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Mit diesen melancholischen Gedanken saß ich am Dienstag nachmittag allein in der Bibliothek (der Oberst war ausgegangen) über dem Packet Rezensionen, welches mir der Sekretär des X-Theaters vor einer Stunde geschickt hatte. Heute hatte der »Münzer« zum zweitenmale gegeben werden sollen, wie mir der Sekretär schrieb, »mit ungewöhnlich zahlreichen Vormerkungen zu den Logen und zum Parkett und mit voraussichtlich womöglich noch größerem Beifall als am ersten Abend. Ich brauche also den Mut nicht sinken zu lassen; trotz der schlechten Besprechungen werde sich das Stück Bahn brechen. Dasselbe meine auch Herr Lamarque. Leider sei derselbe gezwungen gewesen, in einer unaufschiebbaren Privatangelegenheit gestern mittag eine kleine Reise anzutreten, von welcher er wider Erwarten noch nicht zurückgekehrt sei, weshalb der Münzer noch in der letzten Stunde für heute vom Repertoire habe abgesetzt werden müssen, wie ich wohl bereits aus den roten Zetteln an den Säulen ersehen. Indessen hoffe er – der Sekretär – mit Bestimmtheit auf Herrn Lamarques Wiedereintreffen noch im Laufe des heutigen Tages, so daß die Wiederaufnahme der Novität für morgen gesichert sei.«
Ich glaubte nicht an die »unaufschiebbare Privatangelegenheit« und nicht an die »Wiederaufnahme«. Es war freilich nicht die Weise des mutigen Mannes, vor einem Mißerfolge zurück zu weichen; aber blieb mir eine andere Erklärung? Er sah die Unmöglichkeit, gegen den Strom zu schwimmen, und da er mich durch Angabe des wahren Grundes nicht kränken wollte, hatte er die Reise vorgeschützt, die er so lange ausdehnen würde bis – sich irgend ein anderer Grund gefunden, das Stück »lieber bis zur nächsten Saison ruhen zu lassen!« Dergleichen tapfere Rückzugspläne hatte ich so oft von den Herren Direktoren und Regisseuren entwickeln hören!
Und dann mußte ich daran denken, wie mich Lamarque vorgestern abend nach der Vorstellung umarmt und geküßt und mit Thränen in den schwarzen Augen versichert hatte, daß dies der schönste Tag seines Lebens sei!
Aber sie sind sich alle gleich; murmelte ich.
Ich schob die unglückseligen Rezensionen seufzend von mir und trat an das Fenster. Es war ein Tag im frühen Frühjahr. Die Sonne war ein paarmal durchgekommen, aber bald wieder von dunklen Wolken verdeckt worden. Jetzt, gegen Abend, hatte der Regen eingesetzt; es gab voraussichtlich eine stürmische Nacht. Das rechte Bild meiner kurzen Laufbahn als dramatischer Dichter: ein paar sonnige Momente auf den Proben und am Abend der ersten Aufführung; dann der mißvergnügliche Rezensionenregen; zuletzt die Nacht ewiger Vergessenheit. – Nun, auch Patroklos ist gestorben!
Ein Klopfen an der Thür, und das Mädchen (seitdem der Oberst außer Dienst war, hatten wir keinen Diener mehr) meldete: draußen sei eine Dame, die mich zu sprechen wünsche. Es konnte weder meine Mutter, noch Adele, noch Ellinor sein: sie würden sich so nicht haben ankündigen lassen. Ich hieß dem Mädchen, die Dame in den Salon zu führen, wohin ich alsbald folgte.
Sie, die mitten in dem halbdunklen Gemach gestanden hatte, kam mir in großer Aufregung bis an die Thür entgegen und sagte hastig: Ist er bei Ihnen gewesen? oder wissen Sie sonst von ihm?
Ich erkannte sie jetzt erst an der Stimme. Es war Christine. Wer bei mir gewesen sein sollte, brauchte ich nicht zu fragen; wußte ich doch, daß es nur einer war, um den sich alle ihre Gedanken bewegten. Ich erwiderte ihr, daß ich Ulrich seit dem Gesellschaftsabend nicht wieder gesehen, trotzdem er mir allerdings versprochen habe, mich am nächsten Tage – das war gestern – zu besuchen.
Dann ist ein Unglück geschehen! rief sie, sich in einen Stuhl werfend und in Thränen ausbrechend.
Ich versuchte sie zu beruhigen: was sie denn auf diesen sonderbaren Gedanken bringe? So nachdrücklich sei sein Versprechen nicht gewesen; ich selbst habe wirklich sein Ausbleiben nicht einmal bemerkt.
Sie, Sie! rief sie. Aber er hatte auch mir für gestern abend ein Rendezvous gegeben und ist nicht gekommen. Und eben erhalte ich einen Brief von ihm – der Brief ist schon von gestern und offenbar absichtlich so spät aufgegeben –: er müsse auf ein paar Tage verreisen und könne mich erst nach seiner Rückkehr zu sprechen versuchen.
Mir schoß es wie ein Blitz durch die Seele, daß auch Lamarque ebenfalls gestern und ebenso plötzlich verreist sei. Das war doch mindestens ein sehr sonderbares Zusammentreffen.
Ich bitte Sie, Christine, rief ich; sagen Sie mir alles! Sie dürfen es. Sie wissen – Du weißt, Christine, daß ich Dein Freund bin und seiner.
Ja, ja, sagte sie schluchzend, ich weiß, ich weiß. Ich will alles sagen.
Sie fuhr sich mit dem Tuche über die Augen und fuhr, nach Fassung ringend, fort:
Ich hatte Euch beide in dem Musiksaal zusammen stehen und sprechen und dann hinausgehen sehen. Ich wollte Euch nach; ich wußte, daß Ihr über mich spracht, und daß Du ihn zur Rede setzen würdest, und es einen Streit zwischen Euch geben würde. Ich konnte nicht durch die Thür, durch die Ihr gegangen wart – nur durch eine andere, die in die vorderen Säle führte. Es dauerte auch nicht lange, da hatte ich ihn entdeckt. Er kam aus dem Zimmer, in welchem ich Euch vermutet, aber allein, ohne Dich, und drängte sich eilig durch die Leute, als ob er fort wollte. Er mußte an mir vorbei; ich hielt ihn auf.
Ich stöhnte unwillkürlich
Ja, ja, rief sie, hätte ich es doch nur nicht gethan! Aber ich ängstigte mich so um Euch beide. Und das sagte ich ihm – weiter nichts. Er lachte und sagte, im Gegenteil, Ihr wäret die besten Freunde, obgleich Ihr allerdings böse aufeinander gewesen wäret; und er wollte Dich morgen – das ist gestern – besuchen, um die Sache vollends in Ordnung zu bringen. Dann schwieg er einen Augenblick und sah mich traurig an, daß es mir durch die Seele schnitt und sagte hastig: Dich muß ich auch sprechen; und dann bestimmte er mir die Stunde gestern abend und einen Ort, wo wir uns schon öfter getroffen. In dem Augenblick strich Lamarque an uns vorüber. Er that, als ob er uns nicht sähe, aber er hatte uns natürlich gesehen. Ich bat Ulrich, er möchte mich um Gotteswillen stehen lassen und sofort aus der Gesellschaft gehen. Ich gehe ja schon, Närrchen, sagte er; aber Du kannst doch nicht verlangen, daß ich vor dem Menschen weglaufe! So gab er mir die Hand und ging langsam nach der Thür – es war in dem ersten Saal, – wo man hineinkommt. Er sprach auch noch mit ein paar Personen, aber immer nur wenige Worte, und ging dann wieder langsam weiter, immer nach der Thür zu, und ich stand auf derselben Stelle und sah ihm nach und betete, daß er nur doch erst fort sein möchte. Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß er und Lamarque aneinander geraten würden. Lamarque hatte geschworen, er werde es nicht dulden, daß ich je wieder ein Wort mit Ulrich spräche. Ich hatte es ja auch nicht gewollt, und ich wäre gar nicht gekommen, wenn ich gewußt hätte, daß er auch kommen würde, noch dazu um meinethalben.
Weiter, weiter! rief ich. Er und Lamarque sind dann doch zusammengetroffen?
Unmittelbar an der Thür, nur auf eine Minute – höchstens. Aber – Du weißt, wie scharfe Augen ich habe – ich sah, trotzdem ich so entfernt stand, daß sie beide, während sie miteinander sprachen, ganz blaß wurden, wenn sie sich auch hernach höflich voreinander verbeugten. Und dann war Ulrich zur Thür hinaus.
Und Lamarque?
Ich hatte nicht den Mut, mit ihm zu sprechen – ich meine sofort. Dann faßte ich mir ein Herz und ging zu ihm und sagte ihm: er habe Ulrich gefordert. Er fing an zu lachen, so laut, daß die Leute aufmerksam wurden. Ob ich ihn für toll halte? Er habe mehr zu thun, als sich mit solchen Narrenspossen abzugeben, und noch viel derart. Ich wurde ein wenig beruhigt, es klang alles so lustig und natürlich. Und hernach, bei Tisch, war er so freundlich und aufmerksam und sagte, ich hätte recht, böse auf ihn zu sein, weil er mich so mit Herrn von Vogtriz quäle. Er wolle das auch in Zukunft nicht mehr thun. Er wolle mir überhaupt mehr Freiheit geben; er sehe, mit Zwang sei bei mir nichts auszurichten. Und dabei trank er mir zu – der Heuchler!
Weiter! weiter!
Ich weiß nichts mehr; ich habe ihn gestern nur flüchtig gesehen; und da ist er eben so freundlich gewesen wie vorgestern abend; aber er ist ein solcher Komödiant!
Ich ging verstört im Zimmer auf und ab. Sicher verhielt die Sache sich so, wie Christine fürchtete. Das heitere Wesen, welches Lamarque hernach ihr gegenüber zur Schau getragen, bewies in der That nichts. Ich wußte, daß der Mann Haltung und Miene völlig in der Gewalt hatte bei aller wilden Leidenschaftlichkeit seines Temperaments, welches sich in der Liebe ebensowenig ersättigen konnte wie im Haß. Dazu seine Meisterschaft in der Führung jeder Waffe, die ihn zu einem fürchterlichen Gegner machte, selbst für einen Ulrich, den er zweifellos mit seinem grimmigsten Haß verfolgte. Endlich das rätselhafte plötzliche gleichzeitige Verschwinden beider, das auf diese Weise freilich sich sehr einfach erklärte. Es konnte nicht anders sein: sie hatten sich irgendwo außerhalb ein Rendezvous gegeben, und der Handel war vermutlich jetzt bereits entschieden mit blutig-tödlichem Ausgang für den einen oder den anderen; vielleicht für beide!
Christine hatte mir meine Sorge vom Gesicht abgelesen, sie brach in heftiges Weinen aus.
Wenn er stirbt – das überlebe ich nicht; schluchzte sie.
Ich hatte ein bitteres Wort auf der Zunge; aber was ihr Leichtsinn auch verbrochen haben mochte, dies war nicht der Augenblick, es ihr vorzurücken.
So suchte ich sie denn zu beruhigen. Es seien ja doch nur Mutmaßungen, Möglichkeiten. Wir müßten uns eben in Geduld fassen, da wir leider sonst nichts thun könnten.
In demselben Momente fiel mir ein, daß, wenn Ulrich vor dem Gange, der sein letzter sein konnte, von irgend jemand auf der Welt Abschied genommen, es zweifellos von Maria war. Wie oft hatte er in den Nonnendorfer Tagen mit greulich falschen Tönen die Passage aus dem Troubadour gesungen: »Mein letzter Hauch noch sage Dir: Du warst die höchste Wonne mir!«
Ich werde sehen, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen, sagte ich zu Christine.
Wo? von wem? rief sie. Und als ich mit der Antwort zögerte: von Fräulein von Werin?
Es ist eine Möglichkeit, sagte ich.
Möglichkeit? rief sie. Als ob ich nicht wüßte, daß er sie immer geliebt hat! daß ich für ihn bloß ein Spielzeug gewesen bin! Wenn er stirbt, sie ist schuld daran, die hochmütige Prinzessin, nicht ich! Und ich werde seinethalben nicht sterben! Ich werde Lamarque heiraten; ich –
Sie war aufgesprungen, hatte Muff und Taschentuch, die sie neben sich auf den Tisch gelegt, an sich gerafft und war dicht vor mich hingetreten:
Ich will mich freuen, wenn Lamarque ihn totschießt, den Verräter!
Sie war zum Zimmer hinaus; ich hörte draußen die Flurthür öffnen und wieder zuschlagen.
Fast in demselben Moment wurde geklingelt. Wollte sie ihr Rasen fortsetzen? wollte sie widerrufen, was sie gerast?
Das Mädchen war zu öffnen gegangen. Ein hastiger Schritt kam über den Flur, die Thür flog auf –
Mutter!
Ja. Du mußt mich begleiten – zu Maria!
Hat sie Nachricht von Ulrich? Ist er tot?
Ich weiß nicht, wovon Du sprichst.
Was ist es dann?
Es ist allerdings jemand tot – jemand, der Dir sehr wert war.
Doch nicht Maria? Um Gotteswillen!
Nein. Du bist ja ein Mann. Da!
Sie hatte mir ein Blatt gegeben, von dem ich, an das Fenster eilend, nur noch eben lesen konnte:
»Meine Mutter ist tot. Eben hat man mir ihre Leiche gebracht. Kommen Sie zu mir; wenn es möglich ist, mit Lothar.
Maria.«
Mein Wagen hält unten, sagte meine Mutter.