Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Vergnügungscommissar.


Carl St. an Fritz S.

Tannenburg, 29. Juni 186*.

Du bist es gewohnt, lieber Freund, meine Briefe in sehr unregelmäßigen Zwischenräumen und aus sehr verschiedenen Orten zu erhalten; so darf es Dich nicht Wunder nehmen, wenn ich zur Abwechselung einmal aus einem Kaltwasserbade an Dich schreibe. Erschrick nicht; es steht nicht schlimmer mit mir als sonst, oder doch nicht viel; das heißt: es ist die alte Leyer, in deren verstimmte Saiten nun schon so viel kunstverständige Hände gegriffen haben, ohne einen reinen Accord herauslocken zu können, trotzdem die Kunstverständigen durchaus nicht begreifen, wie denn das nur eigentlich zugeht. Denn ich habe eine normale, sogar vortreffliche Constitution! So sagen sie ja Alle, wenn auch der Eine die Irritabilität des Herzens zu groß, und der Andere die Absonderung der Galle zu klein findet, und nur Dr. Kühleborn hier behauptet, daß mein Fall eigentlich hoffnungslos sei. Dafür ist Dr. Kühleborn aber auch ein Orginal, oder prätendirt wenigstens, eins zu sein; ich habe in der halbstündigen Unterredung, die ich heut Nachmittag mit ihm gehabt habe, nicht recht daraus klug werden können.

Denke Dir eine kleine hagere Persönlichkeit mit zierlichen Händen und Füßen und einem Kopf, der offenbar für eine größere Figur bestimmt war: breite Stirn, spärliches, etwas lockiges Haar, große dunkle Augen, die forschend über eine stattliche Adlernase auf den Ankömmling blicken. Ich hatte mich Dr. Kühleborn – er heißt wirklich so und behauptet deßhalb, zu seinem Beruf prädestinirt zu sein – natürlich angemeldet, und eine kurze Schilderung meines Zustandes, wie ich denselben auffasse, sowie ein paar nichtssagende Berichte von Aerzten, die mich in den letzten Jahren behandelt haben, beigefügt. Auf diese letzteren schien mein neuester Prophet durchaus gar kein Gewicht zu legen; etwas länger verweilte er bei meinem »kleinen Aufsatz«, wie er es nannte; aber nur, um mir über meine Handschrift einige wunderliche Bemerkungen und über meinen Styl einige Complimente zu machen, die er sich füglich hätte sparen können. Dann kam er auf meine Verhältnisse zu sprechen, wobei er mit einer wahrhaft bewundernswürdigen Ruhe eine Menge jener Fragen that, die in dem Munde jedes Andern einfach unverschämt sein würden, und bei denen man, selbst wenn sie aus dem eines Arztes kommen, manchmal nicht weiß, ob man sie beantworten soll oder nicht. Zuletzt stellte er eine eigentliche Untersuchung mit mir an, nach deren Beendigung er mit beleidigender Gelassenheit die großen Worte aussprach: »Ihr Fall ist eigentlich hoffnungslos.«

Ich mochte wohl ein sonderbares Gesicht zu dieser brüsken Erklärung gemacht haben, denn Dr. Kühleborn beeilte sich, indem er sein Stethoskop auf den Tisch legte, hinzuzufügen: »das heißt, genauer gesprochen, Werthgeschätzter: würde hoffungslos sein, wenn Sie Ihr guter Stern nicht noch zur rechten Zeit hierher geführt hätte. Hier, aber auch nur hier können Sie genesen, und hier werden Sie genesen, vorausgesetzt, daß Sie mir nicht, wie leider nur so Viele, zu früh aus der Schule laufen. Ließe ich Sie unter acht Wochen fort, so würde das ein Unrecht gegen Sie, und gegen die Badegesellschaft sein, der ich im voraus zu einer so liebenswürdigen Acquisition gratulire.«

Damit machte mir Dr. Kühleborn eine zierliche Verbeugung, die Unterredung war zu Ende und – ich jedenfalls nicht klüger, als zuvor. Aber bin ich denn hierher gekommen, um einen Halbwisser mehr kennen zu lernen? Habe ich es denn nicht schon längst aufgegeben, über »mein geheimnisvolles Inneres«, wie Onkel Bräsig in unsers halben Landsmanns herrlichstem Werke sagt »Ut mine Stromtid« (1862), von dem niederdeutschen Dichter Fritz Reuter (1810-74)., aufgeklärt zu werden? Vielleicht haben die Herren recht: ich bin gar nicht krank. Vielleicht fehlt mir nur, was jedem edleren Menschen, der einen Blick in die Tiefen des Lebens geworfen hat, fehlt: die Freude am Leben, an einem Dasein, das nichts weiter als eine unheimliche Dämmerung ist, in welcher wir nichts, am wenigsten uns selbst, in seiner Wesenheit zu erkennen vermögen! Ach, lieber Freund! Glaub' mir: es sind Betrüger oder Betrogene, die diese Welt für eine beste Welt ausgeben. Sie haben entweder nie etwas verloren, oder hatten nie etwas zu verlieren.

Ich war, seitdem ich aus Interlaken an Dich schrieb, in unserer meerumflossenen Heimath – zum ersten Male seit dem Tode meiner Eltern. Ich glaubte, es wagen zu können; ich wähnte, die tiefe Wunde sei wenigstens vernarbt. Wie sehr hatte ich mich getäuscht! Jetzt erst, jetzt, wo ich sie wieder sah die theure Umgebung, die mir durch so viele liebe und traurige Erinnerungen geheiligt ist: das Haus mit seinen grauen, ehrwürdigen Mauern, die alten Linden in der Allee, die mir zum Willkomm würzige Düfte spendeten, den ragenden Park mit den stillen Wiesengründen, den träumerischen Garten, in welchem die Vögel wie vor Alters sangen – als ich das Alles sah, und sie nicht mehr fand, deren Angedenken für mich mit jedem Baum, jedem Strauch verwebt war – da erst brach der Schmerz in seiner Vollgewalt hervor – da erst fühlte ich, daß ich sie verloren hatte! da erst wußte ich, daß ich allein war in der Welt – allein und einsam.

Dir gegenüber schäme ich mich nicht zu gestehen: ich fürchtete mich in dieser Einsamkeit vor mir selbst. Mein nur allzu geschäftiges Hirn ließ mir keine Ruhe; ich träumte am Tage inmitten sehr ernsthafter und schwieriger Geschäfte, welche die Regulirung der Grenzen meines Gutes mir aufbürdete, und habe es in der That nur der aufopfernden Hilfe und der praktischen Umsicht meines Nachbars, unsers guten Egbert – der Dich bestens grüßen läßt – zu verdanken, wenn sich Alles noch so schnell und glücklich arrangirt hat. Des Nachts, nach einem so verträumten Tage, schreckten mich phantastische Wahngebilde aus meinem unruhigen Schlaf. Dann lag ich da und sah die Mondesstreifen langsam an den hohen Wänden über die alten Bilder weiter rücken, oder ich stand auf und lauschte am geöffneten Fenster dem Rauschen und Raunen des Nachtwindes in den Bäumen. Der Morgen fand mich müde, angegriffen, muthlos, untüchtig zu raschen Entschlüssen, raschem Handeln – ich trieb auf einem dunklen Strome schnell und schneller an jene gefährliche Stelle, wo schon so manchem unglücklichen Schiffer für immer das Ruder aus den Händen geglitten ist. So weit durfte es nicht kommen. Ich ließ die Koffer wieder packen, übergab Haus und Hof dem treuen Hermann, bat zum Ueberfluß Freund Egbert von Zeit zu Zeit nach dem Rechten zu sehen; schrieb an Dr. Kühleborn, der mir früher von ich weiß nicht wem sehr gerühmt worden war, und reiste hieher, indem ich mir unterwegs einzureden suchte, daß das gepriesene Wasser und die milde Luft dieses Bergwaldes ganz besonders wohlthätig auf meinen Zustand wirken müßten.

Natürlich glaubte ich von dem Allen keine Sylbe; aber irgend wohin mußte ich doch, und da war Tannenburg Zwar gibt es im Nordhessischen eine Burg Tannenberg, die in Nentershausen liegt und im Volksmund »Tannenburg« genannt wird; anders als die Ortsnamen in »An der Heilquelle« ist »Bad Tannenburg« in diesem Novellenband dennoch fiktiv, ebenso wie der »Nonnenkopf«, der »Eiskopf« oder die »Helenenquelle« etc. in »Die schönen Amerikanerinnen«. so gut wie ein anderer Ort. Es ist wirklich ganz gleich, wo ich mich befinde; ich kann mich selbst nirgend los werden, d. h. ich muß eben überall durch meine Augen sehen, und da kann ich freilich nicht verhindern, daß mir der berühmte Dr. Kühleborn wie die anderen Aeskulapssöhne des neunzehnten Jahrhunderts und das nicht minder berühmte Tannenburger Schloß wie andere gut konservirte Raubnester aus dem Mittelalter erscheinen.

Ich bin nämlich, da das am Fuße des Schloßberges belegene große Kurhaus mit Gästen bereits überfüllt ist, in dem Schlosse einquartirt, in einem großen, niedrigen Gemach mit ungeheuer dicken Mauern und tiefen Nischen vor den vier nach zwei Seiten hin gehenden Fenstern, das man mir unter dem pompösen Titel des Rittersaales vorgestellt hat. Ich weiß nicht, wie das Gemach vor vier- oder fünfhundert Jahren, als noch der Wärtel lustig sein Liedel vom Thurm blies, ausgesehen haben mag – jetzt ist es ein Bild anständiger Dürftigkeit: weißübertünchte, jedes Schmuckes baare Wände, gutgescheuerte Dielen, ein schmales Bett, ein ziemlich hartes Sopha, ein Tisch, ein paar Stühle – Alles aus groblackirtem Tannenholz – das ist die ganze Ausstattung. Vor den Fenstern sind weder Rouleaux noch Gardinen – »es kann Ihnen Niemand hineinsehen«, meinte der rührige Inspektor, der mich hinaufgeführt hat. Ich habe mich überzeugt, daß dem also ist. Man blickt auf der einen Seite in die Berge, nach der andern über das Dorf weg in die Ebene. »Es ist eine prachtvolle Aussicht«, meinte der Herr Inspektor, und setzte dann etwas kleinlaut hinzu: »natürlich darf es nicht regnen.«

Natürlich darf es nicht regnen! Ich mußte lächeln, als der gute Mann das sagte. Die Bedingung klingt so einfach, so bescheiden, so selbstverständlich, und doch wäscht ihre Nichterfüllung die ganze schöne Welt mit nassem Schwamme von der Tafel unseres Lebens. Was liegt nicht Alles hinter diesem Regenschleier? Das traumhafte Glück der Kinderjahre, die stolzen Pläne unserer Jünglingszeit, hochsinnige Freundschaft, erste Liebe und die Gräber der theuren Eltern! Es liegt da Alles, was wir sein könnten – und nicht sind; was wir haben müßten – und nicht haben! Und doch kommen so viele Menschen so leicht darüber weg! Beneidenswerthe Genügsamkeit, die fort und fort, Angesichts der trübsten Gegenwart, Angesichts einer mindestens sehr fraglichen Zukunft, an dem Dogma von dem Werth des Lebens festhält, und auf jeden Zweifel achselzuckend antwortet: natürlich darf es nicht regnen!

Nun wohl! Ich werde mir das eine Lehre sein lassen. Ich werde in Tannenburg ein ungemein behagliches Dasein führen, alle blauen Teufel mit dem Morgenthau in blaue Lüfte steigen lassen auf Nimmerwiederkehr, werde mit Appetit essen, ohne böse Träume schlafen, fett werden, und Dir, alter treuer Freund, die lustigsten Briefe schreiben – natürlich darf es nicht regnen!

 

den 30. Juni, Vormittags.

Ich habe vorläufig die Ausführung meines Programmes bis auf weiteres verschieben müssen. Es regnet, regnet beinahe ohne auszusetzen; die Berge haben sich in triefende Mäntel gehüllt und ihre grauen Nebelkappen bis auf die Schultern herabgezogen; ich muß mehr als je an die schöne Aussicht aus den westlichen Fenstern des Rittersaales glauben. Von dem Dorf herauf, das in dieser Beleuchtung äußerst kläglich aussieht, tönt unaufhörlich das mißtönende Geschrei von, wie es scheint, unzähligen Gänsen. Sie sind wahrscheinlich die einzigen Geschöpfe, die sich bei dieser Sündfluth behaglich fühlen, leider nicht die einzigen, welche der atmosphärische Einfluß veranlaßt, sich vokalisch zu äußern. Gestern Abend war es im alten Schloß so still gewesen – man hörte deutlich das Gurgeln des Regenwassers in den steinernen Rinnen und das Klopfen der Tropfen auf den Scheiben; ich hatte mich dieser lauschigen Stille sehr gefreut und nicht bedacht, daß, wenn nach dem Ausspruche des englischen Dichters Ruhe Glück ist, dieses Glück, wie jedes andere, vergänglich sein müsse. Heute in aller Frühe schon wurde ich auf eigenthümliche Weise daran erinnert. Ein tiefes, gleichmäßiges Dröhnen, das meine Fensterscheiben klirren machte, ließ sich vernehmen. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich überzeugte, daß dieser seltsame, auf- und absteigende, aber immer gleich mächtige Ton von einer Menschenstimme, oder besser Riesenstimme herrührte, die in tiefster Baßlage Skala sang. Das Zimmer des Sängers lag, wie ich bald herausgebracht hatte, in gleicher Höhe mit dem meinigen, in einem Flügel des Schlosses, der rechtwinklich an den Theil desselben stößt, in welchem der Rittersaal liegt. Ich dachte darüber nach, von welcher Wirkung diese Riesenstimme sein müßte, wenn erst die Fenster geöffnet sein würden. Plötzlich, in dem ersten Stockwerk unmittelbar unter mir, singt ein sehr heller Ton eine Passage, die in einem langgezogenen, vortrefflich exekutirten Triller endigt. In mir wurde es stumm und ich konnte nur noch ironisch lächeln, als nun auch ein Violoncell irgendwo in nächster Nähe zu tremuliren begann. In welches musikalische Babel war ich hier gerathen! Ja wahrlich, der alte Kant hat recht, wenn er einmal bemerkt, daß alle übrigen Künste ihr Wesen in bescheidener Stille trieben, und nur die Musik mit frecher Aufdringlichkeit sich eine Theilnehmerschaft erzwinge! Was nützt es mir, wenn ich ungestört sein will, daß die Musik, die mich stört, gut ist? daß die musikbeflissenen Herren wirkliche Künstler, Sänger und Virtuosen eines unserer ersten Residenztheater sind? Und ist dies eine »Eintracht süßer Töne«, wenn sie in drei verschiedenen Tonarten durcheinander lärmen, tremuliren und quinquiliren? Ein Tollhaus von Tönen ist's, und ich verstehe jetzt erst den Humor von Gulliver's Reise in das Land der Pferde, wo er die menschenähnlichen und doch nicht menschlichen Geschöpfe antraf, die er Jahoo's nennt, und von denen er behauptet, daß sie ihm die Menschheit auf immer verleideten. Ich erinnere mich nicht, ob in der kuriosen Erzählung auch musikalische Jahoo's vorkommen. Sollte es nicht der Fall sein, so ist es nur ein Beweis dafür, daß der bissige Satyriker niemals an einem regnerischen Morgen in einer Kaltwasserheilanstalt zwischen einem Bassisten, einem Tenoristen und einem Violoncellisten des königlichen Hoftheaters von X. eingeklemmt gewesen ist.

 

Abends.

Swift hat wirklich recht; jetzt, nachdem ich an der Mittags- und Abendtafel die Gesellschaft zusammengesehen habe, und gesehen habe, wie das durcheinander treibt, und plärrt und lacht, und sich auf jeden Fall amüsiren will, weiß ich, daß er recht hat. Lieber Freund! Es giebt nur zwei Arten von Menschen; diejenigen nämlich, für die der Dichter das Wort gesprochen hat: ein edler Mensch muß fern von Menschen sein; und die andern, die sich nur in Gesellschaft von ihres Gleichen wohl fühlen, und die ich zum Unterschied von jenen die gewöhnlichen oder Heerdemenschen nennen möchte. Die letztere Species füllt die öffentlichen Promenaden, Gärten, Wein- und Bierhäuser, die Bäder wimmeln von ihr. Denn sie besteht nicht etwa allein oder auch nur vorzugsweise aus den niederen Ständen! Bewahre der Himmel! Ich kenne Geheimräthe, Generäle, Barone und Grafen, die nichts weiter als die ordinärsten Heerdemenschen sind. Ja selbst die als einsam verschrieene Höhe der Throne ist vor dem Heerdemenschen keineswegs sicher, wie das aus der Geschichte alter, neuer und neuester Zeit leicht zu beweisen ist.

Nun und aus dieser Sorte von Leuten scheint die Tannenburger Badegesellschaft zum größten Theil, wenn nicht ganz und gar zusammengesetzt. Mit welchen Physiognomieen und Gestalten habe ich heute Bekanntschaft machen müssen! Ich sage müssen, denn bei der Einrichtung des Bades, wo Frühstück, Mittag- und Abendbrot von der ganzen repräsentabeln Kurgesellschaft gemeinschaftlich in dem großen Saale eingenommen wird, ist ein Entrinnen kaum möglich, und der abscheuliche Dr. Kühleborn scheint ein satanisches Vergnügen zu empfinden, wenn er zwei Menschen, die absolut nichts miteinander gemein haben, zusammengebracht hat. Er reibt sich dann die feinen Händchen, lächelt sarkastisch und läßt die Unglücklichen in irgend einer Ecke, aus der sie nicht wohl fort können, allein. »Was wollen Sie«, sagte er zu mir, als ich ihn bat, mich in gesellschaftlicher Beziehung als nicht vorhanden zu betrachten: »Sie sind doch nun einmal hier und hier ist Einer auf den Andern angewiesen. Der moralische Zwang, den Sie sich anthun müssen, wird Ihnen in jeder Hinsicht vortheilhaft sein. Sie werden es mir noch Dank wissen, daß ich Sie nicht Ihrem krankhaften Triebe, sich zu absentiren und zu isoliren, überlassen habe. Erlauben die Herren, Sie miteinander,« und wieder war die Liste meiner neuen Bekanntschaften um einen graubärtigen Hauptmann a. D., oder biedern Gutsbesitzer oder trocknen Kaufmann aus der Provinz vermehrt!

Es sind über hundert Kurgäste hier, von denen, mit Ausnahme einiger Weniger, Alle in dem Kurhaus und auf dem Schlosse, das als eine Dépendance des Kurhauses zu betrachten ist, wohnen. Du kannst Dir denken, daß diese Menschen auf einander angewiesen sind – besonders an einem Regentage. In den ungemüthlichen Zimmern können sie es vor langer Weile nicht aushalten, so kommen denn die Herren in der Kegelbahn, den Billardzimmer, dem Lesezimmer, die Damen in ihrem Salon zusammen und langweilen sich gemeinschaftlich. Die Anstrengungen, die man hier macht, sich trotz alledem und alledem zu amüsiren, sind zum Theil unglaublich. In dem Garten ist eine lange, nach einer Seite offene Halle, ich vermuthe zum Spazierengehen bei schlechtem Wetter. Hier saß heute Nachmittag die ganze Gesellschaft und ließ sich von der Badekapelle, die allwöchentlich zweimal aus einem benachbarten Städtchen requirirt wird, Musik machen. Es war wunderlich anzusehen und anzuhören. Hier die Gesellschaft in ihrer windigen Halle, kaffetrinkend, kuchenessend, plaudernd; dort auf der anderen Seite des Gartens in ihrer überdachten Holzlaube das Orchester, Potpourris exekutirend, und dazwischen der plätschernde Regen und die sausenden Bäume! Ich weiß nicht, soll man weinen oder lachen über einen so abscheulichen Geschmack. Freilich, die Gesellschaft hat ganz recht. Ist sie doch selbst nichts Anderes als ein ungenießbarer Mischmasch! Weßhalb sollte sie denn nicht an einem elenden Potpourri mit obligatem Tassengeklapper größeres Gefallen finden, als an der Musik eines Regensturmes!

Und doch sind hübsche Frauen und Mädchen in der Gesellschaft, poetische Erscheinungen, von denen man nicht wohl begreifen kann, was sie mit dieser unschönen Prosa des Badelebens zu thun haben; blühende Rosengesichter, bei deren Anblick einem das Herz aufgehen würde, wenn der Gedanke, daß es eben nur schöne Masken sind, die Seele nicht mit Bitterkeit erfüllte. Ich mag zu streng in dieser Hinsicht sein, aber ich will der Prosa keine Concessionen machen, auch nicht, wenn sie in so lieblich trügerischer Gestalt an mich herantritt.

Heute Abend – vor einer Stunde kaum – hatte ich Gelegenheit, die Festigkeit meiner Grundsätze auf die Probe zu stellen. Die Gesellschaft hatte zu Abend gespeist; nach der Tafel wurde in dem großen Saale getanzt. Ich hatte in einem Nebenzimmer über den oben angekommenen Zeitungen gesessen, und die diplomatischen Noten zwischen Oesterreich und Preußen im Walzer- und Polkatakte, so gut es gehen wollte, zu lesen versucht. Endlich konnte ich es nicht mehr aushalten, und ich stand auf, mich aus dem lärmenden Kurhause in die Einsamkeit meines Schlosses zu begeben. Ich mußte zu diesem Zweck den Tanzsaal passiren. Als ich eintrat, rangirte man sich gerade zu einer Française. Unwillkürlich, oder ich weiß nicht durch welches Hinderniß aufgehalten, blieb ich stehen – vielleicht durch die Erinnerung an unsere Studentenjahre – Du weißt, daß ich damals den Tanz, vor allen die Française, leidenschaftlich liebte. Wie ganz anders war das jetzt! Mit welcher Gleichgiltigkeit sah ich die Herrlein und Dämchen sich abmühen; mit welcher Ruhe bemerkte ich, daß ein Paar, oder vielmehr nur noch ein Herr fehlte. Denn die Dame war da und merkwürdigerweise die entschieden hübscheste des ganzen Kreises, ein schlankes Mädchen von etwa achtzehn Jahren, deren blauen, übermüthigen Augen ich auch schon sonst im Laufe des Tages ein paar Mal begegnet war. Vermuthlich hatte jeder der Herren die junge Schöne schon für versprochen gehalten – jedenfalls hatte sie in diesem Augenblicke keinen Tänzer. Und doch mußte sie einen Tänzer haben, nicht blos, damit das fehlende Paar eintreten könnte, sondern auch damit sie tanzen könne. Denn sie wollte tanzen. Das sah man deutlich genug an ihren Blicken, die ungeduldig über die zuschauenden Herren flogen und endlich auf mir haften blieben. Ich konnte mir darauf nicht eben viel zu gute thun, denn unter den würdigen Männern, die da standen, war ich der Einzige, der einem erfahrenen Auge ungefähr tanzfähig erscheinen mochte. Ob die suchende Schöne dem Dr. Kühleborn in diesem Momente einen Wink gegeben hatte, ob der Doktor zu gleicher Zeit auf den Gedanken gekommen war – ich lasse es unentschieden; ich weiß nur, daß der Doctor sich in einer unverkennbaren Absicht quer durch den Saal auf mich zu bewegte. Die Situation war zu klar; die Gefahr im Verzuge zu offenbar; ich ließ den Blick nach der Decke schweifen, fingirte ein leises Gähnen, wandte mich und schritt in dem Tempo, in welchem der Doctor auf mich zukam, nach der Thür. Als ich langsam im Dunkeln den Schloßberg hinaufstieg, schlugen die ersten Töne der Française an mein Ohr. Ich will es Dir gestehen, Bernhard: auf ein paar Augenblicke empfand ich Gewissensbisse. Das schöne Mädchen mit den großen, strahlenden, blauen Augen that mir leid; sie hätte so gerne getanzt, und es wäre für mich eine so kleine Unbequemlichkeit gewesen. Vielleicht nicht einmal das; wenigstens erinnere ich mich der Zeit, wo ich, um einen einzigen Tanz mit einem weit weniger schönen Mädchen zu tanzen, acht Meilen in einer Winternacht geritten bin. Aber freilich, das ist zehn Jahre – eine Ewigkeit her, und weßhalb hatte sie heute Nachmittag in der abscheulichen Halle gesessen und die abscheulichen Potpourris mit abgehört!

Jetzt, wo ich dies schreibe, schweigt die Musik, und es ist, wie gestern Abend, still auf dem alten Schlosse; die Sänger schlafen wahrscheinlich schon und der Cellist hat sein Instrument in den Kasten gelegt. Von dem Dorfe herauf tönt dann und wann das dumpfe Gebell eines Hundes. Sonst hört man nichts, nichts als das Gurgeln des Wassers in den Rinnen und das Pochen und Hämmern der Regentropfen auf den Scheiben und das Rauschen des Windes in den uralten Linden, die zwischen dem Trümmergestein des Schloßberges unter meinen Fenstern stehen. An dem Himmel schwankt die Mondessichel durch jagende schwarze Wolken. Es ist eine Nacht, wie ich sie liebe – eine Nacht, in welcher man Zwiesprach halten kann mit seinem Genius, eine Nacht, die für viele Tage entschädigt, und uns mit den Menschen aussöhnt, indem sie uns lehrt, sie zu entbehren. Leb wohl, Du mein einziger Freund!

 

Tannenburg, den 3. Juli.

Ich habe Deinen Brief vom 1. erhalten und danke Dir herzlich für all' das Gute und Liebe, das er mir sagt. Du bist besorgt um mich; Du beklagst meine Schwermuth, wenn du mich auch von der Schuld, diese traurigen Gefühle in mir geflissentlich zu nähren, nicht freisprechen kannst. Du tadelst meinen Hang zur Einsamkeit, meine Menschenscheu, meine Menschenverachtung; erinnerst mich an das Wort des großen Meisters von der schlechtesten Gesellschaft, die uns noch immer fühlen mache, daß wir Mensch mit Menschen sind. Ich glaube, daß Du recht hast, lieber Freund; und das Schicksal oder irgend ein neckischer Puck hat dafür gesorgt, daß ich Deine guten Lehren alsobald in Anwendung bringen kann, ja bringen muß.

Es ist eine gar wunderliche Geschichte, und ich will sie Dir mit allen Details erzählen.

Der Tag, an welchem ich meinen Brief abgeschickt, der dritte Tag meines hiesigen Aufenthalts, verging so ziemlich wie der zweite. Des Morgens kombinirtes Concert der Gänse unten im Dorf und meiner musikbeflissenen Nachbarn oben auf dem Schlosse; Mittags die langweilige Tafel in dem menschenüberfüllten, lauten Speisesaale, Nachmittags Pfänderspiele der Gesellschaft, die der Regen noch immer in dem Hause gebannt hielt. Die junge Dame mit den blauen Augen, die ich gestern um die Française gebracht hatte, präsidirte dem lärmenden Kreise und war die übermüthigste von Allen, wie sie auch offenbar die geistvollste, wenigstens die am meisten erfinderische war. Mich strafte sie – wie ich denn das reichlich verdient hatte – durch gänzliches Ignoriren; ich bemerkte deutlich, wie ihr ausdrucksvoller Blick ein paar Mal über mich hinstreifte, als ob ich ein Stück von der Wand gewesen wäre, an die ich, dem Spiele zuschauend, mich lehnte. Uebrigens hielt ich mich nicht lange auf, sondern entwich, nachdem Dr. Kühleborn mir zu dem Glück der Bekanntschaft mit sechs Neuangekommenen Kurgästen verholfen hatte und eben im Begriff stand, mich zum Ueberfluß noch einer älteren spüräugigen Dame mit Locken vorzustellen, die durch vier gleichgekleidete Töchter, an deren Spitze sie marschirte, für mich um nichts anziehender wurde. Ich ging, trotz des Regens, in die Berge und hatte ein paar entzückende Stunden. In den Schluchten brauten die Nebel und stiegen an den Bergwänden hinauf – geisterhafte Gebilde, die in der Höhe zerflatterten oder sich mit den schwer- und tiefziehenden Wolken vermischten. In den Spitzen der großen Bäume rauschte der Wind; still, aber unaufhörlich tropfte es von den kleinen Tannen in das struppige Heidebeerkraut, das den felsigen Boden überall dicht bedeckte. An den Wegseiten und oft genug quer über den Weg kamen die Wasser herab, in dünnen Rinnsalen, manchmal in plätschernden Bächen. Keines Menschen Stimme, nur hier und da ein klagender Vogellaut – es war unsäglich schön und einsam in dem weiten, duftenden Revier.

Daß ich mir die Nachfeier dieses herrlichen Spazierganges durch die plärrende Gesellschaft im Kursale, aus dessen hohen Fenstern mir, als ich zurückkam, das starke Licht der Kronleuchter bereits entgegenschimmerte, nicht verkümmern lassen wollte, wirst Du verzeihlich finden. Ich stieg deßhalb sogleich nach meinem Schlosse hinauf und las bis tief in die Nacht in Fritz Reuter – den dritten Theil von »Mine Stromtid« – in immer tieferer Bewunderung dieses in all' seiner Einfachheit wahrhaft genialen Werkes. Hier war auch Natur!

Ich war, aufgeregt durch die Lectüre, spät eingeschlafen und erwachte spät – diesmal von dem Gesang der Vögel, die in den dichten Kronen der hohen Bäume unter meinem Fenster lustig zwitscherten und sangen. Denn in der Nacht hatte der Himmel seine Fenster geschlossen; die Sonne strahlte aus einem wolkenlosen Aether; es war ein entzückender Morgen. Ich sah das mehr, als ich es fühlte. Meine Sinne waren stumpf, mein Kopf nach der halb schlaflosen Nacht wie zerstückt; ich war ärgerlich auf meinen alten Badewärter, der mich aus Gutmüthigkeit hatte schlafen lassen, ärgerlich auf mich selbst, weil ich ärgerlich war – kurz ich war in einer unleidlichen Verfassung, und – wie ein Kranker, der sich ungeduldig von einer auf die andere Seite wirft – beschloß ich, sobald als möglich wieder abzureisen. Ich glaubte gefunden zu haben, daß mir die Tannenburger Luft und vorzüglich die Tannenburger Gesellschaft, Alles in Allem, nur schlecht bekomme – trotz Dr. Kühleborn's Versicherung vom Gegentheil.

In dieser Stimmung und mit dem Entschluß, Dr. Kühleborn nach Tische von meiner Absicht zu unterrichten, begab ich mich in den Speisesaal und setzte mich still an meinen Platz an dem Ende der mittelsten der drei langen Tafeln, meine Augen nicht von dem Teller erhebend, um meinen Nachbarn, einem alten hagern Hauptmann a. D. und einem korpulenten Kommerzienrath aus der Residenz keine Aufmunterung zur Anknüpfung einer Unterhaltung zu geben.

Dennoch konnte ich nicht umhin, zu bemerken, daß heute ein ganz besonders munteres Treiben in dem Saale herrschte, vorzüglich an der ersten Tafel, an welcher die älteren Kurgäste saßen, unter anderen die Dame mit den blauen Augen, die heute unendlich viel zu thun und zu reden hatte, und in ihrer Geschäftigkeit, wie ich glaubte, ganz vergaß, daß sie mich nicht ansehen dürfe. Endlich erfuhr ich denn aus dem Gespräche meiner Nachbarn, um was es sich handelte: um die Wahl »des Vergnügungs-Comité's«. »Verzeihung, was ist das: Vergnügungs-Comité?« fragte der dürre Hauptmann, welcher an einem Tage mit mir gekommen war, den dicken Kommerzienrath, der schon etwas länger da war. Dieser belehrte nun den Frager und auch mich, der ich schweigend zuhörte: das Vergnügungs-Comité sei ein aus drei Herren bestehender, aus dem Schooße der Gesellschaft hervorgehender, alle vier Wochen zu erneuernder Ausschuß, dessen Pflicht und Aufgabe es sei, gemeinschaftliche Spaziergänge und Fahrten, Tänze und Spiele zu arrangiren, mit einem Worte: für das Vergnügen der Gesellschaft in schicklicher Weise Sorge zu tragen. Der Kommerzienrath wußte weiter zu erzählen, daß zu diesem Ehrenamte wo möglich nur solche Männer erwählt würden, die sich, außer durch ihre gesellschaftlichen Talente, auf die freilich hauptsächlich gesehen werde, auch durch ihre Stellung im Leben, jedenfalls durch würdige Haltung auszeichneten, denn das Comité habe gelegentlich die Gesellschaft zu repräsentiren, sei das vermittelnde Element bei allen Streitigkeiten und Ehrenhändeln, und überhaupt so zu sagen, die Seele der Gesellschaft. – »Aber wie ist,« fragte der Hauptmann, »in einer Gesellschaft, von der sich ein nicht geringer Theil erst wenige Tage hier befindet, eine solche Wahl möglich? Ich würde mich doch offenbar der Wahl enthalten müssen; und ich glaube, daß Sie, mein Herr, derselben Ansicht sind?« fuhr er, sich zu mir wendend, fort. – »Ohne Zweifel,« erwiderte ich. – »Beruhigen Sie sich, meine Herren,« sagte der Kommerzienrath; »die älteren Mitglieder der Gesellschaft machen das immer unter sich ab; sie stellen die Wahlliste auf und sorgen dafür, daß dieselbe in möglichst viele Hände kommt. Uebrigens höre ich, daß diesmal das alte Comité wieder gewählt werden soll, mit Ausnahme eines der Herren, der durch Kränklichkeit genöthigt ist, sein Amt niederzulegen. Ah! Da sind ja schon die Zettel!«

In der That wurden jetzt von den Kellnern Zettel herumpräsentirt, auf die jeder der Gäste seine Kandidaten zu schreiben hatte. Der Hauptmann und ich ließen die Zettel unbeschrieben in die Urne fallen, während der Kommerzienrath mit einem sonderbaren Lächeln, das sich geheimnißvoll in den Falten seines Doppelkinnes verlor, einen Zettel abschrieb, der ihm soeben von dem ersten Tisch her, ich weiß nicht wie, in die Hände gespielt war.

Die Aufregung in dem Saale, die von Minute zu Minute sich gesteigert hatte, erreichte den höchsten Grad, als nun Dr. Kühleborn sich erhob und der Gesellschaft mittheilte, daß der neben ihm stehende Herr S. – mein Bassist vom Schlosse – die Güte haben werde, die Namen auf den eingelaufenen Zetteln vorzulesen, während Herr C. – der Tenorist – das Protokoll übernommen habe.

Ich war eben im Begriff, mich von diesem Wahl-Akt, der nicht das mindeste Interesse für mich hatte, zu absentiren, als – zu meinem wahren Schrecken – unter den drei ersten Namen, die von der tiefen Riesenstimme mitgetheilt wurden – mein Name an mein Ohr schlug. Ich glaubte mich verhört zu haben; aber noch ehe ich darüber im Klaren war – erscholl abermals mein Name, und abermals, und abermals – auf beinahe jedem der abgegebenen Zettel, in Verbindung mit zwei andern, die ebenfalls immer wiederkehrten, mein Name! Dies war selbstverständlich kein Zufall, dies war ein reiflich geplantes, fein abgekartetes, konsequent durchgeführtes Spiel; und ich zerbrach mir, während mir das Blut in die Schläfen und Wangen schoß, den Kopf, wem in aller Welt ich diese Ehre, die einer Verhöhnung so merkwürdig ähnlich sah, zu verdanken haben möchte.

Ich brauchte nicht lange zu grübeln. Als ich meine Augen, gleichsam instinktmäßig, nach der ersten Tafel wandte, begegneten sie den Augen jener jungen Dame, und diese blauen Augen blitzten mit einem solchen Uebermuth zu mir herüber, und dabei war das junge rosige Gesicht von einer so lebhaften Röthe übergossen – wie ein Blitz fuhr es mir durch die Seele: sie und sie allein ist die Anstifterin; sie und sie allein hat dir dies zu Wege gebracht! Und nun ging urplötzlich eine wunderliche Umwandlung in mir vor; noch vor einer Minute war ich entschlossen gewesen, die mir widerfahrene Ehre mit ein paar ernsten Worten abzulehnen; jetzt stand es in mir fest, daß ich dieselbe annehmen müsse, aus – nun ja! aus keinem andern Grunde, als dem neckischen Kobold da drüben sein keckes Spiel recht gründlich zu verderben. Ich blickte die junge Uebermüthige an; sie erröthete noch tiefer als vorher und senkte die langen Wimpern. Ich hatte genug gesehen.

Dr. Kühleborn erhob sich, das Resultat des Skrutiniums zu verkündigen. Die beiden Herren vom alten Comité und ich waren – wie der Doktor sich ausdrückte – mit an Einstimmigkeit grenzender Majorität gewählt; er (der Doktor) hoffte, daß die genannten Herren die auf sie gefallene Wahl annehmen würden, und er bäte sie, dies durch ein beredtes Schweigen zu erkennen zu geben. Dann, als wollte er mir nicht Zeit zu einer Erwiderung lassen, hob er eilends die Tafel auf und drängte sich, während der darauf folgenden Verwirrung, zu mir. »Ich bin nicht schuld daran; auf Ehre, ich habe nicht das Mindeste gewußt«. – »Ich weiß es«, entgegnete ich ihm lachend; »ich muß meinen Dank nach einer andern Seite richten«. – »Gut, daß Sie's so nehmen!« sagte er. – »Aber wie sollte ich es anders nehmen?« erwiderte ich mit möglichster Unbefangenheit. Der Doktor sah mich etwas verwundert an. »Nun«, meinte er ernst, »auf alle Fälle kann es Ihnen nur nützen, denn«, und hier lachte ihm wieder der Schelm aus den klugen Augen, »es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.«

Ich widmete mich also meinen größern Zwecken. Zuerst galt es, mich mit meinen neuen Kollegen, die ich bis dahin gar nicht beachtet hatte, in Rapport zu setzen. Es war mir Freude und Ehre, die Herren – ein paar würdige Kaufleute aus benachbarten Städten – kennen zu lernen, und ein paar Wochen hindurch gemeinschaftlich mit ihnen nach einem Ziele zu streben. Ich fürchtete freilich, daß mein guter Wille das Einzige sei, das ich zu dem schwierigen und ehrenvollen Amt mitbringe, indessen hoffte ich von ihrer langjährigen Erfahrung (die Herren waren bereits zum zehnten oder zwölften Male in Tannenburg) zu profitiren. Die trefflichen Männer nahmen meine Versicherungen freundlich und dankbar entgegen. Sie seien freilich mit allen Verhältnissen vollständig vertraut, aber hätten schon längst das Bedürfniß gefühlt, sich mit einer jüngeren, rüstigeren Kraft zu assoziiren. Die Aufstellung der Kosten, das Rechnungswesen, mit einem Worte die innere Verwaltung würden sie in alter Weise gewissenhaft weiter führen; dafür sollte ich das Aeußere übernehmen, und – wie sich der Eine ausdrückte – einmal einen ordentlichen Zug in die Gesellschaft bringen.

Ich dürstete nach großen Thaten, und der Zufall kam mir gefällig entgegen. Es war Concerttag; man hatte sich vorgenommen gehabt, den Garten am Abend mit bunten Lampen zu erleuchten; die Sache aber des schlechten Wetters wegen aufgegeben. Ich fragte, ob man in der benachbarten Stadt das Nöthige kaufen könne. Man bejahte es, hielt es aber bei der vorgeschrittenen Zeit nicht für möglich, rechtzeitig fertig zu werden. Ich erklärte mich, um allen Aufenthalt unmöglich zu machen, bereit, selbst in die Stadt zu fahren. Man möge unterdessen Leute bestellen und noch einige nöthige Vorbereitungen treffen; über Alles aber das tiefste Schweigen beobachten. Man versprach das; ich fuhr in die Stadt.

Ich fand wirklich, was ich brauchte, sogar ein paar bengalische Flammen, denn es war mir unterwegs eingefallen, daß sich das alte düstere Schloß in dieser Beleuchtung gar herrlich ausnehmen müsse. Glücklich im Besitz meiner Schätze, kehrte ich was die Pferde laufen wollten zurück, und kam hier wieder an, als die Sonne eben untersank.

Es war kein Augenblick zu verlieren. Die Illumination des Gartens mußte vor sich gehen, während die Gesellschaft von einer gewissen Stelle des Dorfes aus, am Rande eines großen Teiches, der als herrlichster Reflektor sich darbot, dem Schauspiel des beleuchteten Schlosses zuschaute. Es waren noch manche Vorbereitungen zu treffen; da war Arbeit die Hülle und Fülle.

Dank unseren vereinigten Bemühungen konnte das Programm vollständig innegehalten werden. Zur bestimmten Stunde trat ich in den Garten und bat die Gesellschaft, welche das Gerücht von den bevorstehenden Unterhaltungen dort festgehalten hatte, der voraufziehenden Musik paarweise zu einem Spaziergang in das Dorf zu folgen. Zugleich bot ich einer älteren Dame von Ansehen und Einfluß meinen Arm.

Es ging Alles nach Wunsch. Der Hornist, den ich mitgenommen, gab zur rechten Zeit das Signal; das Licht oben flammte zur rechten Zeit auf, und die Gesellschaft brach zur rechten Zeit in das obligate bewundernde Ah! aus. Aber es war auch wunderschön. Wie mit einem Zauberschlage trat plötzlich der alte Bau mit seinen Thürmen und Erkern aus dem Dunkel hervor, als ob die schweren Massen des Mauerwerkes von innen heraus glühten, als ob die alten vielhundertjährigen Bäume von der Wurzel bis in die äußersten Spitzen der Wipfel auf einmal in Flammen gesetzt wären. Und das Alles von der dunklen Fläche des Teiches, an deren Rande wir standen, wie von einem Spiegel aufgefangen und zurückgeworfen, und darüber der milde Sommerabendhimmel, in dessen reinem Aether die schmale Sichel des zunehmenden Mondes golden schwamm – mit einem Worte, Bernhard, es war sehr, sehr schön; ich durfte stolz auf meine Improvisation sein.

Unterdessen waren meine beiden zurückgebliebenen Kollegen nicht müßig gewesen. Die langsam unter dem Schalle einer sanften Musik Zurückkehrenden empfing der mit bunten Laternen geschmückte Kurgarten. Neues Staunen, neue Freude, neue Danksagungen, die ich mit verstellter Bescheidenheit auf die anderen Herren vom Comité abzulenken suchte. Man wollte das nicht gelten lassen; man hatte erfahren, wo und wie ich meinen Nachmittag zugebracht. Die jüngeren Herren wandten sich an mich: ich solle nun den schönen Abend durch einen Bal champêtre krönen, der sich auf dem runden, mit festem Sand ausgestreuten Platze in der Mitte des Gartens gar leicht arrangiren lasse. Besonders war ein junger Mann, der mir als ein Banquier Marcus aus Hamburg vorgestellt wurde, sehr dringend. Er vertraute mir in aller Eile, daß er vollkommen unglücklich sein würde, wenn die Sache nicht zu Stande käme; er habe bereits Fräulein Toni G. engagirt – zur Française, denn andere Tänze würden wir doch wohl nicht tanzen – er könne auch keine anderen Tänze – aber diese eine Française müsse zu Stande kommen.

»Und wer ist Fräulein Toni G., Herr Marcus?«

»Sie kennen sie nicht? Noch nicht? Unsere Perle, den schönsten Stein in unserer Krone? Sie, die – dort ist sie!«

Es war die Dame mit den blauen Augen.

»Herr Marcus«, sagte ich, »ich will Ihrem Glück nicht im Wege stehen. Die Française soll zu Stande kommen. Noch mehr: ich selbst werde sie kommandiren, und Sie sollen mir vis-à-vis tanzen. Haben Sie die Güte, mich Fräulein Toni G. vorzustellen.«

Das Licht im Garten war hell genug, daß ich deutlich sehen konnte, wie das junge Mädchen wiederum tief erröthete, als ich mich vor ihr verbeugte und einige gleichgiltige Worte mit ihr wechselte, während Herr Marcus dabei stand und vor Ungeduld von einem seiner nicht kleinen Füße auf den andern hüpfte.

Wir haben unserer Zeit viele Françaisen zusammen getanzt, lieber Bernhard, und Du weißt, was man einmal gründlich gekonnt hat, verlernt man so leicht nicht wieder. Der Tanz ging vortrefflich, nur daß der Herr Marcus regelmäßig die rechte und die linke Hand verwechselte, oder sonst eine Verwirrung anrichtete, zur höchsten Verlegenheit seiner Tänzerin, welche die Augen kaum vom Boden hob, und zu meinem Ergötzen, der ich schlecht genug war, mich an der Niedergeschlagenheit der übermüthigen Schönen zu weiden. Ja ich war so boshaft, ihr zu ihrem Partner, der so viel drolliges Leben in den monotonen Tanz bringe, zu gratuliren.

Daß es nicht bei der einen Française blieb, kannst Du Dir denken. Endlich mußte Dr. Kühleborn seine Autorität geltend machen. Er nahm diese Gelegenheit wahr, in einer launigen Rede die Gesellschaft vor dem neuen Vergnügungs-Comité zu warnen, das offenbar nach Neuerungen strebe, die alte solide Hausordnung umstoße und sich irgendwie in den Besitz der Pfeife des bekannten Rattenfängers gesetzt zu haben scheine.

Man lachte, scherzte, bedauerte sich trennen zu müssen, und trennte sich endlich doch. Die Lichter wurden ausgelöscht – der Nachtwind rauschte in den Wipfeln – Alles war schlafen gegangen; ich lag noch lange oben auf meinem Rittersaal im Fenster und ergötzte mich an der herrlichen Nacht, bis die Mondsichel hinter die dunkle Bergwand tauchte. Dann legte ich mich zu Bett, schlief bald ein und träumte von herrlichen Palästen, die auf goldenen Abendwolken ruhten, von unzähligen farbigen Laternen, die wie Sterne hoch am Himmel standen – und ich will es nur gestehen, von einem rosigen Gesicht, das mich schelmisch und spöttisch aus den blauen Augen anlachte. – –

Und nun, lieber Freund, muß ich abbrechen.

Ich habe keine Zeit und auch nicht Lust, den wunderlichen Eindruck, den dieser Brief auf Dich machen wird, abzuschwächen. Wenn Du über mein Treiben den Kopf schüttelst – tröste Dich! Es geht mir ebenso!

 

Tannenburg, 8. Juli.

Dein Brief, mein kluger Freund, trifft mich keineswegs, wie Du voraussetzt, in einer »sehr gedrückten Stimmung, wie sie die Folge eines kurzen und heftigen Rausches zu sein pflegt«. Ich kann mir deshalb auch nicht »auf meinem Rittersaal bei verschlossenen Thüren Deine Predigt gegen meine sündhafte Eitelkeit mit reuigem Herzen laut vorlesen«. Nein, nicht mit reuigem Herzen! Sie hat es verdient! Weshalb soll ich mir nicht das Vergnügen machen, einmal gegen eine Uebermüthige den noch Uebermüthigeren zu spielen? Ich bin so viel, zu viel! in meinem Leben ernst gewesen; Du selbst hast mich so oft deshalb gescholten, und nun mißgönnst Du mir, daß ich einmal spiele, daß ich mich einmal in ein Fastnachtskleid hülle und vor mein wahres Antlitz eine Maske nehme, die allerdings selbst so kluge Leute täuscht, wie den Dr. Kühleborn, der mich für genesen hält, wie den Banquier Marcus, der nicht begreifen kann, wo er, wo die ganze Gesellschaft an den ersten Tagen ihre Augen gehabt habe, als sie mich für einen Duckmäuser, einen Wärwolf – ich weiß nicht, für was Alles hielt.

Und dann, lieber Freund, ich habe mich keineswegs geirrt. Dr. Kühleborn hat wirklich nichts davon gewußt; sie ist die Anstifterin. Ich weiß Alles von Marcus.

Herr Marcus und ich sind seit einigen Tagen große Freunde. Unsere Freundschaft ist, so zu sagen, ein Geschäft, das auf Gegenseitigkeit gegründet ist. Er ist noch sehr jung, sehr gutmüthig und plaudert mit einer Naivetät ohne Gleichen aus der Schule. Sie hat sich gleich am ersten Tage über meine Schweigsamkeit und mein verschlossenes Wesen aufgehalten; Marcus giebt zu: aus Aerger darüber, daß ich mich ihr nicht genähert habe. »Denn sie ist es gewohnt«, setzt er entschuldigend hinzu, »überall als die erste gefeiert zu werden. Auch hier beeifert sich Jeder, ihr zu dienen; sie ist unsere Perle, der schönste Stein in unserer Krone. O, ihr sieben Himmel, wie schön sie ist! – Am zweiten Tage hatte sie bereits einen Namen für Sie: le noir Fainéant, der schwarze Faullenzer! In Walter Scotts Roman »Ivanhoe« entpuppt sich dieser später als König Richard Löwenherz. Geistreiche Anknüpfung an den Scott'schen Roman und Anspielung auf Ihren dunklen Teint! Ist sie nicht geistreich? – Dann kam der Abend, wo Sie sich entfernten in dem Augenblicke, als wir die Française tanzen wollten und sie noch keinen Tänzer hatte. Gestehen Sie: das war schlecht von Ihnen, jetzt, da wir wissen, wie gut Sie tanzen! Ihr Benehmen war aufgefallen, ja hatte Anstoß erregt – ich meine bei den specielleren Verehrern von Fräulein Toni, zu denen ich allerdings auch gehöre; aber wer kann ihr widerstehen! Genug, wir saßen am nächsten Morgen im Kurgarten und sprachen von Ihnen. Es giebt nur eine Strafe für ihn, sagte Fräulein Toni plötzlich; wir müssen ihn ironisch für Talente und Verdienste ehren, die er nicht hat. Er muß in die Vergnügungs-Commission! Man warf ein, daß man nicht wissen könnte, wie Sie die Sache aufnehmen würden, daß der Scherz leicht in sein Gegentheil umschlagen könnte – sie beharrte auf ihrem Wunsch – ihr Wunsch ist für uns Befehl. Wir versprachen, Sie zu wählen und dafür zu sorgen, daß die Neuangekommenen, denen jeder Name recht ist, Sie ebenfalls wählten. Ich allein habe dreißig Zettel vertheilt, die auch alle richtig abgegeben sind.«

Du siehst, es verlohnt sich, Herrn Marcus zum Freunde zu haben; ich pflege diese zarte Verbindung auf alle Weise; und glücklicherweise bedarf er meiner, wie ich seiner. Das feurige Herz des jungen Millionärs ist bis zum Ueberquillen mit Anbetung der schönen Uebermüthigen gefüllt. Er ist nur glücklich, wenn er von ihr sprechen kann; er macht auf sie Verse, die nicht das Glück haben, auf so sicheren Füßen zu stehen, wie der Dichter selbst, und die ich ihm korrigiren muß. Ich bin der Vertraute seiner Freuden, seiner Schmerzen, welche letztere sich vor Allem in dem Umstand gipfeln, daß an einem der nächsten Tage eine Cousine von ihm hier eintreffen wird, mit der er halb und halb verlobt, oder die ihm wenigstens von den Eltern, welche wünschen, daß die Millionen der Familie Marcus hübsch beisammenbleiben, zur Frau bestimmt ist. Er denkt mit Schaudern an die Hindernisse, die sich ihm entgegenthürmen, und erklärte sich für den Unglückseligsten der Menschen. Ich suche ihm seine Bedenken auszureden; ich erinnere ihn an Hero und Leander, Theseus und Ariadne und andere heroische Liebespaare. Ob er nicht den Muth habe, das Meer des Wahnes, das ihn von der Geliebten trenne, zu durchschwimmen? Ob er nicht die Macht besitze, die Ketten des Vorurtheils, mit dem seine Schöne an den Felsen des Unsinns gefesselt sei, zu zerbrechen? Er schwört, daß er zu Allem bereit sei; ich schüre das gewaltige Feuer, von dem ich überzeugt bin, daß sich Niemand auch nur die Fingerspitzen daran verbrennen wird. Herr Marcus ist viel zu klug, um eine romantische Grille mit ein paar sehr reellen Millionen zu bezahlen, und was Fräulein Toni betrifft, so kommt es ihr, wie allen koketten jungen Damen, viel mehr darauf an, Bewunderung zu erregen, als ihre Bewunderer festzuhalten – besonders wenn die Auswahl so groß ist. Ich gebe mir deshalb auch die ernstlichste Mühe, von der Bewunderung, die ich selbst für das holde Geschöpf empfinde, durchaus nichts merken zu lassen. Ich habe nur Sinn für die Gesellschaft, der sie mich zugewiesen hat, gehe ganz in der Erfüllung meiner Pflichten auf, arrangire unermüdlich Pfänderspiele, Lotterien, Spaziergänge, Spazierfahrten, und unterhalte mich, wenn ich ja in ihre Nähe komme, viel mehr mit ihrer Tante, als mit ihr. Die Tante ist eine behäbige Matrone im Anfang der Fünfziger, die von einer kleinen Rente lebt, und dieses ihr Adoptivkind – die Eltern sind früh gestorben – vergöttert, d. h. auf die entsetzlichste Weise verzieht. Uebrigens ist die gute Dame weder eine Gelehrte, noch ein Genie, und es kommt mir vor, als ob Fräulein Toni das manchmal ziemlich schmerzlich empfinde.

Eine Lieblingsidee der würdigen Tante ist, daß ihr Töchterlein ebenso gut wie die verschiedenen Marieen, Elisen, Cili's, Fanny's und wie sie Alle heißen, denen hier ringsum in den Bergen Quellen, Aussichten, Ruheplätze geweiht sind, eine »Quelle«, eine »Aussicht«, eine »Ruhe« haben dürfe, ja haben müsse. Herr Marcus war mit Lebhaftigkeit auf einen so herrlichen Gedanken eingegangen, und so hatten denn die Beiden unter sich beschlossen, einen hübschen, von hohen Bäumen überschatteten Platz an dem Bergesabhang, von dem man einen schönen Blick auf Schloß und Dorf hat, und den das Fräulein oft zum Zielpunkt ihrer einsamen Promenaden macht, an dem bevorstehenden Geburtstage der jungen Dame durch Aufrichtung eines Steines mit der betreffenden Inschrift feierlich einzuweihen. Der junge Mann theilte mir heute Nachmittag, als wir auf einem Spaziergange an dem Platz vorbeikamen, das Geheimniß mit. Ich fand den Einfall charmant, erlaubte mir aber zu bemerken, daß die Sache mit der kahlen Aufrichtung des Steines nicht gethan sei. Es müsse zu der Gelegenheit ein wirkliches Fest arrangirt werden; der Königin der Gesellschaft zieme eine größere, eine allgemeine Huldigung. Ich schlüge also vor, das Musikchor aus der Stadt kommen zu lassen, und unter Vortritt desselben gegen Sonnenuntergang nach dem Platze zu marschiren, dann unter den Klängen der Musik die an dem Felsen angebrachte Tafel zu enthüllen, hierauf Abendbrot im Freien, schließlich ein kleines Feuerwerk unten im Thale, etwa auch Beleuchtung des Schlosses, die sich von dem Festplatze über das Thal und das Dorf weg ganz vorzüglich schön ausnehmen werde. Herr Marcus umarmte mich beinahe vor Freude über diese glänzenden Gedanken. Plötzlich schlug er sich vor den Kopf und rief: »Ich Unglücklicher, daran habe ich ja gar nicht gedacht! Sie heißt ja auch Toni! Meine Cousine heißt auch Toni! Meine Cousine, die in spätestens drei Tagen kommt. Ich Unglücklicher! Was ist da zu thun?«

»Nur Eines«, erwiderte ich, indem ich meinen Ernst, so gut es gehen wollte, behauptete, »die Sache muß, wie bisher, Geheimniß bleiben. Ist die Tafel mit der Inschrift bestellt?«

Die Tafel war bestellt, Herr Marcus hatte sie selbst bei einem ihm bekannten Bildhauer bestellt, aus Marmor, wunderschön; kostet über hundert Thaler, ohne den Transport.

»Nun gut«, sagte ich, »das ist die Hauptsache. Das Andere kann ich in meiner Eigenschaft als Vergnügungs-Commissar leicht arrangiren. Niemand braucht bis zum letzten Augenblicke zu erfahren, um was es sich handelt. Die Ueberraschung ist dann um so größer.«

So ist es denn nun beschlossen und so wird es sein – am 31., dem letzten Tage meines Commissariats. Kann ich mein Amt besser beschließen, als mit einer Feier der jungen Dame, deren boshaftem Uebermuth ich es verdanke? Du meinst, es mische sich auch von meiner Seite etwas Bosheit in die Sache? Mag sein; aber die Rache ist süß. Hat sie die ganze Gesellschaft in Bewegung gebracht, mir ein Amt aufzubürden, von dem sie annehmen mußte, daß es mich in die größte Verlegenheit setzen werde, so darf ich auch mit der Gesellschaft ihr eine Huldigung bereiten, ohne vorher um ihre Erlaubniß anzufragen. Und dann: sie ist es ja gewohnt, gefeiert zu werden. Habe ich nicht recht?

 

10. Juli.

Ich weiß doch nicht, ob ich ganz recht habe. Je länger ich Toni betrachte, um so weniger erscheint sie mir als das leichte, kokette Mädchen, für das ich sie anfänglich hielt. Sie hat bei aller Lebhaftigkeit und Schalkheit etwas so Treuherziges, ja manchmal Tiefernstes in ihrem Wesen; ich begreife nicht, wie ich das im Anfang habe übersehen können. Es scheinen zwei Seelen in ihrer Brust zu wohnen, und ich sollte es ihr eigentlich Dank wissen, daß sie wenigstens mir gegenüber manchmal die neckische Koboldsnatur verbirgt und auch die schöne ernste Psyche blicken läßt.

So heute Abend, als wir auf dem Spaziergange von den Anderen abgekommen waren und allein durch den dunkelnden Wald dahinschritten. Ich erinnere mich nicht, wie meine Heimath und das Meer in das Gespräch verflochten wurde. Ich schilderte ihr mit dem Entzücken, das ich jedesmal empfinde, sobald ich dies Thema berühre, die Schönheit des Sonnenaufgangs und Sonnenuntergangs an der See, das Spiel und die Musik der still am glatten Strand verrinnenden Wellen, die grandiose Gewalt einer Sturmfluth an der Felsenküste. Sie war lange, ohne ein Wort zu sprechen, lautlos neben mir hergegangen; plötzlich hörte ich sie schluchzen. Ich blieb betroffen stehen und fragte, was ihr fehle; ob ich etwa, ohne es zu wissen, traurige Erinnerungen in ihr wach gerufen habe. – Sie trocknete sich schnell die Thränen, die ihr über die Wangen liefen, und sagte lächelnd: »Nein, durchaus nicht! Aber es überkommt mich immer eine wunderliche, mir selbst unerklärliche Rührung, sobald ich von großen Dingen sprechen höre, das heißt: einfach und wahr sprechen höre, wie Sie eben von dem Meere sprachen.« – War das nicht eine liebe Antwort, Bernhard?

 

15. Juli.

Nun ist die zweite Toni auch angekommen – die unechte, wie Herr Marcus sagt – ein prachtvolles, dunkeläugiges, schwarzhaariges Geschöpf, dessen Erscheinung nicht verfehlt hat, die größte Sensation in der Gesellschaft hervorzubringen, und die mir ganz so aussieht, als ob sie ihrer blauäugigen Namensschwester den Rang streitig machen werde. Bei Jupiter! Welche Figur und welche Toilette! Armer Marcus, wie wird es dir ergehen! Es sieht mir ganz so aus, als ob deine Verwandten recht gut wüßten, daß du ein kleiner Schwärmer bist und daß man dich nicht lange allein lassen dürfe. Undankbarer Marcus! Diese kostbare Perle wagtest du zu vergessen! Wagst du noch jetzt »unecht« zu nennen! Gestehe es, dein edles Herz ist zwiefach getheilt: hier eine volle rothe Rose, die nichts inniger wünscht, als mit ihrer ganzen Million an deinen treulosen Busen zu sinken; dort eine weiße Knospe hinter grimmigen Dornen, durch die du dir einen mühsamen Weg bahnen sollst! Aber du bist ein wahrer Ritter! »Getreu der Dame, der ich zugeschworen!« So ist es recht; nicht gewankt! Nur die freie Liebe ist die wahre Liebe. Zeige, daß du ein Mann bist; aber zeige der »unechten Toni« lieber nicht die Gedichte, die du der »echten« gesungen hast! Es könnte doch ein Tag kommen, wo es dich gereute.

Im Ernst, Bernhard, es ist sehr spaßhaft, unsern Millionär als Schmetterling zu sehen, wie er von dieser Blume zu jener flattert und nirgends Ruhe findet. Er scheut offenbar die Controle, welche von Seiten der corpulenten Mama seiner Cousine über ihn ausgeübt wird; er fühlt sich auch durch die Bewunderung, die man hier der üppigen Schönheit zollt, geschmeichelt, wahrscheinlich auch durch die Eilfertigkeit, mit welcher man ihm hierher gefolgt ist – aber dann kommen Stunden, wo er dies Alles als eine lästige Fessel empfindet. Dann betreibt et die projectirte Feier des Geburtstages der »echten Toni« mit neuem Eifer, fährt in die Stadt, sich des Musikchors zu versichern, einen Pyrotechniker für das Feuerwerk zu engagiren. Ich helfe ihm in diesen Bemühungen, aber auch nur mit getheiltem Herzen …

 

Tannenburg, 20. Juli.

Du antwortest mir nicht. Bist Du krank? Bist Du unzufrieden mit mir? Das fehlte noch, um das unbehagliche Gefühl, unter dem ich schon alle diese letzten Tage gelitten habe, zu vermehren. Lieber Freund, wo habe ich meine Augen gehabt? Wenn man zweifelt, ob ein echter Diamant auch wirklich echt sei, braucht man nur böhmisches Glas dagegen zu halten – so weiß man es gewiß. Ja wahrlich, Marcus hat, freilich in einem anderen Sinne, recht: dies ist die unechte Toni! Man muß sie im Kreise ihrer Verehrer, der mit jedem Tage größer wird, beobachten: dieses Spiel der großen schwarzen Augen, dieses Hinüber und Herüber der Bewegungen, dieses Lachen, diese berechnete Kindlichkeit, diese affectirte Anmuth, diese wohlpräparirte Unmittelbarkeit. Nein, wahrlich, das ist die echte Toni nicht! Wenn die echte Toni lacht, lacht sie ein ehrliches Lachen; wenn sie witzig ist, ist sie es sich selbst, und nicht, damit Andere ihren Geist und ihre Schlagfertigkeit bewundern.

Und es ist mir – und nicht nur mir – aufgefallen, daß sie seit einiger Zeit nicht mehr das heitere, sorglose, übermüthige Mädchen ist, als welches sie uns anfänglich erschien. Sie ist stiller, nachdenklicher geworden; ja ich meine, die Rosen auf ihren Wangen blühen nicht mehr so frisch; das Blau ihrer schönen Augen hat nicht mehr den alten herrlichen Glanz. Heute wurde sogar auf der Kegelbahn darüber gesprochen; ein Witzling meinte, die Lorbeern, die sich Fräulein Toni Marcus durch ihre dunklen Locken flechte, ließen Fräulein Toni G. nicht schlafen. Ich suchte einem Gespräch, das mir weh that, eine andere Richtung zu geben, und es gelang mir bald; denn ich bin den Herren, die ich hier gefunden habe, die Erklärung schuldig, daß es, mit ganz wenigen Ausnahmen, anständige, gebildete Männer sind, die einen Scherz, wenn er zu weit zu gehen droht, abzubrechen wissen. Nichtsdestoweniger schmerzte mich die harmlose Rede. Ich stellte mir einen Augenblick vor: sie wäre wirklich kleinlich genug, sich die Erfolge ihrer Rivalin zu Herzen zu nehmen; aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen; ich empfand ihn wie einen häßlichen Flecken auf einem schönen, saubern Bilde. Aber daß die unechte Toni es darauf anlegt, die allgemein Bewunderte zu sein, das ist freilich klar genug. Ob dieses Haschen nach Volksgunst ein Köder ist, den treulosen Goldfisch zurückzuangeln – ich weiß es nicht; so viel ist gewiß: jedes Fischlein, das in ihren Netzen hängen bleibt, ist der schönen Fischerin willkommen. Sie musicirt mit den Virtuosen, sie conversirt mit den Schwerfälligen, sie spielt Reif mit den Leichtfüßigen; und ich bin nicht der am wenigsten von ihr Begünstigte. Sie hat mich alle Augenblicke in meiner Eigenschaft als Vergnügungs-Kommissar zu interpelliren: ob morgen eine Partie gemacht wird? warum keine? warum nicht eine da- oder dort- oder nach einem dritten Orte hin? Auf den Spaziergängen ist sie, ehe ich es mir versehe, plötzlich neben mir und fragt im Flüsterton: ob ich denn den neuesten Roman von der Mühlbach Luise Mühlbach, Pseudonym für Clara Mundt (1814-1873), Gattin des Schriftstellers Theodor Mundt; deutsche Unterhaltungs-Schriftstellerin mit einem Gesamtwerk von 250 Bänden; überwiegend historische Romane. schon gelesen habe? ob die Mühlbach nicht brillant schreibe? was ich von der Bewohnbarkeit der Himmelskörper denke?

Und sie sollte auf dies Musterexemplar modernster Oberflächlichkeit, auf diese kettenbehängte, ringbesteckte, lockenumflatterte, krinolinumbauschte, seideumrauschte Modepuppe wirklich eifersüchtig sein? Das soll man mich nimmermehr glauben machen, wenn ich mir auch so wenig wie Andere ihr verändertes Wesen zu deuten weiß. Manchmal ist es mir, als ob sie in meiner Nähe noch besonders beklommen wäre, als ob sie mir etwas zu sagen wünschte und sich es auszusprechen scheute. Ich weiß nicht, was es ist; ich grüble darüber nach und schließlich reden wir doch über andere Dinge. Ich höre sie so gern sprechen; ihre Stimme ist sanft und etwas tief, und sie hat oft so hübsche kluge Worte. So sagte sie heute über Fritz Reuter: »Er ist kein bloßer Spaßmacher, wie sich Manche einbilden, die ihn nur oberflächlich kennen. Oft, wo er uns mit den heitersten Nichtigkeiten ganz ernstlich unterhalten zu wollen scheint, zittert ein tiefer, schwermuthsvoller Ton durch das heitere Schellengeklingel seines Humors. Er ist eben ein wahrer Dichter.«

Nach einer kleinen Weile fügte sie hinzu: »Ich begreife nicht, wie den Leuten – und besonders unsern Damen, die nie ein Wort plattdeutsch gehört, die nie auf dem Lande gelebt haben, so gleichsam über Nacht das Verständniß seiner Schriften aufgeht. Ich meine: sie machen sich und Andern das nur weiß. Ich gestehe, daß ich Vieles nicht verstanden habe, daß mir der feinste Duft seiner Poesie noch nicht erschlossen ist. Wenn ich eine Zeit lang in jenen Gegenden leben und seine Menschen in ihrem Reden und Handeln beobachten könnte, so wäre das anders.«

Sie sagte das ganz achtlos, mir aber schwoll das Herz. Ich wollte ihr sagen, daß man auch bei mir zu Hause plattdeutsch spreche, daß über meine Heimathsflur derselbe Seewind wehe, der so oft vernehmlich durch Fritz Reuter's Geschichten rauscht; aber ich schwieg, schwieg verlegen und machte sie mit verlegen. Und hatte mir doch vorgenommen, so recht heiter und unbefangen zu sein!

 

Tannenburg, 24. Juli.

Ja, mein Freund, Du hast recht: ich liebe sie – was soll ich es leugnen! Warum soll ich mit einem Geständniß zurückhalten, das, wie Du ganz richtig herausfühlst, die Erklärung und zum Theil Entschuldigung der Thorheiten in sich schließt, die ich in dieser Zeit begangen. Ja, ja: ich liebe sie, liebte sie schon in dem Augenblicke, als ich sah, daß sie es eigentlich war, die mich gewählt hatte. Es war der Trotz einer aufkeimenden Leidenschaft, der mich die Wahl annehmen, mich diese Wochen hindurch die Stelle eines Lustigmachers für eine Gesellschaft, die mich nichts angeht, spielen ließ. Es war vielleicht der letzte Versuch, mich aus den Banden, die sich auf mich legten, zu befreien, daß ich das Strohfeuer in dem Herzen des jungen Millionärs schürte, daß ich das Bild meiner eigenen Leidenschaft in dem verzerrenden Hohlspiegel des Humors auffing. Der Versuch ist mißglückt; ich gebe mich gefangen, wenn man Gefangensein heißen kann, was doch im Grunde die Vollendung unseres Wesens, also die höchste Freiheit ist.

Ja, mein Freund, es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Es ist mir, als ob ich neu geboren wäre, mit neuen Sinnen und Organen, die Welt zu verstehen, zu erfassen. Jetzt weiß ich, was mir bis jetzt gefehlt hat und weshalb ich mich immerdar unglücklich fühlte. Ich bin nicht, wie Du, eine heroische Natur; ich kann nicht, wie Du, in dem politischen Kampfe, in der rigorosen Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten meine Befriedigung finden; nicht wie Du, selbstlos, in dem großen Ganzen aufgehen. Ich muß mein kleines Glück für mich haben, meine Hütte, an die der Zeitstrom nicht heranspült, weil jeder mit Liebe erfüllte Augenblick in sich selbst eine Ewigkeit ist. Ich brauchte Liebe und hatte sie nicht, die Liebe nicht, die ich brauchte. So war ein Widerspruch in meinem Leben, den meine Philosophie nicht aufzulösen vermochte. Ich hatte den Mangel nie gekannt, und fühlte mich doch so arm; ich schmachtete nach Teilnahme und war ungesellig bis zur Grausamkeit, herb im Urtheile, zurückstoßend in meinem Betragen. Was soll ich Dir die Liste meiner Fehler vorführen, die Du so gut kennst, von denen Du mich vergeblich zu heilen versucht hast! Nur so konnte ich genesen; nur so! Und das Alles danke ich ihr, ihr allein!

Ich habe oft mit dem spanischen Dichter das Leben einen Traum Schauspiel (1636) von Pedro Calderón de la Barca. genannt; jetzt, wo ich zum ersten Male wirklich zu leben glaube, frage ich mich oft, ob denn die Liebe, die mir dies Leben gab, nicht ein Traum im Traume ist. Und doch – das kann nicht sein; ich fühle ja deutlich, daß ich wirklich lebe, fühle es an dem rascheren Schlage meines Herzens, an der Seligkeit, die meine Brust erfüllt. Ich lebe, denn ich liebe!

Aber, mein Freund, nimmt sie Theil an diesem Leben? Immer wieder lege ich mir diese Frage vor, von deren Beantwortung Alles abhängt. Was habe ich gethan, ihre Liebe zu verdienen? Ja, habe ich sie nicht in kindischer Laune vielfach verletzt und beleidigt? Und doch! Warum ist die Heiterste der Heiteren jetzt so still geworden? Warum flieht sie jetzt offenbar die Gesellschaft, die sie früher belebte? Warum ist der helle Glanz ihrer schönen Augen jetzt so oft umflort? Warum wechselt ihre Farbe, wenn sie mit mir spricht? …

Diese Fragen verfolgen mich, wie die Sorge den schnellen Reiter, während ich eine Ausgelassenheit zur Schau trage, von der ich nichts empfinde, während ich unermüdlich Feste arrangire, die mir ein Gräuel sind, und überaus lustige Tage verlebe, die ich mit schlaflosen Fiebernächten bezahle.

 

29. Juli, Nachts.

Uebermorgen ist ihr Geburtstag. Vor einigen Wochen konnte ich wagen, ihr an diesem Tage mit einer Feier aufwarten zu wollen, durch die sie die Ironie herausfühlen sollte. Heute erscheint mir dieser Gedanke geradezu wahnsinnig. Was habe ich gethan? Die gutmüthige Beschränktheit entschuldigt die Tante; seine harmlose Flatterhaftigkeit den jungen Dandy – aber was entschuldigt mich? Wo war mein Zartgefühl, um von Liebe ganz zu schweigen? Irgendwo eine Bank hinstellen lassen und darüber einen Namen mit goldenen Buchstaben an den Felsen schreiben, wie eitel, wie kindisch, wie geschmacklos! Und wenn dies nun gar der Name einer geliebten Frau ist! Der Name der Frau, die man im innersten Herzen trägt … heißt es nicht in der Bibel: Wenn Du aber beten willst, so gehe in Dein Kämmerlein! Und nun gar jetzt, wo sie das Ganze von meiner Seite für puren Hohn halten muß; wo sie nicht anders denken kann, als daß ich sie zum Gegenstande des Gespöttes machen will – in dem Augenblicke, wo ich Alles darum gäbe, dürfte ich ihr sagen, daß ich sie liebe; in dem Augenblicke, wo ich vielleicht – vielleicht! – angefangen habe, ihr nicht mehr gleichgültig zu sein!

Nein, das geht nicht! Nimmermehr! Ich gehe morgen zu ihrer Tante. Sie soll ihr Alles sagen. Wenn sie dann ihre Einwilligung giebt, mag Alles seinen Gang gehen: die Musik soll Tusch blasen, die Raketen sollen knattern, das Schloß soll in bengalischem Feuer leuchten. Ich will mich in die Menge mischen und mit Hurrah schreien. Ach! Mir thut das Herz weh, wenn ich daran denke …

 

Den 30., Mittags.

Sie ist mit ihrer Tante und einer andern Dame ausgefahren; man weiß nicht, wohin, man weiß nur, daß sie heute Abend erst zurückkommen wird. – Das hörte ich soeben, als ich – es war bereits gegen eilf Uhr, nach der Tante frug. – Ich suche Herrn Marcus, ihm zu sagen, daß ich, bevor ich die Erlaubniß Toni's habe, nichts von dem Feste wissen will … Herr Marcus sind nebst Frau Tante und Fräulein Cousine soeben in einem Zweispänner nach Fichtenau aufgebrochen und werden vor Ankunft der Nacht nicht zurückerwartet, antwortete mir der Bediente.

Was soll ich thun, Bernhard? Ich würde auf der Stelle abreisen, wenn ich mir nicht sagte, daß ich nicht darf, ohne vorher mit Toni gesprochen, mich ihr gegenüber gerechtfertigt zu haben. Aber dazu bin ich entschlossen; wenn sie es will, so unterbleibt das Fest, trotzdem Alles vorbereitet ist, trotzdem alle Welt sich auf morgen freut und sich bereits ein dumpfes Gerücht von einer besonderen Bedeutung des Tages verbreitet hat. Mag Marcus sehen, was er mit seiner Gedenktafel anfängt.

 

Nachmittags.

Mir ist so unheimlich, als müßte mir diese drückende Schwüle etwas Schlimmes bringen. Der ganze Kurort ist wie ausgestorben; Jeder hat sich auf sein Zimmer zurückgezogen. Der Violoncellist spielt eine melancholische Weise – leise, klagend, daß es die Stille nur noch stiller macht.

Heute bei Tische wollte man von mir die Einzelnheiten des morgenden Festes wissen. »Es sei recht, daß ich den letzten Tag meines Kommissariats zu dem glänzendsten machte; dafür könne ich aber auch sicher sein, wieder gewählt zu werden«. – Ich lächelte und erwiderte, daß ich schwerlich in der Lage sein würde, das unverdiente Vertrauen der Gesellschaft noch einmal auf die Probe zu stellen, da ich Nachrichten erhalten hätte, die mich in den nächsten Tagen abzureisen zwängen. – Hernach beklagte man die Abwesenheit der beiden »Schönheiten« und konnte sich nicht darüber einigen, welcher der beiden Damen der erste Preis gebühre. Und das Alles über dem Kalbsbraten in dem schwülen, schläfrigen Speisesaal! Aber ich reise ab! – Könnte ich es nur erst mit reinem Gewissen!


Ich bin entschlossen zu reisen! Du erhältst meinen nächsten Brief von X., wohin ich hoffentlich morgen schon gehe. Daß sie nicht hier sein muß! Nur eine Minute allein mit ihr! Ich wollte Alles in die eine Minute drängen!


 

Abends, spät.

Triumph! Triumph! Nein, nicht Triumph! Demüthiges Schweigen, wie es dem Glücklichen, dem Ueberbeglückten ziemt. Wie habe ich dies verdient! – Träume ich! Ist es Wirklichkeit? Ich muß es niederschreiben, damit ich es glaube. Und ich will ganz ruhig schreiben; ich will mich selbst überzeugen, daß Alles so ist, wie es mir in der Erinnerung das Herz zum Ueberfließen füllt.

Meine quälende Unruhe wuchs mit dem hereinbrechenden Abend. Ich hatte schon zehnmal gefragt, ob die Damen zurückgekommen. Endlich konnte ich es nicht länger ertragen und lief in die Berge, ohne zu wissen wohin, immer hinauf, hinauf, bis ich aus dem Walde heraus auf einem Platze ankam, der mir bekannt war. In einer halben Stunde hatte ich einen Weg gemacht, den ich sonst Mühe habe, in anderthalb zurückzulegen. Ich warf mich an der Quelle in das Gras und starrte düster in die prächtige Gebirgslandschaft. Es war eine Herrlichkeit der rothen Abendlichter, die auf den Höhen lagen, und der blauen Schatten, die aus den Tiefen langsam an den Wanden hinaufstiegen. Darüber der wolkenlose, glanzdurchleuchtete Aether, und ringsumher der smaragdne Teppich der Wiese, auf der die Insekten schwirrten und der düstere Wald, durch den in der Ferne der Kuhhirte seine Heerde nach Hause trieb. – Aber ich hatte nicht Ruh, noch Rast. Ich sprang auf und schlug mich wieder in den Wald auf einem schmalen Pfade, der sich bald in dem dichten Heidelbeerkraut verlor. Was war mir daran gelegen?

Plötzlich fiel mir ein, daß ich, wenn ich zu spät zurückkäme, die Gelegenheit, sie heute Abend noch zu sprechen, versäumen könnte. Ich suchte eifrig einen Ausweg aus der Wildniß; ich erreichte einen Pfad, der bergab führte; aber ich mußte zweifeln, daß es der rechte sei. Ich lief wieder querwaldein, bergab, bergauf, die Dunkelheit wurde zwischen den hohen Tannen von Minute zu Minute dichter; ich vermochte mich nicht mehr zu orientiren; ich mußte es dem Zufall überlassen, mich zu führen, wohin beliebte.

Und der Zufall war mir nie ein gnädigerer Gott! Es ging steiler bergab; durch die weniger dicht stehenden Bäume konnte ich dann und wann die Ebene tief unter mir erblicken.

Endlich trat ich heraus, auf einen Vorsprung der Berglehne – denselben von hohen Bäumen überschatteten Platz mit der Aussicht auf das dicht darunter liegende Schloß und Dorf, den sie sich zum Lieblingsplatz erkoren und den wir morgen durch Aufrichtung einer profanen Steinplatte mit ihrem Namen entweihen wollten. Ich bemerkte sofort, daß man schon beschäftigt gewesen war, die Stelle am Felsen, wo die Tafel angebracht werden sollte, zuzubereiten; denn Steintrümmer bedeckten den Boden, Werkzeug der Arbeiter, die Feierabend gemacht hatten, lag umher.

Plötzlich sah ich, daß ich nicht allein auf dem Platze war. In dem tiefen Schatten von Baum und Fels auf einem Stein saß eine weibliche Gestalt – unbeweglich, den Kopf, wie es mir schien, in die Hand gestützt. Offenbar hatte sie mein Kommen auf dem tiefen Heidekraut, in welches der Fuß lautlos versank, nicht gehört. – Mein Herz fing heftig an zu schlagen. Eine Ahnung sagte mir, daß sie es sei – und die Ahnung hatte mich nicht betrogen.

»Sie sind es, Fräulein G.?« stammelte ich. »Wie kommen Sie hierher, zu dieser Stunde, allein?«

Sie trat ein paar Schritte vor in das Abendlicht, so daß ich ihre blassen Züge mit den Spuren ebengeweinter Thränen deutlich erkennen konnte. Sie heftete die großen Augen starr auf mich und sagte mit einem Ton, dessen milde Festigkeit mich wunderbar rührte: »Ich wollte mich überzeugen, ob es wahr sei, was meine nur allzu schwache Tante mir erst vor einer Stunde mitgetheilt hat; ob es wahr sei, daß Sie und ich glaube noch ein paar andere Herren der Gesellschaft mich morgen zum Gegenstand eines Scherzes machen wollen, der unschicklich sein würde, selbst in dem Falle, daß er gut gemeint wäre, der aber jetzt, wo die Motive so ganz anderer Art sind, eine Färbung annimmt, für deren Bezeichnung mir die schicklichen Ausdrücke fehlen.«

Ich war nicht im Stande, sogleich zu antworten. Die Kehle war mir wie zugeschnürt, mein Herz klopfte zum Zerspringen. Sie wartete eine Antwort nicht ab, sondern fuhr in demselben Tone fort:

»Ich weiß es wohl, daß ich mir Ihnen gegenüber viel vergeben, daß ich Ihnen das Recht eingeräumt habe, unzart gegen mich zu sein, wie ich es in einer übermüthigen Stunde gegen Sie gewesen bin. Aber ich glaubte nicht, daß Sie von einem so traurigen Rechte Gebrauch machen würden, nachdem ich Ihnen gezeigt zu haben glaubte, wie tief ich mein Unrecht bereute, und daß ich nicht das eitle, frivole Geschöpf bin, für das Sie mich anfänglich zu halten Ursache hatten. Ich habe mich geirrt. Meine Reue hat Ihnen nicht genügt; meine schutzlose Lage ist für Sie kein Grund gewesen, mich zu schonen. Anstatt einen flatterhaften jungen Menschen mit seinen wenig ernst gemeinten Galanterieen in die gebührenden Schranken zurückzuweisen, haben Sie ihn noch ermuthigt. Ich –«

Sie konnte nicht weiter sprechen; Thränen erstickten ihre Stimme; sie wandte sich ab und wollte gehen.

Ich trat ihr in den Weg und sagte, indem ich gewaltsam meine Erregung niederkämpfte:

»Verdammen Sie mich nicht ganz, ohne mich gehört zu haben. Ich bin schuldig und bin es auch wieder nicht. Ich schwöre es Ihnen bei der Ehre eines Mannes, der sein Wort noch niemals leichtsinnig verpfändet hat, daß ich nie und in keinem Augenblicke daran gedacht habe, Sie wirklich kränken zu wollen; daß ich auf den Plan, der nicht in meinem Kopfe entsprungen war, eingegangen bin, als ich Sie noch nicht kannte, noch keine Ahnung von Ihrem wahren Wesen, von Ihrem wahren Werthe hatte. Und selbst damals hatte ich schon das Gefühl, daß ich unrecht handelte. Wenn ich Ihnen schildern wollte, wie schnell diese dunkle Empfindung bei mir zur Gewißheit wurde; wenn ich Ihnen sagen dürfte, daß Sie mich nicht vergebens gelehrt haben, anders über Sie zu denken – Sie würden mir nicht glauben, Sie würden dies vielleicht abermals für Spott und Hohn halten …«

Meine Erregtheit war zu unverkennbar, als daß meine wirren Worte keinen Eindruck auf das liebe Mädchen hätten machen sollen.

»Und doch«, sagte sie mit sanfter Stimme, »haben Sie das Alles zugegeben?«

»Ich weiß nicht, was Ihre Frau Tante Ihnen mitgetheilt hat«, erwiderte ich lebhaft. »Aber das kann ich Sie versichern, wenn ich es nun auch nicht mehr hindern kann, daß morgen eine Festlichkeit stattfindet, so sollen Sie aus dem Spiele bleiben.«

»Es wird Ihnen um so leichter werden, das neue Programm auszuführen, als ich morgen früh mit meiner Tante Tannenburg verlasse.«

Sie sagte das mit einem Versuch, ihren alten heitern Ton anzuschlagen, aber es gelang ihr nicht; ihre Stimme zitterte, als sie die letzten Worte sagte.

Ich stand wie vom Blitz getroffen. Und jetzt, mein Freund, versuche ich vergeblich, in meiner Erinnerung wach zu rufen, was ich sagte, was ich that. Ich weiß nur noch, daß wir uns an den Händen gefaßt hielten, daß ihr theures Haupt an meiner Brust lag, daß ich ihr sagte, daß ich sie liebe, vom ersten Augenblicke an sie geliebt habe, daß sie mir zuflüsterte: »Und ich Dich!« daß wir Beide weinten und lachten – und glücklich waren, unendlich glücklich!

Dann sind wir Hand in Hand den Berg hinabgestiegen. Die Cicaden schwirrten und die Leuchtkäferchen zogen ihre glänzenden Bahnen durch die dunkle Luft …

Und sie reist morgen nicht! Ich soll es einrichten, wie ich will; sie ist Alles zufrieden. Sie soll mit mir zufrieden sein. Der Anstifter, der böse Marcus, soll die Zeche bezahlen. Er mag seiner schwarzlockigen Schönen das Denkmal weihen, das er für mein blauäugiges Mädchen bestellt hat.

 

Eine Stunde später.

So eben geht Marcus von mir. Höre, was er von mir wollte, und lache, wenn Du es hörst!

Die letzten Worte waren noch nicht trocken, als er plötzlich, wie ein Deus ex machina, vor meinem Schreibtisch stand.

»Ich komme, um Sie um eine Gefälligkeit zu bitten, lieber Freund«, sagte er, indem er sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her bewegte.

»Sprechen Sie«, erwiderte ich; »ich bin in der Stimmung, Alles zu gewähren.«

»Nun denn«, fuhr er fort, »um es kurz zu sagen: ich bin in der grausamsten Verlegenheit. Man hat meiner Cousine mitgetheilt, daß ich Fräulein G. etwas den Hof gemacht habe. Nun Sie wissen, lieber Freund, daß an diesem Gerede gar nichts ist; daß meine Huldigungen so harmlos waren, wie nur was, und gewiß eben so harmlos aufgenommen sind. Wer machte nicht einmal Gedichte, wenn er nichts weiter zu thun hat! Ueberdies die Verschiedenheit unserer religiösen Ueberzeugungen – mit einem Worte: es ist ja eine reine Fiction, eine Seifenblase – gar nicht der Rede werth. Aber der Schein ist gegen mich. Meine Cousine ist etwas eifersüchtig, und Eifersüchtige lassen sich leicht durch den Schein blenden. Wenn nun das Fest morgen dazu kommt, so weiß ich wirklich nicht, ob es nicht für mich von Folgen sein könnte, die mir doch – gelinde gesagt – nicht angenehm wären.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr Marcus«, erwiderte ich, »so sehr, daß ich mit Schmerz Ihre Rückkehr erwartet habe, um Ihnen zu sagen, daß aus dem Feste, so weit es Fräulein G. betrifft, und vor Allem aus der Aufrichtung des Steines ein für alle Mal nichts werden kann.«

Herr Marcus fuhr sich mit der Hand durch sein reiches Haar und sagte verlegen:

»Ganz wohl, ganz richtig; aber die Sache ist die, der Stein ist, wie Sie wissen, gestern Abend angekommen; ich hatte ihn mit Hülfe meines Bedienten ausgepackt und vorläufig, damit er nicht beschädigt werde, in meinem Zimmer auf das Sopha gestellt. Ich hatte dem Kerl die strengste Verschwiegenheit zur Pflicht gemacht; die größte Vorsicht. Was aber thut er? Er führt heute Morgen, während ich ausgegangen war, den Wagen zu bestellen, die Damen, meine Tante und meine Cousine, heimlich auf mein Zimmer. Ich hatte keine Ahnung davon, bis unterwegs erst meine Tante, dann meine Cousine Anspielungen machten, die ich anfänglich gar nicht, hernach aber leider zu gut verstand. Meine Toni war die Liebenswürdigkeit selbst: es war eine so zarte Aufmerksamkeit von meiner Seite; sie bäte mich um Verzeihung, daß sie jemals an meiner Neigung, an meiner Liebe gezweifelt habe. Denken Sie sich meine Verlegenheit! Ich sage Ihnen, ich habe Folterqualen ausgestanden. Wenn sie erfährt, daß der Stein nicht für sie ist, daß er für eine andere bestimmt ist –«

Ich konnte nicht länger an mich halten, sondern sprang auf, umarmte den guten Menschen und rief: »Nehmen Sie den Stein! Nehmen Sie Ihre Toni, Ihre echte Toni; ich gönne Ihnen Beide von ganzem Herzen.«

Er glaubte, ich sei toll geworden; ich versicherte ihn, daß ich ganz ernsthaft sei, daß der morgende Tag seiner Toni geweiht sein solle: daß ich Alles, was in meinen Kräften stehe, thun wolle, die Huldigung, die er seiner Toni, seiner echten Toni zugedacht habe, so glänzend als möglich zu machen.

Und nun, mein Freund, wer will noch Angesichts des Herrn Adolf Marcus und seiner echten Toni behaupten, daß Amor kein Schalk sei!

Ach! Wie kann ich scherzen, während mein Herz von heiliger Rührung voll ist! Aber dann bin ich ja auch wieder so glücklich. Ich möchte Dich umarmen, mich selbst umarmen – die ganze Welt …

 

Carl St. an Fritz S.

Buchenhagen, Dezember 186*.

Du mußt zum Fest zu uns kommen! Wir erwarten Dich mit Bestimmtheit. Toni will durchaus meinen besten Freund kennen lernen. Du mußt kommen, und wäre es auch nur, den herrlichen Portwein zu kosten, den Freund Marcus mir zu Weihnachten geschickt hat, als Dank, wie er schreibt, für meinen Beistand bei dem Feste, »das ihm das Herz seiner angebeteten Gattin für immer gewann«. Der gute Junge! Ich bin überzeugt, er hat sich mittlerweile alles Ernstes eingeredet, daß die Inschrift auf der famosen Marmortafel (das Ding hatte zum Ueberfluß noch ein flammendes Herz!) nie einen andern Sinn hatte, als den er jetzt damit verbindet. Nun, wir haben auch unser »Toni's Ruh« – den traulichen Platz am Kamin in der großen eichengetäfelten Stube, wo sie am Abend gern von ihrem Tagewerk in der Wirthschaft ausruht. Dort wollen wir sitzen und uns beim flackernden Winterfeuer hübsche Geschichten erzählen von der schönen Sommerzeit, wo der närrische Vergnügungskommissar Dir so viel Sorgen machte, als er rathlos in den Bergen von Tannenburg umherirrte und zuletzt doch die blaue Blume fand, nach der er sich sein Lebelang vergebens gesehnt hatte.



 << zurück weiter >>