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Wenn ich als Knabe, der noch nicht lesen gelernt hatte, vor dem Bücherschrank meiner Eltern spielte, einzelne Kupfer in den Werken besah, und hier und da ein Wort zu erraten versuchte, geschah es wohl, daß ich einen Band fand, der nur noch lose im Deckel hing oder an dem beim letzten Umzug eine Ecke zerstoßen worden war. Dann hieß es: den muß der alte Gleis bekommen. Und da ich vor Büchern eine große Achtung und eine gewisse Liebe zu ihnen hatte, erschien mir auch der alte Gleis, der die beschädigten Bände ausbessern sollte und konnte, als eine wichtige und verehrenswerte Persönlichkeit. Ich hatte ihn aber noch nie zu Gesicht bekommen.
Eines Tages spielten meine Schwester und ich in unserm Garten, der nach dem Pregel hinaus lag; meine Mutter saß mit einer Handarbeit in einer schattigen Ecke. Ich wollte eben 'mal in den Haus und Garten trennenden Hof laufen, um einen verflogenen Ball zu holen, als ich an der Zaunpforte angehalten wurde. Da stand ein winziges Männchen. Selbst mir, der ich für meine fünf Jahre nicht groß war, erschien es sehr klein, wie es da in einem grünlichen Mantel auf zittrigen Beinen stand und aus blauen Augen auf mich sah. Der Mann streichelte mir den bloßen Kopf und sagte dann:
»Ist deine Mutter im Garten? In der Wohnung hat mir keiner geöffnet.«
Ich war erst etwas verwirrt, weil der Alte »geöffnet« sagte; wir sagten immer »aufgemacht«, und das Wort »geöffnet« hatte ich bisher nur in Gedichten gehört. Dann gab ich ihm Bescheid, zeigte mit der Hand in die Ecke, wo die Mutter saß und sprang in den Hof.
Als ich mit meinem Ball zurückkam, begegnete mir 36 die Mutter. Neben ihr ging der alte Mann und auf der andern Seite meine dreijährige Schwester. Diese blieb bei mir zurück, während die Mutter mit dem Fremden ins Haus ging. Wir sahen ihnen neugierig nach.
Nach einer Weile rief die Mutter aus einem Fenster des Erdgeschosses:
»Heinrich, wo ist dein Struwelpeter? Elfriede hatte ihn doch zerrissen. Gleis soll ihn mitnehmen.«
Ich rannte hinein, holte das Buch hervor und gab es der Mutter, die es mit ein paar andern dem Alten einhändigte. Ich hatte mich in unsrer kleinen Flur hinter einen der gelben Kleiderschränke gedrückt und sah mir nun den kleinen Mann noch einmal ordentlich an. Er sprach noch mit meiner Mutter, fragte nach der Großmutter und bestellte eine Empfehlung, als er hörte, sie wäre nicht daheim. Dann ging er.
Das also war der alte Gleis. Darum hatte er auch so nach Kleister gerochen, und sein ganzer Mantel war voll Kleisterflecken gewesen, die ich sehr gut erkannte, weil ich mich beim Pappen selbst erst kürzlich von oben bis unten beschmiert hatte. Hatte er sich so meinem Riechsinn eingeprägt, so blieb meinem Ohr der Klang seiner gewählten Sprache; ich verstand noch nicht recht, wodurch sie sich von der unsern unterschied, und habe erst später gemerkt, daß wir alle sehr ostpreußisch redeten, während er reines Hochdeutsch, etwa wie ein Schauspieler, sprach. Und endlich gingen mir die schönen, blauen Augen in dem kleinen, verwitterten, braunen Gesicht mit dem struppigen, gelbweißen Bart noch lange nach.
Gleis kam etwa alle Vierteljahre zu meinen Eltern, um Bücher zu bringen oder zu holen. Ich merkte mir jetzt 37 ungefähr die Zeit, wann er zu erwarten war, und paßte ihm auf, um ihn wieder zu sehen. Er verfehlte auch nie, ein Wort mit mir zu sprechen, besonders, nachdem ich bei der Mutter lesen gelernt hatte; er fragte mich dann manches aus meiner Fibel. Jedesmal erkundigte er sich nach der Großmutter, und wenn sie, wie gewöhnlich, zu Hause war, trat er bei ihr ein und hatte ein kleines Gespräch mit ihr. Es gelang mir meist, mich mit einzuschleichen und diesen ein wenig seltsamen Unterhaltungen beizuwohnen. Sie waren schon äußerlich merkwürdig. Die Großmutter hatte, wie fast alle Menschen ihrer Generation, ein ausgeprägtes Standesgefühl. Sie reichte also Gleis nicht die Hand, wie ich das von meiner Mutter gesehen hatte, und nannte ihn auch nicht »Herr«, sondern einfach »Gleis«. Sie saß sehr würdig auf dem alten Ledersofa, und Gleis stand ihr auf der andern Seite des Tisches gegenüber. Das Gespräch begann mit der Frage des Buchbinders nach dem Befinden der Großmutter.
»Lieber Gleis (die Großmutter hob eine Hand und ließ sie wieder fallen), wie soll es einem Menschen mit zweiundsiebzig Jahren gehen?« (Es ging ihr übrigens fast immer gut, und sie ist neunzig Jahre alt geworden.)
»Ja,« war die stete Antwort, »als der Herr Doktor noch lebten!« (Er meinte meinen Großvater.)
Und nun kam das Gespräch in Fluß. Eine Menge Gelehrtennamen wurde genannt: Lobeck, Rosenkranz, Drumann, Reicke. Den hatte Gleis beim Großvater getroffen, für den hatte er eingebunden. Er rühmte ein Werk des einen und bedauerte, daß der andre dieses oder jenes nicht zu Ende geschrieben hätte. Zum Schluß aber kam unfehlbar die Geschichte, daß er bei Johann Jacoby, der 38 auch sein Kunde war, den berühmten Baron Hoverbeck getroffen habe. Es sei ein Gespräch über eine politische Frage im Gange gewesen, Gleis habe sich einmischen dürfen, sie hätten eine Stunde debattiert, und schließlich »habe der große Abgeordnete dem kleinen Buchbinder recht geben müssen«.
Das war der Höhepunkt, über den hinaus es nichts mehr gab. Die Großmutter, die, wie alle alten Leute, selbst ihre Geschichten zu unsrer großen Freude unermüdlich wiederholte, hörte auch diese häufig genossene Erzählung freundlich mit an und verabschiedete dann den Alten, der mir die Hand gab und ging. Dann rief mich die Großmutter heran, ich setzte mich auf eine Fußbank neben sie, sie kraute mir die Ohren und sagte: »Du wirst kein Narr mehr werden.« Ich merkte, daß sich die von ihr gern gebrauchte Redensart in diesem Falle nicht auf mich bezöge, aber sie verletzte mich auch in die Seele meines lieben Gleis hinein keineswegs, denn sie wurde behaglich und liebenswürdig ausgesprochen.
Noch ein Jahr, und ich kam in die Schule. Als ich einmal bei Schneewetter nach Hause ging, vernahm ich einen großen Lärm. Ältere Jungen rannten hinter einem kleinen Manne her, schrien: Stein! Stein! und warfen ihn mit Schneebällen. Der Alte floh, stolperte, bemüht eine schmutzige Ledertasche festzuhalten, worin er – jedes königsberger Kind kannte das alte Original – Lotterielose bewahrte. Da trat aus einer Seitengasse ein andres Männchen, hob jenem den gefallnen Stock auf, klopfte ihn ab und sah die Knaben groß an. Es war der alte Gleis. Er sagte in seinem hohen Deutsch nur:
»Schämt euch!« 39
Aber das wirkte. Die Bande verteilte sich nach verschiednen Seiten, Gleis brachte, als er keine Gefahr mehr sah, den alten Stein auf den Weg und bog dann nach seiner Wohnung ab.
Diese hatte ich vor einiger Zeit auch kennen gelernt, als ich selbst ein paar Figurenbogen für unser von Gleis geklebtes Puppentheater hinbrachte. Sie lag in der Modestengasse in einem trüben Keller. Hier hauste der Alte mit seiner ebenso kleinen Frau. Alles roch nach Kleister, überall lagen Bücher, broschierte, ganz und halb gebundene. Mitten dazwischen hockte er auf einem Schemel, eine große Drahtbrille auf der stumpfen Nase, und las. So oft ich auch hinkam, nie habe ich gesehen, daß er etwas andres tat als lesen; es war mir schließlich rätselhaft, wann er sein Handwerk ausübte.
Als ich zwölf Jahre alt war, knüpfte Gleis das erste politische Gespräch mit mir an. Ich hatte natürlich für das, was er sagte, nicht das mindeste Verständnis, fühlte mich aber sehr geschmeichelt und ließ ihn in mich hineinreden. Zum Schluß wühlte er aus seiner Kiste ein dünnes Druckheft hervor:
Die Lösung der Orientfrage
oder
Zwei Hohenzollern auf den Thronen Polens und der europäischen Türkei.
Von J. E. Gleis.
Königsberg.
Im Selbstverlag. 40
Ich packte die Gabe in meinen Schulranzen und kam sehr stolz damit nach Hause. Als ich die Broschüre den Eltern zeigte, die sich eben zu Tisch setzten, lachten beide. Der Vater sagte:
»Leg es weg, bis du fünfundzwanzig Jahre alt bist, dann laß dich in den Reichstag wählen und zeig' es Bismarck.«
Die Mutter lachte wieder.
»Gleis hat es ja selbst nach Berlin geschickt und die Antwort bekommen, der Fürst danke für die interessante Arbeit. Seitdem will er ja immer ein großes politisches Werk schreiben.«
Nach Tische kramte die Mutter ein wenig in der untersten Lade des Bücherschrankes und zeigte mir dann ein Exemplar der Broschüre, und die Großmutter rief mich und wies mir gleichfalls eins vor. Obwohl ich somit in unsern vier Wänden nicht der einzige Besitzer dieses Werkes war, hob ich es sorglich auf und las es, ohne einen Satz zu verstehen, durch. Bei einem Schulspaziergang aber erzählte ich damals unserm Geschichtslehrer von dem alten Gleis. Er lachte erst, wurde dann neugierig und erschien eines Tages im Keller der Modestengasse, hatte ein langes historisches Gespräch mit dem alten Gleis und hinterließ einige Bücher zum Binden.
Nun war es schlimm, daß Gleis unter einem Vierteljahr niemals ablieferte; und darauf konnte mein Lehrer nicht warten. So hörte diese Kundschaft bald auf, aber gelegentlich trat der Oberlehrer immer wieder zu einer Unterhaltung bei Gleis ein; dieser strahlte dann. Er fühlte sich an die großen Zeiten erinnert, da er für die Professoren seiner Generation gearbeitet hatte. Und 41 während die Frau mit den kümmerlichsten Mitteln den kärglichen Haushalt durchbringen mußte, las er meist oder schrieb im Geist an seinem großen Werk und hing Erinnerungen nach.
Als ich Obersekundaner geworden war, gründeten einige Mitschüler und ich den literarischen Verein Camena. Es war ein sehr heitrer, strebsamer Kreis, in dem Vorträge gehalten, Dramen mit verteilten Rollen gelesen wurden. Keine Überheblichkeit kam auf, obwohl fast jeder eine eigne Dichtung als Dolch im Gewande trug, um sie zu gelegner Zeit dem gespannten Auditorium zu versetzen; es war eine unverdorbene, kameradschaftliche, wirklich ideal angeregte Gemeinschaft, deren sich alle jetzt so weit verstreuten Teilnehmer wohl ebenso gern erinnern werden wie ich.
Wir gründeten auch eine Zeitschrift. Sie wurde auf Foliobogen geschrieben, die Beiträge mußten bei dem allmonatlich wechselnden Redakteur abgeliefert werden, der sie in einen blauen Deckel heftete und gesammelt umgehen ließ; von seinem Recht, Ungeeignetes zurückzuweisen, hat wohl niemand Gebrauch gemacht – man sieht, eine für die Beiträger ideale Schriftleitung.
Allmählich wurden die Hefte immer stärker, unsre Buchbinderkünste reichten nicht weit, und als ich die Redaktion hatte, ging ich zum alten Gleis und bat ihn, die losen Bogen ordentlich zu heften. Ich band ihm auf die Seele, daß das Heft pünktlich am 30. fertig sein müsse, da ich's am 1. des nächsten Monats in Umlauf zu setzen hätte.
Er versprach alles, und ich verließ ihn. Als ich vorsichtig schon am 29. vorsprach, war Gleis nicht daheim; die Frau aber kam auf mich zu und klagte, er arbeite jetzt 42 gar so wenig, immer lese er und spreche von seinem großen Werk. Das war mir nun nichts Neues, ich tröstete sie aber, so gut ich konnte, obwohl das kaum nötig war; denn im Grunde ihrer Seele war sie stolz auf den Gatten und hatte auch zu Zeiten, da ein edler Mann durch ein gutes Wort der Frauen weit geführt wird, nie von ihrem Einfluß im Sinne geregelter Tätigkeit Gebrauch gemacht. Ich bat sie nur, auch an ihrem Teil für pünktliche Herstellung des Heftes zu sorgen, was sie zusagte.
Als ich am 30. nach der Nachmittagsschule bei heftigem Schneetreiben im Halbdunkel die Modestengasse betrat, ahnte mir trotzdem nichts Gutes. Und ich hatte mich nicht getäuscht. Gleis saß höchst vergnügt auf seinem Schemel, die Frau stand an einem Tisch und rührte in einem Kleistertopf, während er ihr mit tönender Stimme aus einem losen Bogen vorlas. Ich erkannte nach ein paar Sätzen, daß es eine lange Kritik war, die ich über Klingers »Zwillinge« geschrieben hatte – wir hatten das Stück eben in unsrer Camena gelesen –, und sah mit Schrecken, daß er die übrigen Blätter der Zeitschrift lose auf dem Schoß hielt. Ich hielt mich noch im Schatten der Tür, deren Öffnen er in seinem Eifer überhört hatte.
Nun ließ er das Blatt sinken, und ich gestehe, daß jetzt auch meine Eitelkeit rege ward, das, wie ich hoffte, begeisterte Urteil des Alten zu hören. Er brachte denn auch einige Lobsprüche, dann aber sagte er:
»Na ja, na ja. Aber was soll das alles? Ja, zu meiner Zeit!«
Und nun kamen die oft gehörten Namen wieder angerückt.
»Damals war Königsberg groß, heute –.« 43
Eine verächtliche Handbewegung schnitt das übrige ab.
»Sieh einmal, Augusta (er hätte seine kleine, verschrumpelte Guste nie anders genannt), als ich noch für Geheimrat Lobeck arbeitete! Als der König Lobeck fragte, ob er nicht irgend einen Wunsch habe, erwiderte der: ›Majestät, meine Frau möchte so gern die Fensterläden grün gestrichen haben‹. – Das war ein Geschlecht! Aber jetzt: Epigonen!«
Er wiederholte das Wort mit vollem Klang und wollte offenbar eben seine Debatte mit Hoverbeck vorbringen, als ich aus meinem Winkel hervortrat.
»Aber Herr Gleis,« sagte ich, »heute sollte doch das Heft fertig sein.«
Er blieb ganz ruhig.
»Dann bekommen Sie es eben morgen. Der verblichene Geheimrat Rosenkranz zitierte in solchen Fällen immer ein Wort, es gäbe nichts Unvornehmeres als Eile. Ich glaube, es war von Goethe.«
Bei allem Respekt vor den angerufenen Geistern konnte ich mich meines Ärgers nicht ganz erwehren und forderte nachdrücklich die Ablieferung bis zum Mittag des nächsten Tages.
Gleis erwiderte mit beneidenswertem Gleichmut:
»Nein, junger Herr. Morgen vormittag muß ich Bücher abholen. Sie bekommen das Heft erst abends.«
Da kam mir ein Gedanke. Auf das Versprechen gab ich nichts. Wenn ich aber Gleis anders lockte, durfte ich wohl auf das Heft rechnen. Ich sagte also:
»Gut. Sie haben ja gesehen, um was es sich handelt. Ich muß die Zeitschrift morgen abend in unsrer Sitzung vorlegen. Ich werde Sie um halb acht Uhr abholen. 44 Kommen Sie dann mit. Ich werde Sie in die Camena einführen. Meine Freunde werden nichts dagegen haben, daß Sie als Gast dabei sind.«
Jetzt strahlten seine blauen Augen. Aber er sagte nur ruhig:
»Schön, junger Herr.«
Dann fuhr er in der durch mich unterbrochnen Erzählung fort. Ich hatte Eile und empfahl mich.
Es war mir ein leichtes, meine Genossen für die Einführung des alten Gleis an diesem Abend zu bestimmen. Da ich in die Vorräte seines Kleiderschrankes gerechte Zweifel setzte und ihn den unbekannten jungen Leuten nicht in seinem Kleisterrocke zuführen wollte, brachte ich ihm einen abgelegten Rock eines Onkels von ziemlich kleiner Gestalt. Das Stück war dem alten Gleis freilich immer noch recht lang, aber er sah doch recht würdig aus, zumal da offenbar Frau Guste Haar und Bart des Gatten in erträgliche Ordnung gebracht hatte.
So ging ich mit dem Alten nach dem Steindamm. Unsre Zusammenkunft war heute bei einem Klassengenossen, der im Hause seiner Eltern zwei Zimmer eines besondren Stockwerks bewohnte. Alle waren schon versammelt, als ich Gleis einführte und in aller Form vorstellte. Die Zeitschrift hatte er fertig gemacht, ich legte die tadellos geheftete auf den Tisch.
Es traf sich glücklich, daß ich heute einen Vortrag über die Geschichte des Friedrichskollegiums zu halten hatte, das wir besuchten. Eine Menge bedeutender Namen mußte genannt werden: Argelander, Gotthold, Lehrs, Schubert, Simson, Bogumil Goltz, Jacoby, und da konnte denn Gleis in der Aussprache über das Gehörte mit 45 Erinnerungen über Erinnerungen aufwarten – nur den alten Hoverbeck hatte ich klüglich unterdrückt, obwohl auch er ein Friedericianer gewesen war.
Die guten Gesellen, unter denen wir saßen, und deren mancher sonst zu einem derben Scherz aufgelegt gewesen wäre, benahmen sich reizend gegen den Alten. Er stand im Mittelpunkt des ganzen Abends. Und unser offizielles lyrisches Mitglied wurde beauftragt, diesen Besuch in der nächsten Nummer der Zeitschrift in Versen zu verewigen. Nur konnte ich nicht hindern, daß, als die Bierflaschen auf den Tisch kamen, dem Alten etwas zu reichlich eingeschenkt wurde. Wir waren nach Schluß des literarischen Teils in zwanglose Gruppen auseinandergetreten, und plötzlich hörte ich von der Ecke, wo ich mit zwei näheren Freunden plauderte, die dünne Stimme Gleisens singen:
In Mirtills zerfallner Hütte
Schimmerte die Lampe noch,
Als, in seiner Laufbahn Mitte,
Düster sich der Mond verkroch.
Walter, irrend in dem Haine,
Sieht das Licht und folgt dem Scheine
Zu dem väterlichen Dach
Mit gepreßtem Herzen nach.
Schon saß unser Musiker am Klavier, tastete sich die Melodie zurecht, und Gleis sang alle neunzehn Strophen des gefühlvollen Liedes zu Ende. Dann aber, als alles ihm wieder aufs neue zugetrunken hatte, wurde der Politiker in ihm wach, und er sang seine alten Achtundvierzigerlieder, überschrie sich schließlich, wollte eine Rede auf die 46 Freiheit und das vereinigte Deutschland halten, brach mitten drin ab und geriet in flackernde Erregung.
Ich gab unserm Präses einen Wink, und er hob die Sitzung auf. Wir aber geleiteten den Alten die Treppen hinab und dann in großem Zuge nach seiner Wohnung, wo ich ihn seiner Frau übergab.
Am nächsten Tage ging ich mittags bei dem Keller vor und erkundigte mich, wie Gleis die ungewohnte Veranstaltung bekommen wäre.
Ich fand ihn etwas blaß auf seinem Schemel. Er dankte mir in wohlgesetzter Rede, und die Frau kam mir noch auf der Straße nach, um mir zu sagen, welche Freude wir ihrem Gatten bereitet hätten.
Darüber vergingen wieder Jahre, in denen ich Gleis fast nur zu den üblichen Terminen im Hause meiner Eltern sah. Sie klagten, daß seine Einbände immer schlechter würden. In der Tat wurden die Bände rasch wieder lose, und er nahm zum Bekleben der Deckel immer minderwertigeres Papier. Trotzdem hielt die alte Kundschaft aus Mitleid und Gewohnheit an ihm fest.
Dann bestand ich das Abiturium und rüstete mich, Königsberg zu verlassen und außerhalb eine Universität zu besuchen. Ich machte auch dem alten Gleis einen Abschiedsbesuch.
Er war sehr verfallen und klagte, daß ihm das Lesen schwer würde. Als er hörte, weshalb ich kam, seufzte er tief auf, drückte mir die Hand und streichelte meine rote Mütze.
»Ja, ja,« sagte er dann, und seine Stimme hatte wieder ihren vollen Klang. »Ich habe auch die Prima besucht, bis zum Examen bin ich aber nicht gekommen. Ich 47 habe einer verbotenen Schülerverbindung angehört und wurde von der Anstalt entfernt.«
Ich war völlig bestürzt über diese im alten würdevollen Deutsch vorgetragene, mir ganz neue Erzählung. Ich muß Gleis wohl etwas ungläubig angesehen haben, denn seine Frau, die hinter ihm stand, nickte mir bedeutungsvoll zu, die Wahrheit des Erzählten bestätigend.
»Andre Zeiten, andre Zeiten,« sagte er dann. »Aber es waren doch große Tage damals –.«
Und seine Hand fuhr durch die Luft, als wiese sie in undeutlich verdämmernde Vergangenheit. Dann kramte er in seinen Laden und reichte mir ein vergilbtes Heft.
»Nehmen Sie das zum Andenken, Herr Studiosus.«
Es war die Broschüre: Die Lösung der Orientfrage oder Zwei Hohenzollern auf den Thronen Polens und der europäischen Türkei.
Daß er sie mir vor sechs Jahren schon einmal geschenkt hatte, hatte er natürlich vergessen.
Ich war sehr gerührt, dankte ihm und sagte ihm und der alten Frau Lebewohl.
Als ich nach Jahren in die Heimat zurückkam, nun selbst Doktor wie der Großvater, ging ich an einem der ersten Tage nach der Modestengasse. Sie hieß nicht mehr so, und mit dem alten Schild war auch der alte Gleis verschwunden. Ich erkundete, daß er vor zwei Jahren nach einem andern Hause gezogen und dort bald darnach gestorben war. Seine Frau war ihm rasch in den Tod gefolgt.
Da sie keine Angehörigen gehabt hatten, die ihre Gräber gepflegt hätten, konnte ich die Ruhestätten der beiden Alten nicht ermitteln. Aber wenn ich in Königsberg bin 48 und durch die ehemalige Modestengasse gehe, spähe ich unwillkürlich hinab, ob nicht der alte Gleis auf dem Schemel sitzt und liest. Und wenn mir bei meinen Eltern alte, mürbe Bände in die Hand fallen, weiß ich gleich:
Die hat noch der alte Gleis eingebunden.