Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die schönen Amerikanerinnen.


Erstes Kapitel.

Bad Tannenburg liegt, wie Jedermann weiß, mitten in dem **** Walde, an einer Stelle, wo das Terrain, welches bisher aus der Ebene in anmuthigen Hügeln emporstieg, einen ersten Versuch macht, sich zu schrofferen Tannen- und Fichtenhöhen aufzuschwingen. Die uralte, epheuumrankte Burg, in deren drohenden Schatten sich vor Zeiten die niederen Dorfhütten zusammengedrängt haben mögen, und deren wohlerhaltenes Hauptgebäude jetzt als Dépendance des Kurhauses benutzt wird, ist auf einem isolirten Hügel erbaut; das Kurhaus liegt unmittelbar am Fuße des Schloßhügels in der Linie der Hauptstraße des Dorfes, über deren letzten Häusern schon die Bergtannen rauschen. Ein munterer Bach, dessen reine Wasser die zahlreichen Dorfgänse kaum zu trüben vermögen, eilt plätschernd in wohlgemauerter Rinne die ziemlich jäh abfallende Straße hinab. Das Dorf nimmt sich jetzt mit seinen weißgetünchten, meist zweistöckigen, zum Fremdenbesuch wohnlich eingerichteten Bauerhäusern und den großen Kurgebäuden, die wiederum von dem alten Schlosse auf dem Hügel überragt werden, gar stattlich aus; die Gesellschaft, die sich hier, besonders aus den Nachbarstädten, aber auch von weiter her in den Sommermonaten zusammenfindet, ist verhältnißmäßig sehr zahlreich; das Bad prosperirt zusehens, und Dr. Kühleborn, der intelligente, kahlköpfige Eigenthümer, Director und Badearzt, reibt sich jedes Jahr vergnügter die feinen weißen Hände.

Für mich war der mir bis dahin unbekannte Ort durch einen besondern Umstand merkwürdig geworden. Ein sehr lieber Freund, noch von der seligen Schulzeit her, hatte hier vor ein paar Jahren durch eine wunderliche Verwickelung von Umständen, die beinahe romantischer Natur waren, seine Frau gefunden, und ich, sein Freund, hatte (selbstverständlich mit jener Discretion, durch welche sich die Herren von der Feder so vortheilhaft von den übrigen Menschen auszeichnen) die Geschichte seiner Brautwerbung und Frau-Erwerbung zu einer Novelle verarbeitet, über die ich mich beinahe mit meinem Freunde entzweit hätte. Mein Freund behauptete, daß sich die Sache ganz anders zugetragen und er all das thörichte Zeug, das ich ihm in den Mund gelegt, nicht einmal gedacht, geschweige denn gesagt, oder gar geschrieben habe. Aber von dem Umstande, daß die Augen seiner Frau, von denen ich in der Novelle schon so viel Wesens gemacht, in Wirklichkeit von noch tieferem Blau und noch größer und schöner sind – davon sagte er kein Wort, und bewies mir dadurch nur, – was ich übrigens schon längst wußte – daß es keine ungerechteren Kritiker eines Kunstwerks giebt, als die, welche dem Künstler als Modell gesessen haben.

Dem sei nun, wie ihm wolle, – Tannenburg war mir seit jener Zeit merkwürdig, ja lieb geworden, und es bedurfte keiner großen Ueberredungskünste von Seiten eines anderen Freundes, der sich in diesem Augenblicke zu einer Kur dort aufhielt, um mich zu bewegen, meine kleine Familie in einem ziemlich tristen Soolbade der Ebene auf ein paar Tage allein zu lassen, und das von mir mit jener holden Unbefangenheit der gänzlichen Nichtkenntniß geschilderte Lokal nun wirklich kennen zu lernen. Dieser Freund war – was ich dem Leser nicht als besonders merkwürdig mittheilen will, aber doch auch nicht zu verschweigen brauche – nicht nur mein, sondern auch jenes Freundes Freund, denn auch er hatte auf denselben Schulbänken – aber immer einige Bänke tiefer – gesessen. Er gehörte, wie Jener, zur glücklichen Minorität der mit erb- und eigenthümlichem Grundbesitz ausgezeichneten Menschen und sein Gut war nur durch einen schmalen und seichten Meeresarm von dem des Andern getrennt. Auch ähnelten sie sich, wie in ihrer Lebensstellung, so auch in ihrem Aeußern. Wenigstens waren Beide hochgewachsene, schöne Männer mit hellen Augen, denen man auf den ersten Blick ansah, daß sie die Visirlinie einer Büchse mit unfehlbarer Sicherheit finden würden. Weiter freilich ging die Aehnlichkeit nicht. Der abwesende Freund war eine weitaus bedeutendere Natur; aber er hatte auch von dem wenig beneidenswerthen Vorrecht bedeutender Naturen: das Leben ernst zu nehmen, in früheren Jahren einen unbequem ausgedehnten Gebrauch gemacht; der Anwesende war, was die Leute »einen guten Jungen« oder später »einen guten Kerl« zu nennen pflegen; aber ich hatte ihn nichtsdestoweniger, oder vielmehr: gerade deswegen immer sehr lieb gehabt, denn ich war in Sachen der Freundschaft stets der Ansicht, welche die vortreffliche Frau Primrose Die Frau der Titelfigur des bedeutenden Romans » The Vicar of Wakefield« (1766) von Oliver Goldsmith. in Sachen ihres Hochzeitkleides hatte: daß man bei der Wahl vor Allem auf die Tugend der Dauerhaftigkeit sehen müsse.

Um so mehr fiel es mir heute, nachdem wir über eine Stunde in dem Kurgarten gesessen hatten, auf, daß ich die Conversation nicht nur fast allein führte – denn daran war ich in unserem Umgange gewöhnt – sondern daß ihm offenbar das sorgfältige Signalement, welches ich von dem jüngsten meiner Kinder gab, wenig Theilnahme abzugewinnen vermochte, ja, daß seine Aufmerksamkeit bei einer eingehenden Erörterung der Vortheile und Nachtheile des französisch-deutschen Handelsvertrages für den internationalen literarischen Verkehr auf Null sank, und in seine hellen Augen ein Schatten fiel, der nicht von dem Abend herrühren konnte, welcher allerdings schnell hereinbrach.

Ich versuchte es noch mit dem Liebig'schen Kinderpulver Justus von Liebig vertrieb seit 1866 eine Fertignahrung für Kleinkinder in Pulverform, die allgemein als »Kindermehl« bezeichnet wurde. und verfiel allmählig, als auch das nicht anschlug, ebenfalls in ein Schweigen, das dem Orte und der Stunde auch wohl mehr entsprach, als angeregtes Gespräch. Die Sonne mochte seit einer halben Stunde hinter den Schloßberg gesunken sein, doch war die Luft, obgleich wir uns schon im Anfang des Herbstes befanden, sommerlich warm und erquickend zugleich. Durch die bereits etwas gelichteten Kronen einer Gruppe prächtiger Bäume uns gerade gegenüber schimmerte eine matte Stelle, den heraufkommenden Vollmond verkündend. Von der Dorfstraße her, die zwischen dem Kurhaus und dem Kurgarten hinlief, ertönte das Geknarr eines mit zwei Kühen bespannten Wagens, und das Hot und Hü des Führers. In dem Kurgarten wurde es still; ein paar Damengruppen, die hier und da zerstreut in den Lauben und unter den Bäumen saßen, schienen sich zum Aufbruch zu rüsten; auf dem Rasenplatze vor uns zeigten sich ein paar schöne Kinder, die sich zu haschen begannen; ein Herr, welchen ich schon seit einiger Zeit beobachtet hatte, wie er, sich in einem Gartenstuhl schaukelnd, bald die Wolken seiner Cigarre aufwärts in die blaue Abendluft blies, bald, den Kopf herabbeugte und sich etwas in ein Büchelchen notirte, erhob sich und kam, das Büchelchen in der Hand, über den Rasenplatz, winkte meinem Freund und sagte: »Es ist Zeit!«

»Ich werde heute einmal aussetzen.«

Der mit dem Taschenbüchelchen trat näher: »Haben Sie Dispens?«

»Das nicht; ich dispensire mich selbst. Darf ich die Herren mit einander bekannt machen?«

»Sind Sie ein Verwandter des Dichters?« fragte ich, nachdem wir uns begrüßt und der Kreisrichter Lindau Dieser fiktive »Lindau« hat nichts mit dem realen Diplomaten und Schriftsteller Rudolf Lindau zu tun, der nicht nur kein Lyriker war, sondern auch erst in den 1870er Jahren zu veröffentlichen begann, während »Unter Tannen« bereits 1868 erschienen war. sich nachlässig in einen Gartenstuhl an unserer Seite hatte sinken lassen.

»Er selber;« antwortete dieser mit leichter Neigung des ausdrucksvollen Kopfes.

»Ah! das ist mir ja eine angenehme Ueberraschung!«

»Ganz auf meiner Seite!« sagte der Dichter mit einem liebevollen Blick auf die überaus langen, künstlich zugespitzten Nägel der Finger seiner weißen wohlgepflegten Hand.

»Sie werden hier, in diesem stillen Winkel, wenig Anregung zu neuen Liedern und Tänzen finden, fürchte ich.«

»Sie sagen das vom Standpunkt des Novellisten; mit uns Lyrikern ist das anders. Wer gern tanzt, dem ist bald aufgespielt;« und er machte eine Bewegung, das perlengeschmückte Notizbuch, das er auf den Tisch gelegt hatte, in die Seitentasche seines Rockes zu schieben.

Diese Bewegung hatte etwas Zögerndes.

»Ich möchte wetten; Sie haben da so eben eine neue Melodie aufgezeichnet.«

Der Dichter warf aus seinen langgeschlitzten Augen einen schnellen forschenden Blick auf mich, und sagte, indem er das Büchelchen, anstatt es in die Tasche zu stecken, auf seinen Schooß sinken ließ:

»Brüder in Apollo sind einander Aufrichtigkeit schuldig. Ich fürchte nur, daß Herr –«

»Bitte, thun Sie, als ob ich nicht zugegen wäre!« sagte mein Freund in einem etwas unhöflichen Ton, der mich veranlaßte, eifriger in den Dichter zu dringen, uns mit dem jüngsten Kinde seiner Muse sofort bekannt zu machen.

Lindau zog den Silberstift aus dem Perlenbuch, öffnete es, aber, wie es schien, nur der Form wegen. Denn er schloß – nachdem er noch einmal wohlwollend auf seine Fingerspitzen geblickt – die Augen und recitirte mit leiser, monotoner Stimme, indem er schärfer, als nöthig oder angenehm war, Rhythmus und Reime hervorhob:

Die Sonne ging zur Rüste,
Es sinkt herein die Nacht;
Und drüben über dem Berge
Erglänzt des Mondes Pracht.

Du schöne, goldne Sonne!
Wie lachte mir dein Glanz;
Wie war durchglüht mein Herze
Von deinen Strahlen ganz!

Du lieber Mond, du holder!
Wie labet mich dein Schein;
Wie wallt dir fromm entgegen
Die ganze Seele mein.

Hier machte mein Freund eine ungeduldige Bewegung; Lindau schien aus einem Traum aufzuwachen und fuhr mit etwas erregterer Stimme fort, indem er meinen Freund durch die gesenkten Wimpern fixirte:

Ich kenn' zwei braune Augen,
Darin die Sonne thront;
Und kenn' zwei blaue Augen,
Aus denen scheint der Mond.

Fragt nicht, ob Mond, ob Sonne
Mein Herz zumeist begehrt –
Sie haben mir alle beide
Den armen Sinn bethört.

»Lassen Sie diese Verse nicht drucken, Lindau;« sagte mein Freund.

»Weshalb nicht?« fragte der Dichter, der das Perlenbuch nun wirklich in die Tasche gesteckt und sich erhoben hatte.

»Weil fünfundsiebzigtausend Dichter Sie des Plagiats beschuldigen würden.«

Lindau zuckte die Achseln. Ein feines Lächeln spielte für einen Moment in dem nicht allzudichten Schatten seines blonden Schnurrbarts.

»Und doch, was gäben Sie darum,« sagte er: wenn Sie eben diese Verse englisch in gewisse Ohren lispeln könnten.«

»Wollen Sie schon fort?« fragte ich.

»Ich muß noch vor dem Abendbrod ein Sitzbad nehmen,« erwiderte der Dichter, indem er höflich den Hut zog, und dann, die Hände auf dem Rücken, sich gemächlichen Schrittes in der Richtung des Kurhauses entfernte.

»Das wird Sie abkühlen!« rief ihm mein Freund nach.

»Ich finde, lieber Egbert, daß Du im Laufe der Jahre eine bedenkliche Einbuße an Deiner früheren Höflichkeit erlitten hast,« sagte ich erstaunt.

»Was hat der Mensch nöthig, uns seine elenden Verse vorzuleiern«, rief Egbert, heftig den Spazierstock, den er zwischen den Knieen hielt, in den Sand stoßend, »seine elenden Verse!«

»Die Verse hätten besser sein können, ohne klassisch zu sein«, erwiderte ich; »aber ich erinnere mich nicht, daß Du früher so empfindlich warst.«

»Und wenn der Mensch noch etwas dabei empfände,« fuhr Egbert fort, ohne mich zu hören; »aber freilich, es ist sein Glück, daß er nichts dabei empfindet; sein Glück; ich könnte ihm jeden Knochen im Leibe – pah: es ist kindisch, daß ich mich über einen solchen Maulhelden noch aufrege. Da läuft schon wieder so ein Laffe.«

Ein junger stutzerhaft gekleideter Mann kam sehr schnell durch den Garten, nach allen Selten suchende Blicke werfend.

»Sie können mir gewiß sagen, ob sie schon zurück sind?« rief er, zu Egbert gewandt, über den Rasenplatz herüber.

»Thut mir leid!« brummte Egbert.

»Wer sind ›sie‹?« fragte ich, während der Stutzer weiter eilte.

Egbert wurde roth, antwortete aber nicht, sondern blickte eifrig nach den schönen Kindern auf dem Rasenplatze, zu denen jetzt ein halb erwachsenes, nicht minder schönes Mädchen getreten war, welches die Kleineren spielend zu uns hintrieb, während ein paar Damen, – eine kleine, sehr brünette junge Frau mit feurigen schwarzen Augen, die Mutter der Kinder, und eine noch kleinere, sehr alte, überaus häßliche Dame an uns vorübergingen.

Die häßliche Dame erhob schalkhaft drohend den Zeigfinger ihrer schwarzbehandschuhten Hand und fragte mit einer meckernden Stimme:

»Sie werden sich erkälten mit ihrem Rheumatismus, und noch dazu umsonst! Louis hat mir gesagt, daß sie nicht vor neun Uhr zurückkommen können.«

Die alte Dame winkte und kicherte und nickte, und machte dann einen tiefen Knix, der für mich berechnet war. Die Kinder sprangen an der jungen Frau heran. Das kleinste, ein schwarzhaariges, schwarzäugiges Mädchen von fünf Jahren, rief: »Mutter, Mutter! sie wollen mir nicht glauben, daß sie mir heute Jede einen Kuß gegeben haben.«

Die Gruppe entfernte sich: »Und sie haben mir doch einen Kuß gegeben!« rief die Kleine noch immer, »Die Eine, und die Andere, die viel schöner ist als die Andere!«

»Aber um Himmelswillen, Egbert, wer sind diese geheimnißvollen ›sie‹, von denen hier alle Welt spricht, als ob ›sie‹ niemand anders bedeuten könnte, als eben nur ›sie‹?« rief ich.

Egberts Gesicht hatte noch lebhaftere Farben angenommen. »Laß uns gehen!« sagte er kurz.

Der Garten war beinahe leer; nur in dem einen Wege dicht am Ausgang stand eine Gruppe von Damen, die wir passiren mußten. Die Damen schienen sich sehr angelegentlich zu unterhalten; als wir in ihrer Nähe waren und Egbert mit einem flüchtigen Gruß vorüber wollte, wandte sich die eine mit Lebhaftigkeit zu ihm und rief:

»Wir haben das Kränzchen jetzt zusammen: Frau Oberpostdirectorin von Dinde, die beiden Fräulein Coschwitz, Herr Plätzer, Herr Schwätzer, vielleicht auch Fräulein Kernbeißer und Frau Herkules. Frau Oberpostdirectorin von Dinde – sie machte eine Handbewegung nach einer neben ihr stehenden Dame – wird den Vorsitz übernehmen.« –

»Nimmermehr!« rief die Oberpostdirectorin in dem Tone tiefgekränkter Bescheidenheit; »der kommt Ihnen zu, Frau Justizräthin.« –

»Sie werden uns nicht im Stiche lassen, liebe Scherwenzel!« rief eine andere.

»Ich bedaure, meine Damen,« sagte Egbert, dem die ganze Scene unendlich peinlich zu sein schien; aber ich würde bei meinen äußerst mangelhaften Kenntnissen gleichsam nur das fünfte Rad am Wagen sein.«

»O, wir fangen ganz klein an: mit dem Vicar of Wakefield;« sagte Frau Justizrath Scherwenzel in ermuthigendem Tone.

»Bedaure dennoch!« rief Egbert, indem er mir, der ich bescheiden ein paar Schritte vorausgegangen war, nacheilte, und seinen Arm in meinen Arm legend, mich aus dem Garten zog:

»Thu' mir den Gefallen und laß uns machen, daß wir fortkommen; ich glaube, die Menschen hier sind alle verrückt geworden.«

Wir gingen die Dorfstraße hinab, – vorüber an der Directorwohnung, wo von dem zierlichen, weinlaubumrankten, säulengetragenen Balkon einige Herren durch Operngucker nach der Post hinüberschauten, vor welcher der eben angekommene Wagen neue Gäste ablud; vorüber an den letzten Häusern, die immer kleiner wurden und endlich aufhörten. Dann begann die Chaussee wieder zu steigen, ganz allmälig, bis zu einer Stelle, wo an der Wegseite unter ein paar hohen, dickstämmigen Platanen eine Bank angebracht war. Hier nahmen wir Platz. Ich blickte eifrig auf das Dorf hinab, dessen weiße Häuserwände und dunkle Schieferdächer jetzt das Licht des Mondes umspielte, der in voller Pracht über dem hohen Walde hinter dem Dorfe heraufgestiegen war. Die dunkle Silhouette der Berge setzte sich scharf von dem hellen Hintergrunde des Himmels ab. In den tiefer liegenden, von leichtem Nebelflor überschleierten Feldern und Wiesen in unserer Nähe zirpten die Cicaden, und ein Rephahn lockte seine Brut. Es war sommerlich warm, kein Lüftchen regte sich; ich erging mich im Lobe der schönen Nacht und der über alle meine Erwartung lieblichen Landschaft, während mein Gefährte stumm und in sich gekehrt an meiner Seite saß.

Ich wandte mich lächelnd zu ihm und sagte: »Nun Egbert, gestehe: ist es die Sonne oder der Mond, – sind es die braunen, oder die blauen Augen, die Deinen Sinn verrückt haben?«

Egbert erhob sich sehr schnell, als wollte er sich entfernen; und setzte sich dann wieder, ohne ein Wort zu sprechen. Ich legte meine Hand auf seinen Arm und sagte in jenem milden Beichtigerton, der Balsam ist für ein wundes Herz:

»Der Teufel soll mich holen, mon cher, wenn ich weiß, welche Tarantel Dich gestochen hat. Hast Du mich deshalb aus der süßen Ruhe stiller Familienfreuden hierhergesprengt, um mir zu zeigen, daß Du der Mann bist, liebenswürdige Kurgäste beiderlei Geschlechts grob zu behandeln und mir hernach den Rest meiner guten Laune durch seufzerreiche Schweigsamkeit vollends zu verderben? Sprich, Unglückseliger, was Dir fehlt, oder ich associire mich für die übrige Zeit meines Hierseins mit dem Poeten, und lese mit der Justizrath Scherwenzer, Scherwenzel, oder wie die gute Dame heißt, den Vicar of Wakefield! Noch einmal und zum letzten Mal: sind es die braunen, oder die blauen Augen jener geheimnißvollen »sie« oder sind »sie« es alle beide?«

»Die blauen sind es, die blauen!« rief Egbert, abermals aufspringend und die Arme nach dem Monde ausstreckend.

Ich hatte hier offenbar nicht blos das vollste Recht, sondern auch in der That die größte Lust in ein schallendes Gelächter auszubrechen, aber ich bezwang mich und sagte ernsthaft:

»Egbert, ich bitte Dich, rege Dich nicht unnöthig auf! Setze Dich lieber wieder her, und erzähle mir nun, als ein Freund dem besten Freunde, was giebt es? was hat es gegeben? was wird es geben?«

»Ein Unglück«, rief Egbert, der offenbar nur die letzten Worte gehört hatte; »ganz zweifellos ein Unglück; denn ich habe auch nicht die mindeste Aussicht, jemals … noch dazu, da ich nicht drei Worte … aber Du weißt ja gar nicht, um was es sich handelt, und kannst also gar nicht« –

»Weißt gar nicht, kannst gar nicht, närrischer Kerl! Ich kann Alles, wenn ich Alles weiß! Also her zu mir, und erzählt! Alles der Ordnung gemäß, wie Polyphem seine Schafe melkt!«

Damit zog ich den Widerstrebenden zu mir nieder auf die Bank und er erzählte nicht ohne manches Stocken und Zögern:

»Es mag nun etwa vierzehn Tage her sein, als ich Dr. Kühleborn eines Abends eilfertiger als gewöhnlich die Straße hinab traben sah. Ich wollte ihn, ich weiß nicht wonach, fragen, trabte hinter ihm her und holte ihn dicht vor der Post ein. Er ließ mich natürlich nicht zu Worte kommen, sondern rief: begleiten Sie mich und helfen Sie mir eine Familie empfangen, die sich heut hat anmelden lassen. Sie verstehen ohne Zweifel englisch?«

»Alles wird mir jetzo klar« … murmelte ich.

»Du sagtest?«

»Nichts, bitte fahre fort!«

»Weshalb, Doctor! fragte ich. Er erwiderte nichts, hatte auch kaum Zeit dazu, denn in diesem Augenblicke kamen zwei Wagen – eine offene Chaise und ein Gepäckwagen mit Posthornklang und Peitschenknall herangerollt und hielten vor der Post still. In der Chaise saßen vier Personen: ein stattlicher Herr und eine corpulente Dame im Fond, zwei junge Damen auf dem Rücksitz. Ich stand so, daß ich besser die beiden letzteren sehen konnte, oder vielmehr nur die eine, oder vielleicht frappirte mich die wunderbare Schönheit dieser Einen so, daß ich nur sie sah. Nun, Du wirst sie ja morgen auch sehen und mir recht geben: so etwas Liebliches, Holdes, Wunderbares hat noch nie existirt, so lange die Welt steht. Sie ist der Inbegriff, – mit einem Worte: es ist nicht auszusagen, wie schön sie ist.«

»Gehen wir also weiter!« sagte ich; »wir stehen noch immer vor der Post!«

»Ja so! der unglückselige Mensch von Doctor rief mich, während er, Hut in der Hand, mit denen im Wagen sprach, heran, und ich Einfaltspinsel muß denn natürlich folgen, als ob ich nicht hätte ahnen können, was mir bevorstand. Kühleborn nehmlich, mit dessen Englisch es auch nicht weit her ist, und der, der Himmel verzeihe es ihm, sich nun einmal in den Kopf gesetzt hatte, daß ich ihm würde helfen können, stellt mich vor: Herr Egbert, Mister Egbert! und stößt mich mit dem Knopf seines Stockes in die Seite, und raunt mir mit der verlegensten Miene von der Welt zu: reden Sie doch mit ihnen und sagen Sie ihnen: ich hätte im Kurhause die Zimmer für sie in Bereitschaft! – Nun denke Dir meine Lage. Alle die Augen starr auf mich gerichtet: der Alte unter seinen buschigen Brauen, die Alte unter ihren grauen Locken, die jungen Damen unter ihren breiträndrigen Strohhüten: alle mich anblickend, und ich nicht im Stande, ein Wort hervorzubringen! nein, nicht ein Sterbenswort, und wenn ich zur Strafe dafür auf der Stelle hätte zehntausend Klafter tief in die Erde sinken sollen, was ich bei Gott am liebsten gethan hätte. Wie lange diese höllische Situation gedauert hat, weiß ich nicht; ich weiß nur, daß sie nicht lachte, sondern mich mit ihren schönen sanften Augen mitleidig ansah, und daß ihre Wangen sich rötheten, als wollte sie sagen: armer Junge, ich kann mir ungefähr denken, wie Dir zu Muthe ist. Und dabei stellte es sich nun noch heraus, daß mir das ganze Unglück hätte erspart werden können, denn der alte Jaguar kann sich gar wohl deutsch verständlich machen, wenn er die Herablassung hat, es zu wollen. Ich aber hatte meine Lection im Englischen weg und drückte mich von dem Wagen fort, wie ein Esel, ein horrender Esel, der ich bin!«

Egbert hatte sich in die größte Aufregung hineingesprochen und schlug mit seinem Stocke zornig auf die Erde. Ich fand selbstverständlich die mir so lebhaft geschilderte Situation unendlich viel mehr komisch als tragisch, hütete mich aber wohl, meine Empfindungen zu äußern. Im Gegentheil! es lag eine Welt voll Theilnahme in dem Ton, in welchem ich jetzt sagte:

»Armer Junge! ich kann es mir denken! es muß gräulich gewesen sein. Aber hoffentlich hast Du seitdem Gelegenheit gehabt, Dich vor der Schönen im besseren Lichte zu zeigen.«

»Gelegenheit!« rief Egbert, »Was heißt Gelegenheit, wenn man zum blödsinnigen Schweigen verurtheilt ist. Ich sehe sie alle Tage, aber das ist Alles!«

»Und dies Alles ist viel; auch Blicke reden.«

»Besonders wenn man in Erinnerung jener verdammten Introduction die Augen nicht aufzuschlagen wagt.«

»Und Du verstehst wirklich gar kein Englisch?«

»Ist es uns vielleicht auf der Schule gelehrt worden? und wo hätte ich es später lernen sollen?«

»Freilich, freilich! aber erzähle weiter. Wie leben die Engländer? wie heißen sie? interessiren sie sich ebenso für die Gesellschaft, wie diese sich für sie zu interessiren scheint?«

»Es sind keine Engländer«, sagte Egbert; »sondern Amerikaner aus den Südstaaten, die der Krieg vertrieben hat. Mister Cunnigsby nennt er sich, Mr. Augustus Lionel Cunnigsby, und ich kann Dich versichern, man sieht dem Kerl förmlich die Sclaven an, die er zeit seines Lebens zu Tode geprügelt haben mag. Er ist so stolz wie Lucifer, und kann man es ihm verdenken, wenn alle Welt sich vor ihm in den Staub wirft!«

»Thut das alle Welt?«

»Nun freilich! Du kennst ja unsere guten Deutschen! Wenn Jemand nicht innerhalb der Grenze ihres Zollgebietes, sondern etwa am Missisippi geboren ist und dann die Güte hat, hierher zu kommen, und in jeder Beziehung zu thun, als ob sie gar nicht auf der Welt seien, als höchstens um ihm die Stiefeln zu putzen – so ist das Factum so merkwürdig, daß sie aus dem Augenaufsperren und Mundaufreißen gar nicht herauskommen. Und nun laß ihn noch einen halben Kopf größer und einen halben Fuß in den Schultern breiter sein, als sonst die Menschen, oder gar einen ungewöhnlich braunen Teint und dunkle Augen haben – so regt sich der alte Leibeigene von gestern in dem Pfahlbürger von heute und drückt sich vor dem großen Herrn scheu auf die Seite. Was kümmert sie es, daß der Mann Zeit seines Lebens ein ganz gemeiner Sclavenzüchter gewesen ist, daß an jedem Goldstück, das er ihnen zuwirft, der Schweiß, vielleicht das Blut der unglücklichen Opfer seiner brutalen Habgier klebt, – sie müssen sich vor ihm in ihrer Erbärmlichkeit prostituiren – es ist einmal gemeine Natur – sie können nicht anders.«

»Du übertreibst, Egbert! und das in der gröblichsten Weise.«

»Keineswegs! und Du würdest mir recht geben, hättest Du, wie ich, die letzten vierzehn Tage diese Menschen beobachtet. Kaum daß noch ein anderes Wort gesprochen wird, außer über die Amerikaner. Wie sie leben, wie sie sich anziehen, gehen, stehen, sprechen – Alles ist der kostbare Text zu unendlichen Commentaren.«

»Mein Gott, die guten Leute sind müßig; sie sind froh, einen Unterhaltungsstoff zu haben! und dann! Tannenburg ist kein Homburg oder Baden-Baden. Was dort ein Stern sein würde unter tausend Sternen, glänzt hier wie die Sonne am Himmel. Das Ungewöhnliche zieht überall die Blicke auf sich. Dafür sind wir Menschen.«

»Sag' lieber: dafür sind wir Deutsche. Ich kenne fremde Länder freilich nicht wie Du, aber hältst Du es für möglich, daß in dem jämmerlichsten englischen Badeort eine reiche deutsche Familie, die dort erschiene, eine solche lächerliche Sensation erregen? daß man eine so kindische, sich selbst wegwerfende Abgötterei mit ihr treiben würde? Und das heute, heute, nachdem wir eben den ruhmreichsten Krieg geführt! Schlachten geschlagen haben, die die Welt erschüttern Die Vorlage hat hier »erschüttert«; in der Ausgabe der Sämtlichen Werke, Bd. 8. (Novellen, Bd. 2. 1872. S. 52) findet sich an der betreffenden Stelle »erschüttere«, was syntaktisch nicht einleuchtender erscheint. - Der Sachbezug liegt im preußisch-österreichischen Krieg von 1866/67, der mit einem Sieg Preußens endete. Was Spielhagen von diesen sog. Einigungskriegen hielt, deren zweiter dies vor dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 ist, macht der Kommentar des Ich-Erzählers im folgenden Absatz deutlich.! heute, wo die ganze Welt athemlos darauf lauscht, was Deutschland demnächst sagen und thun wird!«

»Egbert!« rief ich lachend; »auch Du! wie? ich glaube, ich habe noch Deinen Brief in der Tasche, in welchem Du uns Beide glücklich preist, daß wir nichts mit einem Kriege zu thun hatten, den nicht die Völker, den nur die Fürsten gewollt haben, der folglich auch nur den Fürsten zu gute kommen wird!«

»Das ist unsere Sache!« erwiderte Egbert eifrig; »unsere eigene häusliche Angelegenheit, die die Anderen nichts angeht. Den Anderen sollten und müßten wir zeigen, daß wir von jetzt an in unseren eigenen Schuhen stehen wollen und stehen können, gleichviel, ob die Schuhe nach unserem Geschmack sind, oder nicht. Aber –«

»Aber die Justizrath Scherwenzel und die Oberpostdirectorin von Dinde sind doch nicht die deutsche Nation!«

Egbert lachte. »Nun ja,« rief er; aber es ist und bleibt doch ärgerlich! Da tragen sie jetzt natürliche Blumen im Haar, die alten Schachteln, weil die schönen Amerikanerinnen es thun! Und nun diese neueste Blamage mit dem englischen Kränzchen! Ist es nicht zu arg! nur um die heilige Brahminensprache in Paria-Demuth doch auch unter sich radebrechen zu können, oder es gar so weit zu bringen, daß, wenn Dr. Kühleborn sie mit dem Stocke in die Seite stößt, sie nicht mit stummem, offenem Munde dastehen, wie – komm! es wird kühl, wir wollen zurückkehren!«

Wir singen an, langsam die mondbeschienene Chaussee nach dem mondbeschienenen Dorfe hinabzusteigen.

Egbert war wieder schweigsam geworden. Ich suchte mir, was ich so eben gehört, zurecht zu legen, und wunderte mich, daß ich eine Scheu empfand, den Freund abermals auf die blauen Augen, die es ihm offenbar angethan hatten, zu sprechen zu bringen. Ja, ich ertappte mich darauf, wie ich mich mit eben diesen mystischen Sternen in die zierlichste englische Conversation, die in meiner Macht stand, vertiefte.

»Höre, Egbert,« sagte ich, »wie wär's, wenn ich Dich englisch lehrte? nach der besten Methode; Du sollst reißende Fortschritte machen.«

»Pah!« erwiderte Egbert; »wer sagt Dir denn, daß ich es lernen will! um mich lächerlich zu machen, wie die Anderen? um derselben Ehre gewürdigt zu werden, wie der Laffe, der Bergfeld« –

»Der junge Stutzer, der vorhin so eilig durch den Garten lief?«

»Derselbe. Er ist ein Kaufmann aus Berlin, glaube ich – ein windiger, fader, hohler Gesell, wie nur einer! Sie haben ihn früher Alle zum besten gehabt; jetzt ist er der große Mann; die Damen alt und jung reißen sich um ihn; die Männer lauschen auf ihn, wie auf ein Orakel. Weßhalb? weil er, wie es scheint, der Einzige in der Gesellschaft ist, der englisch sprechen kann und deshalb der Ehre gewürdigt wird, der Alten den Shawl tragen, für die jungen Damen Stühle herbeiholen zu dürfen, und was dergleichen Ritterdienste mehr sind.«

»Und Lindau, der Mann der Sonne und des Mondes?«

»Spricht auch nicht englisch, und ist verdammt, aus der Ferne mit seinem Perlentaschenbuch und Silberbleistift, seinem Battisttaschentuch, blonden Handschuhen und gelben Schnurrbart zu coquettiren. Wohl bekomm's ihm!«

»Und sind sie, oder ist sie wirklich so schön?«

»Du wirst es ja selbst sehen;« erwiderte Egbert kurz.

Wir gelangten in das Dorf. Die Häuser warfen breite Schatten, zwischendurch lag das Mondlicht blendend auf der chaussirten Straße. Aus vielen Fenstern schimmerte Licht; vor den Thüren in dämmrigen Lauben saßen Kurgäste; auf den Trittstufen der Häusertreppen kauerten Dorfmädchen, die halblaut sangen. Zwischendurch rauschte und plätscherte der Bach in seiner steinernen Rinne. Als wir uns dem Kurhause näherten, kam aus einer Seitenstraße ein Wagen, der wenige Schritte vor uns vor der Thür eines Flügels des Kurhauses still hielt. Ein junger Mann, der in dem Schatten der Thüre gewartet haben mußte, sprang eilig die Stufen herab, öffnete den Schlag und war einigen Damen – drei, wie mir schien – und einem Herrn beim Aussteigen behilflich. Die hellen Gewänder der Damen schimmerten noch ein paar Augenblicke in dem Mondlicht und verschwanden dann in der Thür.

Egbert war mit einem plötzlichen Ruck stehen geblieben. Ich fühlte ganz deutlich sein Herz gegen meinen Arm schlagen, den ich unter seinen linken Arm geschoben hatte. Als der nun leere Wagen sich wieder in Bewegung setzte, athmete er tief auf.

»Es ist lächerlich!«

Er lachte aber nicht, und, sonderbarer Weise, ich auch nicht.

»Du wohnst, soviel ich weiß, ebenfalls in diesem Flügel,« sagte er; »gute Nacht also!«

»Kommst Du nicht noch herauf in den Speisesaal?«

»Nein; ich habe Kopfschmerzen und will zu Bett gehen; gute Nacht also!«

Er ging, aber nicht zu Bett, wie es schien, sondern vorerst einmal in den Kurgarten, vermuthlich, um in dem Schatten der Kastanien die heiße Stirn zu kühlen.

Auch mir war die Stirn heiß geworden; ich lag noch lange auf meiner Stube im Fenster, sah in die helle Mondnacht hinein, horchte dem Plätschern des Baches, dem Rauschen des Windes in den Bäumen, dachte darüber nach, wie närrisch doch diese Verliebten sind, und träumte, als ich mich endlich zu Bett gelegt hatte und eingeschlafen war, nicht von meiner Frau und meinen Kindern in dem zehn Meilen entfernten Soolbade, sondern von den schönen Amerikanerinnen irgendwo in meiner nächsten Nähe.



 << zurück weiter >>