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Das Sondersiechenhaus, dem hl. Jakobus geweiht, war rechts vom Weg nach Neckarsulm am Pfühlbach. Es lag in der Mitte eines wohlumzäunten Grundstücks. Vor dem Zaun, an der Pforte stand das Häuschen des Siechenmeisters, der die Aufsicht über die Eingeschlossenen führte und die Gaben der Barmherzigkeit für die Siechen in Empfang nahm und sie denselben durch eine Öffnung in der Thüre auf einen steinernen Tisch, der innen neben dem Eingang stand, hineinschob. Als Kurt Hartmut dort einzog, war das Siechenhaus leer. Wie war ihm das recht! Aber wie groß war doch der Abstand zwischen diesen Räumen und denen, die er bis gestern sein eigen genannt, in denen er einst als ein geehrter Mann fröhlich und selbstbewußt aus- und eingegangen war!
Hildegard schuf dem Vater so bald wie möglich alle erdenkliche Bequemlichkeit. Uz machte sich schon bei der Einrichtung recht nützlich. Sein Hauptgeschäft aber hatte er sich bald herausgefunden. Das Grundstück, in dessen Mitte das Siechenhaus stand, war vollständig zur Wildnis geworden. Uz wollte es zur Freude seines kranken Herrn zum Garten umschaffen. Sein Lager hatte er sich oben unter dem Dach hergerichtet. Er war vom ersten Anfang an im Siechenhaus ganz wohlgemut.
Bei Hartmut aber kam nach den Aufregungen der letzten Tage ein gewaltiger Rückschlag. Er saß stundenlang völlig teilnahmlos da. Wenn Hildegard ihn fragte, ob er nicht etwas aus dem Evangelium hören wolle, so zuckte er nur mit den Achseln. Wenn sie ihn bat, vor das Haus hinauszugehen und sich in die Sonne zu setzen, so schüttelte er den Kopf. Als sie ihm einmal, um seine Teilnahme zu wecken, ihre Verbindung mit den Waldensern gestand und von den Freunden des Evangeliums erzählte, ihm sagte, warum sie das Haus dem Meister Vaihinger vermacht hatte, lachte er höhnisch.
Aber mit immer gleicher Freundlichkeit behandelte die Tochter den kranken Vater. Als einige Tage für die Ausgeschiedenen in den neuen Verhältnissen dahingegangen waren, streifte einmal Hartmut den rechten Ärmel hinauf und zeigte seiner Tochter bitter lachend im Ellbogengelenk eine Stelle sonderbar gefärbter Haut, viel größer als die im linken Handgelenk. »Siehst Du, wie schnell die Krankheit wächst! Ich glaube im Handgelenk bricht es bald auf.«
»Es kommt nicht mehr, lieber Vater, als unser Herr Dir zugemessen hat, und er wird Dir auch Kraft schenken, auszuharren!«
»Wenn all dies Elend aus eines Gott Hand käme, wäre dann er noch ein Gott? Wie kann ein Gott Menschen so plagen!« Hartmut schrie das hinaus, so verzweiflungsvoll, daß Hildegard schauderte, daß sie nichts anderes thun konnte, als ihren Gott darum anflehen, er möge dem Vater Licht senden. Ihr Gebet schien nicht erhört zu werden. Der Vater wurde jeden Tag mürrischer, unartiger. Sie und Uz konnten ihm nichts mehr recht machen. Wenn er die Glocken der Stadt läuten hörte, wenn sonst der Lärm des Verkehrs an sein Ohr drang, dann war er ganz außer sich, dann konnte er rufen: »Fort, fort von hier! Sie sollen mich totschlagen! Warum sperren sie mich ein mit meiner Qual?«
Die kranke Stelle am Handgelenk brach auf; es begann nun das eigentliche fürchterliche Leiden. Ohne jede Furcht und ohne jeden Ekel verband die Tochter die eiternde Wunde.
Zwei Monate waren schon verflossen seit Hartmut das Siechenhaus bewohnte. Auch am rechten Arm waren jetzt offene Wunden und um sich fressende Zerstörung. Es war der Sommer herbeigekommen. Uz arbeitete eines Abends noch im Garten. Man kannte die Umgebung des Siechenhauses nicht mehr, so fleißig war Uz im Gartengeschäft gewesen. Hildegard stand bei Uz und gab ihm einen Rat. Plötzlich horcht sie auf, denn drinnen wird etwas Schweres gerückt. Was kann es sein? Sie tritt schnell ins Haus, und will die Thüre öffnen, die in des Vaters Stube führt. Die Thüre geht nicht auf; es ist etwas vor sie hingerückt. Namenlose Angst ergreift das Mädchen. »Uz, Uz, schnell, schnell!« Uz springt herbei. Den gemeinsamen Anstrengungen beider gelingt es, die Thüre so weit zu öffnen, daß Hildegard sich hineinzwängen kann. Ein greulicher Fluch tönt ihr aus des Vaters Mund vom Fenster her entgegen. Dort stand Kurt Hartmut auf einem Schemel. Um den Kreuzstock des Fensters war ein Strick geschlungen, ein Strick mit einer Schleife.
»Um Gottes Barmherzigkeit willen, Vater, was machst Du!« schreit Hildegard, indem sie den Vater vom Schemel herabzuziehen sucht.
»Am einzig Vernünftigen hast Du mich gehindert!« stößt Hartmut noch bebend vor Zorn hervor.
»Aber Vater, bedenk doch die Ewigkeit und Gottes Gericht!«
Hartmut lacht schauerlich hinaus. »Ewigkeit, Gott! Narrheiten, dummes Kind! Häng Dich mit mir auf, das ist vielleicht noch vernünftiger, als was ich allein habe thun wollen!«
Hildegard hat mit fiebernder Hast und zitternden Händen den Strick gelöst, hat den armen Vater vom Schemel weg gezogen und zu seinem Bett hingeführt. Uz hat den Tisch wieder an seine Stelle gerückt und ist bleich und verwirrt hinausgeschlichen.
Hartmut sitzt auf seinem Bette, mit seinem wirren Haar und ungepflegten lang gewachsenen Bart, mit seinem verstörten, verzweifelten Gesicht ein furchtbarer Anblick.
»Ich sag' Dir, Mädchen, es gibt keinen Gott. Es ist alles, alles Zufall, oft schändlicher, haarsträubender Zufall, und das Einzige, was die armen Teufel, die Menschen, vor dem Wahnsinn zu bewahren vermag, ist das, daß sie dem scheußlichen Leben ein Ende bereiten können.«
»O Vater, wenn Du wüßtest, wie diese Worte mir weher thun als alles, alles, was seither über mich gekommen ist.«
Hartmut schwieg.
Hildegard schlang sanft die Arme um des Vaters Hals und sagte: »Ach, lieber Vater, daß ich die rechten Worte finden möchte! Ich bin Dein Kind und ein Kind soll den Vater nicht belehren und noch weniger strafen. Und doch – ach, wie soll ich es ausdrücken? Vater, Du sagst, es giebt keinen Gott. Vater, ich glaube« – Hildegard stockte und sagte dann ganz leise: »Ich glaube, Du hast nie einen Gott gehabt!«
»Was sagst Du, närrisches Kind!« brauste Hartmut aus. »Hab ich nicht in meinen guten Tagen dem Herrgott gedient, wie es sich für Christenmenschen geziemt? Unser Haus ist doch kein Heidenhaus gewesen? s' ist wahr, Mädchen, ich hab' nicht alles gerade so angesehen und geglaubt, wie die Priester es sagen und lehren; ich hab' mir oft meine eigenen Gedanken gemacht. Aber an den Herrgott hab' ich geglaubt, bis mir die Pest und mein Aussatz den Glauben für immer genommen haben.«
»Vater, verzeih' mir, ich muß es noch einmal sagen, Du hast nie einen Gott gehabt. Du bist – ach, wie soll ich armes Ding denn sagen? Du bist immer nur in der Welt gewesen.« Hartmut lachte bitter hinaus. »In der Welt? Ich glaube gar, Du willst sagen, ich hätte Mönch werden sollen! Mädel, Du hast einen verflucht gescheiten Gedanken! Nur kommst Du mit ihm um fünfundzwanzig Jahre zu spät. Ja, Mönch hätte ich werden sollen, dann hätt' ich kein Weib, keine Kinder verloren, wäre nicht aus meinem Besitz und nicht aus meinen Ehren hinausgestoßen worden! Ha! ha! ein Mönch!«
»Ach, Vater, ich habe ungeschickt geredet. Du warst immer nur in der Welt, damit will ich sagen, Du warst immer nur mit den vergänglichen, irdischen Dingen beschäftigt, hast nur an Dein Geschäft und Dein Amt gedacht, Du warst – nicht im Reiche Gottes!«
»Kind, wie redest Du immer so sonderbar; ich kann doch nicht im Himmel sein, wenn ich auf Erden, in Heilbronn, Handelschaft treibe und im Rate sitze. Reich Gottes, was soll denn das heißen?«
»Wenn Du so fragst, so kann ich Dir auch keine Antwort geben. Aber wer der König ist im Reiche Gottes, das weiß ich, das ist Jesus Christus unser Heiland. Wer ihn liebt, wer sein Wort hört, wer ihm folgt, wer ihm das Kreuz nachträgt, der ist im Reiche Gottes. Vater, Du hast bisher von Jesus Christus nur den Namen gehabt, aber nicht ihn selbst, deshalb hast Du keinen Gott gehabt.«
Hartmut schüttelte das Haupt, aber er schwieg.
Hildegard fuhr fort: »Sieh, lieber Vater, hätt' ich durch die Waldenser, unsere Gäste, nicht das Evangelium kennen gelernt und durch die Brüder und Schwestern in der Rappengasse nicht das Verständnis gewonnen für das Wort meines Herrn, wäre Jesus Christus mir nicht nahe gewesen mit seiner Gnade, wie hätte ich schwaches Mädchen das Elend der letzten Zeit überstanden!«
Hartmut blickte zu seiner Tochter auf, und seine Augen schimmerten feucht.
»Vater, armer Vater, Du kannst Jesum noch haben, dann hast Du auch Gott, denn Jesus führt zum himmlischen Vater und hast Du ihn, dann kannst Du auch Dein Elend tragen, bis es Gott selbst Dir abnimmt. Aber verzeih', lieber Vater,« – Hildegard umschlang den Vater inniger und drückte ihm einen Kuß auf seine Stirne, »daß ich mit Dir geredet habe, wie ein Kind eigentlich nicht mit dem Vater reden soll.«
»O, hätte ich deinen Glauben!« sagte Hartmut mit weicher Stimme.
Mit inniger Zuversicht erwiderte Hildegard: »Er wird Dir noch geschenkt!«
In der nächsten Nacht konnte Hildegard vor Herzensbewegung nicht schlafen. Sie hörte den Vater in seinem Zimmer stöhnen, hörte, wie er sich auf dem Lager wälzte, aber auch Schluchzen vernahm sie und einmal die Worte: »O Gott, wenn Du bist, so offenbare Dich mir Wurm und hilf mir heraus aus diesem Gefängnis!« Später vernahm Hildegard noch, wie der Vater ruhiger atmete. Er schien eingeschlafen zu sein. Doch was ist das? Pocht es nicht an den Laden? Ja, es ist deutlich vernehmbar. Und flüsternde Stimmen! Wird nicht »Schwester Hildegard!« geflüstert? Hildegard erhebt sich leise, zieht sich an und öffnet vorsichtig den Laden. »Wer ist da?«
»Wir sind's, Bruder Vaihinger und sein Weib,« antwortet es aus der Nacht heraus.
»Seid stille, ich komme vor das Haus. Wir wecken sonst den Vater.«
Behend steigt Hildegard zum niedern Fenster hinaus und nimmt die beiden in die dem Eingang entgegengesetzte Ecke des Gärtchens.
»Aber, wie möget Ihr es wagen, hierher zu kommen! Habt Ihr auch bedacht, was Ihr thut?«
»Laß nur! Der Siechenmeister schläft so fest, der hört nicht, wenn wir über den Zaun steigen, und hat uns der Herr Jesus auch nicht, wie seinen ersten Jüngern Macht gegeben, den Aussatz zu heilen, so hat er uns doch den Mut gegeben, ihn nicht zu fürchten. Wir kommen, um Dich von den Brüdern und Schwestern zu grüßen. Auch möchten wir Dich fragen, ob wir Dir nicht irgend einen Dienst erweisen können?«
»Ihr seid treu in Eurer Liebe! Was wir brauchen, haben wir, Speise und Trank wird uns vom Rat genügend zugeschoben; wir sind auch gut mit Geld versehen, und haben wir einen besonderen Wunsch, so dürfen wir es nur dem Siechenmeister zurufen. Er hat uns noch alles besorgt. Einen Wunsch freilich, einen großen hat der Vater, aber ob Ihr den erfüllen könnet? Der Vater möchte fort, jeder andere Ort, jedes andere Siechenhaus ist ihm lieber als das hiesige, wo er der Stätte seines früheren Glücks so nahe ist.«
»Ich kann darauf«, sagte Meister Vaihinger, »jetzt keinen Bescheid geben. Aber ich will es mit den Brüdern besprechen, und der Herr wird uns den rechten Weg weisen.«
»Aber saget mir nur noch, wie seid Ihr denn bei den verschlossenen Thoren zur Stadt herausgekommen, und wie wollt Ihr wieder hineinkommen?«
»Wir sind gestern abend vor Thorschluß in unsern Garten hinaus, haben dort im Häuslein gewartet, bis die Hähne krähten, sind mit den Leiterlein hierher gekommen und gehen heute vormittag wieder ruhig zum Sülmerthor hinein.«
»Ihr Lieben, wie danke ich Euch! Aber wollet Ihr mich nicht auch stärken mit gemeinsamem Gebet?«
Gerne that das Meister Vaihinger. So knieten die drei unter dem nächtlichen Himmel und erflehten Kraft für die Jungfrau, der eine so schwere Aufgabe gegeben war.
Am Morgen erzählte Hildegard dem Vater, was sie erlebt und verhehlte auch nicht, daß sie den beiden nahegelegt habe, ihnen, wenn möglich, zu einer Flucht behilflich zu sein.
Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund hörte Hartmut der Tochter zu. »Das hast Du wirklich heute nacht erlebt?«
»Gewiß, Vater, wie ich es erzähle!«
Hartmut warf sich auf sein Lager, begrub sein Gesicht in seine Hände und schluchzte: »So lebst Du doch, o Gott!«
Hildegard ließ den Vater allein.
Nach etwa vierzehn Tagen klopfte es nachts wieder an den Laden im Sondersiechenhause. Es war Meister Vaihinger, der meldete, daß er etwas gefunden habe. Eine Schwester des Weingärtners Bobach sei in Reisach, nahe beim Kloster Lichtenstern ansässig; sie sei eine Witwe und zähle sich zu den Freunden des Evangeliums. Sie habe ihrem Bruder davon gesagt, daß nahe beim Kloster ein altes Sondersiechenhaus stehe, das dem Kloster gehöre. Die Äbtissin sei eine gütige Frau. Wenn Hildegard sie bitte, werde sie gewiß ihnen das Sondersiechenhaus überlassen. Einstweilen aber, bis die Erlaubnis gegeben sei, nehme des Bobach Schwester gerne und ohne Furcht die drei Ausgeschlossenen auf.
Hildegard wollte, daß der Vater mit berate. Sie weckte ihn. Die Aussicht, aus der Heilbronner Luft hinauszukommen, machte den Kranken ganz lebhaft. Da die Beine und Füße Hartmuts vom Aussatz noch frei waren, so glaubte er, den etwa vier Stunden betragenden Weg nach Reisach gut zurücklegen zu können. Vaihinger versprach dafür zu sorgen, daß ein Handkarren bereit sei, die Habseligkeiten der Eingeschlossenen fortzuschaffen. Die Flucht wurde auf die übernächste Nacht verabredet.
Um den Siechenmeister gewiß unschädlich zu machen, hatte Uz ihm am Nachmittag vor der Flucht einen Gulden auf den Tisch zu legen und ihm zu sagen, Hartmut möchte, daß er für seine viele Mühe auch einmal einen guten Tag habe. Da der Hüter bis jetzt nicht das geringste davon gemerkt hatte, daß die Insassen mit der Außenwelt oder diese mit jenen verkehren wollten, so stieg ihm von ferne kein Verdacht auf, und es war an selbigem Abend eine tüchtige Bettschwere, die er vor dem Schluß des Sülmerthors mit in sein Wächterhaus hinaus schleifte.
Die Flucht gelang. Als die Morgenröte anbrach und im Tuffingsthal hinter Reisach leichte Nebel hin- und herwogten, hielt vor dem Bachhäuslein, der Wohnung der Witwe Diez, der Schwester des Bobach, ein sonderbarer Zug. Auf einem mit allerlei Hausgerät beladenen Karren saß ein in einen Mantel gehüllter Mann, dem die drei, welche den Karren geschoben und gezogen hatten, herabhalfen; neben dem Karren stand eine Jungfrau. Schnell, ehe irgend jemand in dem auf der Anhöhe gelegenen Dorfe etwas gemerkt hatte, waren die fünf Wanderer im Hause verschwunden, und auch der Karren war im Scheuerlein hinter dem Hause geborgen.
Gar freundlich und mitleidig nahm die Witwe Diez die Ausgeschlossenen auf und an ihrem Bruder Bobach und dem Meister Vaihinger hatte sie eine große Freude. Mit diesen zunächst besprach sie sich. Das Ergebnis der Besprechung war, daß sie für eine arme Ausgestoßene an irgend einem freien Platz in der Nähe des Klosters eine Unterredung von der Äbtissin erbitten sollte. Nicht allzulange war Frau Diez im Kloster; sie brachte die frohe Kunde zurück, wenn es im Kloster Mittag läute, solle sich Hildegard aufmachen dahin, wohin sie die Witwe geleiten werde, dort werde die Äbtissin ihren Wunsch anhören.
Als das Klosterglöcklein sich hören ließ, pochte der Heilbronner Jungfrau das Herz, aber sie faßte im Ausblick zu dem Mut, der ihr schon durch viele schwere Stunden hindurchgeholfen hatte. Unterwegs, während sie in dem lieblichen Thal am Rand des Baches hinaufgingen, sagte die Witwe, die Äbtissin sei eine edle Frau, sie habe das Evangelium lieb und sie halte im Kloster gute Zucht. Das Thal wurde enger. Vor ihnen lag die Klostermühle, die sie in einem Bogen umgingen. Hinter der Klostermühle kamen drei Seen; das Thal wurde wieder breiter und schon sah Hildegard auf dem ins Thal vorragenden Hügel das Kloster stehen.
Die Jungfrau wunderte sich über die liebliche Lage des Klosters, über die herrlichen bewaldeten Berge im Umkreis, über die wohlgepflegten Äcker und Baumwiesen am Abhang des Klosterhügels. Sie gingen rechts um denselben herum und waren nach wenigen Schritten an einem einfachen Häuschen, das hinter einer hochgewachsenen Hecke unter einem breitästigen Nußbaum und neben einer aus dem Hügel hervorbrechenden Quelle stand. »Dies ist das alte Siechenhäuslein!« sagte die Witwe. Wie freute sich Hildegard bei dem Gedanken, daß dies ihre und ihres Vaters Zufluchtsstätte werden könnte! Der Pfad stieg nun in ziemlicher Nähe der Klostermauer steiler an. Bald hatten sie das Kloster links hinter sich. Vor ihnen lag am Fuß eines forchenbewachsenen Abhangs eine Brücke über den Bach, der aus der rechts in den Berg sich hineinziehenden Klinge hervorrauschte.
»Hier sollen wir auf die Äbtissin warten, aber auf dem jenseitigen Rande des Bachs!« sagte die Witwe und schritt, Hildegard mit sich ziehend, über das schmale Rinnsal hinüber. Kaum waren sie an der Brücke angelangt, so sahen sie entlang der Klostermauer die Äbtissin mit zwei Nonnen kommen. Es war eine ungewöhnlich große Frau, mit aufrechter Haltung und würdigen Bewegungen. Etwa dreißig Schritte von der Brücke entfernt gab die Äbtissin ihren Nonnen einen Wink; sie blieben stehen. Frau Diez zog sich auf der anderen Seite der Brücke zurück. Nun war die Äbtissin an der steinernen Brücke angekommen und ließ sich auf der breiten, zum Sitzen bequemen Einfassung nieder.
»Ihr wollt eine Bitte mir vortragen, Jungfrau. Wer seid Ihr?« fragte freundlich die Äbtissin und schaute prüfend in Hildegards Augen.
»Kennt Ihr, ehrwürdige Frau, Kurt Hartmut von Heilbronn?«
»Den Handelsmann und Ratsherrn? Gewiß, den kenn' ich; hat er doch manches Säcklein seiner Gewürze in unser Kloster gestiftet.«
»Ich bin sein einziges Kind, das ihm aus der Pestzeit geblieben ist, und um unseres Heilandes willen bitte ich Euch, nehmet ihn den ärmsten der Menschen auf in das Häuslein drunten am Bach unter dem Nußbaum. Gott hat ihn heimgesucht wie den Hiob; er hat ihm zu allem Elend auch noch die Krankheit des Aussatzes auferlegt. Ich bin mit einem einfältigen, treuen Knecht beim Vater geblieben und miteinander sind wir ausgeschlossen worden aus der Lebendigen Gemeinschaft. Im Sondersiechenhaus, so nahe bei der Heimat, hielt es der Vater nicht mehr aus; wir sind entflohen. Und noch einmal bitt ich, wie nur eine Tochter bitten kann für ihren Vater, laßt uns miteinander im Schutze Eures Klosters das Häuslein drunten beziehen und dort warten, bis der Herr uns erlöst.«
Die Äbtissin schaute mit herzlicher Teilnahme das schwergeprüfte Mädchen an, fragte dann aber weiter: »Hat nicht Euer Vater mit der Kirche sich verfeindet, ist er nicht an dem Interdikt schuld und hat er nicht Gewalt gebraucht gegen die Priester?«
»Auf all das muß ich Ja sagen, ehrwürdige Frau. Aber das Totenamt ist ihm und uns von der Kirche gelesen, wir sind tot für die Kirche, und was wir noch zu leben haben, das können wir nur aus der Barmherzigkeit Gottes leben. O, werdet ein Werkzeug dieser Barmherzigkeit!«
Die Äbtissin wischte die Augen und sagte: »So ziehet denn ein! Viel kann und darf ich Euch nicht helfen; doch was ich vermag, das will ich gerne thun. Ziehet unbemerkt ein und haltet Euch still! Gott sei Euer Schutz und Eures armen Vaters gnädiger Beistand!«
»Wenn ich nicht ausgeschlossen wäre, ich wollt Euch zu Füßen fallen und Euch danken!« sagte Hildegard mit thränenerstickter Stimme. »Aber der Herr Jesus wird nach seiner Verheißung Euch Eure Wohlthat an seinem Tage vergelten!«
Die Äbtissin erhob sich und winkte Hildegard über die Brücke hin einen Abschiedsgruß zu. Sie war schon einige Schritte gegangen, da wandte sie sich wieder um und rief: »Ich werde das Häuschen heut noch herrichten lassen und dafür sorgen, daß ihr das nötige Hausgeräte vorfindet.«
Hildegard konnte nicht sofort heimgehen, sie ließ sich am sanft abfallenden Wiesenrain nieder und sah mit gefalteten Händen lange auf gen Himmel. Als sie sich dann wieder erhob, um mit der frohen Botschaft ins Bachhäuslein zurückzukehren, sah sie unten einige Rehe aus dem Bache den Durst löschen. Die Tiere schauten neugierig auf und kehrten ohne alle Angst in den Wald zurück.
»Welch ein Friede ist in diesem Thale! O Gott, laß auch meinen armen Vater hier zur Ruhe kommen!« rief Hildegard.
Im Bachhäuslein war große Freude; für die Frühe des nächsten Tages war der Umzug verabredet.
Keine große Freude aber war am Abend dieses Tages im Wachhäuslein des Siechenmeisters. Er hatte vormittags mit ziemlich brummigem Kopf das auf den Tisch hineingeschoben, was den Aussätzigen jeden Tag zugestellt wurde. Dann aber hatte er sich noch einmal niedergelegt, um die Folgen seines guten Trunkes im Schlafe vollends zu überwinden. Als er abends nach dem Tische sieht, steht alles noch unberührt da. Das kommt ihm nicht geheuer vor. Er betritt den Garten und ruft dem Uz. Keine Antwort; auch der Name Hartmuts lockt kein Lebenszeichen hervor. Er geht vorsichtig ins Haus hinein und muß zu seinem Schrecken inne werden, daß das Nest leer ist und die Vögel ausgeflogen. Die Kunde davon rief in Heilbronn eine große Bewegung hervor. Der Siechenmeister erzählte, er habe den Hartmut oft gehört, wie er sich den Tod angewünscht und vom Neckar geredet habe. Man suchte den Neckar ab, fand aber nichts.
Das Sondersiechenhaus im Tuffingsthal war alt. Es war schon vor der Gründung des Klosters dagestanden. Seit das Kloster den lieblichen Hügel krönte, hatte das Häuschen ab und zu Kranke beherbergt, meist aber war es leer gestanden.
Wie wohl that diese Zufluchtsstätte dem unglücklichen Hartmut! Wie war für ihn schon die wunderbare Umgebung des Häuschens eine Erquickung! Er hatte den größten Teil seines Lebens innerhalb der Mauern von Heilbronn zugebracht; und wenn er auch am Sonnenbronnen oder auf dem Wartberg gewesen war, des Abends mußte er doch wieder herein in die dumpfe Enge der Gassen, der Höfe und dicht auseinander gebauten Häuser. Hier aber im Tuffingsthal lag die Welt vor ihm in aller Lieblichkeit. Zunächst unter ihm der See und die Klostermühle, dann aber das herrliche Weinsberger Thal mit der stolzen Burg der Weibertreue und abermals weiter hinaus die am duftigen Horizont beinahe verschwindenden Linien des Odenwalds. Links aber vom Häuschen die grünen Matten und über ihnen der herrliche Wald, Buchen und Eichen, Forchen und Lärchen in bunter Mischung. O diese Ruhe, lieblich unterbrochen allein vom Gesang der Vögel und der Glocke einer werdenden Kuh!
Wenn auch bei Hartmut die Krankheit unaufhaltsam weiterschritt, seine Seele begann zu genesen. Die unendliche, geduldige und aufopfernde Liebe seiner Tochter, die hingebende, rührende Treue des Knechts munterten ihn stets wieder auf, sich in der Geduld zu üben. Wenn der Abendsonnenschein die Blätter des Nußbaumes durchleuchtete, wenn der Abendwind sanft die Zweige bewegte, wenn der Wald gegenüber unendliche Ruhe ausatmete, dann nahm die Seele Hartmuts das Wort des Evangeliums auf, das Hildegard ihm las, bald lateinisch, bald, namentlich wenn Uz zuhörte, übersetzend; da wurde allmählich das Bild Jesu Christi lebendig vor seiner Seele, und er kam weiter im Finden Gottes.
Uz hatte alle Hände voll zu thun. Auch hier galt es, innerhalb des Geheges ein Gärtchen anzulegen; aber in der lieblichen Gegend erwachte bei Uz auch wieder die Freude daran, die Stimmen der Tiere nachzuahmen. Manch heitere Augenblicke verschaffte er damit dem kranken Herrn. Er verstand aber auch seine Kunst noch anders anzuwenden. Wenn Reisacher Kinder nicht etwa nur in scheuer Neugierde in weitem Bogen um das Aussätzigenhaus herumgingen, sondern unartig ihre Unerschrockenheit zeigen wollten und mit Steinen hineinwarfen, so schreckte Uz die Übelthäter mit dem wütenden Gebell großer Hunde und dem Brummen von Bären.
Der Herbst färbte die Wälder bunt. Aber noch schien nachmittags die Sonne warm auf das Häuschen. Dem Kranken, dessen Füße jetzt auch von der Plage befallen waren, und der nur mit Mühe, von Hildegard und Uz geführt, einige Schritte gehen konnte, that die Sonne so wohl. Hildegard saß neben dem Vater und las ihm die Geschichte vom barmherzigen Samariter.
Als sie geendet, schaut sie auf und sagt: »Wer kommt doch dort?« Sie sah den Pfad hinab, der zum See führt. »Ich glaube, der Mann, der da kommt, führt Geißen mit sich und ist in der Gegend nicht recht bekannt. Jetzt nimmt er unser Häuschen wahr und geht schneller voran. Ja, er zieht zwei Ziegen nach sich.«
Hartmut hat auch scharf hingesehen, sein Auge ist von der Krankheit noch nicht geschwächt. »Wenn er bessere Kleider anhätte,« sagt er, »und nicht Geißen führen würde, möchte ich behaupten, es sei der reiche Nathan, der in der Judengasse in Heilbronn wohnte.«
»Er ist es, Vater,« sagte Hildegard nach einiger Zeit.
Der Jude näherte sich; er spähte scharf nach den Personen, die innerhalb des Geheges sich aufhielten. Er hatte nun auch seinerseits Gewißheit, daß er sich nicht getäuscht habe. Hildegard stand auf, ihm entgegenzugehen. Sogleich aber zog sich der Jude mit der größten Ängstlichkeit zurück; er hatte freilich Mühe damit, denn die Ziegen, die er führte, waren schon vor ihm hergelaufen, sich nach saftigem Klee ausstreckend.
Wie er die Entfernung für sicher genug hielt, blieb er stehen und rief mit lauter Stimme: »Gelobt sei Gott, der Allmächtige, daß er mich hat finden lassen Hartmut, den edlen Mann und seine Tochter, die Rose unter allen Mädchen. Sie haben in Heilbronn mich genannt Nathan, den Reichen; sie haben in Heilbronn mich gemacht zu Nathan dem Allerärmsten. Aber auch der Ärmste kann zeigen sein dankbares Herz. Wie ich habe vernommen, daß der Allmächtige über Euch verhängt hat die Krankheit Hiobs und wie ich habe herausgehorcht aus dem Gerede der Leute, daß Ihr wohl seid die fremden Aussätzigen im Tuffingsthal, da hab' ich gesagt zu Rahel meiner Tochter, wir wollen hungern und dürsten, so lange der Allmächtige es über uns beschlossen hat, aber dem Hartmut und seiner Tochter will ich machen eine Freude. Da bring' ich Euch die Geißen, sie werden im Winter geben viele und gute Milch.«
Uz war auch herbeigekommen, um den Juden und seine Geißen zu sehen; kaum aber hatte Nathan wahrgenommen, daß der Knecht dem Ausgang des Gehegs sich näherte, so zog er sich schleunigst wieder etliche Schritte weiter zurück.
Laut rief er: »Ich will binden die Geißen dort an jenen Baum« – derselbe stand ein halbes hundert Schritte zurück – »wenn ich dann bin weggegangen, so mag sie holen der Knecht. Aber der Gott unserer Väter schenke Euch, Hartmut, die Erlösung vom Aussatz, wie dem Hiob und Eurer Tochter gebe er Segen immer und ewiglich.« Nach diesen Worten eilte er dem bezeichnten Baume zu, band die Tiere an und verschwand bald den Blicken der Gerührten. Uz holte das Geschenk des Juden. Er hatte an den Tieren die größte Freude. Die Wohlthat des Juden kam den Bewohnern des Tuffingsthals gar sehr zu statten. Die Witwe Diez, die bisher schon den Ausgeschlossenen den nötigen Lebensunterhalt vermittelt hatte, sorgte auch für das Winterfutter der Geißen. Uz aber hatte ihnen längst, ehe der erste Reif des Herbstes kam, einen warmen Stall an der Rückwand des Häuschens gezimmert.
Noch größere Freude aber als Nathan, der dankbare und doch zugleich so ängstliche Jude im Tuffingsthal gemacht hatte, bereiteten die Brüder in Heilbronn den Einsamen. Auch im Winter ging kaum ein Monat vorüber, ohne daß zwei oder drei der Freunde des Evangeliums ins Sondersiechenhaus kamen. Immer mehr Verständnis für das schlichte Evangelium zeigte der kranke Hartmut und immer mehr Hochachtung gegen die einfachen, selbstlosen, mutigen, gläubigen Leute erfüllte sein Herz. Er fand sich, er wußte selbst nicht wie, immer mehr im Reiche Gottes, und immer mehr verschwand ihm die Welt. Nicht, als ob er sie verachtet hätte. Aber Gott hatte ihn herausgeführt, warum sollte er sie denn mit Gewalt festhalten, die ihm doch nach ihrer Art mit Undank gelohnt hatte?
Der Frühling kam. Schwerer wurden die Leiden Hartmuts, schwerer die Aufgaben seiner Pflegerin. Mit gerührtem Dank nahm Hildegard die Körbchen hin, die ab und zu des Morgens vor dem Heckenzaun standen und die mit weichen, alten Linnenstücken gefüllt waren. Sie konnte sich denken, wer die milde und fürsorgliche Spenderin der für die Wunden des Vaters so nötigen Gaben war, und heißen Dank sandte sie hinauf zum Kloster.
Der Frühling ließ die Schneeflächen und die eisigen Bänder an den Rinnsalen der dem Häuschen gegenüber liegenden winterlichen Halde verschwinden, die Salweiden waren schon bedeckt mit Kätzchen, und nasenweise Bienlein umflogen sie. Die Veilchen sandten ihren Duft bis hinein ins Stübchen Hartmuts. In einigen Bauern, die Uz gefertigt und für die er auch Bewohner gefangen hatte, sangen lustige Finken. Die Ziegen ließen sich das junge Grün schmecken, das sie, an die Hecke angebunden, im Halbkreis aus der Wiese erwischen konnten.
Die Sonne schien so warm ins Stübchen, der Platz unter dem noch kahlen Nußbaum war so trocken, daß Hartmut bat, man möge ihn zum erstenmal wieder nach dem Winter unter Gottes freien Himmel führen.
»Aber Kind, was ist das? Du hustest seit kurzem soviel,« sagte, ängstlich Hildegard anschauend, der Kranke. Hildegard hatte eben den Stuhl hinaustragen wollen, mußte ihn aber wegen eines heftigen Hustenanfalls wieder niederstellen. Schnell war der Anfall vorüber. Lächelnd sagte Hildegard: »Ängstige Dich doch nicht, lieber Vater, es ist eine Erkältung; die wird bald vorüber sein. Die Geißen geben jetzt mehr Milch; ich will viel warme Milch trinken, dann wird es bald besser.« Und als sie dann nachher ziemlich sich anstrengen mußte, um den unbehilflichen Kranken mit Uz vor das Haus zu bringen und es doch gelungen war, da sagte sie scherzend: »Siehst Du, Vater, ich habe gerade noch so viel Kraft, wie vorigen Herbst.« Aber doch lag unsägliche Angst in dem Blick, mit dem Hartmut die Gestalt seiner Tochter betrachtet. »Bin ich denn den Winter über blind gewesen, daß ich ihr Abmagern nicht gemerkt habe, oder ist das alles erst seit gestern und vorgestern?« sagte er vor sich hin. Aber mit ihrer Munterkeit und Freundlichkeit, mit ihrer Gewißheit, daß doch alles noch recht werde, richtete sie den Vater wieder auf; auch kam an jenem Tage der Husten nicht wieder.
Am nächsten Tag, es war das Osterfest, strahlte des Frühlings Pracht noch lieblicher als zuvor im Tuffingsthal.
Hildegard las dem Vater das Osterevangelium des Matthäus. »Wie herrlich ist es doch, lieber Vater, zu wissen, daß Jesus lebt, und daß er das Leben ist für uns arme Menschen!«
»Er lebt,« sagte leise Hartmut vor sich hin.
»Und Du sollst auch leben,« fügte Hildegard hinzu.
Man hörte Schritte vor dem Häuschen.
»Sieh da! Ihr!« rief Hildegard erfreut und ging den Eintretenden entgegen. Es war Bobach, der Weingärtner, und Büttinger, der Schmied. »Christus ist auferstanden!« sagte feierlich Bobach.
»Er ist wahrhaftig auferstanden!« antwortete Hartmut von seinem Lager. Von Löwenstein, von Weiler und Affaltrach hörte man die Osterglocken, aber lieblicher noch drang ins Herz des Kranken das, was die Brüder vom Leben redeten. Am Nachmittag trugen sie den Kranken unter den Nußbaum. Sie redeten von dem Spruch: In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen, ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Ich will wieder kommen und euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid, wo ich bin.
»Wird in des Vaters Haus wohl auch noch gearbeitet?« fragte Hartmut. Verwundert schauten die Brüder den Kranken an.
»Ich meine, ob drüben in des Vaters Haus der Geist auch noch streben, forschen, wirken darf? Ich hätte so gerne hier noch weiter gewirkt, meiner Vaterstadt gedient, das Beste meiner Mitbürger gefördert. Nun ist es schnell so still geworden!«
»Ich glaube, es wird eine Ruhe sein ohne Müßiggang, und ein Wirken ohne Unruhe,« erwiderte Bobach. »Es wird ein Wachsen sein, wie unsre Bäume und Reben wachsen, ohne Mühe, ohne Unruhe, aber auch ohne Stillstand, ein Wachsen in Gott.«
»Wie aber kommt denn Christus der Herr, um die Seinigen zu sich zu nehmen?« fragte Hartmut weiter.
»Er kommt«, antwortete Büttinger, »im Feuer, in dem unsre Brüder verbrannt, er kommt im Wasser, in dem sie ersäuft werden. Er kommt in der Pest und in jeder Krankheit, und wenn er kommt, ist dem Feuer und dem Wasser, dem Schwert und der Pest das Grauen genommen. – Doch was ist Euch, Herr Hartmut?«
Hildegard wandte sich rasch zum Vater; sie hatte bisher aufmerksam dem Schmied zugehört.
»Was ist Dir, Vater, Vater!« rief sie angstvoll.
»Er kommt, und der Aussatz hat kein Grauen mehr!« sagte Hartmut, aber mit jedem Worte wurde seine Stimme schwächer. Er erhob rasch nacheinander einigemal noch seine beiden Arme mit den dickeingewickelten, längst von der Krankheit verstümmelten Händen und ließ sie dann schlaff sinken. Seine Lippen bewegten sich leise, sein Haupt fiel auf seine Brust.
»Der Vater stirbt!« rief Hildegard und legte, neben der Leiche knieend, schluchzend ihr Haupt in den Schoß des Toten.
Sanft sagte Bobach: »Der Herr ist gekommen und hat ihn nach seiner Verheißung zu sich genommen. Der Name des Herrn sei gelobt!«
»Ja, ja, der Name des Herrn sei gelobt!« schluchzte Hildegard.
Die beiden Männer trugen mit dem weinenden Uz den Toten ins Haus. Dann gingen sie nach Reisach zurück. Am andern Morgen gruben sie in der Ecke des Gehegs ein Grab und legten unter viel Gebet und heißen Thränen Kurt Hartmut, den Kaufmann und Ratsherrn von Heilbronn, zur Ruhe.