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Elftes Kapitel.
Die Geißler.

Mehr als alles frühere Elend hatte der Tag des Judenmords Kurt Hartmut und seine Tochter mitgenommen. Wenn das Schreckliche in Menschengestalt der Seele gegenüber tritt, ist es noch ärger, als wenn es in unpersönlichen Erscheinungen uns begegnet. Aber wiederum sollte den Beiden nicht zu viel Zeit gegeben werden, die schreckhaften Erlebnisse nachzufühlen.

Hildegard ging eines Morgens hinab in den Hof. Sie wunderte sich, daß sie Uz noch nicht gehört hatte, der doch sonst gewöhnlich der erste im Hause war. Da sieht sie Uz an der Stallthüre liegen. Sie geht auf ihn zu. »Uz! Uz! Was ist Dir?« Der Knecht dreht sich um und sucht sich zu erheben. Hildegard sieht, daß die Pest ein neues Opfer ergriffen hat. »Herrin, geht weg! Laßt mich hier sterben. Macht Euch mit mir keine Mühe!«

»Warum nicht gar, Uz! komm steh auf, laß Dir helfen! Genesen doch jetzt so manche, die von der Krankheit befallen werden.«

Uz suchte sich zu erheben, sank aber wieder zusammen.

Da half ihm Hildegard auf: »Komm hinauf in Deine Kammer und in Dein Bett!« Durch die Unterstützung Hildegards gelang es Uz, sich aufzurichten. Mit viel Mühe brachte Hildegard den Kranken in seine Kammer. Hildegard war der Krankheit gegenüber so ruhig und so furchtlos geworden, daß schon ihr Walten am Bett eines Ergriffenen als eine Wohlthat empfunden wurde. Wenn die Schmerzen den armen Knecht überfielen, sprach ihm Hildegard Mut ein; wenn die Hitze ihn verzehren wollte, hatte sie Erquickungen bereit. Wenn Uz die Hilfeleistungen der Herrentochter nicht annehmen wollte, schob sie seine Einwendungen mit so viel Freundlichkeit zurück, daß er doch nachgeben mußte.

Am dritten Tag war die Genesung des Kranken entschieden. Nach weiteren drei Tagen hörte Hildegard in der Kammer des Knechts die Wachtel schlagen und die Finken musizieren, die Schwalben schwirren und den Kuckuck rufen. Wenn bei Uz wieder die Tiere zu Besuch waren, dann hatte es keine Not mehr. Hildegard mußte lächeln, so sehr sie auch sonst in jenen Tagen das Lachen verlernt hatte. War Uz vorher schon ein treuer Bursche, von dem Augenblick an, da ihn Hildegard ohne jede Furcht in seine Kammer geleitet hatte, gehörte sein Leben nur noch der Tochter seines Herrn.

Das Sterben ließ nach; doch kamen immer wieder Tage, an welchen die Seuche einen neuen Vorsprung zu machen schien, an welchen plötzliche Todesfälle wieder Entsetzen verbreiteten.

Eines Abends kehrte Hartmut vom Rathause zurück. Er hatte heute einen Boten von Stuttgart empfangen, der ihm vom Grafen einen Brief brachte, in welchem die baldige Entsendung eines neuen Schultheißen zugesagt war. Kurt Hartmut hatte diese Botschaft gerne gelesen; er war so müde, so schwach geworden! Kaum hatte er sich in seinem gar still gewordenen Zimmer niedergelassen, so meldete Hildegard den Pfarrherrn Johannes von Überlingen.

Hartmut ließ ihn eintreten und fragte: »Was ist Euer Begehr, ehrwürdiger Herr?« – »Der Kirchherr schickt mich.«

»Der Kirchherr, Euch, zu mir?« fragte Hartmut, jedes Wort langsam betonend.

»Der Kirchherr läßt Euch, da Ihr dem Rate vorsteht, ansagen, daß morgen eine Geißlerbruderschaft von Lauffen her kommt und für etliche Tage hier ihre frommen Bußübungen halten wird. Der Kirchherr läßt durch Euch den Rat bitten, der frommen Bruderschaft jedweden Schutz und alle Förderung angedeihen zu lassen und thut Euch kund, daß die Pfarrherrn und die Barfüßer und die Herren vom Deutschorden ihre Kirchen der Bruderschaft öffnen werden.«

»Meldet dem Kirchherrn, es werde seinem Wunsche gemäß verfahren.«

Der Pfarrherr ging. Als er das Zimmer verlassen hatte, sagte Hartmut mit müder Stimme zu Hildegard: »Auch das noch!« Hildegard erwiderte: »Die armen Leute! Glauben unseres Heilands Zorn zu lindern, wenn sie ihren Leib zerschlagen, und er möchte so gerne zerschlagene Herzen trösten.«

»Meinethalb können diese Narren mit sich und ihrem Herrgott thun, was sie wollen; wenn sie es nur nicht hier thäten. Ich fürchte neue Unruhen in der Stadt.«

Am andern Morgen war große Bewegung in Heilbronn.

Schon in der Frühe läuteten alle Glocken; die Leute strömten massenhaft in die Kirchen, auch die, welche noch vor kurzem die Juden hingemordet hatten. Dann ordnete sich der Zug, der die Bruderschaft empfangen sollte. Voraus die Pfarrherrn, – wie waren sie so wenige geworden! Dann die Barfüßer, – wie waren sie zusammengeschmolzen! Dann Männer und Weiber, jung und alt, wie sich's gab. Der Zug ging hinaus zum Fleinerthor, je vier und vier. Es war ausgemacht worden, wenn die Geißler kommen, so sollen je zwei eines Gliedes auf die rechte, je zwei auf die linke Seite des Weges treten und den Zug durchlassen. So zogen die Städter dahin unter dem Himmelsblau eines freundlichen Frühlingstages und unter blühenden Bäumen. Aber Vogelsang ließ sich wenig hören, denn auch die Tierlein im Freien waren massenhaft weggestorben. Und auch die Äcker lagen meist noch wüste; waren doch viele von denen, die hätten ackern sollen, schon drüben an der Weinsberger Straße in die unheimlichen Grabesfurchen eingelegt.

Die Städter waren bis dahin gekommen, wo man das Dorf Flein in seiner Versenkung liegen sieht. Im Dorfe unten läuteten auch die Glocken. Man sah die Geißler daherziehen, eine große Schar, lauter Männer und Jünglinge, die im Schrecken der Pest die Hand des allmächtigen, zürnenden Gottes erkannt hatten und durch fortgesetzte strenge, schmerzhafte Bußübungen den Zorn Gottes versöhnen wollten. Die Städter teilten sich und stellten sich auf. An der Spitze der Schar schritt ein großer Mann mit langem, blondem Barte; er trug ein Kreuz. Zehn andere folgten ihm, je zwei und zwei, jeder hielt eine Fahne hoch, von karmesinrotem Sammet mit reicher Goldstickerei. Dann kamen andere, die Kerzen in den Händen hielten, dann die übrige Schar, immer paarweise. Alle trugen Mäntel und Hüte, mit roten Kreuzen geschmückt. Mit weit ausholendem, langsamem Schritt kamen sie daher. Als der Mann mit dem Kreuz bei den Pfarrherrn angelangt war, fingen zwei und dann wieder zwei ein Klagelied an, ihren »Leis«, in welchen die ganze Schar im Chore einstimmte:

Nun ist die Betefahrt also hehr.
Als Christ gen Jerusalem ritt selber.
Er führte ein Kreuz in seiner Hand:
Nun helfe uns der Heiland! –
Nun ist die Betefahrt also gut,
Hilf uns, Herr, durch dein heiliges Blut,
Das du am Kreuze vergossen hast,
Und uns in dem Elend erlöset hast. –
Nun ist die Straße also bereit.
Die uns zu unsrer Frauen trait.
In unsrer lieben Frauen Land.
Nun helfe uns der Heiland! –
Wir sollen die Buße an uns nehmen,
Daß wir Gott desto baß gezehmen,
Alldort in seines Vaters Reich,
Deß bitten wir dich alle gleich. –
So bitten wir den viel heilgen Christ,
Der aller Welt gewaltig ist.

Der ungewohnte Anblick, der schwermütige Gesang, die ernsten Gesichter, für welche die ganze Umgebung, auch der entgegengekommene Zug der Städter gar nicht vorhanden zu sein schien, das alles machte auf die Heilbronner einen tiefen Eindruck. Die gleichen Leute, die vor wenig Tagen mit schadenfrohem Lachen die brennende Synagoge umtanzt und sich an dem Jammergeschrei der zu Tod gemarterten Juden erfreut hatten, die weinten jetzt heiße Thränen tiefer Herzensrührung.

Die Paare der Geißlerbrüder wurden in die Mitte genommen, so daß der Zug nun je sechs und sechs auf die Stadt zukam. Als der Türmer auf dem Fleinerthor den Zug sich nahen sah, gab er in die Stadt hinein ein Zeichen, und alsbald wurden alle Glocken zusammengeläutet. Es mochten gegen zweihundert Geißler sein, die sogleich in die Kilianskirche einzogen. Dort stellten sie sich auf. Auf einen Wink dessen, der das Kreuz getragen hatte, warfen sie sich alle wie ein Mann auf die Kniee und sangen:

Jesus, der ward gelobet mit Gallen,
Deß sollen wir all' an ein Kreuze fallen.

Kaum war der letzte Ton dieses Verses verklungen, so ließen sie sich von den Knieen aus mit kreuzweise ausgestreckten Armen zur Erde fallen, daß es nur so klapperte und klatschte, daß die Gewölbe der Kirche widerhallten, und sogar die vor der Kirche stehenden Neugierigen über dem eigentümlichen Geräusch zusammenfuhren. Es trat Totenstille ein; jeder der ergriffenen Zuschauer hielt den Atem an. Dann sprang plötzlich der Vorsänger auf und sang mit lauter Stimme über die wie tot daliegende Schar hin:

Nun hebet auf all' eure Hände,
Daß Gott dies große Sterben wende;
Nun hebet auf all' eure Arme,
Daß sich Gott über uns erbarme.

Langsam und gleichmäßig erhoben sich alle, standen aufrecht, reckten die Arme gen Himmel und sangen wieder in ergreifendem Chorgesang:

Wir heben auf all' unsre Hände,
Daß Gott dies große Sterben wende;
Wir heben auf all' unsre Arme,
Daß sich Gott über uns erbarme.

Von der Kilianskirche zogen die Geißler hinab zur Kirche des Deutschordens. Auch sie war den Büßenden geöffnet; denn auch die Deutschherren waren von der Seuche nicht verschont geblieben, auch sie zeigten sich denen freundlich, die nach dem Glauben jener Zeit für das menschliche Geschlecht sich zu einem Sühnopfer machten. In der Kirche des Deutschordens wie nachher bei den Barfüßern wiederholten die Geißler ihre Übungen. Vor der Franziskanerkirche drängten sich die wohlhabenden Bürger, jeder wollte einen oder mehrere von der frommen Bruderschaft in sein Haus aufnehmen und über die Tage beherbergen, welche die Schar in Heilbronn zuzubringen beabsichtigte. Wie einen Heiligen, wie einen unfehlbaren Schutzpatron gegen das Wiederumsichgreifen der Pest nahmen die Bürger den einzelnen Geißlerbruder mit nach Hause.

Hartmut und seine Tochter hatten sich von der ganzen Sache fern gehalten; nur einen Blick hatte Hildegard durchs Fenster auf den Zug geworfen, als dieser, begleitet von einer andächtigen Menge, vom Deutschhof zu den Barfüßern zog. Aber Uz war dem merkwürdigen Schauspiel nachgelaufen; Hildegard hatte es ihm ja erlaubt. Ganz aufgeregt kam nachmittags Uz heim und verkündigte, er habe Bruno im Zuge der Geißler gesehen. Er sei ihm nachgegangen ins Haus, in welchem er herberge, ins Haus des Herrn Aff. Er habe sich so verändert, daß man ihn dort nicht erkannt habe; ihn aber, den Uz, habe er schrecklich angeschaut und ihm gesagt, wenn eines von den Seinigen komme und ihn in seinem Opfer störe, so geschehe etwas, was ärger sei als alles bisherige.

»Der arme Junge, der gute Bruder!« stöhnte Hildegard. Und zum Vater gewandt, sagte sie: »Giebt's denn für den Verblendeten keine Rettung?«

»Ich weiß keine,« antwortete Hartmut bitter. »Morgen werden die Geißler draußen links von der Weinsberger Straße, gegenüber der neuen Begräbnisstätte, ihre Geißelungen anfangen. Wir wollen dann sehen, ob sich etwas machen läßt.«

Am nächsten Tag, an einem gewöhnlichen Werktag, läuteten die Glocken wie an den höchsten Festen. Die Geißler sammelten sich vor der Kilianskirche. Wieder stellten sie sich paarweise auf. Heute hatten sie die Geißeln an den Gürteln hängen, an kurzen Stöcken lederne Riemen mit starken Knoten, an welchen eiserne Spitzen befestigt waren. Den Zug eröffnete wieder der Kreuzträger, dem die Brüder mit den Fahnen folgten. Die Kerzen hatten sie in der Kilianskirche gelassen. Durch die Sülmergasse ertönte der Gesang der Leisen; laut klagten und schluchzten die Männer und Weiber, die neben dem Zuge hergingen. Unter den letzten, welche die Geißler begleiteten, war Hartmut mit seiner Tochter. Der Zug ging durchs Sülmerthor, dann rechts die Weinsberger Straße hinaus bis zur Wiese gegenüber dem Platz, der all die überreiche Ernte des schwarzen Todes in sich aufgenommen hatte.

Umgeben von der großen Menge der teilnehmenden Einwohnerschaft bildeten die Geißler einen Kreis, legten ihre Kleider und Schuhe ab und behielten nichts an als ein Hemd, das von den Lenden bis zu den Füßen reichte, so daß der ganze Oberkörper entblößt war. In diesem Zustande ließen sie sich zur Erde fallen, daß ihre hingestreckten Körper einen weiten Ring bildeten. Jeder der Büßenden wollte nun mit seiner besonderen Lage die Sünde anzeigen, die er sich vorzuwerfen hatte. Der Meineidige legte sich auf die Seite und hob drei Finger zum Himmel auf; der Mörder schlug mit der Faust auf den Boden; der Dieb streckte die Hand aus, indem er sie auf- und zumachte; wer zu gut gelebt hatte, hielt den Mund offen. War einer ein Vollsäufer, so setzte er die Hand an den Mund, als ob er tränke; war er ein falscher Spieler, so machte er es mit der Hand, als wenn er Würfel darin hätte. So lagen sie alle da; und wenn auch der Anblick noch so sonderbar war. selbst dem leichtsinnigsten Spaßvogel fiel es nicht ein zu spotten. Nun schritt ihr Meister mit der Geißel in der Hand über sie weg. Er ging von einem zum andern, indem er jeden mit der Geißel schlug und zu ihm sagte:

Steh auf durch der reinen Marter Ehre
Und hüte Dich vor der Sünden mehre.

War einer mit der Geißel getroffen, so stand er auf. Nun folgte er dem Meister, ging mit ihm über die hinweg, die noch ausgestreckt dalagen und berührte sie mit der Geißel. Bis alle auf diese Weise zum Aufstehen aufgefordert waren, währte es eine geraume Zeit.

Hildegard, die nahe an den Kreis sich hergedrängt hatte, gab sich alle Mühe, den Bruder zu erkennen. Sie fand ihn nicht heraus. Jetzt begann die eigentliche Geißelung. Die Brüder, welche die schönsten und stärksten Stimmen hatten, traten in die Mitte des Kreises und sangen das Lied vor, in welches immer wieder bei gewissen Strophen die ganze Schar einstimmte.

Die Brüder hoben an:

Nun tretet her, wer büßen will!
Fliehn wir doch die heiße Höll!
Der Teufel ist ein böser Gesell,
Wen er habet, mit Pech er ihn labet.
Das fliehn wir, wenn wir haben Sinn.
Das hilf uns, Maria, Königin,
Daß wir deines Kindes Huld gewinn'.
Jesus Christ, der ward gefangen,
An ein Kreuz ward er gehangen.
Das Kreuz ward des Blutes rot.
Wir beklagen seine Marter und seinen Tod.
Da rufen wir, Herr, mit lautem Tone:
Unsern Dienst, den nimm zum Lohne!
Behüt uns vor der Hölle Not,
Das bitten wir dich durch deinen Tod.
Durch Gott vergießen wir unser Blut,
Das ist uns zu den Sünden gut.
Maria, Mutter, Königin,
Durch deines lieben Kindes Minn,
All' unsre Not sei dir geklagt,
Das hilf uns, Mutter, reine Magd.
Nun schlagt euch sehr
Durch Christus Ehr,
Durch Gott nun lasset die Sünde fahren.
So will sich Gott über uns erbarmen.
Jesus durch dein Namen drei,
Nun mach uns von Sünden frei.
Jesus, durch deine Wunden rot
Behüt uns vor dem jähen Tod. –
Lieber Herr, Sankt Michael,
Du bist ein Pfleger aller Seel;
Behüte uns vor der Hölle Not.
Das thu durch deines Schöpfers Tod.

Während dieses Gesangs gingen je zwei und zwei von den Brüdern um den Ring herum und geißelten sich mit den kantigen Riemen. Sie schlugen sich so heftig, daß das Blut von ihren Schultern herabfloß.

Schaudernd sah Hildegard die Paare vorüberziehen. Da naht sich ein ungleiches Paar, ein älterer kleiner Mann und ein hochaufgeschossener Jüngling. Wie mager der ist! Wie tritt das Schlüsselbein hervor, wie spitzig sind seine Ellbogen, wie furchtbar hart schlägt die Geißel auf den mageren, knochigen Rücken! Hildegard starrt die Gestalt an. Da schaut der Geißler auf. »Bruno! Bruno! laß ab, schone Dein!« ruft, alles andere vergessend, Hildegard laut hinaus. Der Angerufene – es war Bruno – schaut das Mädchen mit zornfunkelnden Augen an. Kein Geißelbruder soll mit einem Weibe reden.

»Was stört Ihr die heilige Bruderschaft!« rufen empört einige Zuschauer.

»Wer ist die Dirne, die es wagt, dies Sühnopfer zu unterbrechen? Jagt sie fort! Schlagt sie nieder! Sie sollte zu Tod gegeißelt werden. Hätte nur der junge fromme Bruder ihr die Geißel über das freche Maul geschlagen!« So schwirrt es durcheinander, und schon erheben sich Fäuste, die beweisen sollen, wie schwer es die Heilbronner erzürnt, wenn man sie in der Frömmigkeit stört.

»Ihr laßt meine Tochter in Frieden!« ruft Hartmut und tritt neben die zitternde Hildegard.

»Es ist der Hartmut und seine Tochter!« rufen andere. »Muß denn der immer uns in den Weg treten? Ihr seid nicht mehr Schultheiß. Macht daß Ihr heimkommt, Krämer!«

Hartmut zog seine Tochter aus dem Kreis der Zuschauer, er ging mit ihr von dem Treiben weg, das ihn mit Ekel erfüllte. Sein Sohn war für ihn nicht erst heute tot.

Auf dem Heimweg schwieg er. Erst als er durch den Thorbogen in sein Haus trat, sagte er, – und Hildegard glaubte, nie so viel Wehe aus ihres Vaters Worten herausgehört zu haben: »Ich gelte nichts mehr in Heilbronn.«

Hildegard aber ging in ihre Kammer, fiel auf die Kniee und betete unter vielen Thränen für ihren Bruder und für ihren Vater.

Draußen aber auf der Wiese ging das Geißeln weiter. Zum zweiten-, zum drittenmal zogen die Brüder im Kreise umher; lauter, andringender erschollen ihre Gesänge, heftiger fielen die Geißelhiebe; keiner war, dem nicht das Blut über das umgebundene Hemd zur Erde rieselte. Am heftigsten aber schlug sich der Jüngling, den das Mädchen angerufen hatte; er schlug sich, bis er zusammenbrach. Man trug den Ohnmächtigen in die Mitte des Kreises, wo er einige Zeit lag, bis ihn der Gesang des Bußliedes wieder zur Besinnung brachte. Wankend suchte er seinen Platz in der Reihe und wieder ließ er die Geißel auf seinen blutenden Rücken aufklatschen. Die Zuschauer schluchzten, wehklagten, vergaßen heiße Thränen.

»O, daß wir auch so fromm wären wie diese Brüder!« sagte Schuhmacher Eyrer, der beim Judenmord vorne dran gewesen war.

»Ich geh' morgen zur Bruderschaft,« sagte, indem ihm Thränen über die Wangen rollten, der Zimmermann Baier, der sich in den letzten Tagen oft gerühmt hatte, er habe des reichen Nathan Weib so sicher mit der Axt getroffen.

Im Kreise der Zuschauer aber gingen vornehme Herren aus alten Geschlechtern umher und sammelten Geld ein, damit von der Spende die Geißler Kerzen kaufen könnten und Fahnen. Die Geißelungen fanden ihr Ende. Die Geißler zogen alle ihre Kleider wieder an und stellten sich im Kreise auf.

Dann trat ihr Meister in den Ring und verkündete, er werde einen Brief vorlesen, den ein Engel vom Himmel gebracht und auf den Altar des heiligen Petrus zu Jerusalem niedergelegt habe. In dem Brief hieß es, Jesus Christus sei erzürnt über die Verderbtheit und über die Sünden der Menschen, namentlich über die Entweihung des Sonntags und über die Übertretung der Freitagsfasten, über die Laster des Geizes und des Ehebruchs. Darum habe er die Menschen mit allerlei Plagen heimgesucht. Er habe Erdbeben herabgeschickt, Überschwemmungen, Feuersbrünste, Mißwachs, Gewitterstürme, Hagel und Hungersnot. Da aber alle diese Trübsale ohne Erfolg geblieben, und nicht vermocht haben, die arge Menschheit zu ihm zurückzuführen, so habe er beschlossen, die Welt zu vernichten. Nun sei aber die heilige Jungfrau mit allen Cherubim und Seraphim fürbittend zu ihm getreten. Dadurch habe Jesus Christus sich erweichen lassen und wolle der Menschheit Verzeihung schenken, wenn sie sich anschicke, Buße zu thun. Aber nur denen lasse er seine Gnade und Barmherzigkeit angedeihen, die vierunddreißig Tage lang ihr Vaterland verlassen und sich geißeln.

O, wie lauschte die Menge diesem Brief des Engels, wie schmatzten viele vor Andacht; wie viele erwogen, ob sie nicht auch der Bruderschaft sich anschließen sollten! In wohlgeordnetem Zug kehrten die Geißler singend in die Stadt zurück und wurden von ihren Gastfreunden in die Häuser geleitet. Aber nicht alle Heilbronner hatten sich von der Frömmigkeit der Bruderschaft ergreifen lassen. Die Freunde des göttlichen Wortes blieben in der Stille in ihren Häusern.

Wieder andere machten es ganz anders. Ihnen hatte die Schreckenszeit die Angst vor dem Tod genommen. Sie warfen allen Glauben weg und alle fromme Scheu. Sie höhnten Gott und spotteten des ewigen Lebens. Durch die Todesfälle hatten manche ein Vermögen geerbt und wollten bei der Ungewißheit des morgenden Tags heute alles genießen. Zu ihnen gehörte Fritz Strulle, der Schenkwirt, genannt die »Kanne.« Bei ihm ging's immer hoch her, nie aber toller als am Tage, da die Geißler draußen auf der Wiese ihren Bußübungen oblagen. Er hatte Fiedler bestellt und gefällige Dirnen. So war denn sein Haus bald voll. Becher wurden geschwungen, man trank einander zu, die Pest ließen die Tollsten hoch leben, den schwarzen Tod lud man zum Gelage. Am ausgelassensten trieb es ein junger Knecht. Er hatte Tags zuvor die Übungen der Geißler in der Kirche gesehen und schlug nun vor, sie wollen Geißler werden. Er ließ die Frechen alle sich niederwerfen, sie thaten es mit den Bechern in der Hand, da klapperte es auch. Er sang nachäffend die Leisen. Dann aber sprangen sie auf, jeder suchte eine Dirne zu erwischen. Denen dies gelang, die wirbelten in tollem Tanze umher unter dem Gequicke der Fiedeln, die klatschten den Dirnen auf die entblößten Schultern.

Der junge Knecht, der den Unfug gestiftet, fällt plötzlich mit seiner Dirne zu Boden. Alles lacht. Die wilden Gesellen glauben, er wolle sich mit dem Mädchen hinwerfen, wie die Geißler sich hinwarfen. Das Mädchen steht wieder auf. Der Knecht nicht mehr. »Ihn hat der schwarze Tod geholt!« rufen etliche. »Was thut's!« schreit der angetrunkene Schenkwirt. »Hinaus mit ihm, wir machen weiter!«

Und wirklich, sie ziehen die Leiche an den Füßen hinaus in den Hof und werfen sie auf den Mist. Lauter quicken die Fiedeln, wilder wird der Tanz, die Burschen, die Dirnen glühen. Da stürzt auch das Mädchen zusammen, das der tote Knecht zuerst in seinen Armen gehalten. Noch zuckt sie; aber wieder brüllt Strulle, der Schenkwirt: »Was thut's! Hinaus mit ihr, zu ihrem Gesellen, da mag sie ihn wärmen!«

Keinem fällt es ein, zuzusehen, ob die Dirne wirklich tot ist. Auch sie wird von den Entmenschten hinausgeworfen. Und wieder fängt der wahnsinnige Tanz an. Den Fiedlern perlt der Schweiß auf der Stirne; in die Ecken taumeln einzelne Paare in wilder Umarmung. Den Fiedlern wollen die steifen Arme versagen. »Weiter gespielt!« befiehlt mit heiserer Stimme Strulle; aber im nächsten Augenblick liegt auch er am Boden.

Mit einem schneidenden Mißton brechen die Spielleute ab. Nun ist niemand mehr da, der dem schwarzen Tod weiter trotzen will. Einer nach dem andern verläßt die Schenke, die Fiedler entfliehen; Strulle, die Kanne, der tote Schenkwirt, liegt verlassen auf dem Tanzboden.

Das waren die letzten, plötzlich dahingerafften Opfer der Pest in Heilbronn. Zwar starben noch einige Wochen hindurch immer wieder einzelne Leute an den Folgen der gräßlichen Seuche, aber sie erlosch, und viele Heilbronner waren fest überzeugt davon, daß die Geißler mit ihren frommen Übungen und mit dem Vergießen ihres Blutes am meisten der Seuche gewehrt haben.

Am Morgen nach der Geißelung auf der Wiese an der Weinsberger Straße kam Herr Aff zu Hartmut und sagte ihm, Bruno liege in heißem Fieber darnieder in seinem Hause. »Ich habe keinen Sohn mehr«, gab Hartmut düster zur Antwort. – »Und Bruno will, wie es scheint, von seinem Vater und seiner Schwester nichts mehr wissen. Ich weiß ja nicht, was vorgekommen ist, aber als ich ihm sagte, ich wolle Euch holen, da fuhr er wie wütend auf in seinem Bett und schrie: Wollt Ihr nicht den Fluch haben in Eurem Hause, so lasset meinen Vater und meine Schwester draußen!«

»Bruno ist längst von Sinnen! Die da drüben, die haben ihn um seinen Verstand gebracht«, sagte Hartmut und machte mit dem Kopf eine leichte Bewegung in der Richtung gegen die Präsenz.

Hildegard kam dazu. Als sie hörte, wie es bei Bruno stehe, wollte sie augenblicklich mit Herrn Aff ans Lager des Kranken.

»Laß es,« sagte Hartmut, »es ist offenbar der letzte Liebesdienst, den wir ihm erweisen können, daß wir ihn nicht aufsuchen.«

»Der Meister der Brüder und etliche Geißler sind bei ihm,« fuhr Aff fort. »Der Meister sagte, der Jüngling habe sich gestern zu heftig gegeißelt. Seid überzeugt, er findet in unserem Hause die beste Verpflegung.«

»Gott erbarme sich des armen Bruders!« sagte Hildegard und dankte dem freundlichen Herrn Aff für alles, was er an dem Unglücklichen gethan habe. Dann aber, als dieser das Haus wieder verlassen hatte, kämpfte sie im Gebet einen heißen Kampf mit ihrem Gott. Es war ihr so dunkel, so schwer, daß ihr armer Bruder mit seinem tiefen, ernsten Gemüt in so düsterem Wahne sollte von hinnen scheiden. Denn daß er, der Zarte, die schrecklichen Zerfleischungen seines Leibes nicht aushalten werde, das sah Hildegard klar voraus. Schon am nächsten Tag kam die Botschaft aus dem Affschen Hause, daß Bruno verschieden sei.

Was Hartmut und seine Tochter von seinem Sterben erfuhren, sah diese als eine Erhörung ihres Gebets an. Der Kranke sei in seiner Bewußtlosigkeit immer ruhiger geworden; er müsse sehr schöne Träume gehabt haben; er habe oft gelächelt, habe auch einmal ganz freudig hinausgerufen: »Kirchherr, sie sind erlöst, aber denkt nur, nicht durch mich!«

Die feierliche Bestattung ihres Bruders ließen sich die Geißler nicht nehmen. Er war in den vierunddreißig Tagen gestorben, da er keinen Vater und keines Vaters Haus hatte, keine Schwester und keine Verwandtschaft, da für ihn auf der Welt nichts vorhanden war als die Bruderschaft. So trugen ihn denn die Brüder zu Grabe, auf offener Bahre, im Geißlergewand. Das blutige Hemd hatten sie ihm um die starren Glieder gelegt, in die bleichen Hände war ihm noch einmal die Geißel gedrückt, mit welcher er sich totwund geschlagen. Der Zug kam an der Kilianskirche vorbei. Oben am nördlichen Chorturm stellten sie die Bahre ab und sangen ihre Leisen. Hildegard stand am Fenster, das unmittelbar über dem Pardeltier war, und schaute hinüber; die Thränen ließen ihr alles flimmernd erscheinen. Sie sandte den letzten Gruß dem Bruder nach in der Gewißheit, daß auch er sie jetzt verstehe, wenn ihm durch Gottes Gnade das ewige Licht leuchte. Hartmut aber hatte sich in seiner Kammer eingeschlossen. Mit aufgehobenen geballten Fäusten tobte er gegen sein Geschick.

Am Grabe las der Meister der Geißler den Brief des Engels noch einmal vor, und mehr als an irgend einem Tage während der ganzen Pestzeit flossen Thränen beim Begräbnis des Jünglings, der für die Seinigen sich hatte opfern wollen.


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