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Friedrich Theodor Vischer stand dem historischen Roman nicht ohne eine Art Mißtrauen gegenüber; er fand in der ganzen Dichtart einen innern Mangel, den er im einzelnen so darlegt: »Das große Schicksal der Völker und das Bild der politischen Charaktere muß Hintergrund und Mittelgrund bleiben, der Romanheld im Vordergrund darf nicht historisch bedeutend sein, weil der Roman einmal das Allgemeine, Namenlose des Privatlebens, das rein Menschliche der Persönlichkeit zum Inhalt hat; nun spricht eben daher dieser Vordergrund das höhere Interesse an, das doch seinem bedeutenderen Gewichte nach der Hintergrund, Mittelgrund verlangt, und das ist ein innerer Widerspruch; dort spannt uns die höhere Bedeutung der Geschichte, das Schicksal von Nationen, hier die Frage, ob Hans die Grete bekommt, beides gleichzeitig und so, daß die letztere Frage uns wärmer, zudringlicher beschäftigt.« Als diese Zeilen geschrieben wurden, war der deutsche historische Roman noch in der ernst zu nehmenden, wirklichen Literatur eine Seltenheit; aber immerhin hatte der Dichter schon eine ganze Reihe seiner besten Werke geschaffen, den Vischers Ästhetik weder in diesem noch in anderm Zusammenhange erwähnt, nämlich Willibald Alexis, dessen »Cabanis« damals (1857) schon vierunddreißig, dessen »Isegrim« drei Jahre alt war. Er hat durch die Praxis widerlegt, was Vischer hier als notwendigen innern Mangel des historischen Romans bezeichnet. Indem Alexis immer wieder Privatpersonen, um in Vischers Stil zu bleiben, in den Vordergrund stellt, verfällt er nicht der Gefahr unhistorischer Umdeutung, gewinnt aber durch die Einstellung 226 in ein großes geschichtliches Geschehn die Möglichkeit, die echte Stimmung und die wirkliche Umwelt so herauszubringen, daß Privates und Öffentliches sich zu einem völlig echten Bilde verbinden. Scheffel, von dem her dann der breitere Fluß historischer Romane datiert, hat seine Dichtart zu rechtfertigen gesucht, indem er sagte: »Der historische Roman kann das sein, was in blühender Jugendzeit der Völker die epische Dichtung, ein Stück nationaler Geschichte in der Auffassung des Künstlers, der im gegebenen Raume eine Reihe Gestalten scharf gezeichnet und farbenhell vorüberführt, also daß im Leben, Ringen und Leiden des Einzelnen zugleich der Inhalt des Zeitraums sich wie zum Spiegelbild zusammenfaßt«. Und es ist zu beklagen, daß gerade an das durch den »Ekkehard« (1855) neu geweckte historische Interesse des Publikums nun jene Entwicklung des Romans anknüpft, die schließlich vom historischen zum archäologischen Roman führte, gegen den das Jüngste Deutschland sich vor allem erhob, und den es denn auch wirklich in verhältnismäßig kurzer Zeit aus den Verlagskatalogen und von den Büchertischen weggefegt hat. All diese Romane dienten mehr nur der »Bildung«, der Darstellung vergangner Kulturen am Faden einer beliebigen Handlung, zu der Spötter die Vorbilder irgendwo in der Nähe der Autoren suchten und fanden. Sehr deutlich wies, was ihm als Verdienst anzurechnen ist, schon in den ersten Kämpfen Karl Bleibtreu demgegenüber auf Willibald Alexis hin: »Dieser genialste deutsche Romandichter (der deswegen auch bei Lebzeiten völlig verkannt, selbst jetzt noch nicht annähernd die ihm gebührende Verehrung gefunden hat) darf sich allerdings einer fast ebenbürtigen Kunst rühmen. Im Blick für das Zeitkolorit und an Gründlichkeit der historischen Auffassung war er Scott sogar überlegen. Er ist bisher der einzige in Europa, welcher historische Romane großen Stils aus diesem Jahrhundert geformt hat: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, Isegrim. Er verfügt auch wie kein andrer über die wundersame Kunst, die Menschen im Ton ihres Zeitalters reden zu lassen.« Mit voller 227 Betonung stellt Bleibtreu Alexis über Scheffel und Freytag. Für seine Charakteristik hätte er sich freilich auf Adolf Sterns schon in den siebziger Jahren geschriebne Würdigung des Dichters berufen können, in der wir denn auch schon die später von der Moderne viel lauter vorgetragene Abfertigung des archäologischen Romans finden. »Der historische Roman,« heißt es da, »soll und darf nichts andres sein als ein Lebensbild, zu welchem sich der Dichter durch die Fülle der Empfindungen und Anschauungen gedrängt fühlt, er muß eine Handlung oder einen Konflikt, er muß Menschen darstellen, an die sich sowohl der Poet mit seiner eignen Seele als der Leser mit seiner Teilnahme hinzugeben vermag, er muß mit einem Worte soviel rein Dichterisches (Menschliches) aufweisen, daß alles andre nur das Verhältnis des Brennstoffes zum Feuer hat. Die Flamme verzehrt die Scheite, und um die Flamme und die von ihr ausstrahlende Wärme handelt es sich! Wer vor einem schlecht lodernden, qualmenden Feuer die Seltsamkeit und Mannigfaltigkeit des Materials rühmt, gilt für einen Narren, und wer eine schlechte Dichtung mit etwaigen politischen, ethnographischen und sonstigen Vorzügen rechtfertigt, der hat eben keine Empfindung für die Poesie und ihr eigenstes Wesen. Der historische Roman muß ebenso wie jede andre Schöpfung aus dem innersten Drange des Dichters, aus der Mitempfindung für die dargestellte Handlung, für die geschilderten Menschen hervorgehn. Wem es darum zu tun ist, an einem beliebigen Faden unbeseelte Sittenschilderungen oder politische Maximen aufzureihen, der charakterisiere schlicht Land und Leute oder schreibe Leitartikel, zum historischen Roman ist er so wenig berufen wie zu jeder andern dichterischen Schöpfung. Eine solche aber ist der historische Roman und soll es bleiben oder werden.«
Damit wären wir denn dem innersten Wesen des historischen Romans an der Hand eines Meisters der historischen Novelle nahe genug gekommen. Und wie im Laufe der Jahre seit dem Beginn des Naturalismus mit den andern Meistern des Realismus Willibald 228 Alexis jetzt erst zu großer, freilich noch nicht voller Wirkung emporgetaucht ist, so hat sich langsam ein neuer historischer Roman gebildet. Schon in jener oben zitierten, berühmten Broschüre (»Revolution der Literatur« 1886) verlangte Karl Bleibtreu nach einem neuen geschichtlichen Roman, dem er freilich mit der Einseitigkeit eines jeden, der Neues durchsetzen will, allein die historischen Erlebnisse der Völker seit der französischen Revolution als Schöpfgebiet zuweisen wollte. Aber nicht so rasch ging es hiermit wie mit dem historischen Drama, das durchaus im Stil der neuen Dichtung in Gerhart Hauptmanns »Webern« eine nicht wieder erklommene Höhe erreichte. Langsam wuchs den Erzählern der Gegenwart die ganze Gestaltenfülle der Vergangenheit wieder zu, und wenn wir heute auf die letzten Jahrzehnte zurückblicken, so finden wir eine schier erstaunliche Fülle von historischen Romanen, Erzählungen, Novellen von bleibendem Wert, von dichterischem Gehalt.
Freilich war auch das Geschlecht, das die Älteren mit den Jüngeren verband, nicht müßig gewesen, nur wurde seine stillere Arbeit, die überhaupt zwischen zwei Schlachten nicht recht zur Geltung kam, vielfach übersehn. Theodor Fontanes großer historischer Roman »Vor dem Sturm« (1878), der wesentlich von Alexis beeinflußt ist, gelangte selbst zur Zeit der größten Erfolge seiner Romane aus dem neuen Berlin nicht recht zur Wirkung, und seine Meisternovelle »Grete Minde« (1880) hat nicht den vollen Ruhm späterer Werke erreicht, obwohl hier bis ins Letzte Gehalt und Form, historischer Duft und persönlich psychologische Wandlung in eins gehn. Auch in dem freilich sehr viel schwächern »Schach von Wuthenow« (1883) steckt ja eine ganze Fülle historischer Reize, denen dann der Verfasser für den Rest seiner Werke Lebewohl gesagt hat. Wilhelm Jensen hatte in der unübersehbaren Fülle seiner Produktion 1886 seinen feinen und echten Roman aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts »Am Ausgang des Reiches« geschaffen, ein Werk, aus dem die ganze Schwermut 229 atmet, die den Besucher des Schwetzinger Parkes noch heute umfängt. Theodor Hermann Pantenius gab vortreffliche geschichtliche Familienromane aus seiner baltischen Heimat. Wilhelm Heinrich Riehl schuf seine ruhigen, kulturhistorischen Novellen, deren vollständige Sammlung erst in den neunziger Jahren hervortrat, und einige der schönsten historisch-psychologischen Novellen Paul Heyses, insbesondre zum Beispiel »Die Stickerin von Treviso« mit ihrem eigen süßen, vollen italienischen Ton sind in jenen Übergangsjahren erschienen, denen auch Fanny Lewalds bestes Werk, der geschichtliche Heimatroman »Die Familie Darner« angehört.
Schon 1881 hatte Heinrich Steinhausen seine »Irmela« gegeben, und vor allem Wilhelm Raabe hatte immer wieder aus dem Born historischer Erlebnisse geschöpft. Bei ihm waren besonders die ersten sechziger Jahre nach dieser Richtung sehr produktiv. Da gab er 1861 die »Blätter aus dem Bilderbuche des sechzehnten Jahrhunderts«: »Der heilige Born«, im selben Jahr die rein eingestimmte Erzählung in zwölf Briefen »Nach dem großen Kriege«; psychologisch eins seiner feinsten und zugleich zartesten Werke, nicht ohne die pessimistische Beleuchtung, die über vielem liegt, was er damals geschaffen hat (»Was hält stand gegen das Gelächter der Ehrenmänner«), aber auch mit der Burschenschafterstimmung der Studentengeneration vom Wartburgfest, die auszieht, das stolze Haus zu bauen, dessen Gelingen der Briefschreiber freilich wehmütig bezweifelt. Ein Jahr darauf folgte der historische Roman »Unsers Herrgotts Kanzlei«, der schon zwölf Jahre alt war und in seiner kräftigen Tüchtigkeit doch nicht in den Kreis voller Raabischer Meisterwerke gehört. Und später sind dann eine Fülle historischer Dichtungen entstanden, deren Meisterwerk »Das Odfeld« (1888) ist, jene Erzählung von der Mindener Schlacht aus dem siebenjährigen Kriege, durch die der Herzog Ferdinand von Braunschweig schreitet, und in die das Leben der Natur immer wieder hineinschlägt, sich zur Einheit verflicht mit dem Leben 230 der kriegsverwirrten Menschheit. Und endlich schöpfte Raabe in »Hastenbeck«, seinem letzten Buch (1899), noch einmal aus der Welt des siebenjährigen Krieges, wobei freilich allmählich der »Privatroman« aus der historischen Erzählung herauswuchs.
Immer wieder griff auch der fast zwanzig Jahre jüngere Hans Hoffmann zu historischen Stoffen. Weniger Raabe als den jüngern Münchnern und Jensen verwandt, schuf er seine breiten Romane, wie den »Eisernen Rittmeister«, ein preußisches Buch aus der Zeit der Befreiungskriege (1890), und neben kleineren Werken »Wider den Kurfürsten« (1894). Hier handelt es sich um einen Roman aus Hoffmanns engster Heimat, aus Stettin ums Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Und besonders im »Eisernen Rittmeister« hat Hoffmann voll den ihm auch sonst eignen hellen, nicht spielerischen, aber auch nicht, wie bei Raabe, tragischen Humor; er ist der eigentliche Humorist unter den neuern historischen Romandichtern. Man kann mit ihm Max Eyth nennen, der noch als letzte Gabe seines reichen Lebens im »Schneider von Ulm« (1907), auch mit starker humoristischer Ausdeutung, ein läßlich komponiertes historisches Bild aus dem Württemberg um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts brachte. Bei ihm spricht der Techniker mit, der sich jeder neuen Erfindung freut, und sein Held ist der Schöpfer eines, freilich nicht die letzte Probe aushaltenden Flugapparates. Hier haben wir also den historischen Roman der technischen Phantasie, das Gegenstück zu dem jetzt eben erst einsetzenden und durch die raschen Erfindungen der letzten Jahre befeuerten technischen Phantasie-Roman der Gegenwart.
Hermann Sudermann, neun Jahre jünger als Hans Hoffmann, bringt schon wieder einen neuen Ton. Wie er mit der »Frau Sorge« (1888) an der Spitze des neuen Entwicklungromans steht, so schuf er im »Katzensteg« (1889) einen neuen Stil historischer Romanerzählung, noch stark jungdeutsch beeinflußt. Er hatte freilich das Jungdeutschtum nicht mehr direkt empfangen können, 231 es war ihm durch Spielhagen und durch Freytag überliefert worden, was man sehr deutlich bei einem Vergleich von Freytags »Valentinen« mit Sudermanns »Ehre« merkt. Hier im »Katzensteg« aber kam zu dem jungdeutschen Tendenzelement und dem starken heimatlichen Einschlag von Sudermanns älteren Schöpfungen ein guter Schuß modern sozialen Empfindens. Wie da der Einzug der Sieger nach dem Feldzug von 1813 geschildert wird, das ist, wie ich oben belegt habe, doch etwas wesentlich andres als Freytags gegenüber dem Jungen Deutschland schon realistisch gewendete Kunst historischer Einfühlung. Leider hat Sudermann diese Bahnen nicht wieder beschritten. Hier hätte der historische soziale Roman einsetzen können. Adolf Bartels hat im »Dietrich Sebrandt«(1899) so etwas versucht, die sozialen Verhältnisse Berlins zum Ende der vierziger Jahre und die Schleswig-Holsteins während der ersten Erhebung in den Gang der historischen Ereignisse und die Geschicke seines Helden verflechten wollen, ist aber nicht zum runden Kunstwerk gediehn, während er in seinen »Dithmarschern« (1898) mit größerem Glück ein breiteres Bild aus seiner Heimatgeschichte gab, von der Schlacht bei Hemmingstedt bis zur Unterwerfung der Republik, wozu die kräftige Erzählung »Wilde Zeiten« historisch und ästhetisch eine Vorläuferstellung einnimmt.
Deutlich auf Freytag, freilich weniger auf den jungen, als auf den alten Freytag der »Ahnen«, geht die Romandichtung August Sperls zurück. In seiner »Fahrt nach der alten Urkunde« (1893) gab er mehr historische Reminiszenzen aus altem Geschlecht in der Spiegelung durch jüngere Nachfahren, erhob sich dann aber nach den etwas zu breiten »Söhnen des Herrn Budiwoj« (1897) in den Roman »Hans Georg Portner« (1902) zu einer Höhe dichterischer Konzeption, auf der ihn auch sein neuester Roman »Richiza« (1909) siegreich zeigt. Knapp folgen bei ihm die Bilder, knapp sprechen die Menschen, immer im echten Ton der eisernen Zeiten, die er am meisten liebt, im »Portner« der ersten Jahre des dreißigjährigen Krieges, in »Richiza« der ersten Kreuzzüge. Er gibt nicht 232 runde Bilder, sondern mehr einen fortlaufenden Wandelzug, auf dem wir die straff festgehaltenen Helden begleiten, und hinter dem sich immer das große, historische Gesamtbild wie selbstverständlich vorwärtsschiebt.
Auf engerem Raum bezwang Jakob Julius David solche Stoffe. Immer wieder griff er in seinen historischen Novellen in verwirrte Zeiten, am liebsten nach dem Ausgang des dreißigjährigen Krieges, und tat seinen Meistergriff in den beiden Stücken »Das Totenlied« und »Frühschein« (1896), die beide verwirrte Geschicke aus den sechziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts schildern. Hier haben wir die neue psychologisch-historische Novelle.
Um dieselbe Zeit, da die Ballade, an Strachwitz geschult, wieder aufwachte, entstand auch aus demselben Kreise eine neue Art historischer Novelle, die ich als Balladennovelle bezeichnen möchte und deren Meisterin Lulu von Strauß und Torney ist. Ihre beiden Erzählungen »Der Hof am Brink« und »Das Meerminneke« (1906) sind merkwürdig kalte, aber doch fesselnde und nicht wieder loslassende Schöpfungen, denen sich »Auge um Auge« (1909)nach Stoff und Form anschließt. Schnell, gewalttätig, oft überraschend zieht alles vorüber und entläßt uns unter dem Eindruck, in der Wirrnis schwerer Zeiten starke, persönliche Erlebnisse gesehn zu haben, wie ihr späterer Roman »Lucifer« (1907), kein ganz geschlossenes und bis zu Ende durchkomponiertes Werk, doch ein paar Gestalten aus der Zeit des Kreuzzugs gegen die Stedinger (1233) klar hinstellt und uns am Schluß in einer glänzend aufgebauten Szene, der Verbrennung eines Ketzers, mit einem echten Balladeneindruck entläßt.
Die Versuche Karl Hans Strobls, in seinen »Bedenksamen Historien« (1907) eine Art historischer mondäner Novelle zu schaffen, sind einstweilen Versuche geblieben, während eine ganze Reihe von Erzählern schlichte Geschichten mehr im Tone der Familienchronik, des Hausbuchs mit Glück vorträgt. Hier ist Bernhardine Schulze-Schmidt zu nennen, vor allem aber Charlotte Niese, 233 deren bestes Werk die ruhig erzählte Altonaer Emigrantengeschichte »Vergangenheit« (1902) mit der fein gezeichneten Gestalt der Frau von Genlis ist. Ihr verwandt ist der Rheinländer Julius R. Haarhaus, dessen »Marquis von Marigny« (1903), ein Werk leichten Humors, eine hübsche Ergänzung fand in der Erzählung »Der Bopparder Krieg«, die sich mit ernsten Novellen, insbesondre dem ruhig und echt erzählten Stück aus der Reformationszeit »Der Mönch von Weinfelden«, in dem Bande »Unter dem Krummstab« (1906) zusammenfindet. Den Stil der Chronik fand er für seine »Sankt Michaelskinder« im Stil eines Stadtschreibers von 1552, in der gleichen Sammlung. Haarhaus hat auch in seinem Buch »Wo die Linden blühn« Märchen mit historischem Schimmer und Leipziger Lokalisierung gegeben, während sein rheinischer Landsmann Ernst Müllenbach (gestorben 1901), um einige Grade leichter, in seinem »Franz Friedrich Ferdinand« (1897) ein historisches Idyll aus der Zeit der Kleinstaaterei zeichnete. Wilhelm Arminius näherte sich wieder mehr dem Chronikenstil und hat nach mehreren größeren Romanen letzthin in dem vortrefflichen »Hegereiter von Rothenburg« (1909) ein ohne archaistische Schnörkel sehr echt betontes Werk aus der Zeit reichsstädtischer Kämpfe mit den Fürsten im fünfzehnten Jahrhundert gegeben.
Zur vollen Höhe des das Leben allseitig bezwingenden Romans, der ein weites Weltbild gibt und doch historischer Roman bleibt, ganz im Sinne jener Sternschen Ausführung, erhebt sich Enrica von Handel-Mazetti. Ihr Werk »Jesse und Maria« (1906), mit dem nach langer Zeit wieder die spezifisch katholische Literatur in der gemeindeutschen Literatur einen großen Sieg gewann, nimmt nicht nur in diesem Betracht einen hohen Rang ein. Der Kampf zwischen dem jugendlich ungestümen protestantischen Ritter, der der österreichischen Gegenreformation den Boden abgraben will, und dem gläubig katholischen Weibe des Försters wird in immer neuer Verinnerlichung bis zum Letzten durchgekämpft, während zugleich schwere Geschicke einer äußerlich unbeherrschten Zeit 234 hineinschlagen. Alles ist mit überzeugender Gewalt dargestellt, ohne historischen Kleinkram wird ein Bild der Zeit gegeben, und die tiefe Leidenschaft beider Naturen tritt in wirklicher Klarheit ans volle Licht. Dabei umwogt diese zwei, Jesse und Maria, eine Fülle andrer Gestalten, jede echt und treu, und mit der höchsten Unparteilichkeit des Dichters sind hier die religiösen Probleme behandelt, nicht lau und flau, nicht mit irgendeiner vorgefaßten Tendenz, sondern aus den Tiefen eines Herzens, das sich zu der einen Seite bekennt, ohne das Recht der andern zu verkennen. Hier haben wir den neuen religiös-historischen Roman.
Und wieder in psychologische Tiefen geht Jakob Wassermann in seinem »Caspar Hauser, oder die Trägheit des Herzens« (1908). Schon in den »Juden von Zirndorf«, einem der Erstlinge dieses damals noch wenig disziplinierten Talents, fiel die Echtheit der Atmosphäre auf, in die jene vielfach noch unvollkommnen Gestalten getaucht erschienen. Jetzt ist gerade diese Gabe Wassermann voll gereift, und der ganze Wust von Geheimnistuerei, Aberglauben, wirklicher Teilnahme, Phantastik, Neugier, der sich um den unglücklichen Hauser und um den großen, tragisch verstrickten Idealisten Feuerbach bildete, kommt mit völliger Echtheit lebendig heraus. Wir bleiben mit Caspar im Rätselhaften, wenn auch Wassermann die Abkunft seines Helden von einem süddeutschen Fürstenhause als tatsächlich unterstellt, wir empfinden den wunderbaren Reiz dieser zarten Natur, deren Träume ein großes Schicksal andeuten, und deren furchtbares Ende noch menschlicher Unverstand und halb bewußte, halb unbewußte Grausamkeit fratzenhaft verzerren. Der Stil der dreißiger Jahre ist unverändert, aber ohne Künstlichkeiten festgehalten, und das Helldunkel, das über allen Ereignissen liegt, wird mit Glück widergespiegelt. Hier ist der neue psychologisch-historische Roman, demgegenüber die Werke von Franz Adam Beyerlein (»Ein Winterlager« 1906) und Richard Huldschiner als historische Stimmungsromane anzusprechen sind. 235
Das Bemühen, einen Ersatz für den unheilvollen Kolportage-Roman zu schaffen, hat den früh verstorbnen Adolf Schmitthenner zu seinem hinterlassenen Werk»Das deutsche Herz« (1906, erschienen 1908) angeregt. Hier ist alles lebhafte, keck fortschreitende, an rauschenden Geschehnissen reiche Handlung aus dem Neckartal in den Anfangsjahren des dreißigjährigen Krieges. Gleich im Beginn führt Schmitthenner mit regem Humor und im vollen Widerhall seiner Heimatnatur uns in die Gegend oberhalb Heidelbergs, und mit der Lebhaftigkeit, die der Volksroman erfordert, wird das Ende des Geschlechts derer von Hirschhorn dargestellt, wenn freilich auch der Held, »das deutsche Herz«, nicht so glücklich herausgekommen ist, wie wir es wünschten, zu sehr Wäger, zu wenig Wager, daß er den Ehrennamen voll verdiente. Schmitthenners Werk ist der neue historische Heimatroman. In seiner kleinen, aber hinreißenden Erzählung »Friede auf Erden« (1892), vom Ende des dreißigjährigen Krieges, gelingt ihm noch reiner, den echten Ton der Geschichte nur mit dichterischen Mitteln in uns aufklingen zu lassen; das ungläubige Staunen der Dorfleute darüber, daß wirklich Friede sein soll – die fassungslose Hingebung an das Unerhörte, als es Wahrheit, unwiderlegliche Wahrheit geworden ist – die Verwunderung der im Kriege gebornen Kinder, denen das Wort »Friede« völlig fremd ist – das alles lebt und bleibt.
Wir sehn, auch der neue historische Roman rückt immer wieder von der Gegenwart ab in weitere Fernen, wenn auch freilich selten bis hinter die Reformation zurück; und selten finden wir jene Forderung der Jungen nach historischen Romanen aus dem neunzehnten Jahrhundert erfüllt, zu denen vielleicht Karl Bleibtreus beste Schlachtenbilder und Gustav Frenssens »Peter Moors Fahrt nach Südwest« (1906) mehr Material als schon Vollbringen sind. Schärfer als beide bringt Detlev von Liliencron in seinen Kriegsnovellen ohne historische Absicht den vollen Eindruck geschichtlich schwerer Tage mit heraus. In letzter Zeit ist die deutsche 236 Revolution besonders auch von Österreichern mehrmals behandelt worden, aber doch nicht in dem Sinne historischer Romandarstellung, sondern mehr als moderner Roman im Rahmen einer etwas älteren Geschichte. Auch »Die Wacht am Rhein« von Clara Viebig (1902) ist wohl weniger ein historischer Roman, wenn sich auch die deutschen Geschicke vieler Jahre hineinverflechten, als daß das Werk spätern Forschern wie ein historischer Roman erscheinen wird in dem Sinne, in dem für uns manches ältere Werk Geltung eines historischen Romans gewonnen hat, ohne sie bei seinem Erscheinen zu beanspruchen. Noch ist die ganze große Werdezeit des neuen deutschen Reichs ungehobener Stoff, nur dem Zeitroman immer wieder verfallen, und nur etwa in Wilhelm Raabes »Dräumling« (1871) mit dem Schillerfest von 1859 und »Gutmanns Reisen« (1892) mit der Koburger Tagung des Nationalvereins von 1860 sind Anfänge; nur daß hier ein Mitlebender das Gewesene sah, das für uns nun freilich, weil er ein Meister im Gestalten ist, historisch fest dasteht. Auch Rudolf Lindau hat seinen Roman »Ein unglückliches Volk« (1903) noch als ein Mitlebender geschrieben und in ihm die Armenieraufstände in Konstantinopel aus den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts geschildert, aber auch sein Werk wird später, ja, kann schon heute voll die Geltung eines historischen Romans beanspruchen.
Was Ricarda Huch in ihren »Geschichten von Garibaldi« (1906 und 1907, noch nicht abgeschlossen) gibt, könnte so etwas wie der neue romantisch-historische Roman sein, bleibt aber mit allem Schimmer und Glanz, der insbesondre den ersten Band »Die Verteidigung Roms« umkleidet, doch eben in der Geschichtenerzählung stecken, die nicht zum geschlossenen Aufbau des Romans hinstrebt, ein Moment, das uns gerade den romantischen Charakter dieser Kunst noch deutlicher bewußt macht. Hier ist ein Großer wirksam gewesen, der auf keinen andern der neuern historischen Roman- und Novellendichter Einfluß gehabt hat, und von dem 237 auch Ricarda Huch nur einiges und gerade hier die strenge Technik am wenigsten gelernt hat: Conrad Ferdinand Meyer. Sein historischer Roman und seine historischen Novellen stehn für sich allein da, durchaus, um ein Meyersches Wort zu gebrauchen, substantiell, nicht ohne starken romanischen Einschlag, wie ihn die meisten Schweizer besitzen, immer wieder mit tragischer Größe. Nur einige von Paul Heyses italienischen historischen Novellen könnte man hier nennen. In Conrad Ferdinand Meyers historischen Novellen freilich ist das selbstverständliche Leben in der Vergangenheit so stark, wie kaum bei einem andern, und so große Gegensätze, zwischen dem eigentlichen Meister des älteren und Vorläufer des neueren historischen Romans, zwischen Willibald Alexis und Conrad Ferdinand Meyer bestehn, in dem Einen sind die beiden unvergleichbar: in dem wie nachtwandlerischen Verständnis der Vergangenheit. Theodor Fontane hat ja Willibald Alexis bei aller Liebe weit unterschätzt, er hat ihm aber unbewußt ein großes Kompliment gemacht, als er von ihm im Gegensatz zu dem überschätzten Scott sagte: »Willibald Alexis stand immer mitten inne«. Denn gerade dieses Mitteninnestehn hat aus Alexis letzthin den großen und bleibenden historischen Romandichter gemacht. Nur wer, ob klein oder groß, mitten inne steht, wird auch den historischen Roman der Neuzeit schreiben können, und so begegnen sich genau wieder im Sinne des Sternschen Ausspruchs der moderne und der historische Roman. Unsre neuere Romandichtung ist nicht zufällig heute im wesentlichen Entwicklungsroman, Familienroman, Milieuroman, denn unsre Schriftsteller leben eben nicht mitten inne in den großen politischen und historischen Bewegungen der Zeit – die alte Klage braucht nicht erneut zu werden, besteht aber immer noch zu Recht. Der historische Roman und die historische Novelle sind in aller Stille in den letzten zwanzig Jahren wieder herangewachsen und leben in erfreulicher Frische -– der große historische Roman des neuen deutschen Reichs und gar der neuen Kämpfe um die Verteilung der Welt 238 wird erst geschrieben werden, wenn unsre jungen Dichter das Leben der Nation so mitleben, wie Zola und Tolstoi, wie unsre Großen, Alexis und Gotthelf, Hebbel und Raabe, das der ihren zu ihrer Zeit. Denn schließlich erscheint freilich als das Meisterwerk unbewußt historisch gewordner Romandichtung das Gesamtwerk Wilhelm Raabes, das immer absolute Kunst, nie einer Zeitströmung folgsam, das ganze deutsche Leben seiner Heimat, seiner Zeit, seiner Jünglings- und Mannesjahre, mitnahm und neu schuf zu Dichtungen, die mit jedem Jahr größer erscheinen, und deren Dauer ihr deutscher, dichterischer Gehalt auf nicht absehbare Zeit verbürgt. 239