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Das literarische Leben Deutschlands ist in neuerer Zeit niemals völlig zentralisiert gewesen. Selbst während der Blüte Weimars gab es nicht nur in Schwaben und in Berlin abseitsstehende Kreise. Und als mit Schiller die eigentlich zusammenhaltende und literaturpolitisch wirkende Kraft dahingegangen war, wurde die Vereinzelung wieder stärker. Kaum eine Stadt in Deutschland hat sich dauernd als literarischer Vorort behaupten können, und zum Beispiel die schwankenden Schicksale Leipzigs und Dresdens wären ein dankbarer Gegenstand der Untersuchung Für Leipzig hat Georg Witkowski diese Aufgabe neuerdings in seiner »Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig« gelöst; allerdings geht er nur bis zum Beginn der neuesten Zeit.. Nach dem Jahre 1889 erschien es insbesondre so, als ob Berlin und München allein die Vorherrschaft gewonnen hätten und daneben höchstens noch versprengte Kräfte in größeren oder kleineren Zusammenhang mit den Hauptstädten arbeiteten. In den letzten Jahren aber hat sich das Bild wieder völlig verändert, und es ist gewiß ein Zeichen des Fortschritts und gesunder Entwicklung, daß immer neue Mittelpunkte entstehn und sich um diese ein buntes Leben kristallisiert. Hamburg, das zwar immer den einen oder den andern bedeutenden Schriftsteller beherbergte, hat im letzten Jahrzehnt an Bedeutung in diesem Sinne mehr und mehr gewonnen und ist heute auf dem Wege, wenn nicht schon an dem Ziele, die Stellung wiederzugewinnen, die es einmal, in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, besaß. Eine Fülle älterer und jüngerer Kräfte ist in der größten deutschen Handelsstadt heimisch 124 geworden, auch ohne ihr durch Geburt anzugehören, und da, wo Leben ist, auch Leben hinzukommt, so ergibt ein Studium des geistigen Hamburgs der Gegenwart einen beim ersten Blick überraschenden Farbenreichtum literarischen und dichterischen Lebens. Ja, wenn man, wie mans tun muß, den Umkreis der großen Stadt und ihre Nachbarstädte hinzurechnet, so findet man, daß Hamburgs Bannmeile nun schon seit Jahren die Heimat einer Reihe von Dichtern ersten Ranges geworden ist, wie sie sich jetzt in keiner andern deutschen Stadt mehr zusammenfindet. Wenn man Detlev von Liliencron, den zu früh Entrissenen, der uns doch noch mit seiner Persönlichkeit lebt, Richard Dehmel und Gustav Falke, alle drei Bewohner hamburger Vororte, aus der deutschen Lyrik der Gegenwart ausstriche, so würde nichts imstande sein, die Töne zu ersetzen, die uns dann fehlten.
Gustav Falke ist 1853 in Lübeck geboren, reiht sich also zeitlich noch den Dichtern des Übergangs vom Alten zum Neuen an, die als einsame Kämpfer zwischen den Schlachten standen: Wildenbruch, Hoffmann, Avenarius, Alberta von Puttkamer, Schönaich-Carolath; trotzdem gehört er im Gegensatz zu dem ihm persönlich verbunden gewesenen und in manchem verwandten, um ein Jahr älteren Carolath bereits ganz zur nächsten Generation. Das spricht sich deutlich schon in zwei Zahlen aus: Carolaths erster Gedichtband erschien 1878, also längst, bevor die jüngste Bewegung einsetzte – Falkes erster Band 1891, mitten im Werden neuer Kräfte. Der Poet, der am Ende des vierten Jahrzehnts seines Lebens stand, hatte schon wieder aus Süddeutschland den Weg nach dem Norden gefunden; der Sohn Lübecks war in Hamburg heimisch geworden. Durch den Buchhandel, wie bei Wilhelm Raabe, ging bei ihm der Weg zum Schriftsteller, und als nun seine ersten Gedichte erschienen, da wirkten sie durchaus als neue Kunst und fanden eine Begrüßung voll hinreißender Liebe bei Detlev von Liliencron, dem Falke dann die erste Ernte gesammelt darbrachte. Der Band hieß: »Mynheer der Tod«, und es darf gleich hier 125 gesagt werden, daß Falke es wie wenige verstanden hat, seinen Werken schlichte und doch eigenartige Titel zu geben, die sich dem Kenner sofort und für immer einprägen: »Mynheer der Tod«, »Tanz und Andacht«, »Zwischen zwei Nächten«, »Neue Fahrt«, »Mit dem Leben«, »Hohe Sommertage«, »Frohe Fracht«, dazu Prosabücher: »Aus dem Durchschnitt«, »Landen und Stranden«, »Der Mann im Nebel« – man soll noch nach einem Dichter suchen, der die schwierige Kunst der Titelfindung mit solcher Feinheit und solcher Treffsicherheit zu handhaben versteht Gustav Falkes Werke erscheinen bei Alfred Janssen in Hamburg. Nur ein Buch »Dörten und andre Novellen« ist bei Max Hesse in Leipzig herausgekommen.. –
Den lauten Schreiern mit den Fechterposen
Hat Pöbelgunst den Lorbeer stets gebracht;
Indessen lenkt mit selbstgepflückten Rosen
Ein Ritter schweigend aus der Siegesschlacht.
Es sind nicht allzu viele Dichter der deutschen Gegenwart, die gefahrlos ein solches Bild hinstellen dürfen, weil sie selbst stets der Fechterposen bar waren und von allem Anfang ihres Schaffens bis zur Reife der Kraft immer nur als ehrliche und in bestimmtem Sinne tumbe Kämpen ihre Schlachten bestanden haben. Gustav Falke aber darf mit Wahrheit auf der Höhe seines farbig reizvollen, mehr gerühmten als wirklich gekannten Schaffens solchen Kranz für sich beanspruchen. Der Beginn seines dichterischen Aufstiegs fiel noch in die laute Zeit wilder Befehdung zwischen Alt und Neu; und wenn er auch nicht »dieses laue Händedrücken, abgemessene Verneigen« kannte, sondern lieber »Hände hinterm Rücken« frei und ehrlich Farbe zeigte, so blieb Falke doch dem journalistischen Nahkampfe, dem literarischen Richtungshader fern – so sehr wußte der damals schon durchgebildete Künstler und Mann, daß seine Rosen in anderm Streite zu pflücken waren, als im Leben des Marktes. 126
In den ältesten Dichtungen Carolaths, um auf diesen Vergleich noch einmal zurückzukommen, war ein Einfluß Heinrich Heines festzustellen: ganz im Gegensatz dazu fehlt dieser Einschlag bei Gustav Falke nicht nur vollständig, sondern er gehört zu den früher sehr seltnen, jetzt schon zahlreicheren Lyrikern, die überhaupt unter Heines Einfluß niemals gestanden haben, und er hat den in unsrer Zeit wahrlich großen Mut besessen, zu gestehn, daß die Dichter, die er liebe, alle andre Gesichter trügen. Er hat Namen dabei nicht genannt, aber wenn wir in seine Werke hineinschauen, so finden wir, daß er an zwei Dichtern vor allem sich geschult hat, an Mörike und Liliencron. Falke hat einmal in einer selbstbiographischen Skizze gesagt, er könne eine ganze Abhandlung über sein Verhältnis zu Liliencron schreiben; er täte dies aber nicht und müsse es schon seinen Kritikern überlassen, die Beeinflussung herauszufinden. Wenn wir dieser Anregung folgen, so möchte ich da, fern jeder nach Parallelen forschenden Pedanterie, Folgendes sagen: je öfter ich Falke und Liliencron lese, um so mehr stellt sich mir das Verhältnis des Jüngern zum Ältern so dar – ich meine natürlich das dichterische Verhältnis – wie das von Friedrich Hebbel zu Ludwig Uhland. Mit Bezug hierauf hat Hebbel selbst einmal Folgendes gesagt: »Ich habe die Erfahrung gemacht, daß jeder tüchtige Mensch in einem großen Mann untergehn muß, wenn er jemals zur Selbsterkenntnis und zum sichern Gebrauch seiner Kraft gelangen will; ein Prophet tauft den zweiten, und wem diese Feuertaufe das Haar sengt, der war nicht berufen!« So ist Gustav Falke einst in Detlev von Liliencron untergegangen; noch deutlicher fast als sein erstes Buch zeigen es das zweite und das dritte. Aber die Feuertaufe hat ihm das Haar nicht gesengt. Schon da, wo er nur wie ein jüngerer Liliencron erscheint – und das ist in einigen Gedichten immerhin der Fall – tönt noch ein Klang mit hinein, den Liliencron nicht hat, und der ein Auftakt ist für Falkes ganz eigne Melodie, die sich von Jahr zu Jahr klarer herauslöst und schon in dem Buch »Tanz und Andacht« (1893) als 127 unverwechselbare Eigenart durchgedrungen ist. Man kann in dem Aufbau eines einzigen Gedichtes schon dieses langsame Hinfinden zum eignen Ton belauschen. Da ist das zweite Stück in »Mynheer der Tod« (1891) »Die Equipage«. Eine alte Exzellenz und ein junges Mädchen, eben erst flügge, werden von dem Tod, der an Stelle des Kutschers das vornehme Gefährt bestiegen hat, einhergeschleift.
Breitbeinig steht der Tod, weit vorgebeugt,
Ein Muschellenker, der sein Wettgespann
Um Kranz und Gloria durch die Rennbahn kreist.
In harter Knochenfaust die straffen Zügel,
Und mit der andern weitausholenden Schwunges
Der Peitsche schlangenschmeidige Geißelschnur
Den bangen Tieren um die Ohren klatschend,
Scheint er ganz Lust, im hellen, harten Blick
Des kränzesichern Sieges Übermut,
Und um den Mund, daraus die feste Mauer
Des prächtigsten Gebisses blitzt und lacht.
Ein schlächterhaft brutales, breites Grinsen.
Niemand wird in dieser Schilderung die Spur Detlevs von Liliencron verkennen, nur daß dieser als echter Schleswig-Holsteiner »schlachterhaft« statt »schlächterhaft« gesagt hätte. Und nun der Schluß:
Die wilde Jagd verschlingt ein Tannenwäldchen.
In Staub und Glut der Straße aber liegt
Hellschimmernd eine weiße Rosenknospe,
Erschlossen kaum, feuchtwarm der zarte Stengel,
Als hätt noch eben eine heiße Hand
Die Todgeweihte lebensfroh umfaßt.
Der laue Mittagswind streicht drüber hin,
Ein scharlachfarbner, eiliger Schmetterling,
Sich überhastend, gaukelt leicht vorüber,
Kehrt wieder, ruht wie müde eine Weile,
Mattflügelnd, auf dem Blütenbett sich aus
Und nimmt den Weg ins übersonnte Feld
Schnittreifen Hafers, das der Friede küßt
Und wolkenlose Bläue überdacht.
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Das ist es. Liliencron wird von seinem ewig stürmenden Herzen zu immer neuen Kämpfen gedrängt, während kaum die alten ihren vollen Austrag und Ausklang gefunden haben; Falke versteht es immer wieder, auf den Wegen zum Ziel seiner Sehnsucht eine Ruhebank zu finden, einen Punkt im treibenden Hasten, der ihm Glückes genug gewährt. So wird ihm der Friedhof, auf dem er doch einst mit dem Freunde den Tod von Kreuz zu Kreuz hüpfen sah, ein wahrer Ort des Friedens:
Glockenklang und Drosselschlag,
Hügel still an Hügel,
Drüber wiegt ein Sommertag
Sich auf goldnem Flügel.
Gewiß, auch dieser Dichter wagt, »unbekümmert, wo wir landen«, den kecksten Flug; aber war er gleich gestern Schelm und heute Prophet – immer bleibt der Poet in seinem Sinne fromm. Geht ihm auch der Pendelschlag des Herzens hin und her
Schwarze – Blonde, Schlag um Schlag,
Schwarze – Blonde, durch den Tag,
Schwarze – Blonde, Schwarze – Blonde –
er findet das tiefste Genügen erst in der Stille eines Sommerabends, da sich ihm in der Nähe die Ferne auftut und er sein Glück zwischen Rosen und grünen Ranken wie in einem Tempel umschlossen weiß. »Tausend Fäden«, das empfinden wir immer wieder, zittern in dieser Poesie bange mit. Schwere Seelenkonflikte nahen sich auch diesem Poeten, und unverwischt, aber von zartestem Dichtergriffel in die reinste Form gebannt, sprechen sie zu uns; denn das wollen wir doch festhalten: Falke ist keineswegs ein Idylliker, der, wie unverständige Leute meinen, einen ganz engen Bezirk hat und über die Zäune seines Gartens nicht hinaussieht. Man kann ruhig in seinem Eigen bleiben und doch den Blick für die Welt behalten und die Reflexe dieser Welt empfinden, wenn man eben ein ganzer Dichter ist, wie Gustav Falke. 129
Weit hinten liegt die große Stadt,
Die graue Stadt in Dunst und Rauch.
Hier spielt im Wind das grüne Blatt
Und schaukelt sich im Morgenhauch.
Hier ist das Leben hold verstummt,
Träumt lieblich in sich selbst hinein;
Nur eine frühe Biene summt
Näschig um süße Becherlein.
Und manchmal ein verwehter Laut,
Wie fernen Meeres Wogenschlag.
Was dort um Mauern braust und braut,
Herr, führs zu einem klaren Tag!
So dichtet nicht jemand, der an Goldregen und Georginen sein Genügen hat, aber so kann jemand dichten, der gleichzeitig in den Lauten seiner plattdeutschen Muttersprache »Lütt Ursel, lütt Snursel« zappeln läßt(»En Handvull Appeln« 1906) und mit dem »Gestiefelten Kater« (Epos, 1904) auf Märchenfluren so gut Bescheid weiß, als wären's die hamburger Walddörfer. Wie weit Falkes Weltblick, seine poetische Gabe, auch Fremdes in sich hineinzuziehn und wie ein Edelstein gefaßt wiederzugeben, reicht, das zeigt sein Mitgehn gegenüber fremder Größe. Gustav Falke teilt mit zwei sehr ungleichen Vettern, Paul Heyse und Liliencron, die Gabe, Kunstgenossen von ganz andrer Art sicher und fein zu charakterisieren. Man kann den Gestalter Richard Dehmel zum Beispiel kaum besser von sich aus neu gestalten, als Falke es in der Widmung der »Neuen Fahrt« (1897) getan hat, wo er Richard Dehmels Kunst so verbildlicht:
Aus eines Opferbeckens Bronzeteller steigt
Ein reines Feuer zum gestirnten Himmel auf.
Fünf Engel stehn als Wächter um die weiße Flamme,
Fünf nackte Jünglinge mit langen, schwarzen Flügeln,
Bis auf die Erde reichen rings die Spitzenpaare,
Jeder stützt schweigend einen schlanken Schaft vor sich,
Der oben grünt und schwer voll reifer Früchte hängt,
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Und jeden Schaft umringelt schillernd eine Schlange,
Die nach den Früchten züngelt. Nascht sie aus dem Laube,
Fährt ein Erschauern durch des Hüters Nachtgefieder
Und krampft sein Antlitz jäh zu einer Maske
Zorniger Seelenpein, und blindlings zuckt der Wurm
Vor dem medusenhaften strengen Blick zurück.
Dann schaun die Fünf einander lächelnd an im Kreis.
Ein steter Wechsel ist es zwischen göttlicher
Gelassenheit und harter Qual auf ihren Stirnen,
Denn immer wieder züngelt Schlangengier nach oben,
Doch still und klar und heilig brennt die weiße Flamme.
Das ist derselbe Gustav Falke, der in seinen Romanen und Erzählungen unser hamburger Kleinbürgertum leibhaft und lebhaft vorführt. Lange hat es gedauert, bis er in dieser Form seinen Stil und seine Geltung fand. In all seinen Prosabüchern, »Aus dem Durchschnitt« (1892), »Der Mann im Nebel« (1899), waren einzelne Ausschnitte aus dem Leben und insbesondre aus dem hamburger Leben lebendig und wirksam, aber es fiel doch, auch in »Landen und Stranden« (1895), seinem umfangreichsten Roman, den der Dichter noch einmal umarbeiten will, alles in Einzelheiten auseinander. Erst in den »Kindern aus Ohlsens Gang« (1908) sind die frühern Mängel überwunden, und nun in Hamburg fest eingelebt, hat Falke auch seinen Stil für die Schilderung hamburger Lebens gefunden. Hamburger Lebens, nicht des hamburger Lebens. Gerade, weil in ältern Büchern die Bemühung, verschiedne auseinanderliegende Kreise zu meistern, eine Unruhe mitbrachte, die den Werken nicht bekam, hat sich Falke hier auf einen Kreis beschränkt und das hamburger Kleinbürgertum, das am Hafen lebt, mit dem Hafen zusammenhängt, sehr glücklich widergespiegelt. Was auch einfache Schicksale in diesen Kreisen an der Wasserkante so häufig aus dem gemeinen Lauf der Dinge heraushebt, daß sie nämlich immer verbunden erscheinen mit Wasser und Meer, mit dem Strom und der überseeischen Schiffahrt, das prägt sich in Falkes Erzählung fein und unaufdringlich aus. Wie mit einem 131 Silberstift, der nichts verniedlicht und nichts verzerrt, aber doch den Dingen einen zartern Glanz verleiht, ist alles gezeichnet. So werden uns die kleinen Schicksale dieser kleinen Leute, die ihnen doch große Schicksale sind, etwas, und die Leute selbst werden uns vertraut, wie sie in völliger Echtheit dastehn, dem Boden ihrer Schritte durchaus verwandt, in ihrer Sprechweise den Rest vom Seemannshumor, den der hamburger Kleinbürger niemals verleugnet. Auch der Versuchung, sich durch das Hineinziehn der vortrefflichen Bestrebungen des Volksheims die Handlung entgleiten zu lassen und sie zu einem sozialen Programmroman auszurecken, hat Falke widerstanden. Das Volksheim, hübsch und warm geschildert, bleibt der Hintergrund für die Menschen aus Ohlsens Gang, die nicht dazu angelegt sind, ihre Schicksale aufzudonnern, aber freilich auch nicht mit dem Leben spielen, sondern es still und mit Selbstbescheidung erfüllen und überwinden.
Gustav Falke hat schon sieben Bände Gedichte hinausgesandt, von denen es schandenhalber noch keiner über die zweite Auflage gebracht hat. Das Publikum hat merkwürdiger- oder bezeichnenderweise die starken und die schwachen ganz gleich bewertet. Im sechsten Bande, der die Aufschrift »Hohe Sommertage« trägt, war Herbststimmung angedeutet, die nun in dem bisher letzten »Frohe Fracht« (1907) voll durchschlägt. Man muß von diesem besonders sprechen, weil er einmal in einer ganzen Reihe schöner Gedichte den Meister der früheren Jahre ungeschwächt zeigt, dann aber in ihm leise Linien einer neuen Entwicklung gezogen sind.
Fahre, Schifflein, fahre,
Sterne über dir,
Früchte mancher Jahre
Trägt mein Schifflein mir.
War ein fröhlich Reifen
In durchsonntem Raum,
War ein fröhlich Greifen
In den vollen Baum.
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So setzt das Buch ein. Und dann mit Falkes schalkhaftem Humor:
Lob ich meine Ware,
Wer verdenkt es mir?
Fahre, Schifflein, fahre,
Sterne über dir.
Der Zusammenhang mit der spendenden Natur, der hier schon durchklingt, geht dem Dichter keinen Augenblick verloren; und niemals tut er der Natur Gewalt an, so wenig er sich damit begnügt, sie abzuschreiben. Immer wieder werden Tag und Nacht gegeneinander gestellt, die letzten und die ersten Stunden des Tages sind Falke die liebsten.
Es läßt der Tag aus müder Hand
Die letzten blassen Rosen fallen
Und lauscht noch einmal, rückgewandt,
Dem lautern Lied der Nachtigallen.
Wundervoll, wie hier in dem dahinschwebenden letzten Schein eines Sommerabendrots des Tages letzte blasse Rosen uns ansehn. Und nun führt die Handlung ohne Hast weiter in das Dunkel, aus dem heraus der Vogelsang ertönt:
Die haben im versteckten Hain
Schon seine Schwester froh empfangen,
Die sanfte Nacht; sie stillt allein
Der Liebe zärtliches Verlangen.
Er neidets ihr und achtets nicht,
Daß zwitschernd aus den blauen Räumen
Noch eine Lerche fällt, um, dicht
Ins Korn geschmiegt, von ihm zu träumen.
Diese poetisch ebenso wirksame wie ungesuchte Verbindung durch das Lied der Morgen- und Abendsänger gibt dem ganzen Gedicht jene gewissermaßen atmende Wärme, die Theodor Storm gemeint hat, als er sagte: »Am vollendetsten erscheint mir das Gedicht, dessen 133 Wirkung zunächst eine sinnliche ist, aus der sich dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blüte die Frucht.« Und ganz dasselbe gilt, wenn das Leben der Pflanze in diesen den Dichter immer wieder fesselnden Wechsel hineingestellt wird:
Der Tulpenbaum hat über Nacht
All seine Blumen aufgemacht,
Die weißen Sterne leuchten weit
In ihrer keuschen Herrlichkeit.
Es ist, als hätts die Nacht bedacht,
Was Liebes sie dem Tag vermacht,
Damit von ihrem Märchenglanz
Ein Schimmer leb in seinem Kranz.
Er aber, überreich an Licht,
Bedarf der fremden Sterne nicht,
Und bald entblättert, schnell und sacht,
Das liebliche Geschenk der Nacht.
Wie im Wechsel der Stunden, so ist es auch darüber hinaus, in dem Gleiten eines Menschenlebens, immer wieder der Übergang von der Helle zur Dunkelheit, dem Falkes Träume gelten. Er hat den Tod so oft besungen, daß er's wohl wagen kann, sich einmal von ihm ordentlich die Leviten lesen zu lassen. Raunzend und schimpfend läßt der hohläugige Jägersmann den auf schläfriger Wintersflur betroffnen Dichter also an:
»Was hast du für ein Jammerbild
Von mir den Menschen aufgeschwatzt!
Bald war ich wie ein Nönnchen mild,
Das ihren Abt zu Tode schmatzt.
Bald salbungsvoll wie ein Pastor,
Bald kindisch wie ein Großpapa,
So führtest du mich täglich vor,
Als wär ich zur Belustigung da.
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Heut war ich dir ein Trainhusar
Und morgen ein Baron im Frack,
Und einmal schobst du mir sogar
Die Pfeif ins Maul. Und der Tabak!
Aber trotz solcher Begegnung gestaltet der Dichter, dessen erstes Buch »Mynheerder Tod« hieß, das tiefste Geheimnis unsres Lebens immer neu. Sei's, daß er den Tod dem lorbeergekrönten Sieger bei der zweiten Wettfahrt den andern dunklern Kranz geben läßt, sei's, daß er den Leichenzügen nachdenkt, die unfern seinem Fenster dem »stillen Garten« zuwanken.
Völlig überwunden ist in diesem Bande der Einfluß des Dichters, der Falke einst herausbrachte, Detlevs von Liliencron, hier ist im Gegensatz zu früherer Zeit jeder Vers durchaus Falkisch, und um so heller erklingt in zwei köstlichen Gedichten der Preis Detlevs von Liliencron aus Falkes Munde, jedesmal mit einem durchschwingenden Herzenston und doch in scheinbar leicht gefügter Humoristenweise:
Und singst noch heute in einem Ton,
Als wärst du der Leutnant von Liliencron,
Und bist doch schon Hauptmann, bist General,
Der teutschen Lyrik Feldmarschall.
An einen andern Dichter, mit dem Falke bisher keine Verwandtschaft zeigte, gemahnt solche und manche ähnliche Dichtung, an Theodor Fontane. Eine Resignation, die von Bitterkeit frei in die Welt sieht, tönt durch solche Verse hindurch, eine leise Resignation und die Bemühung, im Trott der Tage doch durch Gewöhnung und Enttäuschung hindurch einen Strahl stillen Glücks zu erhaschen. Und dieser Zug vollendet einstweilen liebenswürdig das liebenswerte Bild dieses Poeten, der auch in der jüngsten Gabe immer wieder jenes sehnsuchtsvolle Eindringen in des Lebens Tiefe und Geheimnis übt. 135
Ich kannt ein schönes, stilles Land,
Jetzt liegt es wie in Märchendämmer,
Da weidete im Lichtgewand
Der Friede seine weißen Lämmer.
Ich weiß den Weg, bin ich ihn doch,
Und nicht im Traum nur, hergegangen,
Und spür in meinen Kleidern noch
Den Duft von seinen Blumen hangen.
Doch wend ich mich zurück und breit
Die Arme aus nach jener Ferne –
O Jugendland, wie liegst du weit
Und unerreichbar wie die Sterne.
Keine träge Beschaulichkeit, keine genügsame Philistrosität liegt in Falkes Natur, sondern, was ihm die eigne Note gibt, ist der bewußte Zusammenhalt menschlicher und künstlerischer Kräfte innerhalb des Rahmens der selbsterkannten Begabung. Gustav Falke ist durchaus ein Sohn der neuen Zeit:
Unsre leisen, weinenden Worte
Von jenen Jahren, die nun
Hinter der dunklen Pforte
Für immer ruhn,
er weiß sie uns ins Ohr zu sagen. Aber er schlägt in seiner ruhigen Sicherheit stärker als mancher andre die Brücke hinüber zur Vergangenheit, fügt sich, weil er zwar neue, aber keine überraschenden, grell abstechenden Töne gebracht hat, der Entwicklung unsrer Lyrik, die in gewissem Sinne zeitloser ist als andre Dichtungsformen, harmonischer ein. Er steht etwa da, wo unter den Malern Hans Thoma steht, und er gewinnt, je älter er wird, gleich diesem einen altmeisterlichen Zug, der uns sein Bild noch lieber macht und unsre warme Neigung zu ihm vermehrt. 136