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Zwölftes Kapitel.
Tot bei lebendigem Leib.

Die Pest war völlig erloschen. Wie anders war es doch in Heilbronn geworden! Kein Haus, aus welchem nicht Leichen hinausgetragen worden waren; keine Familie, in welcher nicht Lücken klafften! Und manches Haus ganz ausgestorben, manche Familie ganz verschwunden! Aber die Zurückgebliebenen mußten weiter leben, und sie kamen auch allmählich in das alte Geleise. Der Vogt von Heilbronn, Graf Eberhard der Greiner, hatte als Schultheißen den Hans Machtolff gesandt. Er war einige Tage, nachdem die Geißler nach Hall weiter gezogen waren, eingetroffen. Von Hartmuts Schultern wurde die Last abgenommen, die ihm mit jedem Tage widerwärtiger geworden war.

Hartmuts Handelsgeschäft war während der Pestzeit so gut wie still gestanden. Jetzt kamen wieder Krämer mit ihren Eseln, Waren zu kaufen. Aber Hartmut hatte keine Freude mehr an seinem Geschäft. Es galt die Weinberge und Gärten wieder in Stand zu setzen, Taglöhner boten sich an; Hartmut ging müd und matt hinaus, sich die Grundstücke anzusehen. Noch müder kam er heim; er gab keine Anordnungen. Es hing alles an Hildegard; es ging oft über ihre Kräfte. Wohl stand ihr Uz zur Seite, aber eigene Gedanken hatte der gute Bursche keine, er that nur, was man ihn hieß. Eine junge Magd hatte Hildegard ins Haus genommen, aber die war noch unerfahren. Hildegard konnte sich nicht verbergen, daß der Vater, der die ganze Pestzeit über keinen Tag krank gewesen war, jetzt nicht mehr gesund sei.

Es fiel ihr auf, daß der Vater immer mehr sein linkes Handgelenk zu verbergen suchte. Sie sah, als der Vater einmal unbeobachtet zu sein glaubte, durch das Fensterchen, welches von der Küche in die Stube ging, wie er starr auf sein Handgelenk blickte und dann mit dem Daumen der rechten Hand lange den untern Arm rieb.

Meister Reinold kam oft ins Haus, jedesmal einen andern Grund vorschützend, und jedesmal versuchte er auf allerlei Weise das Handgelenk Hartmuts zu Gesicht zu bekommen. Der Meister, der seit dem Judenmord auffallend unruhig war, wurde im Hause Hartmuts noch unruhiger und unstäter. Endlich gelang es ihm einmal, Hartmut so in ein Gespräch hineinzuziehen, daß dieser sich vergaß und in der Rede zur Bekräftigung seinen linken Arm, die Handfläche nach oben, ausstreckte, dem Meister beinahe unter die Augen. Der durchbohrt mit seinen Augen die Stelle, Hartmut merkt's und zieht schnell den Arm zurück; aber der Arzt hat genug gesehen. Er wechselt mit dem Ratsherrn noch einige Worte und fragt beim Gehen dann auch nach Hildegard. Er hört, sie sei heute den ganzen Tag am Sonnenbronnen. Eine halbe Stunde nachher kommt der Meister am Garten dort vorbei, als hätte er im Sinne, nach Großgartach oder Schwaigern zu gehen. An der Gartenthüre hält er und schaut in den Garten; dort sieht er Hildegard an einem Beet damit beschäftigt, Bohnen zu stecken. Er grüßt sie. Hildegard hatte vom Kommen des Arztes nichts gemerkt; sie schrickt daher zusammen.

»Jungfrau Hildegard«, ruft der Arzt, »könnte ich Euch ein paar Worte allein sagen?«

»Uz und die Magd sind im Garten,« antwortet Hildegard und ist dankbar, daß sie das der Wahrheit gemäß sagen kann.

»So darf ich Euch bitten, hierher an die Pforte zu kommen, ich hab' Euch etwas Wichtiges mitzuteilen.«

»Von wem? Ist doch dem Vater nichts zugestoßen?« ruft Hildegard aus, indem sie herbeieilt.

»Vom Vater allerdings hab' ich Euch etwas zu sagen. Seid stark, Hildegard! Es ist etwas Trauriges.«

»Ist der Vater tot? Sagt's doch heraus, martert mich nicht!«

»Er ist nicht tot, er lebt in seinem Hause, wie er gestern und ehegestern gelebt hat, aber ich weiß seit einer Stunde gewiß, daß er« – der Arzt machte eine Pause und sah, wie wenn er das Wort nicht über die Lippen bringen könnte, auf den Boden – »die Miselsucht, den Aussatz hat.«

Hildegard stößt einen Schrei aus und hält sich krampfhaft mit beiden Händen an der Gartenthüre. Uz und die Magd eilen herbei. Aber nein, vor dem Arzt will sie nicht schwach werden. »Geht nur wieder an Eure Arbeit!« ruft sie den beiden zu. »Sagt, Meister, um Gottes Barmherzigkeit willen, giebt es keine Heilung?«

Ein häßlicher Zug huscht über des Arztes Gesicht, indem er sagt: »Ihr seid ja so bewandert im Evangelium, Hildegard, dort ist, wie man hört, die Rede von Heilung des Aussatzes. Aber seit das Evangelium geschrieben ist, weiß man nichts davon, daß ein Aussätziger geheilt worden wäre.«

Hildegard fühlt den Spott. Sie schaut mit ihren großen Augen den Arzt durchdringend an und sagt: »So sind wir also ganz auf Gottes Erbarmung angewiesen!«

Der Meister schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: »Ich habe die Verpflichtung, dem Schultheißen anzuzeigen, daß Euer Vater die schreckliche Krankheit hat. Aber ich kann auch schweigen – wenn Ihr, Hildegard, jetzt ein Ja sagen wollt.« Mit diesen Worten ergriff er leidenschaftlich die Rechte der Jungfrau und es strömte nun von seinen Lippen: »Du weißt, daß ich Dich liebe. Dich allein! Jahr um Jahr warte ich. Du stehst kalt und spröd und läßest mich vergehen in meiner Liebespein! Während der ganzen Pestzeit, da Tag und Nacht des Todes Hand nach mir sich ausgestreckt hatte, hielt nur die Hoffnung mich aufrecht, daß ich Dich noch besitzen werde. Wenn ich Dich jetzt wieder frage, ob Du mein Weib werden willst, sag Ja! und kein Mensch erfährt etwas von der Krankheit Deines Vaters!«

Der Arzt hielt inne, Hildegard hatte ihre Rechte aus der Hand des Arztes gezogen, sie blickte stumm zu Boden, aber ihre Brust wogte gewaltig, und in ihrem Innern schrie sie zu Gott. Dem Arzt kam ihr Schweigen wie eine Ewigkeit vor. Endlich schlägt sie die Augen auf; o wie klar, wie ruhig sind diese Augen! »Meister, wenn ich Euer Weib würde, könntet Ihr dann die Krankheit des Vaters lindern?«

Dem Unbedachtsamen, dem Aufgeregten entschlüpfen die Worte: »Lindern nicht, aber verkürzen!«

»So soll ich die Hand zum Ehebund in eine andere Hand legen, die ruhig dem geliebten Vater Gift reichen würde? Es ist Gott, der Euer Innerstes geoffenbart hat.«

Wie eine Königin ging sie auf das Sommerhaus zu, den Meister seiner Wut überlassend; aber wie ein zerbrochenes Gefäß lag sie drinnen, nachdem sie die Thüre hinter sich zugezogen hatte auf dem Boden. »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Ich heule, aber meine Hilfe ist ferne!«

Sagt nicht eine Stimme zu ihr: »Weib, was weinest Du, wen suchest Du?«

Sie richtet ihr Angesicht auf, sie blickt nach oben; die einfachen Wände des Sommerhauses können ihren Blick nicht hemmen.

»Ich weine, weil ich meinen Gott nicht mehr finde. Warum verbirgst Du Dich, mein Gott und Heiland?«

Sagt nicht wieder eine Stimme klar vernehmlich: »Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. So Du glauben würdest, so solltest Du die Herrlichkeit Gottes sehen.«

»Ich glaube Herr, hilf meinem Unglauben!« ruft die Hände ringend, Hildegard. Noch eine Weile liegt die Jungfrau auf den Knieen, dann erhebt sie sich. Sie ruft dem Uz und der Magd. »Wir gehen heim! Wir sind hier fertig!« Die Magd glaubt nicht anders, als die junge Herrin sei im Kopf nicht richtig. Denn die Arbeit war ja kaum angefangen. Aber Hildegard wußte, was dem Vater bevorstand, und sie wußte auch, was sie thun wollte, darum war die Arbeit am Sonnenbronnen vollbracht, darum schloß sie heute zum letztenmal Sommerhaus und Gartenthüre.

Wie im Traum ging sie dahin. Sie wird den Neckar nicht mehr sehen, nicht mehr die Brücke, nicht mehr das Brückenthor.

Sie kommt heim und trifft den Vater im Feiergewand im Hofe stehen. »Wo kommst Du her? Oder gehst Du fort?« fragt die Tochter befangen.

»Komm mit hinauf!«

»Vater, Du bist krank!«

»Das weiß ich! Daß ich krank sei, hab' ich dem Schultheißen eben gemeldet.«

Sie waren im Zimmer angelangt.

»Hildegard, mein Kind, setze Dich!« Die Tochter folgte der Aufforderung und sah, indem ihre Pulse fieberhaft hämmerten, auf den Vater.

»Hildegard, mein armes Kind, seit Brunos Flucht weiß ich, was mir fehlt. Heute entdeckte es Meister Reinold. Er hat zwar nichts gesagt, aber ich merkte wohl, daß er es entdeckt hat. Da nahm ich das letzte Fünklein Hartmutschen Geistes in mir wahr; ich blies es an und ging hinauf zum neuen Schultheißen, ihm zu melden, daß der Ratsherr Hartmut den Aussatz hat und bittet, nach dem Gesetz behandelt zu werden.«

Hartmut hielt inne und sah seine Tochter an. Er wunderte sich, daß sie so ruhig blieb. Er fuhr dann fort:

»Du bist stark, meine Tochter, Du bist eine echte Hartmutin. Als ich bei dem Schultheißen meine Meldung gemacht, trat Meister Reinold dort ein. Er erschrak, als er mich sah; ich durchschaute ihn zum erstenmal. Mein Aussatz macht mir meine Augen, wie es scheint, heller. Er ist ein Schuft; deine selige Mutter hat ihn früher als ich erkannt. Ich sagte zu ihm: ›Schwört nur gleich vor dem Schultheißen den Eid, daß ich die Miselsucht habe. Wäret Ihr ein rechter Mann, Ihr hättet es mir ins Angesicht gesagt!‹ Er wußte mir nichts zu erwidern und bestätigte dann nur stotternd dem Schultheißen meine Aussagen.«

»Du wunderst Dich, Vater, daß ich Dich ohne Zeichen des Schreckens anhöre. Meister Reinold hat mir draußen am Sonnenbronnen alles gesagt.«

Hartmut hatte von dem Fünklein seines alten Geistes geredet, das er wieder angefacht hatte zur Flamme. Ach, diese Flamme war schnell niedergebrannt! Er ließ den Kopf tief herabsinken und sagte mit hohler Stimme: »Aussatz! Aussatz! Tot bei lebendigem Leib!« Dann erhob er wieder sein Haupt, sah Hildegard lächelnd an und sagte: »Du bist schnell die reichste Erbtochter von Heilbronn geworden, mein Kind. Ich weiß nicht, wie bald oder wie spät sie mir den Prozeß machen werden, durch den ich für tot erklärt werde. Nütze noch die Zeit aus, so lange Du einen Vater hast, der mit Dir reden darf, und den Du fragen kannst!«

»Vater, wie magst Du so sprechen!« rief Hildegard und wollte die Hände Hartmuts ergreifen. Dieser aber zog sie schnell zurück und sagte: »Aussätzig! Du weißt doch, aussätzig!«

Hildegard aber umarmte trotz alles Wehrens den Vater und rief: »Willst Du mir denn den allergrößten Schmerz anthun und mir zutrauen, daß ich Dich verlasse? Vater, wo Du bist, da bin ich auch, wo Du hingehst, da gehe ich auch hin. Nur der Tod kann Dich und mich scheiden!«

Hartmut weinte.

Der Prozeß wurde schnell eingeleitet. Schon nach einigen Tagen kam der Schultheiß, zwei Ratsherren und der Notar in Hartmuts Wohnung.

»Stellt dem Vater den Stuhl dort an das Kamin!« sagte der Schultheiß Machtolff zu Hildegard. Als dies geschehen war, fuhr der Schultheiß zu Hartmut gewendet fort: »Setzt Euch, Kurt Hartmut, Kaufmann und Ratsherr von Heilbronn!«

Hartmut gehorchte und setzte sich. Am Tisch nahmen die Herren Platz, der Schultheiß also, daß er den Tisch, hinter dem der Notar saß, zu seiner Linken hatte. Hildegard stellte sich neben den Vater.

»Tretet weg vom Vater, Jungfrau!« sagte, freundlich Hildegard zunickend, der Schultheiß.

»Ich bleibe beim Vater!«

»Ihr wißt nicht, was Ihr damit aufs Spiel setzet! Gehet weg!«

»Ich bleibe beim Vater, mag es für mich bringen, was es auch sei!«

»Geh, gehorche den Herren!« bat Hartmut.

»Ich werde nicht wortbrüchig!« erwiderte, ernst den Vater ansehend, Hildegard.

»Die Herren sind Zeugen, daß ich, wie es sich gebührt, die Jungfrau gewarnt habe,« bemerkte nachdrücklich der Schultheiß. Die Ratsherrn nickten.

»So könnt Ihr beginnen!« sagte Machtolff, sich zu dem Notar wendend.

»Erlaubt, Herr Schultheiß!« redete Hartmut darein, »ich möchte, daß mein alter Handlungsdiener Eberhard, mein Knecht Uz und die junge Magd auch in das Zimmer gerufen werden.«

»Euer Wunsch sei Euch gewährt!« erwiderte der Schultheiß.

Hildegard verließ nun den Vater, eilte hinaus und rief das Gesinde; dann aber stellte sie sich wieder neben den Vater und legte absichtlich ihre Hand auf den zuerst vom Aussatz befallenen Arm. Die drei Gerufenen blieben an der Thüre stehen.

»Leset jetzt, Notar!« gebot der Schultheiß.

Der Notar begann: »Weil es dem allmächtigen Gott gefallen hat, den Kaufmann und Ratsherrn Kurt Hartmut in Heilbronn mit der Miselsucht heimzusuchen, so sind wir, Schultheiß und Abgeordneter des Rats samt dem Notar in seiner Behausung erschienen, um, ehe er in das Sondersiechenhaus überführt und rechtlos wird, seinen letzten Willen aufzunehmen.«

»Nun Kurt Hartmut, nennet Euren Willen!« sagte der Schultheiß.

»Ich behalte doch für mich, was ich auf dem Leibe trage?« gab Hartmut fragend zurück.

»Gewiß«, antwortete der Schultheiß, »und auch sonst könnt Ihr heute schon durch Euren letzten Willen ins Sondersiechenhaus schaffen lassen, was Euch beliebt.«

»Ich danke«, sagte beifällig nickend Kurt Hartmut. Dann fuhr er fort: »Meiner jungen Magd, die erst einige Wochen in meinem Hause gewesen, vermache ich, was sie in ihrer Kammer vorgefunden, Bett und Truhe und fünf Goldgulden.

Der alte Eberhard mag haben, was von Waren im Hause sich findet, dazu das Schiff. Dem Uz gehört, was er in seiner Kammer hat, dazu die beiden Weingärten im Lerchenberg, sie können ihn nähren, wenn er sie gut umtreibt.

Alles andere aber, Haus, Hausrat und Liegenschaften, gehört meiner Tochter Hildegard.«

Das alles nahm der Notar auf.

»Jungfrau, wenn Ihr jetzt nicht vom Vater weg gehet, so müssen wir Euch ansehen, als wäret Ihr auch von der Miselsucht befallen«, sagte mit ernster Betonung der Schultheiß.

»Daß Ihr mich so ansehet, darum bitte ich«, entgegnete freundlich, aber bestimmt Hildegard. »Ja nehmet nur sogleich auch meinen letzten Willen auf!«

Verwundert schauten die Männer die Jungfrau an, die auf Recht und bürgerliches Leben verzichtete, als handelte es sich um eine Seifenblase.

»Habt Ihr es Euch wohl überlegt?« fragte noch einmal Machtolff.

»Ich bitte Euch, quälet mich nicht! Höret meinen letzten Willen: Ich, Hildegard Hartmut, Kurt Hartmuts, des Kaufmanns und Ratsherrn eheliche, leibliche, einzig übrige Tochter, vermache alle meine mir vom Vater zugefallenen Liegenschaften, ausgenommen das Haus, der Gemeinde Heilbronn. Ich bestimme, daß der Hausrat und die Fahrnis für die Witwen und Waisen verwendet werde, welche durch die Pest des Ernährers beraubt worden sind. Das Haus aber gehöre dem Schuster Vaihinger in der Rappengasse.«

Der Vater, der mit gesenktem Kopf den Bestimmungen der Tochter zugehört hatte, erhob bei der Nennung des Namens plötzlich das Haupt und sah die Tochter fragend an. Sie aber machte gegen den Vater eine beschwichtigende Bewegung.

»Ohne daß Ihr Eurem Herrn näher tretet,« sagte der Schultheiß zum Gesinde gewandt, »könnet Ihr ihm danken und Euch von ihm verabschieden. Er ist, wenn wir das Zimmer verlassen haben, für Euch nicht mehr da und hat Euch nichts mehr zu befehlen.«

Die junge Magd fuhr mit der Schürze über die Augen, machte eine unbeholfene Verbeugung und ging hinaus.

Der alte Eberhard sagte mit weinerlichem Ton seinen Dank; Reden halten war aber noch nie seine Sache gewesen, so ging auch er hinaus. Uz blieb stehen.

»Behüt Dich Gott, Uz!« sagte mit bebender Stimme Hartmut.

»Leb wohl, vergiß uns nicht, guter, treuer Bursche!« fügte Hildegard bei.

Uz wurde bald rot, bald bleich. Dann trat er ganz nahe vor den Schultheißen hin und sagte: »Uz ist ein dummer Kerl, er weiß nicht, was Ihr Herren da für Sachen machet. Ich merke nur so viel. Ihr wollet, daß ich von meinem Herrn und seiner Tochter gehe. Da kennet Ihr den Uz schlecht. Jedes Hündlein, das seiner Herrin folgt, wäre besser als ich, wenn ich von meinem Herrn und seiner Tochter ließe, die mich, den Knecht, den geringen, in der Pest gepflegt hat, bis ich gesund geworden. Der Aussatz, das soll wohl der gelbe Fleck sein an meines Herrn Hand?«

Als der Schultheiß nickte, da kniete im nächsten Augenblick Uz vor dem Stuhle seines Herrn, ergriff mit Ungestüm dessen linke Hand, drehte sie um, und ehe irgend jemand es verhindern konnte, hatte er einige lautschallende Küsse aus die aussätzige Hautstelle gedrückt.

»Darf ich jetzt bei meinem Herrn bleiben?« fragte er, kühn um sich blickend und stolz sich zur Rechten seines Herrn stellend.

Gerührt sagte der Schultheiß: »Du hast Deinen Willen. Wem sollen nun Deine Weinberge im Lerchenberg gehören?«

»Schenkt sie den Klarissinnen, die sind immer freundlich gegen den armen Uz gewesen.«

Kurt Hartmut wußte sich vor Rührung nicht mehr zu fassen; er ergriff mit beiden Händen die Rechte des Knechts und drückte nun seinerseits auf sie einen Kuß.

Der Notar hatte viel zu schreiben. Es trat eine lange Stille ein. Dann, als jener fertig war, sagte der Schultheiß mit bewegter Stimme: »Der Rat bestellt jetzt für Euch auf morgen das Totenamt. Ihr werdet von Dienern abgeholt, zur Kirche geführt, und nach dem Amt ins Sondersiechenhaus geleitet. Wer von Euch hernach den Zaun überschreitet, der das Siechenhaus und seinen Garten einschließt, der hat das Leben verwirkt, der ist frei wie der Vogel in der Luft.«

Die traurige Verhandlung nahte sich ihrem Abschluß. Der Schultheiß, ein großer, wohlbeleibter Herr, etwas älter als Hartmut, erhob sich; er wollte eben dem nunmehr rechtlosen Ratsherrn einige freundliche Trostworte sagen. Da pocht's an die Thüre. Hartmut schweigt; er hat in seinem Hause nicht mehr: Herein! zu rufen. Der Schultheiß thut's.

Vor der Thüre steht atemlos ein Ratsdiener. »Herr Schultheiß,« stößt er hart schnaufend heraus, »es ist ein Verbrechen entdeckt worden. Man hat den Meister Reinold tot im Bette gefunden. Ein Dolch steckt in seiner Brust; er ist schlafend erstochen worden. Man hat alles gelassen, wie man es fand; kommt, Herr Schultheiß, und seht Euch die Sache an!« So ging die Verhandlung in Hartmuts Hause schnell zu Ende. Die Herren winkten von der Thüre aus noch den drei Toten einen Abschiedsgruß zu und eilten dann zur Jakobsgasse in die Wohnung des Ermordeten.

Es war in der engen Gasse ein großer Auflauf. Kein Mensch konnte sich denken, wer des Meisters Todfeind gewesen sein sollte. Ja, hätte Hartmut nicht selbst seinen Aussatz angezeigt, so hätte man an ihn denken können, daß er für die Anzeige und den Eidschwur des Arztes Rache genommen habe. Aber wie konnte er dem Arzt verübeln, wenn dieser beschwor, was er, Hartmut, selbst dem Schultheißen freiwillig bekannt hatte?

Der Schultheiß kam in die Schlafkammer des Arztes. Da lag der Ermordete, wie wenn er noch schliefe. Die Arme waren ausgestreckt, ein Kampf hatte nicht stattgefunden. In der Brust stak noch der Dolch. Der Schultheiß befahl dem Diener, den Dolch herauszuziehen. Er thut's und giebt den blutenden Dolch dem Schultheißen.

»Sieh da! am Griff ist etwas umgewickelt!« sagt dieser und macht einen Streifen Papier los, der mit einem Seidenfaden fest an den Griff gebunden war. Auf dem Streifen standen geschriebene Zeichen, die der Schultheiß nicht entziffern konnte. Er bot den Zettel auch den Ratsherrn dar; keiner wußte etwas damit anzufangen. Am Bett des Ermordeten stand das Weib, das ihm seit Jahren seine Junggesellenwirtschaft geführt hatte, heulend und jammernd. Streng befragt wußte sie nichts anderes zu sagen, als daß der Meister gestern zur gewohnten Stunde heimgekommen sei und sich zu Bett gelegt habe. Man habe die ganze Nacht nicht das Geringste gehört. Als der Meister des Morgens so lange nicht erschienen sei, habe man die Kammerthüre aufgebrochen und es gefunden, wie die Herren sehen, das Fenster sei offen gestanden. Man ging mit dem Zettel zu den Barfüßern und zu den Präsenzherren. Keiner wußte die Schrift zu entziffern. Nur der Pfarrherr Heinrich Waltz meinte, es wolle ihm dünken, bei den Juden schon diese Schrift gesehen zu haben; es werde wohl hebräisch sein, hebräisch aber verstehe der Deutschordensherr Dietrich von Weiler, der lange im heiligen Lande gewesen sei. Also trug man den Zettel ins Deutsche Haus, und dort wurden die Buchstaben entziffert und übersetzt in die Worte: »Der Mutter Blut hat gen Himmel geschrieen und ist jetzt gerächt.« Damit wußten nun die Herren erst recht nichts anzufangen.

Zur gleichen Stunde trat in Lehrensteinsfeld, nicht allzufern von Weinsberg, in ein baufälliges Hüttlein ein jüdischer Jüngling, ärmlich gekleidet.

Ein alter Jude, zusammengehuzelt und niedergebeugt vom Elend, hebt die Hände auf und ruft: »Gelobt sei der Gott unserer Väter, daß er Dich hat wieder gebracht unversehrt zu Deinem Vater!« Der Jüngling sagt: »Es ist geschehen; die Mutter ist gerächt!« Und abermal zu derselben Stunde saß Hildegard zu den Füßen ihres Vaters und sagte: »Gott sei der Seele des Ermordeten gnädig! Er muß einen bittern Feind gehabt haben. Er hat es nicht verstanden, den schönen Beruf, den bis jetzt nur die Mönche und Geistlichen ausgeübt haben, als ein ehrsamer Bürger und wackerer Weltmensch zu führen. Nicht wahr, Vater, wir verzeihen dem Ermordeten das Herzeleid, das er uns angethan hat?«

Hartmut antwortete nichts. Nur von Zeit zu Zeit murmelte er vor sich hin: »Tot! tot! Der ist ganz tot! Der hat's gut!«

Aber auch für Hildegard waren die Abendstunden noch Sterbestunden. Was auf des Vaters Wunsch und nach seinem letzten Willen ins Sondersiechenhaus gebracht werden sollte, das hatte sie bald zusammengepackt. Aber wie viel ließ sie zurück, wie viel, ohne das sie sich von Kind auf das Vaterhaus gar nicht denken konnte! Das alles sollte für sie untergehen, dem allem sollte sie absterben! Da floß manche heiße Thräne über ihre Wangen, aber in ihrem Innern stand leuchtend der Spruch: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Wie war Hildegard noch bange auf die schreckliche Stunde des Totenamts! Aber sie mußte durchgemacht werden. Es gehörte das zum bestehenden Recht und Gesetz. Der Vater und sie und Uz mit ihm, mußten über sich ergehen lassen, was über sie verhängt wurde. Die Geißler hatten kaum eine größere Bewegung in die Stadt gebracht als das Läuten der einen Glocke, die zum Totenamt für Kurt Hartmut, seine Tochter und seinen Knecht einlud.

Die Diener des Rats erschienen im Hause Hartmuts und forderten die drei auf, ihnen zur Kirche zu folgen. Mit langen Stäben schafften sie Raum und warnten durch laute Rufe, den dreien nahezukommen.

Der kurze Weg von der Klostergasse zur Kirche erschien Hartmut entsetzlich lang; er konnte sein Haupt nicht mehr heben, er konnte keinen Gedanken mehr denken, er hatte nur den einen Wunsch: »Tot! Tot!«

Die Stufen zum Eingang vermochte Hartmut kaum zu ersteigen. Hildegard und Uz halfen ihm. Sie treten in die Turmhalle, da müssen sie einige Augenblicke stille stehen, bis drinnen unter der drängenden Menge Raum geschaffen ist. Hildegard schaut auf zu den vier Sinnbildern der Evangelisten, die sie in der Halle schon so oft geschaut hat. Aber köstlicher hatte nie vorher das Wort ihr ins Herz geleuchtet, das auf dem Spruchband des Adlers stand: In principio erat verbum, im Anfang war das Wort. Das Wort können sie ihr nicht nehmen drinnen durchs Totenamt; ihr lateinisches neues Testament, in verschiedenen Bänden schön geschrieben, ist der Schatz, den sie eingehüllt auf dem Weg zum Totenamt trägt, den sie selbst ins Sondersiechenhaus bringen will. Auch wenn alles für sie tot ist, das Wort wird ihr Leben sein, und jetzt ist es ganz besonders wieder ihr Flehen zu Gott, daß das Wort auch noch ihres Vaters Leben werden möge.

Nun ist drinnen Raum gemacht. Vor dem Altar, wo sonst die Totenbahren aufgestellt werden, steht ein hoher, roh gezimmerter Stuhl von Tannenholz. Wozu auch Zierwerk an ihn verschwenden? Wird er doch nachher alsbald verbrannt.

Als Hartmut auf denselben zuschreitet, recken alle die Hälse; Uz, der sich zur Linken seines Herrn gestellt hat, wirft nach allen Seiten hin verächtliche Blicke; Hildegard zur Rechten des Vaters stehend, schaut unbeweglich auf den Boden.

Der Kirchherr kommt aus der Sakristei, gefolgt von zwei Pfarrherren und zwei Chorknaben. Wunderbar! Wie Kurt Hartmut seinen Gegner sieht, so ist's, als ob alle Schwäche geschwunden, als ob er gesund wäre, wie vor Jahren. Er richtet sich auf in seinem Stuhl, er wirft den Kopf zurück, und mit kaltem, stolzem Blick begegnet er dem Auge des Kirchherrn. Der hatte es sich anders vorgestellt. Er wird verwirrt; er kann kaum seines Amtes walten. Aber als er dann die Seelen der drei dort unten an dem Altar wie abgeschiedene behandeln soll, da zieht doch auch Mitleid in das harte Herz des Kirchherrn ein, und seine Bitten um das Erbarmen Gottes für die drei Toten kann er nur mit zitternder Stimme singen.

Es wird von vielen geweint. Sie denken daran, was Hartmut einst war und was er jetzt ist. Das Totenamt ist aus. Nun werden die drei durch den nördlichen Turm zur Kirche hinausgeführt. Draußen ordnet sich alles wie zu einem Leichenbegängnis, und so geht es hinab die Sülmergasse, hinaus zum Sülmerthor. Dort winken viele dem Manne den letzten Gruß zu, der seine Vaterstadt emporbringen wollte und nun bei lebendigem Leib tot, vor ihren Mauern abgesondert sein wirkliches Abscheiden erwarten soll.


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