Und zog sich an und eilte nach dem Trepphof.
In sieben Sätzen flog sie nach dem Hausflur.
Jetzt aber mit dem lockenschweren Haupt
Glitt Xanthe sacht und unwillkürlich schräg
Hinunter nach dem schwesterlichen Nestchen.
Sie konnte nicht die Arme mehr gebrauchen,
Sie rückte mit dem Rücken drückend rückwärts,
Bis daß sie ihren toten Schwager antraf.
Daselbst bequem und quer und überzwer,
Einwärts den Kopf, die Arm und Beine auswärts,
Begrub sie jetzt, das weiße Meerkaninchen,
Zwar ohne Melodie und Leichenrhythmus,
Den Schwager still in die Familienleibgruft.
Kein ‹Wäh› noch ‹Pfui› ward laut ob ihrer Arbeit.

Inzwischen auf der fernen Burg Lykaon
Die zwei Gelehrten nach des Wirtes Abschied
Wankten zur Ruh und tappten nach den Betten;
Und schon mit einem Fuß unter der Decke,
Drehte sich Omikron zurück, und mühsam,
Mit leisem Ton und schwerer Zunge lallt er
Zu dem Gefährten: «Schläfst du schon, Digamma?
Oder was meinst du, wenn Hexapodos,
Als er betrachtete das Theoreum,
Sich hätte ein verliebt in eine Kropfgans,
War dieses gegen die Natur und müßte
Man ihn verklagen vor dem Zoologium?»
Freilich Digamma mit erbostem Herzen
Erhob den Kopf und spielte mit den Lippen.
Doch ganz erschöpft an Kräften, stimm- und wortlos
Sank er zusammen und verschlief die Antwort.
Und ähnlich Omikron, das andre Bein
Noch aus dem Bette, sang mit Mund und Nase,
Bis daß am späten Morgen Krateros
Erschien im Sechsgespann mit den Phasianen.
Da herrschte Fried und Freundschaft auf Lykaon
Nebst vielem Durst und Weisheit um den Rotwein.
Nicht widersprachen je die Pädagogen.
Des schloß sie tief ins Herz der wackre Recke;
Mopswest auch nach dem segensvollen Ausgang
Versöhnte sich, und selbst die Doggen grinsten
Und lächelten und schnüffelten bekanntlich.
Das war der Pädagogen Lebenshochzeit.
Drei Tage blieben sie, dann noch den vierten,
Und auch den fünften und zuletzt den sechsten.
Doch als am siebenten sie unerbittlich
Auf Heimkehr drangen, rückte Krateros
Hervor mit einem ausgestopften Zebra,
Ihnen zu Ehren und dem Theoreum
Zur Zierde; nächstens wollt ers übersenden.
Jedoch die Pädagogen, sehr in Ängsten
Ob den zu langen Ferien und gar kläglich
Sich fürchtend vor dem Archirhinoblöken,
Begehrten, eigenhändig selbst das Kunststück
Mit heimzunehmen, ihnen zur Bedeckung.
Da half kein Bitten und kein Widerreden;
Und als sie erst von dem gerührten Riesen
Abschied genommen unter vielen Tränen,
Ergriffen sie den Esel bei den Waden,
Und einer vorn, der andre hinten schiebend,
Ertrugen sie, zwar keuchend und beladen,
Den Schecken über Berg und Tal und Anger
Hinunter nach der hocherstaunten Hauptstadt.
Doch als sie nun die Höhen des Methodiums
Seufzend erklommen in des Mittags Hitze,
Plötzlich rückwärts durch das Geöhr des Maulpferds
Behauptete bestimmt und klar Digamma:
«Natürlich war es gegen die Natur.
Und nicht allein verklagen, sondern hassen
Und tief verachten müßte man das Untier.»
Doch Omikron, mit heuchlerischem Schrecken
Den Hirz zu Boden stellend, fragte tückisch:
«Wohlan, so kann ein Krebs nach deiner Ansicht
Auch Wunder tun!» Allein mit mächtgem Zorn
Den Tiger setzend auf die vordem Hufen
Erwiderte beredt der andre: «Wunder
Hat es und wird und kann es niemals geben;
Denn alles, was geschieht im ganzen Weltall
Vollzieht sich nach den ewgen, weisen, strengen,
Unwiderruflichen Naturgesetzen.»
Und Omikron mit überlegnem Lächeln
Kreuzte die Arme, bis er endlich siegreich
Ihm gönnte laut und langsam die Belehrung:
«Wohlan, so darf ein Krebs auch ungestraft
Und unbehindert freien eine Kropfgans,
Und niemand darf ihn dessen krumm nur ansehn.
Denn sintemal ein Krebs nicht Wunder tun kann,
Doch alles tut nach den Naturgesetzen,
So tut er auch, indem er freit die Kropfgans,
Es niemals gegen die Natur, mein Bester.
Sonst könnt ers ja nicht tun, lieber Digamma.»
Und also sprechend nahm er auf den Bunthirz.

 

Dritter Gesang

I

Viel holde Gäste sind des Herzens Festtag.
Das nenn ich Leben, wenn vom Dach zum Keller
Das Lachen jauchzt und jubelnd auf den Treppen
Stauen und drängen sich die frohen Scharen
Gleich Schwalben oder Tauben, die da girrend
Und schwirrend schwärmen aus und ein im Frühlicht.

Nachdem auf Megateichos all die Gäste
Waren hinweggezogen früh am Morgen
Und blieben nur zurück die beiden Brüder
Mit Hippognome spielend um den Spieltisch
Im duftgen Schatten des durchlauchten Parkes,
Verwaist und einsam fühlte sich die Gräfin,
Sie mochte nichts, es wollt ihr nichts behagen.
Da dachte sie mit einem Mal des Täuflings
Und seiner Zukunft. Über dieser Sorge
Erhellte sich allmählich ihre Trübheit,
Entschlossen lenkte sie den Schritt zum Garten
Und mischte sich ins Spiel, arglistig lauernd,
Nach Frauenart, wie bald sies unterbreche.
Und kaum gewahrte sie die Augen sämtlich
Auf sich gewandt, neugierig, was sie spiele,
Hub sie nachlässig an und sprach beiläufig:
«Und nun, was sagt ihr denn zu meinem Täufling?»
Und ohne nur die Antwort abzuwarten,
Begann sie zu erzählen, was sich alles
Begeben in der Schule mit Johannes.
Sie glaube aber, daß der größte Fehler
Nicht liege bei ihm selber, welcher sicher,
Wenn man ihn nur behandle mit Verständnis,
Heftig begehre jegliches zu lernen.
Bereits die Lehrer habe sie erwogen,
Aber der Stundenplan, der mach' ihr Kummer,
Für diesen bitte sie um Rat und Hilfe.
So sprechend legte sie die Karten nieder,
Und alsogleich die andern lauten Rufens
Verklagten heftig und gereizt die Schule,
Welche das Kleingehirn der armen Kinder
Mit Wissenschaften jeder bunten Farbe
Schmählich belaste und mit totem Wust
Ersticke deren lebenswarme Seele.
Das Denken und das Urteil sollte man
Befördern und den jugendlichen Willen
Unmerklich leiten auf den Weg der Tugend,
Hingegen nur mit dem Gedächtniskram
Sich auf das Allernötigste beschränken.
Nach ihrer Meinung wären zwanzig Stunden
Woche für Woche überaus genügend.
Sehr einverstanden war damit Eugenia.
Des nahm sie von dem Tisch die schöne Kreide,
Länglich und leicht und herrlich zugespitzt,
Und sprach: «Wohlan denn, fanget also an,
Verkündet mir das Allernötigste;
Ich bin bereit. »Und siehe, Theodor
Fing an und warf die Karten auf den Spieltisch:
Vor allem müsse man ihn lassen turnen
Morgens und abends oder schwimmen, jagen
Und reiten oder etwas ähnliches.
Latein und Griechisch treibe man zu viel,
Acht Stunden wöchentlich genügten reichlich.
Hauptsache bleibe doch die Mathematik
Und Geometrik, welche den Verstand
Schärften und reinigten, man glaub es kaum.
Auch sei es eine wahre Sündenschande,
Wie man die heiige Kenntnis der Natur
Verkümmere. Man müsse die Natur
Erheben in den Mittelpunkt des Lernens;
Für diese gelt ihm keine Zeit zuviel.
Nur weniges, allein das wenge recht.
Nämlich: Physik, Mechanik und Botanik,
Chemie, Zoo- und Mineralogie,
Das müsse jeder gründlich kennen. Ferner
Astronomie und einge Grundbegriffe
Des eignen Körpers. Was denn alles nütze,
Wenn man nicht einmal weiß, wohin das Blut läuft?
Auch fand er es im höchsten Grade albern,
Daß man so ängstlich lerne jeden Sumpf
Australiens, doch das eigne Vaterland
Mißachte. Zwar Geographie, Geschichte,
Dagegen sag er nichts, das sei ja nötig,
Doch müsse man vor allem seiner Heimat
Täler und Flüsse, Ackerbau und Handel
Völlig beherrschen. Von der Staatsverfassung
Und den Gesetzen, wie sie heute gelten,
Verlang er gleichfalls einen kurzen Grundriß.
So sprach der Oberrichter, und getreulich
Bestimmt ers Schritt für Schritt mit Stundenzahlen.

Darauf ließ Hippognome sich vernehmen:
Die minnigliche Tanzkunst und das Zeichnen,
Malen und Singen lagen ihr am Herzen.
Auch müsse sie sich wundern, daß ihr Bruder
Habe die neuen Sprachen übergangen.
Ob man denn etwas Kläglicheres sehe
Als einen jungen Menschen, der Assyrisch
Könne vortrefflich wie Nebukadnezar,
Doch kaum erscheine nun ein fremdes Fräulein,
So steh er da, trübselig wie ein Wandschrank.
Und Religion? warum sie die vergäßen?
Und als nun beide Männer heftgen Jähzorns
Durchaus von Religion nichts wollten hören,
So meinte sie, man könne sie ja später
Im Leben immer wegtun, wenn man wollte.
Und da ihr auch Eugenia treulich nachhalf,
Nahmen sies endlich an. Als Gegengift
Jedoch verlangten sie die Sittenlehre.
Zuletzt kam Alexander an die Reihe.
Der war nicht einverstanden, daß man zwar
Von alten und von neuen fremden Sprachen
Rede so viel, doch von der Muttersprache
Vollständig schweige. Ob man, wenn man denke,
Nicht etwa denke mit der Muttersprache;
Und mit dem Plappern sei es nicht getan,
Man müsse auch die reine feine Mundart
Einüben nach den Regeln der Grammatik
Und feine Schreibart mittelst Satz und Aufsatz
Ausfeilen und den Rhythmus und die Verskunst
Ein wenig kennen und die holden Dichter.
Das alles bracht er vor mit Stundenzahlen.
Da sprach Eugenia: «Höret, liebe Freunde,
Es scheint mir schier genug, laßt mich doch zählen.»
Und als sie nunmehr achtundsechzig Stunden
Verkündete genau und wohlgezählt,
Geschah von denen drei ein jäher Aufruhr:
Sie irre sich, sie könne nur nicht rechnen.
Und also sprangen sie an ihre Seite.
Doch wie sie auch vereinten Eifers sämtlich
Von rechts und links bemängelten die Rechnung,
Es blieben immer achtundsechzig Stunden.
Des schauten sie sich an mit viel Verwirrung,
Wie das geschah, sie konntens nicht begreifen,
Es war ja nur das Allernötigste!
Da rief Eugenia munter: «Liebe Freunde,
Nennt nun das Allerallernötigste!»
Das war nun aber keine leichte Arbeit;
Denn wenn sie früherhin in holder Eintracht
Hatten gar schnell das schöne Werk vollbracht,
So brach nun alsobald ein heftger Streit aus.
Es wollte Theodor die alten Sprachen
Und alle Dichter und die schönen Künste
Gänzlich verbannen, während Alexander
Ihm hieb gewaltig auf die Mathematik.
Doch Hippognome meinte zu Eugenia:
«Das wird mir klar, wir wissen alle nichts,
Am wenigsten mein Mann; doch sage mir,
Warum denn fährst du nicht zu Megakles?
Von dem erhieltest du den besten Rat,
Allein du kannst nun einmal Megakles
Nicht leiden; darin aber hast du unrecht,
Er ist ein Mann, der seinesgleichen sucht,
Und liebt dich, wie nur eben Künstler lieben.»
Unwillig gab Eugenia ihr zur Antwort:
«Wenn ihr nur endlich mich mit Megakles
Wolltet verschonen. Daß ich ihn nicht liebe,
Das wißt ihr. Daß ich ihn nicht möge leiden,
Ist gänzlich falsch. Im Gegenteil, ich acht ihn
Und schätz ihn ungemein. Ich glaube fest,
Daß ihm an Geisteskraft und Geistesgröße
Kein anderer in Abessinien gleichkommt.
Doch wenn ich nun einmal ihn nicht kann lieben,
Was wollt ihr denn? Hofft ihr, ihr werdets zwingen?»
Jetzt ärgerlich entgegnete die Freundin:
«Einfach gesagt, du kannst ihms nicht verzeihen,
Daß er zu sehr dich liebt und gar zu lange.»
Gleichgültig zuckt Eugenia mit den Schultern.
«Mag sein», versetzte sie, «mag sein, auch nicht.
Ich habe keine Lust, deshalb zu streiten.
Laß uns nun besser sprechen von dem Täufling,
Der ist mir vielmal lieber, und von ihm
Bin ich vor Liebe wenigstens gesichert.»

Und während sie noch sprach, so eilt ein Diener
Säuselnd und biegsam auf den Zehen herwärts,
Und einen Zettel grob geschmiert mit Bleistift
Reicht er der Gräfin dar geschulten Bücklings.
Und sehr verwundert las vor sich die Gräfin:
«Himmlischer Engel, göttliche Eugenia!»
«Wer hat dir das gegeben?» rief sie heftig.
«Der junge Herr Johannes.» «Sprich, wo ist er?»
«Er liegt im Bett. Dort bracht ich ihm das Frühstück.»
Nichts Gutes sinnend rauschte jetzt die Gräfin
Geschwinden Schrittes nach dem Schloß. Durchs Schloß
Die Treppen aufwärts zu dem bösen Täufling.
Dem warf sie plötzlich in sein heißes Kissen
Den kalten Strahl des wohlgefügten Strafpsalms:
«Sag an, mein lockrer, riesenfauler Pätling,
Wie denkst du über mich und Megateichos?
Meinst du, ich hätte dich zu blödem Nichtstun
Und Müßiggang enthoben dem Methodium?
Nein, bester Freund, entsage diesem Irrtum!
Auf Megateichos gilt es, ernst und gründlich
Zu lernen, wie es deinem Alter zukommt.
Nämlich bedenke dieses wohl, Johannes,
Daß du kein Kind mehr bist, du bist jetzt vierzehn.
Was sind das eigentlich für schöne Mägdlein,
Die du beglückt mit deinen feinen Brieflein?
Erröte nur. Damit ists nun zu Ende.
Auf Megateichos gibt es niemand, der
Im mindesten bemerkte deine Locken
Und deine weißen Zähnchen. Glaub mir das.
Wie du die Kleider häuflings durcheinander
Zu Boden wirfst! Pfui, schäme dich, Johannes!
Und Kamm und Handtuch und den nassen Schwamm!
Für wen ist dieser Zettel, darf ich fragen?
Für mich gewiß nicht, denn ich kann nicht glauben,
Daß jemand sich getraute, mich mit Mia,
Pataputa und Dora zu verwechseln.
Doch dieses wisse wohl bei diesem Anlaß:
Wenn du dich je erdreisten solltest, mir
Auch nur mit einem einzgen Blickeblickchen
Zu nah zu treten, jene selbe Stunde
Lad ich dich in den Wagen und versende
Dich unverzüglich nach Lykaon. Merk dirs!
Laß jetzt das Weinen und steh endlich auf!
In einer Stunde essen wir zu Mittag.»
Sprachs, und verrauschte hastig nach dem Garten.
Doch wie sie nun daselbst die beiden Brüder
Noch immer zankend fand und Theodor
Rufend und schreiend, daß ja alle Römer
Und Griechen längst schon seien übersetzt,
Da sprach sie ungelaunt zu Hippognome:
«Mir ist das Pädagogen schon verleidet,
Komm, laß uns wandeln nach dem wilden Wäldchen,
Du hast mir sicher manche Neuigkeit
Von ringsherum zu melden aus der Heimat,
Auch viele Grüße, hoff ich, von der Mutter.»
Und also zogen sie ins wilde Wäldchen.
Und viele Neuigkeit von aus der Heimat
Erzählte Hippognome, von der Mutter
Beginnend und die vielen tausend Grüße
Von nah und fern bestellend, dann des weitern
Berichtend jeden ungemeinen Vorfall:
Wer irgend nur im Seeland sich vermählte
Und wer da starb und wer da ward geboren.
Sie blieben ewig in dem wilden Wäldchen,
Bis plötzlich kam die kleine Pardelis,
Ganz außer Atem laufend in das Wäldchen,
Rufend von weitem, daß der Bruder Täufling
Wäre gesprungen in den Gartenbrunnen
Mit allen Kleidern und mit Hut und Handschuh.
Vor Schrecken wurde blaß und bleich die Gräfin.
Doch wie sie nun mit ihrer Schwägerin
Eilte nach Hause, liefen ihr die Diener
Fröstelnd entgegen, meldend, daß es nichts sei
Und daß sie, zwar nicht ohne viele Müh,
Hätten den jungen Herrn herausgezogen,
Welcher nun trockne oben auf dem Altan.
Und als sie nun gelangten in den Schloßhof,
Da stand der Oberrichter ihrer wartend,
Erzählend, wie er ruhig in dem Garten
Mit seinem Bruder sprach und ihm bewies,
Daß Johann Pökelson nach seiner Meinung
Sei mehr als alle Dichter miteinander,
Da hab er plötzlich einen Wasserfall
Gehört von unten aus dem Gartenbrunnen,
Und daß er zwar darauf zuerst nicht achtgab,
Bis daß er sah die Diener mit Johannes.
Und einen Narrenbrief am Rand des Brunnens
Hätt er gefunden, der so überspannt sei,
Daß er nicht wisse, was davon zu halten.
Mit diesen Worten gab er ihr den Brief,
Und seitwärts tretend las Eugenia hastig:
«Ehrwürdge Gräfin, heißgeliebte Patin!
Als Du mich gestern gleich den lichten Engeln
Erlöstest aus dem Marterpfuhl der Hölle,
Die man Methodium nennt, und mich befreitest
Von den entmenschten, scheußlichen Tyrannen,
Da dacht ich: Endlich, endlich gibt es jemand,
Der dich nicht haßt, der dein gequetschtes Herz,
Zertreten und verachtet von den Menschen,
Mit einem kleinen Blümchen huldreich ansieht.
Doch heute, welche Kluft des Gegensatzes,
Da hast Du, wehe mir, mich rauh gescholten.
Auch Du, geliebte Patin, hassest mich.
Warum denn hassen alle mich so schrecklich?
Ich weiß ja wohl, ich bin jetzt vierzehnjährig,
Aber ich kann ja nichts dafür. Vor Zeiten,
Als ich noch jung war, war ich siebenjährig,
Und alle Menschen, wenn sie das nur hörten,
Streichelten mich und lobten mich deswegen.
Zwar von den andern bin ich das gewohnt,
Aber von Dir, das hätt ich nicht erwartet.
Es tat mir weh, ich kann es Dir versichern.
Allein das liegt nun alles hinter mir,
Wenn Du den Brief erhältst, so bin ich tot.
Zwar meinetwegen macht es mir nicht Kummer,
Ich bin ja längst inwendig ausgestorben,
Doch was mich drückt, das ist das große Buch,
Das mit mir stirbt. In welchem ich der Menschheit
Hätte gepredigt, was sie sollte machen,
Damit sie glücklich sei, und auch die Kranken
Wären geheilt gewesen, wenn sies lasen.
Sags ihnen nicht, es würde sie nur schmerzen.
Ich wünsche, fast erstick ich unter Tränen,
Ich wünsche, daß man mich in jenem Sandrain
Begrabe, wo ich gestern Deine Hände
In meinen wusch und war so froh und selig.
Auf Priester und auf Leidgeleit verzieht ich.
Nur Du allein mit Deinen beiden Mägdlein
Sollst mich um Mitternacht, wenn alles schläft,
Betten auf einen Rosenzweig und heimlich
Hintragen an den Ort der Trauer. Schwer
Werd ich nicht sein, ich bin ja innen hohl.
Scharrt mir das Grab mit euren weißen Händen,
Und singt ein leises Liedchen bei der Arbeit.
Doch ich muß schließen. Denn bevor die Suppe
Kommt auf den Tisch, will ich mich schnell ertränken.
Ich möchte nicht, daß ihr um meinetwillen
Das Mittagessen müßtet kalt genießen.
Teilt meinen Nachlaß unter euch in Frieden,
Den Bleistift schenk ich Dir, ich leg ihn oben
Ins Bett unter das Kissen, daß Dus weißt.
Grüße mir alle, doch Rhinoblokos
Sage von mir, ich wünsch ihm Kopf- und Zahnweh.
Fast hätt ich noch vergessen, Dir zu danken
Für Deine Mühe gestern und das Essen
Des Abends und das gute Frühstück heute.
In größter Eile: Der da war Johannes.»

Dies las Eugenia hastig, und sogleich
Entweichend ihrem Bruder, der inständig
Ihr anbefahl das Tollhaus für Johannes,
Ging sie, ihn aufzusuchen, welcher richtig
Saß auf dem Altan, trocknend in der Sonne,
Buntscheckig aufgeputzt in Weiberröcken,
Um ihn herum geschäftges Mägdevolk
Nebst Alexander, der ihm freundlich zusprach.
Und als sie erstens mit und ohne Vorwand
Hinwegbeordert jeden andern Menschen,
Begann sie, während sie das Haar ihm kämmte,
Sich herzlich zu bedanken für den Bleistift
Und für den Brief; warum er aber glaube,
Daß sie ihn hasse, ob er denn nicht fühle,
Daß sie ihn liebe wie ihr eigen Kind?
Und sehr erleichtert gab er ihr zur Antwort,
Sie hätte solch ein schrecklich streng Gesicht
Gemacht heut morgen, daß es schien, sie haß ihn.
Und sanften Scheltens, wie man Kranke schilt,
Hielt sie ihm vor, ob er nicht selber finde,
Sie habe müssen sich so strenge stellen?
Und daß sie eigentlich sich jetzt noch mehr
Sollte verstellen, weil er solchen Kummer
Ihr angetan mit seinem Sprung ins Wasser.
Jetzt hub er kleinlaut an, sich zu entschuldgen:
Er habe nicht gewußt, es mach ihr Kummer,
Sonst hätt ers nicht getan, er glaubte vielmehr,
Es würde sie nur freuen, wenn er sterbe,
Und daß der wahre Grund, warum ers tat,
Sei der, daß sie ihm drohte mit Lykaon;
Nämlich, er habe schon seit langer Zeit
Heimlich beschlossen, ehe daß er heimging,
Wollt er sich seis vergiften seis ertränken.
Das stehe fest, das werde niemand ändern;
Und wenn sie gestern nicht zur rechten Zeit
Ihn holte, war er heute nicht am Leben.
Und tieferschüttert nahm ihm jetzt Eugenia
Die beiden Hände; drauf begann sie leise:
«Mein lieber Täufling, sieh mir in die Augen.
Wohlan! ich sage dir, was auch geschehe,
Nicht werd ich jemals dich aus meinem Haus
Verstoßen, hier ist deine sichre Heimat.»
Und heftig weinend küßt er ihr die Hände
Und dankt ihr überschwänglichen Gebarens.
Darauf begann sie ruhiger zu fragen:
«Was ist es denn mit jenem großen Buch,
Das alle Kranken heilt, sobald sies lesen?
Wenn du vielleicht willst Medizin studieren,
So hab ich nichts dagegen, sags nur offen.»
Heftig errötend stammelte der Täufling,
Daß er durchaus nicht wolle Medizin
Noch irgend etwas anderes studieren,
Sondern sein Buch, das müsse man studieren.
Dort sehe man, warum die Welt entstanden
Und wie und wo, und was man solle machen.
Freilich das Buch sei schwierig zu begreifen,
Weil die Gedanken wären so erhaben,
Aber das mache nichts, er werde selber
Auf einem weißen Pferd im weißen Samtkleid
Das Buch erklären. Zwar die Männer würden
Ihn hassen, aber auf die Frauen zähl er.
Das alles aber sei noch ein Geheimnis,
Sie sei der erste Mensch, der es erfahre,
Und wenn sie ihm verspreche, sicher nicht
Ihn auszulachen, woll er ihr sogleich
Das Buch erzählen, aber in dem Garten
Beim Waldesrauschen unterm blauen Himmel.
Dagegen wehrte sich geschickt Eugenia.
«Mein Freund», versetzte sie, «ich freue mich
Sehr auf dein Buch und kann es kaum erwarten.
Doch fürchtest du nicht auch, wenn du mir das
Im Weiberrock erzählst, man würde lachen?
Wir wollen erstens deine Kleider trocknen,
Derweilen lege dich zu Bett; ich denke,
Du wirst wohl Hunger haben. Ist dirs recht,
So schick ich dir die Mahlzeit nebens Kissen,
Bleib liegen, alsolang es dir gefällt!
Heut abend hab ich leider viele Gäste,
Doch kannst du mittlerweile dir im Garten
Ein Plätzchen suchen, das dir würdig scheint,
Denn morgen nach dem Frühstück bin ich frei,
Da magst du mir erzählen bis zum Mittag.»
Unschwer gehorchte der vergnügte Täufling,
Bemerkend, daß er gerne noch bis morgen
Abwarte, weil noch einge Kleinigkeiten
Wären in seinem Buche zu ergänzen,
Und daß das Buch ihm nie so gut gelinge
Als hegend nach dem Essen vor dem Schlafen.
Nach diesem schieden sie in großer Freundschaft.
Johannes schob sich hurtig unters Bettuch,
Indes gedankenvoll mit weicher Wehmut
Eugenia zögernd sich begab zur Mahlzeit.
Doch als nun Hippognome mit den Brüdern
Gedachte zu besprechen das Ereignis,
Kopfschüttelnd und die Gräfin tief beklagend,
Da schnitt sie hastig ab mit kurzen Worten:
«Ihr lieben Freunde, wollt mich nicht beklagen,
Ich habe mir ein drittes Kind genommen.
Nun, Kinder bringen Sorgen, ei, das weiß man.
Dennoch, wer möchte beiderlei entbehren?
Doch will ich heute noch mit Megakles
Den Fall beraten. Solch ein Jünglingshirnsal
Versteh ich nicht, das muß ein Mann mir deuten.»

Und also unverzüglich nach dem Essen
Befahl Eugenia ihren leichten Einspann
Und schmückte sich und fuhr geschwind von dannen.
Inzwischen fühlte Xanthe sich gar wichtig
Wegen des Abenteuers von Johannes.
Als Zeitgenossin war sie sich bewußt.
Deswegen, als sie kaum den schnellen Wagen
Verschwinden sah hinter der hohen Wiese,
Lief sie geheimnisvoll zu ihrer Schwester
Und sprach zu ihr: «Komm hurtig mit mir, weißt du,
Wir wollen sitzen vor Johannes Fenster,
Damit wir alles sehen, was er anfängt.»
Gehorsam folgte die gutmütge Schwester,
Und also schleppten sie gespannten Leibes
Mühselig eine lange Bank ans Fenster.
Auf dieser saßen sie, als wie zum Schauspiel
Nach oben blickend, immerfort gewärtig,
Daß flugs Johannes springe durch das Fenster
Oder vom Altan klettre nach dem Dach
Oder entsteige plötzlich aus dem Schornstein,
Und wenn die eine hüstelte, so stieß
Die andre sie unwillig mit dem Armbug.
Doch als nun immerfort Johannes nie
Erscheinen wollte weder durch das Fenster
Weder von oben aus dem rußgen Schornstein,
So meinte Xanthe: «Laß uns einmal nachsehn
Durchs Schlüsselloch. Vielleicht ist er gestorben.»
Doch wie sie nun, gelehnt ans Schlüsselloch,
Hörten Johannes, wie er fröhlich schnarchte,
Da fühlten sie sich schnöd von ihm betrogen,
Und tief wie Blei sank er in ihrer Achtung.
Sie wollten wenigstens das Abenteuer
Von heute morgen fest und sicher halten.
Darum beschlossen sie zum Angedenken,
Es zu besingen in gereimten Versen,
Das war nun eine harte, bittre Arbeit.
Gedankenschwer durchstreiften sie den Garten,
Bis daß nach einer langen Stunde schließlich
Sie beide hatten einen Reim und Anschwung.
Des eilten sie zusammen, wo als Ältre
Xanthe begann und hielt die Hand zum Himmel:
«Johannes ist ein furchtbar dicker Knab,
Drum fällt er in den Brunnen, plumps, hinab.»
Froh jauchzte Pardelis. Dann sprang sie seitwärts
Und spreizte sich und focht mit ihren Armen:
«Das Samtband auf dem Strohhut wurde naß
Desjenigen, der sprang ins Wasserfaß.»
Xanthe behauptete, das sei noch schöner,
Und also hin und her belohnt mit Beifall
Übten sie munter fort die holde Dichtkunst.

II

An einem andern Ort zur selben Stunde
Auf andre Weise sprach man von Johannes.
Nämlich ob Musapon auf Sonnenhof
Eugenia sitzend in dem schattgen Zimmer
Vor Megakles. Den ließ sie alles wissen,
Was sie nur selber wußte von Johannes,
Auch zum Verständnis gab sie ihm den Brief,
Den man gefunden auf dem Rand des Brunnens.
Mit feinen Blicken lauschte Megakles,
Und als er auch denselben Brief gelesen,
Da hub er an und sprach bestimmt das Urteil:
«Verehrte Gräfin, macht Euch keine Sorgen.
Es sieht gefährlich aus, doch endet friedlich.
Nämlich der arme Junge lechzt nach Liebe,
Und weil man nun vom Morgen bis zum Abend
Ihm schenkte jede Art von weisem Tadel,
So ward er krank. Er scheint mir sehr empfindsam.
Allein in Eurer Nähe, edle Gräfin,
Halt ich ihn für geheilt. Was heute vorfiel,
Das schreib ich dem Methodium noch auf Rechnung.»
Mit hoher Freude hörte das die Gräfin.
«Ich fühlte», sprach sie, «daß ich recht getan,
Indem ich ihn gewaltsam nahm zu mir.
Was sagt Ihr aber nur zu jenem Weltbuch,
Worauf er brütet, nebst der andern Narrheit?»
Die Schultern zuckend gab er ihr zur Antwort:
«Von allen Narren, die es gibt auf Erden –
Und solcher sind nicht wenig, glaubt es mir –,
Sind mir am liebsten noch die Herzensnarren;
Aus diesen kann einmal noch etwas werden.
Sie sind der einzge Stoff, aus dem die Menschheit
Erzieht die Männer, die sie vorwärts führen.
Nämlich das Herz, das ist der Quell der Größe.
Wogegen die Verstandesnarren niemals
Auch nur erdenken können einen einzgen
Gesunden, ganzen, richtigen Gedanken.
Sie denken hin, wohin ein Schallwort hin winkt,
Jedwedem Marschlied folgen sie im Taktschritt,
Und jedem Fähnlein jauchzen sie Triumph zu.
Was dann das Weltverbessrungsbuch betrifft –
Ein jeder Jüngling will die Welt verbessern.
Zwar für die Welt, für diese wärs nicht schade,
Doch selber schaffen sie sich viele Unruh.
Vernehmt zum Trost, daß solch ein Weltenbuch
Niemals geschrieben wird, es bleiben immer
Noch einge Kleinigkeiten zu bedenken.
Gebt ihm nur freie Hand, so wird ers inne,
Und wenn Ihr könnt, so mischt Euch ins Geheimnis,
Geht ein auf alles, laßt ihn drüber plaudern.
Nämlich die Welt verbessert man im Stillen;
Wird man gezwungen, den verschwommnen Unsinn
Deutlich zu denken, schämt man dessen selbst sich.
Rüttelt dem Jungen auch den faulen Körper,
So stark Ihr könnt, mit Reiten oder Streiten,
Das wirkt gar wunderbar. Nämlich die Welt
Klagen sie an, doch was sie wirklich ängstigt,
Das ist die übermäßige Gesundheit.
Die Ärmsten könnens selber ja nicht wissen.
Sie seufzen hin und her, sie weinen, dichten,
Vor heftgem Leben glauben sie zu sterben.
Das alles schüttelt mir mit Pferdekräften,
Bis daß er anfängt, vor sich hin zu jauchzen
Und kindlich plaudert jeden frohen Unsinn.»
Gar neu erklang der Gräfin diese Rede,
So sprach der Oberrichter nie zu ihr,
Und ob ihm auch ihr Herz im stillen recht gab,
Gefiel es ihr, die Tüchtigkeit des Ratschlags
Zu prüfen mittelst eines starken Angriffs.
Also begann sie: «Doch bei alledem,
Was wird denn eigentlich Johannes lernen?»
Darauf erwiderte der andre ruhig:
«Ich schätze hoch und achte sehr das Wissen,
Nämlich das Wissen, welches etwas weiß,
Nur nicht das Wissen vom Geruch des Wissens.
Doch wollen wir zunächst hievon nicht reden,
Solang noch Euer Schützling übers Weltbuch
Philosophiert und fühlt sich als Apostel,
Solange wird er jede Müh vereiteln.
Warten wir erstens ab, bis er geheilt ist
Und bis der Wissensdurst erwacht. Dann wird er
Im Flug nachholen, was wir nie erschleichen;
Die Lehrer lehren nicht, der Wille lehrt uns.»
«Und darf ich sagen, Ihr habt mirs geraten?»
Fragte die Gräfin. «Sicher dürft Ihrs sagen»,
Erwidert er, «ich steh zu meiner Meinung.»
Jetzt ward die Gräfin froh und zuversichtlich.
Nur obendrein zum Abschluß meinte sie,
Man spräche jetzt so viel von Pädagogik,
Sie aber sei so dumm und wisse nichts.
Und ob er ihr nicht einen Haupt- und Kernspruch
Mitgeben wolle über die Erziehung,
Nicht gar so schwer, damit sies auch verstehe.
Darauf erwiderte gefaßt der Meister:
«Erziehung nenn ichs, wenn man erstens selber
Womöglich etwas Beispielwürdges vorstellt.
Seid also wohlgemut und fragt nach niemand.»
Da sprach sie dankend: «Hochverehrter Freund,
Es ist mir eine Lust, Euch anzuhören,
Und nicht nur Lust, sondern zugleich Gewinn.
Warum denn kommt Ihr nie nach Megateichos?
Was muß ich tun, damit Ihr da erscheint?»
Darauf erwidert er mit ernster Miene:
«Gräfin, Ihr wißt hinlänglich, was mich abhält.
Freilich, wenn ich dem Herzen wollte folgen –
Was braucht es Worte! Wirkt doch Euer Antlitz
Auf mich wie Wiedersehen nach dem Tod
Und Jugendauferstehn und ewger Frühling.
Auch wächst und schwillt und schmerzt nach Euch die Sehnsucht
Zuweilen so gebieterisch in mir,
Daß sie zersprengt den Reif des Willens. Bebend
Und zögernd schleich ich mich in Eure Nähe,
Und auf dem Hügel stehend, seh ich nieder
Auf Eure Wohnung. Wenn der Ruf der Kinder
Erschallt vom Garten, segn ich ihre Zukunft.
Doch glaub ich Eure Stimme kaum zu hören,
So bin ich wund, und traurig flücht ich heimwärts.»
Und sehr entmutigt sprach zu ihm die Gräfin:
«Daß doch auch selbst die höchstbegabten Männer
So wehrlos sind und sich so schnell ergeben,
Sobald das eigne Herz sie kaum nur anficht.
Als ich Euch eben noch so klar und ruhig
Urteilen hörte und an jeder Einsicht
Sah ich Euch allen andern überlegen,
Wünscht ich Euch Glück und meint, es sei vergessen.
Warum denn braucht Ihr nicht die Geisteskraft
Ein wenig, um Euch selber zu bemeistern,
Anstatt nur immerfort dem einen Trugbild
Grübelnd zu folgen? Also nährt Ihr selbst
Und hätschelt und vergrößert Euren Kummer.
Er wird Euch lieb, Ihr möchtet ihn nicht missen,
Und schließlich ist er nichts als Angewöhnung.»
Auf diese Rede gab er keine Antwort,
Sondern mit düsterm Antlitz führt er sie
Nach einem Bild, verhängt auf einer Staffel.
Und wie er nun den grünen Vorhang wegzog,
Da schaute sie sich selber abgebildet,
So wie sie war an jenem Sommertag,
Als er zuerst sie sah am Berg und Wildbach.
Die Hagerosen blühten aus dem Wald,
Und hoch vom Berge schauten finstre Alpen.
Und alles war verklärt und jung und ewig.
Doch selbst aus ihrem Mund, aus ihren Augen
Blickt eine Wehmut über das Gemälde,
Als läge hier begraben um den Wildbach
Ein Menschenglück und eines Herzens Anrecht.
Erschüttert stand die Gräfin vor dem Bild,
Dann gab sie ernst und traurig ihm die Hand hin:
«Verzeiht mir meine Worte», sprach sie bittend.
«Ich glaubte nicht, die Wunde sei so tief.
Jetzt muß ich mich verklagen, daß ich herkam,
Hätt ichs gewußt, ich hätt es Euch erspart.»
Schweigend ergriff der Meister ihre Hand,
Vor seiner Arbeit wehrt er kaum der Rührung,
Zu viele Schmerzen hatt er drin gesammelt.
Doch endlich gab er mutig ihr zur Antwort:
«Ihr sollt es nicht beklagen, daß Ihr herkamt.
Wer überzählt und bucht des Menschen Leiden?
Ob mehr ob weniger, das stirbt man weg.
Ich aber habe fest bei mir geschworen,
Daß ich den Wurm, der mir seit jenem Tag
Das Herz zerfrißt, wandle zum Sonnenvogel
Golden und schön, duftig, von samtnen Farben;
Der soll mir ewig fliegen durch die Lande,
Singend von Euch und Eurem stolzen Antlitz.
Freilich, im Leben heißt Ihr Gräfin Dukas,
Man nennt Euch so, sie wissens halt nicht besser.
Doch in der Kunst, da seid Ihr mir zu eigen,
Da gilt noch Bräuteraub, da zwing ich Euch.»
Sinnend verblieb die Gräfin eine Weile,
Dann nahm sie plötzlich Abschied, und verändert
An Blick und Ton und Haltung sprach sie lächelnd:
«Fortan hab ich vier Kinder zu erziehn,
Die größte Sorge macht mir doch das ältste.»
Mit trübem Lächeln gab er ihr zur Antwort:
«Laßt uns nur hoffen, daß Euchs mit den andern
Besser gelingt, das ältste geb ich auf.»
Und wie sie nun in ihrem leichten Reitzeug
Nach Hause fuhr, da sah sie auf den Boden,
Und unvermerkt begann ihr linkes Ohr
Hintenherum zu flüstern nach dem Rechtsohr:
«Sag an, Eugenia, kannst du auch begreifen,
Wie man um deinetwillen so unmäßig
Sich mag gebärden und vor Sehnsucht hinstirbt?»
Munter entgegnete darauf das Rechtsohr:
«Gar wohl kann ichs begreifen. Und nicht das nur,
Ich find es ganz natürlich und gebührlich.»
Darauf versetzte noch einmal das Linksohr:
«Ich bin doch herzlich froh, daß ich nicht selber
Gezwungen bin, mich also anzubeten.»
«Das ist auch meine Meinung», sprach das andre.
«Doch sag die Wahrheit: Hab ich ihn geheißen?»
Da schwieg das Linksohr, und geschwind die Gräfin
Warf ins Gebüsch die unwillkommne Schwermut.


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