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Die Ebene lag in bläulichem Schneelicht weithin unbegrenzt da. Die schlecht gehaltene Landstraße von der Stadt zu dem mehrere Werst entfernten Bahnhof war die einzige belebte Linie in dem ruhigen großen Bilde. Plötzlich glänzten in dem grauen Bahnhofsgebäude die elektrischen Lampen auf. Und fast, wie wenn von unsichtbarer Hand ein riesiger schwarzer Mantel herabgeworfen würde, hüllte sich die eben noch im letzten Dämmerlichte matt glänzende Fläche in ein undurchdringliches Dunkel.
Auf dem Bahnhof wurde es immer lebhafter. Die Schenktische in den Wartesälen wurden frisch besetzt, die dampfenden Teemaschinen hereingetragen, die Bauern mit ihren Weibern, die noch eben vor dem bunten Heiligenbilde über dem Altar in der weiten Vorhalle gelegen hatten, rafften Sack und Pack zusammen und gingen in ihren hohen Filzstiefeln, an denen der aufgetaute Schnee herniederrann, dem Bahnsteige zu.
Der Ausrufer erschien in den Wartesälen und meldete die Ankunft des Schnellzuges, der von Poltawa nach Rostow am Don die Station passiert.
Der Zug lief ein. Es war ein geschäftiges Hin und Her aus den warmen Wagen in die Speisesäle und wieder zurück. Es hatte längst zum Einsteigen geläutet, als verspätet auf einem andern Geleis der Schnellzug einlief, der gerade von Norden nach Süden, von Charkow nach der Krim läuft. Im selben Augenblick, wo der Zug hielt, entstieg ein junger Mann in Eile einem der Wagen erster Klasse, warf seine Gepäckstücke eines nach dem andern zwei Trägern zu und strebte, so schnell es der ihn umwallende Pelz zuließ, dem ersten Zuge zu, indem er schon von weitem 4 winkte und rief, daß er nach Rostow mitfahren wolle. Der ungewohnte Vorgang erregte einiges Aufsehen, alle Fenster beider Züge waren voller neugieriger Gesichter, und auch auf dem Bahnsteig betrachtete sich mancher mit unverhohlenem Staunen den eiligen Reisenden.
Den schien alles wenig zu stören. Er sprang in die erste beste offene Wagentüre, ließ sich sein Gepäck nachreichen und warf den Trägern ein paar Münzen zu, während der Bahnhofsvorstand schon das Zeichen zur Abfahrt gab und der Zug sich in Bewegung setzte.
»Diese komischen Deutschen,« sagte der Beamte zu einem Kollegen, »ein Russe würde ruhig mit dem regelmäßigen Zuge von Charkow nach Rostow fahren und dieser läuft und läuft, um nur sechs Stunden früher da zu sein. Als ob daran etwas läge!«
Der junge Mann, dem der Russe die deutsche Abkunft in den wenigen Augenblicken richtig vom Antlitz gelesen hatte, suchte sich ein noch unbenutztes Abteil, in dem er mit Hilfe des Schaffners seine Habe unterbrachte. Er setzte sich behaglich auf dem Polster zurecht, steckte sich eine Zigarre an und befestigte den Taschenleuchter an dem Tischchen vor dem Fenster. Dann zog er ein Buch aus einer Handtasche und las, bis ihn ein häufigeres unwillkürliches Senken der Lider darüber belehrte, daß es allgemach spät geworden sei. Er rief nach dem Schaffner, ließ die Rückenlehnen aufklappen und sich auf dem Sitz ein Bett aufschlagen. Wenige Minuten später war er fest eingeschlafen.
Gegen zehn Uhr morgens fuhr der Zug in Rostow ein. Eine schmutzige Droschke trug den jungen Deutschen nach der Großen Gartenstraße und vor das Grand-Hotel. 5 Er erbat und erhielt ein Zimmer, dessen Kleinheit und Unwohnlichkeit ihm unangenehm auffielen. Pförtner und Wirt bedauerten, heute kein besseres zu haben und versprachen Umquartierung für den nächsten Tag. Der Reisende ließ es gut sein und trat eine halbe Stunde später wieder auf die Straße hinaus. Erst jetzt, da die Erschöpfung der langen Fahrt ganz von ihm gewichen war, merkte er mit Erstaunen, daß hier der Winter noch nicht eingekehrt war. Weich und mild umfing ihn die Luft, obwohl man sich schon im deutschen November befand. Die Bäume trugen noch buntes Laub, auf den Bänken längs der Straße und in dem schönen Stadtgarten saßen Männer und Frauen in bunten Trachten, überall wurde Obst feilgehalten, und auf dem ganzen Bilde ruhte eine Heiterkeit, wie sie Friedrich Neugebaur in Rußland noch nicht begegnet war. Als ob man in Marseille wäre, dachte er bei sich, indes alte Bilder früherer Fahrten in ihm emporstiegen.
Die Geschäfte, die Friedrich hergeführt hatten, waren nicht so rasch zu erledigen, obwohl die Handelshäuser, die er besuchte, ihre Räume alle ganz nahe beinander in der Großen Gartenstraße und ihren Parallelen hatten. So mußte er sich, da er abends nach dem Essen wieder auf seinem Zimmer saß, auf ein längeres, wenigstens noch zwei, drei Tage währendes Verweilen hier gefaßt machen, nicht eben ohne Seufzen. Denn nachdem die erste, fast rauschartige Stimmung verflogen war, empfand Friedrich wieder mit der Öde des unwirtlichen, schlecht eingerichteten Raumes die Einsamkeit solcher Abende, wie er ihrer nun auf dieser langen Reise schon so viele erlebt hatte. Einladungen, wie sie ihm auch hier zuteil geworden waren, 6 lehnte er ab, wo das geschäftliche Interesse die Annahme nicht unbedingt nötig machte, denn sie führten meist in recht fragliche Singspielhallen und zu ungezählten Gläsern Schnaps, wenn nicht zu lärmenden Vergnügungen niederer Art. Die Bücher aber, deren Bestand unterwegs bei deutschen Buchhändlern immer wieder ergänzt wurde, konnten allein auch nicht das Heimweh und die Einsamkeit in der Fremde überwinden.
So hatte Friedrich Neugebaur den Tagesbericht an das väterliche Handelshaus beendet und saß ziemlich trübselig vor dem alten Schreibtisch, auf dessen verschlissener grüner Tuchdecke der Brief noch lag. Friedrich spielte gedankenlos mit seinem Taschenmesser und empfand schließlich die kindliche Lust, seinen Namen in den Tisch einzuschneiden. Er hatte wirklich schon die ersten Buchstaben ziemlich kunstvoll hineingeritzt, als er sich lächelnd seines Tuns erst recht bewußt ward und das Messer wieder hinlegte. Seine Augen aber hafteten noch an der zerschnittenen Stelle. Schließlich, da seine Gedanken immer noch kein festes Ziel fanden, griff er wieder zu dem Messer, vollendete den Namen und setzte noch den Tag, 8. November 1905, darunter. Wie er den Schnörkel der Fünf auszog, fiel sein Blick auf einige Zeichen, die rechts neben den seinen standen. Ohne sich darüber klar zu werden, was ihm an diesen aufstieß, beugte er sich doch mit einem plötzlich erwachenden Interesse nach rechts hinüber. In der nächsten Sekunde entglitt das Messer seiner Hand und fiel leicht aufschlagend zu Boden.
Als ob er seinen Augen nicht traute, fuhr Friedrich zurück, freilich nur, um sogleich wieder jene Inschrift fest zu betrachten, deren Entzifferung ihm wie instinktiv längst 7 geglückt war. Sie lautete: Georg Neugebaur, 8. November 1885.
Georg Neugebaur! Es gab sicherlich nur sehr wenige dieses Namens, noch wenigere, die jemals nach Rostow am Don gekommen waren. Wenn aber Friedrich noch hätte zweifeln können, daß er hier die Handschrift seines Vaters vor sich hatte, so belehrte ihn darüber eine noch in der Steifheit der eingeschnittenen Lettern unverkennbare Besonderheit: Sein Vater verband das letzte und das erste G seines Vornamens durch eine grade Linie zwischen den beiden Schleifen. Dieser Strich war auch hier deutlich gezogen. Es war kein Zweifel möglich, der Vater hatte vor genau zwanzig Jahren an diesem Tisch gesessen, vielleicht in gleicher Öde und mit gleichem Heimweh.
Aber schreckhaft fast fiel es Friedrich auf die Seele, daß der Vater ihm nie von dieser Stadt gesprochen, ja, daß er ihm vor der Reise auf eine Frage gesagt hatte: Von Rostow weiß ich nichts. Friedrich hatte dessen nicht sonderlich acht gehabt, denn warum sollte der Vater alle russischen Städte kennen, die der Sohn, zum erstenmal in diesem Jahre, bereiste? Nun aber fiel dem Nachsinnenden auf, daß der Vater ja nicht gesagt hatte, er wäre nie in Rostow gewesen, sondern er wisse nichts davon, was bei einiger Deutung schließlich auch heißen konnte, er wolle nichts davon wissen.
Welchen Grund aber sollte der Vater hierzu haben? Daß er größere Verluste an Geschäften mit Rostower Kunden erlitten habe, war Friedrich nie zu Ohren gekommen. Wenn er auch erst seit seinem achtzehnten Jahre, also immerhin sieben Jahre im Geschäft tätig war, so würde er über solche Vorkommnisse doch einmal gelegentlich von 8 einem der älteren Angestellten des Hauses etwas erfahren haben. Friedrich lachte. Man merkt, dachte er, daß ich nichts zu tun habe und mich bange, sonst käme ich nicht auf alle möglichen Gedanken. Der Schreibtisch kann übrigens, so ging seine Überlegung weiter, von dem Wirt des Gasthofes irgendwo anders gekauft und hierher gestellt worden sein.
Angeregt und munter geworden, ging Friedrich die schmale Stube ein paarmal auf und ab, warf durch die halb offne Balkontür einen Blick auf die schon ruhig gewordene Straße und sank nach wenigen Minuten wieder in den Schreibsessel, jetzt bereit, ein Buch vorzunehmen. Da fiel ihm wieder die väterliche Inschrift in die Augen, aber er bemerkte jetzt noch etwas Besonderes. Um die Inschrift war ein etwas schief verlaufener Kreis gezogen, und dieser umschloß nicht nur jenen Namen und jenes Datum, sondern noch ein paar andere Worte. Diese waren offenbar mit einem feineren Messer und von einer schwächeren Hand eingeritzt worden, denn Friedrich konnte sie erst entziffern, als er zu der Lampe auch ein Licht vom Bett geholt und sich kauernd vor dem Tische niedergelassen hatte.
Jetzt las er: Elisa, und darunter: pour toujours!
Friedrich konnte ein merkwürdiges Gefühl nicht überwinden, das ihn immer wieder zu dem Rätsel dieser Inschrift zurückzog. Denn ein Rätsel war sie ihm. Der Name Elisa war noch nie in sein Ohr gedrungen, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit dem seines Vaters.
Aber da langes Rätseln nicht seine Art war, hatte er sich schnell eine harmlose Erklärung zurechtgemacht, öffnete den Brief noch einmal, und schrieb auf seine Karte, die er in einen besondern, kleinen Umschlag tat, folgendes: 9
Lieber Vater!
Eben entdecke ich, daß Du schon vor mir, wenn nicht in diesem Zimmer, so doch an diesem Schreibtisch gesessen hast und zwar genau vor zwanzig Jahren. Unter Deinem Namen hat sich dann noch eine Dame verewigt, nach der Unterschrift zu schließen, eine Französin, die sich wahrscheinlich einen kleinen Scherz leisten wollte. Er unterhält Dich vielleicht noch heute. Nochmals herzliche Grüße an Dich und das ganze Haus.
Dein Friedrich.
Er steckte den kleinen Umschlag in den großen, schloß den Brief, trug ihn selbst zur Post und kehrte, leichter gestimmt nach einem Gang durch die milde Nachtluft, wieder in das Zimmer zurück, das ihm jetzt nicht mehr so einsam schien. –
Fünf Tage darauf betrat Friedrich Neugebaur nach einem Geschäftsgang den Russischen Hof in Ssaratow. Der deutsche Portier überreichte ihm ein Telegramm. Friedrich öffnete und fand die Worte: Drahte mir sofort Namen unter dem meinen in Rostow Grand-Hotel. Vater.
Friedrich mußte erst nachdenken, was der Vater mit diesem Wunsch eigentlich meine. Dann fiel ihm jene Inschrift auf dem Schreibtisch ein und er erwiderte die Depesche sofort: Elisa. Gruß Friedrich.
Am Abend erreichte ihn folgendes Telegramm: Bitte dich Woronesch reisen dort Zentral-Hotel meinen Brief abwarten.
Friedrich war es gewohnt, geschäftlichen Anordnungen seines Vaters, und an etwas anderes dachte er auch jetzt 10 kaum, ohne Verzug zu folgen. Und so änderte er den Weg – er hatte die Wolga mit dem Dampfer nach Norden hinabfahren wollen – und fuhr am nächsten Tage nach Woronesch hinüber. Der Brief des Vaters konnte erst ein, zwei Tage nach ihm eintreffen, und so ging er in den breiten Straßen der Stadt spazieren, sah von den hohen Ufern auf den trägen Woroneschfluß hinab und freute sich, in der einzigen Konditorei des Orts wenigstens deutsche Zeitungen vorzufinden. Geschäfte hatte er hier einstweilen keine und war schon im Begriff, den väterlichen Wunsch unverständlich zu finden, als der erwartete Brief kam. Es war ein klarer Winternachmittag, Frost ohne Schnee. Vor seinem Fenster auf der entlaubten Promenade fuhren langsam ein paar Droschken mit elenden Pferden hin und her, viele Soldaten und andere Uniformierte, Beamte, Schüler, Popen, gingen in der hellen Stunde auf und ab, dazwischen Bauern in ihren langen Röcken mit ungefügen Mützen auf den struppigen Köpfen.
Friedrich tat noch einen Blick in dies ihm durch die letzten Wochen schon gewohnt gewordne Bild einer russischen Stadt und öffnete dann den Brief des Vaters.
Danzig, den 13. November 1905.
Mein lieber Sohn!
Du wirst erstaunt über meine Bitte gewesen sein, Dich nach Woronesch zu begeben, wo geschäftliche Verbindungen für uns nicht bestehen und auch nicht anzuknüpfen sind, noch erstaunter vielleicht über meine Depesche. Und am meisten überrascht bist Du vielleicht, wenn Du hörst, daß Dein Vater Dir einmal mit vollem 11 Bewußtsein die Unwahrheit gesagt hat. Es war kein Zufall und kein hingeworfenes Wort, als ich auf Deine Frage nach Rostow erwiderte: von Rostow weiß ich nichts. Es war vielmehr eine wohlüberlegte Unwahrheit (ich wiederhole es).
Nun aber sehe ich, daß ich von Rostow etwas wissen muß, daß jenes geheimnisvolle Band, das mich einmal mit dieser Stadt verknüpfte, noch nicht zerrissen und verbrannt ist, wie ich es viele Jahre hindurch geglaubt habe. Und ich werde der Schickung nicht ausweichen, die Dich, mein jüngstes Kind, an denselben Platz geführt hat, an dem ich vor zwanzig Jahren gesessen habe.
Vor zwanzig Jahren war ich, wie Du leicht ausrechnen kannst, fünfunddreißig, Deine geliebte Mutter war drei Jahre lang tot. Ich hatte ihren Verlust nicht verwunden, auch nicht verwinden wollen. Damals erfüllten mich die Reisen, zu denen unser Geschäft mich nötigte, geradezu mit einem Grauen, entfernten sie mich doch von dem einzigen Segen, der mir geblieben war, von Euch Kindern. Als ein einsamer Mann, in dem immer wieder alle Wunden aufbrachen, fuhr ich damals Jahr um Jahr tief nach Rußland hinein, mit der Bahn so weit es ging, dann oft auf dem Schlitten oder der Telega bis tief in Gegenden, die ein deutscher Kaufmann damals selten betrat.
Im Jahre 1885 (ich erinnere mich alles dessen so deutlich, als ob es heute wäre) hatte Südrußland einen Oktober von unerhörter Schönheit. Noch nie hatte ich so oft diese Gegend mit Italien vergleichen 12 müssen, wie damals. Am 23. Oktober unsres Stils besuchte ich eine Fabrik im Taurischen Gouvernement, die einem belgischen Konsortium gehörte. Die Firma interessiert Dich nicht, sie ist wohl inzwischen eingegangen. Die Fabrik lag fünf Stunden von der nächsten Bahnstation, jeder Besucher mußte in dem Gebäude der Direktion wohnen und nächtigen. Ich wurde sehr gut aufgenommen, erzielte geschäftlich alles, was ich wünschte, und war diesen einen Abend etwas leichter gestimmt als sonst in jenen Tagen. Wir, die beiden Direktoren und ich, hatten im Garten geplaudert, als der Diener uns zur Tafel rief. Überrascht trat ich in dem großen Speisesaal einem Kreis eleganter Frauen entgegen, die mir als die Gattinnen der beiden Herrn und als die beiden Schwestern der einen Frau genannt wurden. Das Gespräch bei Tisch ging gut und leicht von statten, auch mir floß das Wort in der französischen Sprache, die ich damals sehr gerne brauchte (ich muß mich einer zweiten Unwahrheit schuldig bekennen: ich habe vor Dir jede nähere Kenntnis des Französischen geleugnet und Du hast nie ein französisches Wort über meine Lippen gehen hören), schneller vom Munde als seit langem. Die Damen betrachteten jeden Fremden, der zu ihrem entlegenen Hause kam, als willkommnen Gast aus ihrer alten Welt.
Als wir nach dem Essen auf dem Balkon saßen, von dem man in die weite Ebene hinaussah, sagte der erste Direktor:
»Herr Neugebaur, wir möchten Sie bitten, meiner Schwägerin Elisa morgen Ihren Schutz angedeihen 13 zu lassen. Sie muß unbedingt nach Rostow fahren, wo sie abgeholt wird, und ich kann sie nicht, wie ich beabsichtigte, begleiten, da ich anderen, wichtigen Besuch erwarte.« – –
Ich habe die Feder hinlegen müssen und bin wohl eine Stunde im Zimmer auf- und abgegangen. Seit mir Deine Depesche den Namen, den ich so lange in mir verschlossen hatte, wieder vor Augen brachte, hab' ich ihn wohl hundertmal ausgesprochen, und niemals ohne ein Beben. Aber ich muß weiterschreiben, damit Du meiner Nachricht nicht gar zu lange harren mußt.
Das Fräulein sah mich an, während ich mich selbstverständlich bereit erklärte, ihr nach Kräften zu dienen. Sie hatte die tiefsten, dunklen Augen, die ich jemals gesehen habe, Augen, die der Oberfläche eines jener kleinen, scheinbar unergründlichen Waldseen unserer Heimat verwandt waren.
Am Morgen bestiegen wir zusammen die Kutsche ihres Schwagers und fuhren zur Bahn. Beim Abschied fiel mir auf, daß sie mit ihrer Schwester nicht einmal die üblichen Wangenküsse französischer Höflichkeit tauschte, sondern mit einem kalten Blick von ihr schied, der sich, als der Wagen schon anzog, in ein Flehen, wie voller Angst, verwandelte.
Der Reiz des abendlichen Gesprächs war verflogen. Ich saß wieder in schweren, dunklen Gedanken, und so war es mir nur recht und fiel mir nicht auf, daß auch meine Begleiterin kaum ein Wort sprach, sondern in ihre Ecke gelehnt sich mit offenbarer Willenlosigkeit dem Ziele unserer Fahrt zutragen ließ.
Dann aber allmählich merkte ich, daß ich unbewußt 14 begonnen hatte, das schöne Mädchen näher zu betrachten. Wahrlich, das schöne Mädchen! Hatten mir am Tage vorher nur die Augen Eindruck gemacht, so bot sich mir jetzt in der Klarheit des hellen Herbsttages das ganze Gesicht in seinem Ebenmaße dar, das doch nichts glatt Gewöhnliches hatte, sondern durchaus zu dem besondern Ausdruck dieser Augen als einzig passende Umrahmung erschien.
In dem Augenblick, da ich mir das sagte, empfand ich ein Gefühl, wie einen elektrischen Schlag, und gleichzeitig öffnete Elisa den Mund und sprach die ersten Worte, die sich mir unauslöschlich einprägten, weil in ihnen alles Folgende lag und weil sie dem Dritten vielleicht zuerst wie eine halb naive, halb zudringliche, weder besonders geistreiche, noch besonders feinfühlige Einleitung eines Gesprächs unter Fremden erscheinen mochten. Für mich waren sie wie etwas längst Erwartetes, über das mich zu wundern mir keinen Augenblick einfiel.
Elisa also sagte:
»Auch Sie sind unglücklich, mein Herr.«
Du, Friedrich, kennst mich als einen ziemlich wortkargen Menschen, der selbst seine Nächsten nicht gern in sich hineinblicken läßt.
Ich hatte seit dem Tode Deiner Mutter, der gegenüber ich solche Schranken nicht kannte, noch mit keinem Menschen von meinem Schmerz gesprochen. Diesen Augen und dieser Frage gegenüber sagte ich alles heraus, ich weiß nicht mehr, in was für Worten, was auf mir lag. Ich hätte mir keinen bessern Hörer wünschen können. Denn wortlos lauschte sie mir. In ihren 15 Augen aber las ich, wie sie mit mir lebte, und ich war ihr dankbar, daß, als ich fertig war, kein Ausruf des Bedauerns von ihr kam, daß mir nur wieder die Augen sagten: ich habe Dich verstanden.
Und ganz unvermittelt sprach sie dann von sich. Sie ging von der Schwester, die so arm gewesen war, wie sie selbst, fort, um sich zu verheiraten. Der Mann, den man ihr ausgesucht hatte, war ihr nicht nur so gut wie fremd, sondern durchaus zuwider, aber um sich nicht schutzlos der ganzen Familie gegenüber zu sehen, das Los ihrer Geschwister, die von dem reichen Schwager abhingen, nicht zu verschlimmern, mußte sie in die verhaßte Verbindung willigen.
Eine gewöhnliche Geschichte, wie sie tausendmal vorkommt und tausendmal ohne Herzbrechen und ohne Tragik abgeht, wirst Du vielleicht sagen, – doch nein, Du sagst es nicht, weil Du fühlst, daß ich hier mit meinem Herzblut schreibe.
Und auch ich empfand nichts derartiges. Ist es doch ohnehin etwas ganz anderes, ob uns solche Leiden von Fernstehenden noch einmal in Bausch und Bogen nacherzählt werden, oder ob wir sie aus dem Munde des Unglücklichen selbst schlicht vernehmen.
Elisa war nun auf dem Wege nach Rostow, wo die Mutter des ihr bestimmten Gatten sie erwartete. Er selbst war in Geschäften noch abwesend. Alsbald nach seiner Rückkehr sollte die Hochzeit stattfinden, gleichfalls in Rostow, um der Familie des Bräutigams die weite Reise zur Fabrik zu ersparen.
Es geschieht oft, daß sich ein lange währendes Stillschweigen über Menschen breitet, die sich eben 16 ausgesprochen haben, und geschieht um so öfter, je mehr von seinem Innersten jeder preisgegeben hat. Solches Schweigen aber ist nicht stumm. Und so fuhren wir dahin in der klaren Luft des späten Herbsttages, und um uns lag, um uns lebte alles, was wir uns gesagt hatten; und das war nicht mehr und nicht weniger, als unser ganzes Geschick. Aber in mir wenigstens war nichts von dem Gefühl der Beschämung, der Entblößung, die uns befällt, wenn wir den Schleier gehoben haben von Tiefen, die wir nicht jedem Auge zu zeigen gewohnt sind. Nicht einen Augenblick hatte ich die Empfindung, getan zu haben, was ich nicht dieser Frau gegenüber in jedem Augenblicke wieder tun würde.
Sie aber lächelte nach einer ganzen Weile, ein schmerzliches, holdes Lächeln, und wir konnten wirklich, bis wir zur Bahnstation kamen, ein gleichgültiges Gespräch über Dies und Jenes führen, – schwebte doch hinter dem allen das gemeinsame Erlebnis dieser Offenbarungen, die uns (das fühlten wir) aneinander banden.
Wir konnten auf der Station den Zug nach Rostow sofort besteigen. Je näher wir dem Reiseziel kamen, um so schwerer ward uns ums Herz, das ließen die vielen Stockungen in unserer nun wieder persönlicher gewordenen Unterhaltung merken. Kurz vor der Ankunft zog ich die Uhr und sagte:
»Nun nur noch zehn Minuten.«
Und als ich diese Worte ausgesprochen hatte, da wußte ich, was mir diese Fahrt bedeutet hatte, und sie wußte es auch, denn im nächsten Augenblick gaben 17 wir uns die Hand und was wir damals sprachen – es steht Wort für Wort in meinem Gedächtnis, aber ich schreibe es Dir so wenig wie es je ein anderer Mensch erfahren hat, – das war ein Gelöbnis, das zwei geprüfte, reife Herzen fesseln sollte, fesseln mußte für das Leben und darüber hinaus.
Es wurden keine Beschlüsse gefaßt, keine Versprechungen gegeben, und nur im Augenblick der Einfahrt in die Bahnhofshalle, wo eine alte, elegante Russin Elisa erwartete, verabredeten wir, daß ich sie in ihrem Quartier in Rostow am nächsten Tage gegen Abend aufsuchen sollte.
Ich fuhr ins Grand-Hotel, wo ich dann also das Zimmer Nummer zwölf bewohnte, in dem Du zwanzig Jahre nachher abgestiegen bist.
Am andern Tage sprach ich Elisa. Mein Besuch konnte nicht auffallen, da sie mich der Dame noch am Bahnhof vorgestellt und unsre gemeinsame Reise erklärt hatte. So sahen wir uns an diesem Tage und an jedem folgenden, fanden auch immer Gelegenheit, uns allein zu sprechen und nun auch die Frage zu erörtern, was aus uns werden sollte.
Mir stand es von vornherein fest, daß Elisa das Verlöbnis lösen und meine Frau werden müßte. Auch sie hatte im Überschwang des ersten Glücks nichts anderes angenommen und war auf diese Lösung des unseligen Verhältnisses, in dem sie sich befand, als ganz selbstverständlich eingegangen.
Je öfter ich aber wiederkam, je öfter ich in sie drang, mir zu offener Aussprache gegenüber ihrer Familie und der des Bräutigams das Recht zu geben, 18 desto unruhiger und desto zaghafter wurde sie, ohne daß ich ihr den Grund ihrer Zögerung abringen konnte.
Endlich erfuhr ich ihn.
Sie und ihre verheiratete Schwester, ja ihre ganze Familie, war schon früher den künftigen Verwandten für materielle Hilfe so viel Dank schuldig geworden, daß sie es nicht übers Herz brachte, sich nun der Abtragung dieser Dankesschuld zu entziehen, wenn sie sich auch voll bewußt war, daß sie damit vielleicht, jetzt, da wir uns kennen gelernt hatten, gewiß, ihr ganzes Lebensglück zum Opfer brachte. War doch – das sah sie klar – jene Unterstützung nur gewährt worden im Hinblick auf ihren künftigen Besitz.
Ich mußte in trübe Familienverhältnisse hineinblicken, aus denen das Bild von Elisas Eltern mit nicht eben reinen Zügen hervorging.
Auf meine leise Andeutung, ob denn jene materiellen Verpflichtungen nicht ablösbar wären, mochte sie nicht eingehen. Sie empfand in ihrer feinen Seele neben jener tatsächlichen Hilfe noch mehr, noch etwas wie eine Rettung von Schlimmerem, für die mit der Rückzahlung von Geld nichts getan gewesen wäre. Und dazu empfand sie deutlich, daß ihr Bräutigam sie liebte.
Wie sehr ich Elisa angehörte, ersiehst Du daraus, daß ich unter all diesen Schwierigkeiten, unter dem Einblick in diese wirren und nicht einmal ganz sauberen Verhältnisse, in denen eben nur ihre eigene Reinheit unantastbar blieb, den Mut nicht verlor, und sich meine Neigung zu ihr nicht verringerte.
Dann aber wurde mir immer deutlicher, daß wir uns gegenseitig ein Martyrium schufen, das länger 19 auszuhalten über Menschenkraft ging, und ich mußte Elisa schließlich vor ein entschiedenes Ja oder Nein stellen.
Das war am 7. November. Ich sagte ihr in aller Zärtlichkeit und Zartheit, aber mit aller Bestimmtheit, daß nun die Entscheidung fallen müsse, daß ich nicht länger wie ein unreifer Knabe schmachten dürfe, daß ich nicht nur eine junge Frau, sondern eine zweite Mutter für meine Kinder heimzuführen habe und daß ich nun morgen alles ins Rechte bringen müsse.
Elisa sah mich, ohne ein Wort der Erwiderung mit dem rührenden Lächeln, das ich bei ihr kannte, an und fragte mich nur:
»Wann kommst du morgen?«
Ich nannte ihr die Stunde und so trennten wir uns.
Am andern Tage saß ich auf jenem Dir nun jetzt bekannten kleinen und häßlichen Zimmer des Grand-Hotels und war eben im Begriff, zu Elisa aufzubrechen, als an meine Tür geklopft wurde und auf mein gleichgültiges Herein Elisa bei mir eintrat.
Du kannst Dir mein Erstaunen denken. Mein erster Gedanke, dem ich sofort Ausdruck gab, war, daß sie mich sogleich wieder verlassen und in ihr Haus zurückkehren müsse, um ihren Ruf nicht zu gefährden.
Elisa lächelte.
»Laß das meine Sorge sein, setz' dich lieber zu mir und höre zu.«
Ich ergab mich in ihren Willen – wer hätte ihr wohl widerstanden, wenn sie bat? 20
Noch nie war ihre Zärtlichkeit für mich so groß gewesen, noch nie erkannte ich so voll den ganzen Reichtum ihrer Persönlichkeit als in diesem Gespräch, in dem von Anfang an eine Heiterkeit herrschte, die unsern letzten Unterredungen nur zu sehr gefehlt hatte.
Sie blieb wohl eine Stunde bei mir, und damals war es, als sie froh und anscheinend glücklich ihren Namen und die Worte pour toujours! unter den meinen in den Schreibtisch grub, an dem Du mir geschrieben hast.
Auf einmal ward sie ernst, stand auf, da auch ich mich erhoben hatte, und während in ihre Augen wieder jener geheimnisvoll traurige Ausdruck kam, der mich zuerst betroffen gemacht hatte, sagte sie:
»Es ist sieben Uhr. Um acht Uhr kommt mein Bräutigam. Wir müssen scheiden. Lebe wohl, ich danke dir das größte Glück, das erste, das ich je in meinem Leben genossen habe.«
Sie sagte das alles halb aus wohl erkennbarer Leidenschaft, halb wie eine einstudierte Rolle, dann faßte sie mich, der ich völlig verwirrt und keines Wortes mächtig, dastand, um die Schultern, drückte mir einen Kuß auf den Mund (ich fühle noch die Eiseskälte ihrer Lippen) und hatte das Zimmer verlassen, ehe ich mich noch zu einem Worte, ja nur zu einer Bewegung aufraffen konnte.
Ich mag wohl mehrere Minuten wie in Erstarrung dagestanden haben, dann riß ich mich zusammen, konnte aber nicht den Entschluß finden, ihr nachzugehen, weil ich instinktiv mit völliger Sicherheit empfand: es ist alles vorbei. 21
Da tat sich die Tür noch einmal auf. Elisa kam herein, fassungslos schluchzend warf sie sich an meine Brust, daß ich das Beben ihres Körpers mitzitternd empfand.
Auch jetzt war mir gleich ihr versagt, zu sprechen. Sie küßte mich wieder und wieder, nun mit durstig heißen Lippen, und dann war sie zum zweitenmal verschwunden – für immer. –
Ich ließ damals alle Geschäfte liegen, denn ich war nicht fähig, irgend einen sachlich nüchternen Gedanken zu fassen und kehrte auf dem geradesten Wege nach Danzig zurück. Gottlob wart ihr damals noch zu klein, um mich zu beobachten und da ich Verkehr außerhalb meines Hauses seit dem Tode Eurer Mutter noch nicht wieder angeknüpft hatte, so ist wohl niemandem hier in der Heimat mein Schmerz kund geworden.
Zwanzig Jahre ist das nun her und hat all' die Zeit wie ein Erlebnis von gestern vor mir gestanden, aber nicht in mir geruht, sondern dies Scheitern einer Hoffnung, die mir so hell aufgegangen war, hat meine Seele bis heute immer in Bewegung gehalten, und ich übertreibe nicht, wenn ich Dir, dem Einzigen, heute gestehe, daß hinter allem Glück, und dessen war viel, und hinter allem Leid und Kummer, die auch nicht ausblieben, diese zwanzig Jahre lang jenes eine unselige Verhängnis stand, das mich damals traf.
Warum nun, so fragst Du, hab' ich Dich gebeten, diesen Brief zu erwarten und Deinen lange festgestellten Reiseplan zu ändern? Sicherlich doch nicht, um Dir dieses Bekenntnis zu machen, das aus meinem 22 Herzen auch später noch zeitig genug zu Dir gedrungen wäre, daß Du vieles im Wesen Deines Vaters besser verständest.
Ich habe eine Aufgabe für Dich, Friedrich. Du sollst mir sagen, ob Elisa noch lebt, wie sie lebt und wie sie über diese zwei Jahrzehnte hinweggekommen ist.
Ich habe nichts mehr von ihr erfahren. Die Verbindung mit dem Unternehmen ihres Schwagers hab' ich bei der ersten Gelegenheit unter einem glaubhaften Vorwand abgebrochen und Rostow, wie das Taurische Gouvernement, hab' ich nie wieder berührt.
Das Gut ihres damaligen Verlobten hieß Noposchnize und lag nur wenige Stunden von Woronesch. Und nun bitte ich Dich, bringe dort in Erfahrung, ob sie noch lebt und wie es ihr in all' diesen Jahren ergangen ist. Ich weiß selbst nicht, was ich davon erwarte, aber ich meine, Du wirst mir die Liebe tun und erfüllen, was ich von Dir wünsche.
Du brauchst mir nicht wieder zu schreiben, bis Du mir Nachricht geben kannst.
Noch eins, Friedrich. Ich bin Dir schuldig, zu erklären: das Andenken an Deine Mutter hat durch all' dieses nicht in mir gelitten. Nicht einen Augenblick ist meine Liebe zu ihr geringer geworden. Wenn ich wieder und wieder jenes düstere Verhängnis, denn anders kann ich es noch immer nicht nennen, als eine schwere Wolke über meinem Leben empfunden habe, so war es gerade der Gedanke an Deine Mutter und an Euch, die sie mir gegeben hat – so war es dieser Gedanke, der mir das Leben lebenswert gemacht hat, und es nicht nur einfach erträglich, sondern trotz allem 23 andern zu einem Besitz gestaltete, für den ich Gott danken muß.
Noch einmal also, tu, um was ich Dich bat und dann schreibe
Deinem treuen Vater.
Friedrich hatte den Brief längst zum zweiten, zum dritten Male gelesen und saß noch immer fast unbeweglich am Fenster seines Zimmers. Er merkte nicht, daß die Dämmerung längst hereingebrochen war und erst, als der Strahl einer gerade unter seinem Fenster stehenden Laterne ihm grell ins Auge fiel, fuhr er zusammen, raffte die beschriebenen Blätter auf und steckte sie in seine Brusttasche. Dann begann er eine rastlose Wanderung zimmerauf, zimmerab, immer längs dem schmalen Läufer, der vom Fenster zur Türe ging. Obwohl er nun das Schreiben des Vaters immer wieder mit den Augen gelesen hatte, fehlte ihm der innere Zusammenhang mit dem Inhalt. Er fuhr sich übers Gesicht, als wäre da etwas wegzuwischen, griff wieder nach der Brust, setzte sich schließlich an den Tisch und sann dumpf vor sich hin, wenn man ein willenloses Treiben in einem undurchdringlichen Nebel, ein Hineinstarren in graues Dunkel mit geschlossenen Augen Sinnen nennen kann.
Was sich endlich nach einer Zeit, für deren Dauer er kein rechnendes Bewußtsein hatte, in Friedrich zuerst loslöste, war eine Empfindung tiefsten Mitleids mit dem Vater, der nun so viele Jahre stumm getragen hatte, was der Jugend schon, geschweige denn einem geprüften Herzen unerträglich scheinen mußte. Nun erst verstand Friedrich vieles, was er bis dahin im Wesen des Vaters nicht 24 begriffen hatte, und um so heißer stieg in ihm das Gefühl einer Dankbarkeit empor, die er bisher nicht genugsam an den Tag gelegt zu haben meinte.
Der Abend und die halbe Nacht vergingen ihm unter solchen Gedanken in wogendem Hin und Her des Herzenstaktes. Erst der nächste Morgen, der kalt und klar in Frost heraufstieg, brachte ihm die Aufgabe ins Gedächtnis, die der Schluß des väterlichen Briefes enthielt. So einfach sie schien, so schwer wurde ihm die Erfüllung. Er war ja schon öfter zu einem oder dem anderen Geschäftsabschluß auf Gütern eingekehrt und hätte leicht unter solcher Begründung auch den ihm genannten Ort besuchen können, wenn er nicht stündlich mehr eine zitternde Befangenheit empfunden hätte vor dem Wiedersehen mit der Frau, deren Handlungsweise er im ungerechten, ungestümen Urteil seiner Jugend als eine schwere Schuld gegenüber dem geliebten Vater, als einen geradezu frevelhaften, schicksalhaften Eingriff in dessen Schicksal fühlte.
Aber wenn ihn schon ohnehin die Ehrfurcht vor des Vaters Wunsch angetrieben hätte, nun ohne Zögern zu tun, was ihm aufgetragen war, so mischte sich jener herben Verurteilung doch noch etwas anderes bei, was ihn nicht freudig, aber mit einer gewissen Begier der neuen Fahrt entgegensehen ließ: Er wollte diejenige kennen lernen, die auf seinen, dritten gegenüber so verschlossenen Vater einen so gewaltigen Eindruck gemacht hatte, und er wollte prüfen, ob es jener möglich gewesen wäre, über die Liebe zu einem solchen Manne hinwegzukommen, sie wieder zu vergessen, während der Mann zwanzig Jahre das Geschick im Herzen trug, dessen schwere Entscheidung damals in jener engen Stube des Gasthofs zu Rostow gefallen war. 25
Seine Erkundigungen ergaben, daß Noposchnize mit der Eisenbahn nicht zu erreichen war. Die Landschaft war inzwischen völlig verschneit und so konnte Friedrich am nächsten Tage auf einem Schlitten die Fahrt antreten. Er hatte berechnet, daß er gegen Mittag auf dem Gute ankommen und es gegen Abend wieder verlassen würde. Kaum aber lag die Stadt hinter ihm, als ein immer stärker werdender Ostwind ihn belehrte, daß seine Voraussicht falsch gewesen sei. Der schneidende Wind, der ihn zu fester Verwahrung in Pelze und Teppiche nötigte, drückte gegen den kleinen Schlitten und ließ die Pferde auf der glatten Bahn nur langsam weiterkommen. Die rote Glut einer wärmelosen Wintersonne, wie man sie über der unendlichen Ebene Rußlands an solchen Tagen zu sehen bekommt, beleckte bereits das Schneegefild, als das Gutshaus vor ihm auftauchte, ein großer Kasten, dem eine phantastische Laune eine Rokoko-Fassade gegeben hatte. Daneben lagerten sich die niedrigen Hütten des Dorfes, aus denen nur die grüne Kuppel der Kirche mit dem großen goldnen Kreuz weithin sichtbar ragte. Der Schlitten mußte durch das ganze Dorf fahren, um von hinten herum zum Gute zu gelangen. Friedrich sah, daß ein Gasthaus hier nicht zu finden sei, nicht einmal eine elende Schenke, und so mußte er wohl oder übel beim Herrenhause vorfahren und sein Eintreffen zu dieser Stunde, so gut es ging, entschuldigen.
Dessen bedurfte es freilich kaum; er hatte eben erst durch einen ländlich gekleideten Diener seine Karte hineingesandt, als bereits ein junger Mann in studentischer Uniform eilig die Treppe hinabkam und ihn bat, näher zu treten. Er wollte Erklärungen über den Zweck des 26 Besuches nicht erst entgegennehmen, führte Friedrich sofort in ein wohldurchwärmtes Zimmer, versprach, für den Schlitten sorgen zu wollen, und nötigte den Gast, sich nach der kalten Fahrt zu erwärmen, in einer halben Stunde würde gespeist, er bäte dann, in das Eßzimmer hinabzukommen.
In der durch die lange Reise bewirkten Benommenheit hatte Friedrich alles dessen nicht viel acht und fand sich, dadurch unbefangener gemacht, zur verabredeten Zeit in dem großen Eßzimmer zu ebner Erde ein. In dem Augenblick, als er aus dem Dunkel des Eingangs in den Lichtkreis der großen Öllampe trat, die über dem Eßtisch brannte, fiel ihm der Zweck seines Besuches schwer aufs Herz, und als gleichzeitig der Student, der etwa achtzehn Jahre zählen mochte, wieder zu ihm trat und die eigentümlichen, tiefdunklen Augen auf Friedrich richtete, die von dem hellblonden Haar schön und seltsam abstachen, da durchfuhr es Friedrich wie ein Schlag: Das sind Elisas Augen . . . wußte er sofort: Dies ist ihr Sohn.
Die Türe öffnete sich, und ein Greis trat herein, schritt auf Friedrich zu, sagte nur:
»Ach, unser deutscher Gast!« reichte Friedrich die Hand und nötigte ihn, alle Entschuldigungen abwehrend, zu Tisch. Außer ihnen dreien nahm niemand weiter Platz, und nun erst gelang es Friedrich endlich, den geschäftlichen Grund anzugeben, der ihn angeblich hierher geführt hatte. Der alte Herr nahm die Erklärung ohne weiteres Staunen hin, versprach, am nächsten Tage sich die Offerten des großen Handelshauses vorlegen zu lassen und begann dann ein Gespräch, wie es sich von selbst ergibt, wenn in so abgelegene Einsamkeit ein Fremder aus Westeuropa hineingelangt. Friedrich stand Rede und Antwort, hatte dabei 27 aber genug zu tun, sich auf dem Antlitz des Alten zu orientieren, wie vorher auf dem des Sohnes. Es war ein furchtbares Gesicht, verwüstet und zerfurcht weit über die Jahre des Mannes hinaus, der sein Alter im Laufe des Gespräches beiläufig auf sechzig Jahre angegeben hatte.
Und während das Gespräch weiter ging und der Gutsbesitzer zwischen zwei Gläsern Schnaps gelegentlich zynische Witze über großstädtische Dinge und über die Freuden seiner eignen Jugend einfließen ließ, saß Friedrich da in einem Schauer des Mitgefühls für die arme Frau, die sein Vater einst geliebt hatte und die an diesen Mann gefesselt gewesen war – wie lang?
Wie lange? Denn wo Elisa, die Mutter des Studenten, des einzigen Kindes des Hauses – auch das hatte das Gespräch ergeben – war, darüber hatte er noch nichts vernommen, und obwohl eine Frage nach der Hausfrau nur taktvoll gewesen wäre, verbot eine innere Stimme Friedrich, sie zu stellen.
Friedrich empfand allmählich, daß dem Studenten des Vaters Art dem Fremden gegenüber peinlich war. Der Student hatte wohl schon öfter erfahren müssen, wie leicht es war, die Natur des Vaters, die nichts zu verstecken pflegte, zu durchschauen, und wurde stiller und stiller, nachdem er die Zurückhaltung des Gastes bemerkt hatte.
Die Tafel war zu Ende. Ein Diener trug Lichte und Zigarren in einem Nebenzimmer auf, setzte die Teemaschine daneben, und das Gespräch wurde fortgesetzt, gefiel aber offenbar dem Hausherrn, der von dem Besuche etwas anderes erwartet hatte, so wenig, daß er sich nach kurzer Zeit mit einem Gruße zurückzog, der merkbar weniger höflich war als die Bewillkommnung. 28
»Gut' Nacht, Georg,« rief er dem Sohne zu, ohne ihm zum Abschied mehr als einen Wink mit dem Kopfe zu gönnen.
Und damit war er verschwunden.
Zum zweitenmal in diesen kurzen Stunden hatte Friedrich jenes aufzuckende Gefühl voller Erkenntnis und voller Schmerzen.
Georg also hieß der Student, der junge Mann, der Elisas Augen hatte, der ihr Sohn war und dem sie den Namen seines Vaters, des Einstgeliebten, gegeben hatte.
Es herrschte ein befangenes Schweigen zwischen den beiden jungen Männern, die sich nun in der Nähe des gewaltigen Kachelofens gegenüber saßen.
Friedrich sah Georg von unten herauf an und empfand noch einmal die eigentümliche Schönheit dieses Jünglingskopfes, über dem jetzt eine Art unglücklicher Trotz und zugleich eine tiefe Schwermut lag. Und er war nicht erstaunt, als Georg trotzdem ein ganz gleichgültiges Gespräch anfing, weil er von sich, aus eigener Erfahrung wußte, daß die Seele aus dem Zwange dunkler Gewalt heraus sich zuerst lieber in gleichgültiges Scheinleben hineingerettet, als daß sie an die Oberfläche steigen ließe, was sie am tiefsten bewegt.
Aber allzu lange dauerte es nicht, und wieder lag jenes beklommene Gefühl um die beiden jungen Menschen, bis Friedrich aus einem natürlichen Bedürfnis der Ablenkung heraus aufstand und zu einigen Bildern schritt, die die Wand ihm gegenüber einnahmen. Und wie er vor den großen Frauenkopf trat, der in der Mitte aus einem Nahmen von mattem Golde leuchtete, da entfuhr es ihm, eh' er das Wort bedenken konnte: 29
»Ihre Mutter!«
Aber auch der andere, Georg, kam in diesem Augenblick nicht zu kühler Überlegung, wen er vor sich hatte. Und als ob dies Wort: »Mutter!« ein Sesam-öffne-dich gewesen wäre, brach es aus ihm heraus, er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte ohne Fassung.
Schon aber war Friedrich bei ihm. Er legte dem Weinenden, Jammernden die Hände auf die Schultern, wortlos, selbst den Tränen nahe.
Die stumme Berührung wirkte auf den jungen Menschen mehr, inniger als es eine Frage, ein Ausdruck der Teilnahme gekonnt hätte. Er sah mit einem rührenden Blick zu Friedrich auf, der nur wieder das eine Gefühl hatte: die Augen, die Augen; dann zog er ihn auf den Sessel neben sich. Als ob Georg auf diese Gelegenheit nur gewartet hätte, sprach er sich aus, wie die Jugend sich noch aussprechen kann, wild, regellos, aufrichtig, aus allen Tiefen empor. Keine Silbe der Verwunderung darüber, daß jener die Mutter sofort erkannt hatte. Kein Wort des Befremdens für das Mitgefühl des heute zum erstenmal gesehenen Gastes, nur der Jammer einer unterdrückten, in ihrem Edelsten gekränkten Natur, die sich einmal offenbaren will.
»Meine Mutter war aus Belgien. Sie war hierher gekommen, weil ihre Verwandten eine Fabrik hier irgendwo im Besitze hatten, ich weiß nicht wo, denn wir sind mit der Familie ganz auseinandergekommen. Ich weiß auch nicht, weshalb sie meinen Vater geheiratet hat . . .«
Georg machte eine Pause.
Wir zart, dachte Friedrich, daß er nicht weiter spricht, 30 um seinen Vater nicht anzuklagen. Er hatte aus den Zügen und dem Benehmen des Alten in Verbindung mit dem, was sein Vater ihm geschrieben hatte, genug herausgelesen.
»Meine Mutter war sehr unglücklich hier, und wenn sie es mit wundervoller Geduld trug, so habe ich doch, ich glaube schon als ganz kleines Kind, gewußt, wie es um sie stand. Aber trotzdem hat sie Noposchnize nie verlassen, die Verwandten nie besucht, keinen Verkehr mit der Nachbarschaft unterhalten und sich nur mit mir beschäftigt. Vor acht Jahren, als ich zehn Jahre alt war, ist sie gestorben. Sie war nicht krank, sie ist langsam dahin gegangen, geschwunden. Ich weiß es noch deutlich, wie ich an ihrem Bette stand und in ihren Augen las, woran sie starb. Nur als sie mich küßte und segnete, kam es noch einmal über sie wie ein furchtbarer Jammer, und sie sagte in ihrer französischen Muttersprache zweimal leise, schluchzend, aber ich verstand es wohl:
›Nun bleibst du allein!‹
Seitdem bin ich ganz allein,« schloß der junge Mensch, und die tiefe Schwermut, der echte Schmerz, der über ihn kam, standen in traurigem Gegensatz zu dieser jugendlichen Gestalt, zu dieser bunten Uniform.
Wieder lastete Schweigen in der Stube. Der Wind ging laut draußen. Im Ofen knackte es, die Teemaschine summte.
Durch dies alles wurde den beiden die Stille nur deutlicher.
Wortlos gingen sie auseinander. –
Friedrich schlief in dieser Nacht wenig. Immer wieder ging es ihm durch den Kopf: Sie ist tot und dieser 31 ihr Sohn ist unglücklich. Werde ich hier, so fragte er sich, in ein neues Schicksal hineingerissen, da ich nur Bericht bringen sollte, wie ein altes ausklang? –
Am andern Morgen war die geschäftliche Besprechung mit dem alten Herrn schnell beendet; Friedrich wußte sie so zu lenken, daß sie ergebnislos blieb. Er erbat die Erlaubnis, den Garten durchstreifen zu dürfen, dessen Wege, wie er morgens vom Fenster aus gesehen hatte, ein paar Bauern vom Schnee gereinigt hatten. Der Student schloß sich ihm an. So schritten sie durch die weiße Einsamkeit, ohne mit einem Wort auf den gestrigen Abend zurückzukommen.
Friedrich sah sich immer wieder suchend um, schließlich ließ er die Blicke über den Kirchhof streifen, der hart neben dem Park lag, aber nur armselige Holzkreuze zeigte.
Wieder war ein instinktives Einverständnis zwischen den beiden jungen Leuten. Denn Georg antwortete, ehe noch der stumme Gedanke laute Frage geworden war:
»Meine Mutter ist nicht hier begraben, sie ruht auf dem römisch-katholischen Kirchhof in Rostow.«
Friedrich war nicht erstaunt, daß der andere seine Gedanken wußte, aber nun sprang aus ihm die Frage heraus, mit der er in der Nacht gerungen hatte:
»Kann ich Ihnen helfen? Wollen Sie mit mir nach Deutschland kommen?«
Ein freudiges Licht ging über des Jünglings Züge. Er schüttelte Friedrich die Hand; aber als ob er auch darauf vorbereitet wäre, antwortete er ganz fest:
»Nein, ich danke Ihnen. Dringen Sie nicht in mich, ich bleibe hier, trotz allem. Meine Mutter ist tapfer gewesen und geblieben. Ich darf nicht schwächer sein als sie.« 32
Er drückte ihm noch einmal die Hand, und es wurde kein Wort zwischen ihnen gewechselt, bis nach der Rückkehr zum Gutshaus der Schlitten vorfuhr und Friedrich mitnahm.
Mit dem nächsten Zuge fuhr er von Woronesch dem Süden zu. Er traf am Morgen in Rostow ein und fragte sich sofort nach dem Kirchhof durch. Der Wärter erzählte ihm auf sein Befragen, daß hier in der Tat jene Frau beerdigt wäre, obwohl sie, wie es das russische Gesetz verlangt, vor ihrer Ehe zum russischen Glauben übergetreten sei. Aber man hätte ihr diese Ruhestätte gewährt. Er wollte Friedrich zum Grabe begleiten, dieser lehnte aber ab. Er fand sich allein zwischen den schneebeladnen Kreuzen hindurch, bis er vor einer schwarzen Marmorplatte stand, auf der nur das eine Wort eingegraben war:
Elisa.
Er verstand den Sinn der Aufschrift, die weder den Namen, der ihr nicht mehr gehörte, noch den des Gatten wiedergeben sollte.
Beim Wegwischen des Schnees hatte Friedrich am Rande der Grabplatte ein paar Efeublätter entdeckt, die unter der Winterhülle grün und frisch geblieben waren.
Von denen pflückte er eins, barg es beim Brief des Vaters und brachte es mit seiner Antwort, statt einer Antwort dem Vater nach Deutschland.