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Man hatte Öllampen und Kerzen in den Saal bringen müssen, der keinerlei Anlagen für künstliche Beleuchtung besaß. Schattenhaft erschienen die Richter und der Staatsanwalt in ihren schwarzen Talaren hinter dem Tisch, und nur wie helle Flecke leuchteten die Gesichter der Rechtsanwälte und ihrer Klienten vor der Barre in dem weiten Raum auf. Die Luft aber war voller Spannung nach dem erregten Hin und Her des Prozesses, der nun unvorhergesehenerweise vom Mittag an bis in diese späte Stunde verhandelt worden war. Als der Gerichtshof sich zur Beratung zurückzog, wurde kein Wort im Saale laut. Beide Anwälte saßen über ihre Akten gebückt. Die Dame auf der einen Seite sah mit einem rätselhaften Ausdruck, der ebensowohl Ergebung wie Befriedigung ausdrücken konnte, vor sich hin.
Nach wenigen Minuten erschienen die Richter wieder, und der Vorsitzende verkündete, daß die Ehe des Kaufmanns Wilhelm Herold und seiner Ehefrau Maria, geborenen Christoleit, geschieden sei. Die Frau war für den schuldigen Teil erklärt, das Kind ausdrücklich dem Manne zugesprochen worden.
Niemand achtete auf das, was der Direktor noch weiter sagte, denn die Dame war unmittelbar nach der Verkündigung ohnmächtig umgesunken, kaum daß ihr Advokat sie vor dem Fall auf den Erdboden bewahren konnte.
Zehn Minuten später war der Saal leer. Auf dem spärlich erhellten Gang zur Treppe führte der Justizrat Frau Herold, die sich schwer auf seinen Arm stützte.
Nach wenigen Schritten überholte ein elegant gekleideter Herr das Paar, wandte sich und blieb mit einer Verbeugung stehen. Der Anwalt wollte sich zurückziehen, 92 deutete aber durch eine Bewegung an, daß er die Dame im Augenblick nicht gut allein lassen könne.
Der Herr aber hatte bereits durch eine wehrende Geste abgelehnt und sagte nun:
»Bitte, Herr Justizrat, bleiben Sie; es ist mir sogar lieb, wenn Sie zuhören. – Maria, ich überlasse dir Arthur noch auf drei Jahre, und es bedarf darüber keiner weiteren Abmachung. Ich verreise noch morgen. Du kannst das Kind gleich behalten . . .«
Ein Lüften des Hutes, eine tiefe Verbeugung vor der Frau, eine leichtere vor dem Justizrat, und Wilhelm Herold war bereits nach der Treppe abgebogen und in dem weiten Gebäude verschwunden.
Unschlüssig und betroffen stand der Rechtsanwalt noch, als Frau Maria aus ihrem halbwachen Zustand zu sich kam, und mit einem Schluchzen, durch das verhaltner Jubel klang, die Hände vors Gesicht schlug. Beweglich und leichtfüßig eilte sie dann ihrem Rechtsbeistand voraus, die Treppe hinab bis vor das Haus. Auf der Straße herrschte trübes Licht, auf dem schlüpfrigen Pflaster bewegten sich viele Menschen, sie aber spähte unablässig ins Dunkle, bis sie an der nächsten Laterne einen jungen Mann erkannte, auf den sie nun ohne weiteres zuging. Und ohne sich um den ihr folgenden Justizrat oder andre Leute zu kümmern, schlang sie jenem die Arme um den Hals und legte mit einer rührenden Bewegung ihr Haupt an seine Schulter, daß ein paar blonde Haare, die sich gelöst hatten, im Schein der Laterne auf seinen dunklen Überzieher fielen.
»Erich, die Scheidung ist ausgesprochen, und ich darf Arthur behalten.« 93
Die Arme, mit denen der junge Mann die schöne Frau fest umschlossen hatte, lockerten sich, für sie unmerklich, ein wenig, und auch der leichte Schatten, der, von dem Anwalt wohl wahrgenommen, über sein Gesicht lief, mußte der Frau entgehen.
»Gott sei Dank,« sagte Erich Zeise.
Er flüsterte Frau Maria ein paar beruhigende Worte ins Ohr, schob sie sanft etwas zurück, legte ihren Arm in den seinen und führte sie, nachdem er jetzt erst den Justizrat begrüßt hatte, die Straße entlang; leise teilte ihm der Anwalt einige Einzelheiten der Gerichtsverhandlung mit, Frau Maria schwieg. An der Ecke rief Erich eine Droschke an, das Paar verabschiedete sich und fuhr davon.
Nach einer stummen Fahrt gelangten die beiden vor ein großes Haus in einem lichteren Viertel der Stadt. Jetzt erst fand Frau Maria wieder ihre volle Beweglichkeit. Während Erich den Kutscher bezahlte, lief sie die Treppe hinauf, schellte oben und riß einen achtjährigen Knaben, der ihr mit dem Dienstmädchen die Tür öffnete, stürmisch an sich, bedeckte sein Antlitz mit Küssen und streichelte immer wieder sein Haar, das dem ihren glich.
So fand sie Erich, und wieder glitt jener Schatten über seine Züge.
Aber seine Lippen ließen nicht laut werden, was er dachte, und als Frau Maria auch ihn umschlang, da zog er sie an sich und küßte sie.
Ein Jahr darauf wurden Erich Zeise und Maria Mann und Frau. Sie wohnten in einer andern Stadt, fern der einstigen Heimat. Ihr grünumbuschtes Haus barg schwer erkämpftes, aber rein erhaltenes Glück. 94
Nie empfanden sie es voller, als wenn abends nach des Tages Tätigkeit und Hast die Stille ganz bei ihnen eingekehrt war und sie beim Kamin die Scheite sich verzehren sahen, während sie Hand in Hand oder einander gegenüber saßen und sich mehr noch als sonst ineinander dachten. Nie sprachen sie von der Vergangenheit, nie auch von der Zukunft. Sie glaubten an ihr Recht, so schwer errungnen Frieden ganz im Genuß der Gegenwart zu erleben.
Nie aber erloschen die Lampen im Haus, bevor Frau Maria einen Blick in das Zimmer des Sohnes geworfen und nach seinem Bette gesehen hatte. Und wenn Erich so etwas wie eine scherzhafte Eifersucht hierüber äußerte, merkte er an Marias ernstem Ausdruck, daß hierüber scherzen zu hören ihr nicht lieb war.
Einmal in jedem Monat sah Wilhelm Herold seinen Sohn. Er kam gewöhnlich dazu nach der andern Stadt herüber, verlangte nur selten, daß ihm das Kind zugeführt wurde, und richtete es dann auch immer so ein, daß eine persönliche Begegnung zwischen ihm und seiner früheren Gattin vermieden oder, wenn sie unumgänglich war, auf einen stummen Gruß beschränkt werden konnte.
Jedesmal empfand Maria dann eine Erleichterung, fühlte gern den guten Takt, den Wilhelm zeigte, und auch Erich hatte dann die ruhigsten Stunden im endlich erkämpften Gleichmaß dieser Tage.
Erich und Maria hatten keine Kinder miteinander. Ihm war es leid. Ihr war es lieb. So offen sie gegeneinander waren – hierüber sprachen sie sich niemals aus, und doch wußte jeder um des andern Herzensmeinung mit Gewißheit Bescheid. 95
Erich hoffte: Wenn sie ein Kind von mir hat, wird ihre Zärtlichkeit, ihr mütterliches Bangen um Arthur geringer werden. Sie wird sich ganz zu mir und meinem Kinde herüberfinden.
Maria wieder fühlte: Wenn ich ein Kind von Erich habe, werde ich noch mehr Herzensunruhe empfinden. Dann muß ich zwischen allen dreien leben. –
Das zweite Jahr der neuen Ehe, das dritte seit Marias Scheidung ging zu Ende.
Erich empfand von Tag zu Tag deutlicher eine Veränderung im Wesen seiner Frau, ein zitterndes Ahnen, ein instinktives Beben vor einer Entscheidung.
Vergeblich versuchte er mit Worten sie auf das Unabwendbare vorzubereiten, selbst im Tiefsten unschlüssig, was er wünschen, was er fürchten sollte.
Ging Arthur fort, dann hatte er die geliebte Frau für sich allein, zum ersten Male ganz allein; aber würde (so fragte er jetzt, was zu fragen ihm vor drei Jahren unmöglich erschienen wäre), würde seine Liebe sie ganz hinwegbringen können über die Trennung von dem Kinde?
Und blieb Arthur – denn daß Maria schließlich bis zu einer Bitte an ihren ersten Gatten gehen würde, wußte er genau, obwohl sie es nie gesagt hatte – dann war ihre Seele sicherlich wieder ruhiger, aber sein Friede doch nicht voll, so sehr er der Frau das vollste Glück gönnte. Und war denn dieser unsichere Besitz ein ganzes Glück, dieser auf Termin gestellte Zusammenhang, den Recht und Wunsch eines dritten immer wieder lösen konnten? –
Wilhelm hatte in seinem letzten Brief vermieden, von der Übergabe ausdrücklich zu sprechen. Er hatte nur die nächste Zusammenkunft nach seinem Wohnort anberaumt. 96
Erich begleitete seine Frau und den Stiefsohn auf der Fahrt dorthin und nahm am Bahnhof Abschied, die gemeinsame Rückfahrt mit Maria für einen Abendzug verabredend. Die scheinbar unerschütterliche Gefaßtheit, mit der Maria ihn verließ, täuschte ihn nicht. Er las hinter den entschlossenen Zügen ihr ganzes Weh und sah ihre flatternden Zweifel.
Maria fuhr in den Gasthof, den Wilhelm ihr, wie immer, bestimmt hatte.
In dem Salon, den der Kellner öffnete, kam Wilhelm Herold ihr entgegen, und ein paar Schritte zurück stand der Justizrat, der einst für sie den Scheidungsprozeß geführt hatte.
Und ehe sie noch zur Besinnung gekommen war, hatte Wilhelm den Knaben geküßt, ihr eine Verbeugung gemacht und war mit Arthur im Nebenzimmer verschwunden. Der Justizrat aber sagte nach kurzer Begrüßung:
»Gnädige Frau, ich bin beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß Herr Herold Ihnen den Knaben für weitere drei Jahre überläßt.«
Maria atmete hoch auf, zum erstenmal heute kam Farbe in ihre Wangen; sie dankte dem Justizrat, und nachdem einige Minuten ein unsicheres Schweigen geherrscht hatte, sprang ihr die Frage über die Lippen:
»Und dann?«
Der Justizrat verbeugte sich.
»Zu weitern Mitteilungen bin ich nicht ermächtigt, ich kenne auch die weiteren Absichten Herrn Herolds nicht.«
Die Tür zum Nebenzimmer ging auf. Wilhelm Herold erschien wieder, sagte sehr artig zu Frau Maria: 97
»Ich bitte, Arthur um sieben Uhr abzuholen,« und trat wieder zurück.
Maria verabschiedete sich hastig und verließ das Haus.
Kurz nach sieben ging Erich in ungeduldiger Erwartung vor dem Bahnhof auf und ab. Er spähte in jede Droschke, hielt im ersten Augenblick jede sich nähernde Dame von ähnlicher Gestalt für seine Frau und war dann doch überrascht, als sie plötzlich, Arthur an der Hand, vor ihm stand, ihn anfaßte und, während sie seine Hände heftig an sich drückte, ihm zuflüsterte:
»Noch drei Jahre.« –
Noch nie meinte Erich in so ganz befriedetem Einverständnis, in solch' unverrückbarer gegenseitiger Einigkeit mit Maria gelebt zu haben, wie in dem Jahre, das nun folgte. Und um so jäher empfand er den Umschwung, als dann Monat auf Monat abrollte und sie der abermaligen und, wie sie beide es ohne Aussprache glaubten, endgültigen Trennung von dem Knaben näher brachte.
Es war fast dasselbe wie vor drei Jahren. Der Abschied am Bahnhof, bei dem freilich Marias Erregung dem Gatten noch herzbeklemmender erschien, als damals, die Fahrt zum Hotel, die kurze Begrüßung mit Wilhelm, und fast mit denselben Worten auch teilte der Justizrat mit, daß Herr Herold wiederum den jetzt vierzehnjährigen Knaben, diesmal aber nur auf ein Jahr, Frau Zeise überlassen wolle.
Nur das Zusammentreffen des Ehepaares am Abend war denn doch ganz anders als vor drei Jahren.
Frau Maria wehrte kaum den Tränen, in Erich aber wuchs, während sie ihrer Heimat zufuhren, ein Entschluß, den er je länger je mehr als notwendig empfand. 98
Wenige Tage darauf kündigte er Maria eine kurze Reise an und fuhr morgens die bekannte Strecke.
Gegen Mittag stand Erich, angemeldet und erwartet, vor Wilhelm Herold. Nach einer Begrüßung von eisiger Höflichkeit fand Erich nicht gleich das rechte Wort, so lange er sich auch auf diese Stunde vorbereitet hatte. Er mußte Herold genauer betrachten und gestand sich im Stillen, nicht ohne Schuldgefühl, daß in den Zügen des andern, so straff er sich hielt, eine gewisse Müdigkeit und ein vorzeitiges Altern unverkennbar waren.
Herold räusperte sich, und Erich begann:
»Herr Herold! Sie selbst werden ebenso gut wie ich meinen Besuch als etwas sehr Überraschendes empfunden haben, und ich will gleich sagen, daß nur schwere Sorge mich zu diesem sehr peinlichen Schritt getrieben hat.«
Wilhelm Herold nickte, sein Gesicht blieb undurchdringlich.
»Lassen Sie mich kurz sein. Warum haben Sie Frau Maria – Erich verbesserte sich im Gefühl, keine Feigheit begehen zu wollen – meiner Frau Arthur nicht, wie es Ihr Recht war, gleich nach der Scheidung entzogen? Warum haben Sie ihn ihr zweimal, und das letzte Mal auf so kurze Frist, wieder überlassen? Maria –.«
Erich kam nicht weiter.
Fast unmerklich hatte Wilhelm die Hand erhoben und fiel ihm mit leiser, aber jede Silbe hart betonender Stimme ins Wort:
»Bitte, ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich kenne Frau Maria Zeise genügend.«
Nun wurde Erich lebhaft.
»Wenn Sie alles wissen, was Sie ihr getan haben, 99 warum dieses qualvolle Hinziehen? Warum nicht lieber ein Ende so oder so?«
Wilhelm kniff die Augen einen Augenblick zusammen, warf ein Papiermesser, das er achtlos aufgenommen hatte, hart auf den Tisch und erwiderte:
»Darüber brauche ich Ihnen keine Auskunft zu geben.«
Erich bemühte sich ruhig zu bleiben. Er legte einen fast weichen Ton in die Gegenfrage:
»Gewiß, Sie brauchen nicht. Aber wollen Sie mir die Antwort nicht doch geben und mir Ihren Entschluß für die Zukunft heute schon sagen?«
Wilhelm sagte völlig ruhig und mit demselben leisen, bestimmten Tone:
»Nein, ich will nicht.«
Erich Zeise war aufgesprungen.
»Herr Herold –.«
Ruhig hatte sich auch Wilhelm Herold erhoben.
»Herr Zeise!«
Die beiden Männer standen sich gegenüber. Der ältere, trotz aller innern Bewegung, von der nur die Augen sprachen, äußerlich gefaßt; der jüngere in einem Aufruhr der ganzen Erscheinung. Dann aber ging es wie ein Knick durch Erich, im nächsten Augenblick hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, während Wilhelm noch, die Augen auf die Pforte gerichtet, an der alten Stelle stand. –
Und an derselben Stelle stand er einen Tag vor dem festgesetzten Zeitpunkt der Übergabe Arthurs und ihm gegenüber Maria, hochaufgerichtet, das bleiche Gesicht mit zwei roten Flecken auf den Wangen ihm voll zugewendet.
»Und ich frage dich noch einmal, Wilhelm, warum hast du mir das getan, warum hast du mir Monate, Jahre 100 meines Lebens zerstört, wenn du mir Arthur doch jetzt wieder lassen willst, warum hast du ihn mir nicht gleich gegeben und für immer?«
Wilhelm maß sie mit einem unverständlichen Blick.
»Warum, fragst du! Glaubst du, ich hinge nicht an dem Jungen (seine Stimme fing an zu zittern), ebenso sehr wie du, und wenn ich ihn schon zu seinem Besten hergeben mußte, weil er seine Mutter brauchte, weil er mein Leben nicht teilen sollte, mein einsames Leben –,« der Mann sprach nicht aus, er wandte sich ab und sah lange zum Fenster hinaus. Wie irr, als ob sie noch nie Geahntes schaute, sah Maria nach ihm hin. Dann hob sie beide Arme und ließ sie mit der Gebärde fassungslos stummer Verzweiflung wieder fallen.
Wilhelm Herold wandte sich, sein Antlitz war ruhig.
»Das eine wollte ich haben, meine Rache! Mich hast du zerstört. Du hast dem nicht nachgefragt, was aus mir geworden ist, seit du mich verlassen hast. Und wenn ich dir da das letzte, das größte Opfer bringen mußte, dann wollte ich wenigstens, daß du fühltest, einmal fühltest, was ich so lang in mir vergraben habe. Es war meine Rache, es war, wenn du willst, mein Gericht.«
Noch hatte sich dem Munde der Frau kein Wort entrungen, und da sie eben anhub zu reden, fiel ihr Wilhelm Herold nochmals ein:
»Du meinst, das Gericht wäre nicht mein. Das geb' ich dir zu, aber wenn du die ewige Satzung, an die du mich mahnen willst, nicht gehalten und mir die Treue gebrochen hast, so darfst du mich nicht verurteilen, daß ich auch einmal an dein Gewissen klopfen wollte. Es lag in deiner Hand, es zu ändern. An jedem frühern Tag, an 101 dem du zu mir gekommen wärst, wie heute, als eine Bekennende – Maria nickte schwer – hätte ich dir gesagt, was ich dir jetzt sage: ›Geh und behalte mein Kind‹.«
Ein schriller Schrei löste sich von Marias Lippen:
»Wilhelm!«
Es zuckte in dem Manne, der Schwankenden zu Hilfe zu eilen. Aber ruhig bezwang er sich und zwang sie zur Ruhe. Eine Verbeugung von ihm, ein schweres Neigen des Hauptes von ihr, die Tür schlug zu, und Wilhelm Herold war wieder allein.