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II.
Aus der Schweiz.

(1862.)

Ragaz, 29. Juni Abends.

So wäre denn der erste Tag in der Schweiz zu Ende, und wahrlich, wenn Jemand heute das Recht hat »müde nach durchlaufener Bahn« zu sein, so bin ich es. Aber ich bin nicht müde, nicht im mindesten. Die großen Eindrücke, die meine Seele empfangen hat, lassen mich nicht zur Ruhe kommen, und die Flasche trefflichen Herrschäftlers, die ich unten getrunken, hat auch gerade nicht dazu beigetragen, den Sturm in meinem Blute zu sänftigen.

Gestern Abend um 11 Uhr langten wir, tüchtig durchgerüttelt und durchgeschüttelt, in Friedrichshafen an. Der Kellner, der uns führte, belehrte uns, daß wir von unserm Zimmer die herrlichste Aussicht über den See nach den Alpen hätten. Dabei stellte er sich (die Serviette unter dem linken Arm) an das offene Fenster und wies mit dem rechten in die Nacht, die so finster war, daß man nicht die Hand vor Augen sehen konnte! Aber das Branden und Plätschern der Wellen am Gestade vernahmen wir deutlich; und so lagen wir noch lange im offnen Fenster und horchten auf das trauliche Schwatzen des Wassers und starrten auf den dichten Vorhang, der für uns über dem Lande unsrer Sehnsucht lag.

»Der Morgen hat Alles wohl besser gemacht«, sagte ich, als ich nach einem kurzen, unruhigen Schlaf heute erwachte. Und wirklich! der Morgen hatte Alles besser gemacht; da lag vor mir die weite grüne Fläche des Sees, auf der nur hier und da noch ganz feine, halbdurchsichtige Morgennebel zogen, und drüben jenseits der schönen grünen Fläche erhoben sich, eben nur noch durch den Schleier erkennbar, blaue Gebilde, die genau den Wolken glichen, mit denen der Horizont an schwülen Sommertagen oft umsäumt ist, und diese blauen wolkenhaften Gebilde waren die Alpen, die langersehnten Alpen. So wollte der oft geträumte Traum doch Wahrheit werden!

Aber langsam, viel langsamer, als es der Ungeduld lieb war. Die Sonne schien glänzend vom blauen Himmel herab, als wir uns gegen 7 Uhr auf dem Friedrichshafen-Rorschacher Dampfer einschifften; der See schimmerte wie ein großer Smaragd in dem glänzenden Sonnenschein; nach der deutschen Seite zu lachte das städtegeschmückte Ufer freundlich zu uns herüber; aber von der Schweizerseite wollten die Nebel nicht weichen und die duftigen Gebilde nicht wesenhafter vor uns treten.

Ich habe mir von dem Capitän des Dampfschiffes sagen lassen und ich glaube es gern, daß die Fahrt über den grünen Bodensee, wenn die Ketten der Alpen in ungetrübter Klarheit herüberblauen und schimmern, unaussprechlich prachtvoll, und dieser Eingang zur Schweiz der bei weitem schönste sei. »Sie sehen da drüben Rorschach«, sagte der Capitän, »gerade vor uns, der Ort, wohin wir steuern. Nun wohl! die Kette gleich rechts davon (Schade, daß die Aussicht heute bedeckt ist!) sind die Appenzeller Alpen, gleich daneben die Toggenburger Berge und die Glarner Alpen. Da oberhalb Romanshorn (Sie sehen das Städtchen dort am Ufer) liegen die Schwyzer und Unterwaldner Hörner. Dort links von Rorschach haben Sie die Rhätikonkette und die Montafoner Berge; sehen Sie, gerade da über das Segel weg, das ist der Zimpaspitz; sehen Sie ihn?«

»Ich fürchte, nein;« sagte ich.

In der That sah ich, streng genommen, gar nichts, denn der Nebelschleier war noch dichter geworden, als am Frühmorgen; der Glaube indessen, oder vielmehr die Gewißheit, daß hinter diesem Nebelschleier wahr und wahrhaftig all die Herrlichkeiten lägen, welche der freundliche Capitän an den Fingern herzählte, – das war doch schon etwas, und dann wie tröstlich, wie herzerquickend lachte der See! In diesem smaragdgrünen krystallklaren Wasser lag für mich ein Zauber ganz eigner Art, ganz verschieden von dem, mit welchem uns das Meer, das vielwogige Gebiet des dunkellockigen Poseidon umstrickt. Keine Spur von der unnahbaren Majestät, welche dieses auch in den ruhigsten Momenten umkleidet, zum wenigsten in unsern nordischen Meeren. Das Wasser des Meeres hat etwas bleiernes, schweres, im Vergleich womit das dieses Schweizersees ein ganz anderes Fluidum, ein Mittelding zwischen Luft und Wasser zu sein schien. Auch bin ich überzeugt, daß er selbst im wildesten Sturme seine Wellenkämme nicht so zornig schütteln und so aus tiefer Brust donnern und heulen kann, wie das Meer. Zu diesem scharfausgesprochenen Unterschiede mag indessen auch die Illusion nicht wenig beitragen. Es ist ein Ding, wenn ich weiß, daß ich auf einem Gewässer schwimme, welches 9½ Q.-M. groß und an seiner tiefsten Stelle 964 Fuß tief ist, und ein anderes, wenn mein Schiff seine pfadlose Bahn verfolgt über die weite Wasserwüste, deren Grenzen hierhin und dorthin noch der kühnste Schiffer nicht erkundet und dessen Tiefe noch kein Senkblei erreicht hat! – Bei der Erinnerung an mein geliebtes Meer überkommt mich hier mitten in den Alpen eine Sehnsucht, die mich wie mit weichen Armen umfängt und einschläfert. Ich höre das Branden der Wogen am felsenbedeckten Strande meiner nordischen Heimath! Wo bleibt gegenüber dieser göttlichen Unermeßlichkeit die irdische Majestät der Alpen! Thalatta, Thalatta! where is my own blue sea!

*

Ragaz, 30., Morgens 6 Uhr.

Ich hätte beinahe Lust, die letzten Zeilen durchzustreichen, wie ich jetzt nach einem kurzen Spaziergange in der Morgenkühle mich wieder an den Schreibtisch setze. Heute kommt mir, inmitten der herrlichen Alpenwelt, die Apostrophe an das Meer etwas übertrieben vor, und der schneebedeckte Gipfel des Falknis und die finstere Größe des Schwarzhorns, wie sie eben aus dem blauen Morgenhimmel auf mich herabblickten, schienen mir etwas zu sagen, das ungefähr so klang: Du armseliges Menschenkind, was weißt denn du von unserer Hoheit, daß du nur überhaupt von uns zu sprechen wagen darfst!

Und dann, habe ich nicht gestern die Gebirgswelt von einer Seite kennen gelernt, von der ich sie bis dahin nur aus Märchen und, was dasselbe sagen will, aus der souveränen Phantasie kannte. Ich meine die Tamina und Bad Pfäffers, um derethalben wir eigentlich diese lange Eisenbahnfahrt von Rorschach herab bis Ragaz gemacht haben. Nicht als ob diese Fahrt an und für sich nicht gemacht zu werden verdiente! Es wäre strafwürdige Undankbarkeit, wollte ich das behaupten. Der Himmel weiß, mit welcher Rastlosigkeit ich mich von der einen Seite dieser langen, vielsitzigen, bequemen Schweizer-Eisenbahnwagen nach der andern bewegt habe, um bald links einen Blick in den Rhein zu werfen, der hier, so nahe seiner Quelle, sich zu dem Rhein bei Bonn oder Mainz verhält, wie ein trotziger Knabe zu einem vielerfahrenen, vielgeprüften, ruhig-weisen Manne; bald rechts die stolzen Felsenstirnen der sieben Churfirsten zu bewundern, deren oberster Rand von dicken, trüben Wolken so finster verhüllt war, – aber das Alles sagt am Ende nicht viel neben den Wundern der Tamina, die vielleicht auf der ganzen Erde einzig in ihrer Art sind.

Unmittelbar hinter dem Dorfe Ragaz öffnet sich die ragende Felsenmauer zu einem schmalen Thor und aus diesem Thore stürzt die Tamina, wie das Tigerthier in der Schillerschen Ballade »mit wildem Sprunge«, wie eine rasende Mänade, die mit flatternden Haaren und Gewanden, den Thyrsusstab schwingend und Evoe, Evoe mit schäumendem Munde rufend, den Felsenhang herabhüpft. Wer hätte unter dem weichen Namen einen solchen Tollkopf gesucht! Tamina! das klingt beinahe wie Mozart's silberne Glöckchen und lockende Geigentöne; aber die Tamina hat nichts von Mozart, gar nichts; sie ist in jeder Note von Beethoven'scher Schwermuth und Schumann'scher Ueberschwänglichkeit. So donnert und tos't sie von Fels zu Fels, hier in breitem, jähem Sturz über eine glattgeschliffene Felsenmauer, zwanzig, dreißig Fuß lothrecht in die Tiefe, dort in rasender Eile eine gigantische Felsentreppe von Stufe zu Stufe hinabtaumelnd, wieder an einer andern Stelle in furchtbarer Wuth gegen die sich entgegenthürmenden Felsen brandend, die sie mit all ihrer Riesenkraft noch nicht hat bewältigen können. Es ist ein Schauspiel, das uns mit schauerlicher Lust erfüllt. Unser ganzes Wesen wird mit in diesen Kampf gezogen; es ist, als ob wir mit in die Tiefe stürzten, als ob wir die Felsblöcke und Baumstämme selbst vor uns herschleuderten. So geht das fort, immer an dem mäandrischen Lauf der Rasenden hinauf, und immer wilder tobt sie, immer lauter donnert sie und immer höher und steiler ragen links und rechts die Felsengiganten, an deren lothrechten Seiten hinaufzublicken das schon von dem Donner des Wassers halb betäubte Gehirn vollends wirbeln macht. Dabei ist der, übrigens sehr bequeme und gänzlich gefahrlose Weg beängstigend schmal; hier und da schwebt er, in des Wortes eigentlichster Bedeutung, über dem tobenden Schlunde, an anderen Stellen haben die Felsen weggesprengt werden müssen, und die überhangenden Massen scheinen jeden Augenblick hinabzustürzen und den armen Wanderer zerquetschen zu wollen, wie der Fuß eines Menschen einen Wurm, der am Boden kriecht. Und nun – war das nicht Wagenrasseln und Hufschlag? Sollten Menschen – wahrhaftig da kommt das Gefährt um die Ecke herum die Höhe herab. Ein Einspänner – in raschem Trabe – jetzt verschwindet er unsern Blicken hinter dem Felsenvorsprung, und da ist er wieder, ganz dicht vor uns – klinglingling! klinglingling! Ein Bursche sitzt vorn und wendet sich, kaum des Weges achtend, halb zu den Insassen seines Fuhrwerks, einem Mann und einer Frau in schweizerischer Tracht zurück. Klinglingling! klinglingling! Vorbei sind sie, und wir, die wir respectvoll, den Rücken gegen die Felsen gedrückt, Front gemacht hatten, können unsern Weg fortsetzen. Später begegneten wir noch mehreren ähnlichen Fuhrwerken, die alle mit derselben Rücksichtslosigkeit um die scharfen Ecken trabten, und an den schwindelnden Abgründen vorüberklingelten. Wie beneide ich im Stillen diese »Gebirgsmenschen« um ihre gesunden Nerven. Wenn auch ich es hier dazu brächte, daß mich ein vor meinem Fenster kläffender Hund nicht mehr aus allen Sinnen herausängstigte, daß mich das Schwatzen meiner Nachbarn im Theater nicht mehr in dem Genuß der Ouverture störte, und der concentrirte Rauch von einigen zwanzig oder dreißig Cigarren in einer Parteiversammlung nicht im mindesten belästigte! – doch das sind, fürchte ich, Eigenschaften, die alle Heilkraft der Wunderquellen von Bad Pfäffers an mir nicht hervorzuzaubern vermöchte!

Bad Pfäffers! da liegt es vor uns hoch oben in der engen Schlucht, eingeklemmt in die quetschende Enge der ungeheuren Felsenmauern – ein klosterhaft düsteres Gebäude, das Ziel unserer Wanderung am heutigen Nachmittag. Ein Fremdenführer empfängt uns und geleitet uns durch lange, niedrige Gänge, auf deren Steinfliesen unsere Tritte wiederhallen. Kurgäste begegnen uns, Arme und Wohlhabende. Während der Mann vor uns hergeht, erzählt er uns, daß das Gebäude im Jahre 1704 erbaut sei, 140 Zimmer enthalte, in denen an 300 Kurgäste logirt werden könnten. Im Augenblick seien nur etwa 100 anwesend, indessen daran sei nur das schlechte Wetter schuld, das so lange geherrscht habe. Die Heilquelle sei der Sage nach schon im Anfang des 11. Jahrhunderts von einem Jäger durch einen Zufall entdeckt worden, und schon im 13. Jahrhundert habe ein Abt Hugo die ersten, freilich sehr rohen und unbequemen Badeeinrichtungen gemacht. Die Kranken habe man an langen Stricken in die Tiefe hinabgelassen und erst wieder hinaufgezogen, wenn sie ihre Kur vollendet geglaubt. Dies Märchen gewinnt eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit, wenn man, aus dem Kurhause heraustretend, dem Führer auf einem schmalen, aber festgezimmerten, mit einem Geländer versehenen Stege folgt, welcher in die Tiefe der Schlucht zu dem Ursprung der warmen Quelle führt.

Unmittelbar hinter dem Hause nämlich treten die Felsenwände, zwischen denen die Tamina durchbricht, so nahe zusammen, daß nur eben noch für den donnernden Bach, sonst aber, an den meisten Stellen wenigstens, schlechterdings gar kein Platz mehr ist und der holzgezimmerte, an der Felsenmauer hinlaufende Langsteg über den schäumenden Wassern hängt. Die Mauern steigen in glatten Wänden hier, in wildzerklüfteten Säulen da, noch Hunderte von Fußen beinahe lothrecht in die Höhe und vereinigen sich oben zu einem geschlossenen Spitzbogengewölbe, durch welches nur an wenigen Stellen der blaue Himmel hereinblickt. Keine Worte vermögen die grandiose Erhabenheit dieser Krypte in dem Alpendome wiederzugeben. Man steht bei jedem Schritte still, hinaufzublicken in die schwindelnde Höhe, hinabzublicken in die donnernde Tiefe. Man verliert alle Empfindung seiner Persönlichkeit, oder richtiger, das Gefühl seiner selbst schrumpft zu einem Minimum zusammen.

Und nun kommen wir an eine Stelle, wo der Langsteg auf eine kleine Plattform mündet. Bis hierher und nicht weiter. Wie es hinter der Plattform in der Schlucht aussieht, wissen nur die Dämonen der Tiefe. Die Menschen hatten kein Interesse, das Wagestück fortzusetzen, denn hier sprudelt aus dem Felsen der kleine Quell, um dessentwillen man von Ragaz durch das ¾ Stunden lange Felsenthal mit ungeheuren Kosten den Weg in die Höhe führte, um dessentwillen man das große Kurhaus baute, um dessentwillen man den langen Steg durch die Schlucht zimmerte, und vor allem hier einen hundert Fuß tiefen Stollen horizontal in den lebendigen Felsen trieb.

Der Führer bittet uns, unsere Plaids und Röcke abzulegen, entzündet eine Lampe und geht vor uns her in den niedrigen Gang, aus dem uns Brütofenhitze entgegenströmt. Im Nu sind wir im Schweiß gebadet, denn das Wasser der Quelle hat 30° R. und die Luft im Stollen hat dieselbe Temperatur. Wir tappen uns an den feuchten Wänden bis zum Quell. Der Führer giebt uns aus einem Becher zu trinken. Wir fanden das Wasser durchaus geschmacklos und erquicklich trotz der Wärme.

Und nun geht es zurück aus dem Stollen über den Langsteg. Wir hüllen uns dicht in unsere Plaids und schreiten unaufhaltsam weiter, denn das nimmermüde Tosen des Wassers und der finstere Ernst der Umgebung erdrücken zuletzt die Seele, und als wir endlich beim Kurhause wieder heraustreten, seufzen wir tief auf wie der Schiller'sche Taucher und sprechen andächtig mit ihm: Es freue sich, wer da athmet im rosigen Licht.

*

Zug, 30. Juni, Abends 7 Uhr.

Beim höllischen Elemente!
Ich wollt', ich wüßte was ärger's, daß ich's fluchen könnte.

Da sitzen wir, sitzen fest und sitzen in Zug, einem unaussprechlich langweiligen Neste, zu derselben Stunde, in welcher wir uns oben auf dem Rigi, zum mindesten nicht weit unterhalb des Gipfels befinden sollten. Und wem haben wir das zu verdanken? Niemand sonst als unserm trefflichen Berlepsch, der uns für den heutigen Tag folgende Marschroute vorgeschrieben hatte: Eisenbahn nach Rapperschwyl. – Dampfschiff nach Wädenschwyl. – Post nach Zug. – Dampfschiff auf dem Zuger See nach Arth. – Zu Fuß oder zu Pferde auf den Rigi. – Ja wohl: Rigi! Rigi und glorreicher Sonnenuntergang mit der ganzen Welt und noch einigen Seen zu seinen Füßen, englische Missis neben sich, die How beautiful! splendid! very fine indeed! seufzen, während der Abendwind mit ihren langen Locken spielt! Nein, nicht das, sondern Zug, Hôtel du Cerf, Blick aus dem Fenster auf die verregneten Gassen eines armseligen Städtchens und die Verzweiflung im Herzen!

So; nun habe ich den Zorn weggeschrieben; Vernunft fängt wieder an zu sprechen; die Gerechtigkeitsliebe regt sich wieder und heißt mich vor allem, dem wackern Berlepsch bezeugen, daß er nichts dafür kann, wenn die Zuger Dampfschifffahrtsgesellschaft auf allen Fahrplänen pünktlich 5 Uhr Abends von hier ein Dampfschiff abgehen läßt und ohne weitere Ankündigung, weil sich in letzter Zeit nicht genug Fremde eingefunden haben, bis auf weiteres dieses Schiff nicht mehr expedirt. Und dann hat der unfreiwillige Aufenthalt auch noch sonst seine guten Seiten. Einmal sind wir jetzt schon müde und wären, wenn wir das Programm ausgeführt hätten, halb todt auf dem Rigi angekommen, und zweitens gewinne ich so Zeit vollauf, in meinem Skizzenbuche weiter zu kritzeln.

Zurück also zu Bad Pfäffers, wo wir in dem Speisesaale vorerst sehr guten Kaffee trinken, um uns für den Heimweg zu stärken, denn wir haben noch Großes vor. Wir wollen 10 Minuten unterhalb des Kurhauses die wilde Tamina auf einem hölzernen Steg überschreiten und auf unbekanntem Bergpfade zu Dorf Pfäffers hinaufsteigen – denn also will es Berlepsch.

Wir gehen den Weg, den wir gekommen, zurück und jetzt erst sind wir ruhig genug, um die pittoreske Schönheit der hohen steilen Berge zu bewundern, die uns von allen Seiten so einschließen, daß sie manchmal, wo der Weg hinter uns und vor uns um scharfe Ecken biegt, einen Kessel zu bilden scheinen, aus dem nach keiner Seite ein Ausweg ist. Jetzt auch erst haben wir Muße genug, uns der Gebirgsbäche zu freuen, die aus schwindelerregender Höhe zum Theil in einem einzigen Silberfaden die schräge glatte Felswand herabeilen, oder sich von Terrasse zu Terrasse hinabstürzen, hinein in unzugängliche Schluchten. Wo die Berge nicht allzusteil abfallen, sind sie mit lichtgrünen Matten oder tiefgrünen Nadelholzwäldern bedeckt. Auf einer dieser himmelhohen Matten steht ein Thier, das wir für eine Gemse halten würden, wenn die Wahrscheinlichkeit nicht dafür spräche, daß es eine Ziege ist. Hoch über der Matte und hoch über dem braunen Gestein, das es umragt, zieht ein Adler seine wundervollen Kreislinien durch die klare Abendluft.

Die Herrlichkeit der Landschaft wächst mit jedem Schritte, den wir, nachdem wir den Fluß passirt, den Berg hinauf machen. Der Weg ist sehr steil und führt wiederholt an Tiefen vorüber, in welche wir Neulinge, deren Schwindelfestigkeit noch keineswegs erprobt ist, nur scheue Blicke werfen. Dennoch steigen wir lustig weiter, den einsamen Pfad empor, immer im Zickzack am Rande des Berges hin durch duftende Büsche, in denen die Vögel singen. Bei jeder Wendung des Pfades neue Schönheiten, besonders der Matten auf den gegenüberliegenden Bergen, die wir von unten nicht wohl sehen konnten und auf denen hier auf dieser Höhe unser Auge mit Entzücken ruht. Wir bleiben überall stehen, wo der Pfad sich etwas von den steilen Abgründen zurückzieht oder man hoffen darf, in den Büschen und Bäumen hangen zu bleiben, im Fall man die Dummheit beginge, hinunterzufallen. Besonders können wir uns an einem Wasserfall nicht satt sehen, den der eine der Bäche bildet, welcher links von uns über den Rand des Felsens wohl fünfzig bis siebenzig Fuß hinabstürzt auf einen Vorsprung, von wo aus er, in verschiedenen Armen weiter eilend, sich unserm Blick hinter dem ragenden Tannenwalde entzieht. Die Entfernung ist ziemlich bedeutend, eine halbe Viertelstunde etwa, dennoch können wir die Einzelheiten genau erkennen. Bis zu der Hälfte bleibt das Wasser eine compacte Masse; von da an theilt es sich und stürzt in einzelnen Säulen weiter hinab, von denen die wenigsten bis an den Felsenvorsprung gelangen; die andern brechen in drei, vier und mehrere Stücke, die wieder brechen und sich zuletzt in einen dichten weißen Regen auflösen. Es ist ein ewig bewegliches, wunderbar anziehendes, und wie alle Schönheit, deren hauptsächlichster Reiz in der Bewegung liegt, eigentlich gar nicht darstellbares Phänomen. Wollte man den Fall in einem gegebenen Momente fixiren, was hätte man davon, da das Wunder gerade darin besteht, daß das Schauspiel immer dasselbe und doch in jedem Augenblick ein anderes ist.

Jetzt nähern wir uns nach einer Stunde mühsamen vorsichtigen Steigens dem Rande der Höhe. Eine Frau kommt uns eilenden Schrittes, beinahe laufend entgegen; sie trägt einen Knaben von fünf bis sechs Jahren im Arm. Der Knabe hat seinen rechten Arm um ihren Nacken geschlungen und seinen Kopf auf ihre Schulter gelegt. Wir fragen sie, ob sie mit dieser Last den Berg hinab wolle? »Ja wohl; nach Bad Pfäffers; sie habe es eilig; sei bei Verwandten im Dorf oben zum Besuch gewesen. – Das Kind trage sich so am besten, liege ganz still, schlafe auch wohl ein.« Und das nette, junge Weib fängt wieder an, den gerade an dieser Stelle ungemein steilen Pfad hinab zu laufen, so leicht und offenbar so sicher, daß das Kind in der That ruhig schlafen konnte. Welche gute Lunge und welche Muskelkraft ein Marsch den Berg hinab mit dieser Last in diesem Tempo voraussetzt, das glaubten wir einigermaßen beurtheilen zu können, die wir eben athemlos und schweißtriefend oben anlangten.

Wir gehen auf dem Rücken des Berges fort. Rechts vor uns steigt aus dem Plateau noch eine höhere Spitze auf, die wir gern erstiegen hätten; aber die Sonne ist schon längst hinter die Berge gesunken und wir wissen nicht, wie weit wir noch bis Ragaz haben. Wir kommen durch das Dorf Pfäffers und erkundigen uns nach der Ruine Wartenstein, die in der Mitte liegen und von der man (nach Berlepsch) eine umfassende Rundsicht auf das Thal von Ragaz haben soll. Niemand kann uns Auskunft geben; entweder verstehen die Leute uns nicht, oder wir sie nicht; wir müssen uns auf unser gutes Glück verlassen. Der Weg führt bergab; wir sehen nichts mehr von dem Taminathale, aus dem wir heraufgekommen sind, eine ganz andere Landschaft – das Rheinthal mit seinen Bergen – liegt vor uns ausgebreitet. Und dort vor uns, oder vielmehr unter uns, liegt auf einem Felsenkegel die Ruine, nach der wir wollen. Der Pfad hört auf; wir gehen durch Kleefelder; klettern über steinerne Einfriedungen, immer auf den Burgberg zu, den wir endlich erreichen. Durch wildverwachsene Hollunderbüsche über Steingeröll hinauf einen beschwerlichen Weg und nun sind wir oben.

Nicht ohne für unsere Anstrengungen belohnt zu werden. Das Panorama ist, wenngleich beschränkt, doch von eigenthümlicher, etwas schwermüthiger Schönheit. Vielleicht, daß die Abendschatten, die schon überall in dem Thale und auf den Bergen lagen, der Landschaft besonders günstig waren. Das Thal ist rings von mehr oder weniger hohen Bergen eingeschlossen. In seinem Grunde fließt durch breite Sand- und Steinbänke, die er abgelagert hat, der Rhein; an seinem Ufer zwei, drei größere und kleinere Ortschaften, zunächst Ragaz, Sargans, drüben das graubündener Städtchen Meienfeld u. a. Links schließt das Bild die herrliche Kette der Churfirsten, deren sieben Spitzen sich dunkel von dem lichten Abendhimmel abheben; neben ihnen die stolze Pyramide des Gonzen; dann zieht sich das Gebirge im Kreise weiter, bis uns fast gerade gegenüber, der herrliche Falknis (7900') und noch mächtiger das Schwarzhorn (8016') ihre schneebedeckten Häupter erheben. Von der Gewaltigkeit dieser Herren kann man sich einen Begriff machen, wenn man bedenkt, daß die Sohle des Thals nur etwa 1500' über dem Meere liegt; die Riesen also ihre 6000 bis 6500' unter Brüdern hoch sind, und wir von dieser Höhe, so zu sagen, jeden Fuß an den steilen Wänden hinaufmessen können.

Der Abend war schon dunkel in's Thal gesunken, als wir es endlich über uns gewinnen konnten, den Heimweg nach Ragaz anzutreten, das wir in dreiviertel Stunden etwa erreichten. Unsere freundliche Wirthin empfing uns schon in der Thür. Das Abendessen, das sie uns bereitet, war trefflich, und so war der feurige, dunkelrothe Herrschäftler, den sie uns kredenzte.

Die Eisenbahnfahrt von Ragaz nach Rapperschwyl ist so genußreich, wie eine Eisenbahnfahrt nur sein kann; aber Eisenbahnfahren ist überhaupt nicht meine Passion und ich habe immer gefunden, daß die, ich möchte sagen, barbarische Natur dieses Communicationsmittels desto evidenter ist, je schöner die Gegend, durch die man reist. Einmal wirken die Gleichmäßigkeit des Rüttelns und Schüttelns und die Monotonie des eigenthümlichen klappernden Geräusches, wenn sie stundenlang ertragen werden müssen, höchst deprimirend auf die Nerven sehr vieler Menschen (zu denen auch ich gehöre), so daß der Genuß der landschaftlichen Schönheit (zu welchem, wie zu jedem andern Genuß, vor allen Dingen frische Sinne nöthig sind) wesentlich beeinträchtigt wird; dann aber ermüdet die kaleidoskopische Vielheit der Bilder, welche unaufhörlich am Wagenfenster vorüberziehen, zuletzt auch den empfänglichsten Geist und es tritt derselbe Zustand ein, den schon Jeder in großen Gemäldegallerien empfunden haben wird, die man zum ersten Male besucht und nach zwei, drei Stunden halb betäubt verläßt. Nichts hat, glaube ich, mehr dazu beigetragen, unser jetziges Geschlecht der Natur zu entfremden, als die Eisenbahnen. Wenn vormals die Menschen auch Monate und Jahre lang in ihr Museum eingebannt waren, und die Welt kaum an einem Feiertag sahen, so nöthigte sie doch wohl dann und wann dies oder jenes Geschäft zu einer Reise und da mochten sie, wenn sie langsam zu Wagen oder zu Pferde die schlechtgebahnte Straße hügelauf und hügelab zogen, das Versäumte nachholen; mochten wieder lernen, wie die Sonne wärmt und der Regen näßt, wie die Stimmen der Vögel klingen und die Thiere in Busch und Wald und Feld ihr Wesen treiben; mochten sie auch den Menschen wieder nahe treten, den Wanderern auf der Heerstraße, den Bauern auf dem Felde; mochten mit den Weibern am Brunnen plaudern, und aus dem Gespräche mit den dicken Wirthen in den Gasthäusern am Wege, und mit den Reisenden, die sich am Abend um das gemeinschaftliche Feuer des Heerdes schaarten, mehr über Land und Leute erfahren, als unser Einer jetzt aus seinen Zeitungen, Journalen und Büchern lernt. Es ist eine wohl aufzuwerfende Frage, ob Goethe sich zu dem Goethe mit dem wunderbaren Blick für die unscheinbarsten und erhabensten Phänomene der Natur im weitesten Sinne ausgebildet hätte, wenn er von Kindesbeinen an auf der Eisenbahn durch die Welt geras't wäre. Ja, wahrhaftig: wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt; und mit wem er es besonders wohl meint, den läßt er zu Fuß gehen. Wir haben uns fest vorgenommen, auf unsrer Reise, so weit es die karg zugemessene Zeit erlaubt, uns keiner andern, als der uns von der Natur überkommenen Fortbewegungsmittel zu bedienen.

Aber das muß ich wiederholen: so schön eine Eisenbahnfahrt nur sein kann, ist die von Ragaz nach Rapperschwyl. Bei Sargans verläßt sie, sich nach Nordwest wendend, das Rheinthal und tritt in ein anderes schmaleres Thal, durch welches die Seez, die von den Glarner Bergen kommt, dem Wallensee zuströmt. Von Zeit zu Zeit blicken rechts über die niedrigen Wände herüber die zum Theil schneebedeckten Häupter der Churfirsten. Bei der Station Flums steigt auch der alte italienische Kohlenbrenner aus, dessen fabelhafte Erscheinung uns auf dem Bahnhofe von Ragaz so lebhaft interessirte – ein alter verhuzzelter Mann, dessen Haut beinahe so schwarz ist, wie seine dürftige Kleidung, mit einem Spitzhute auf dem Kopfe, Holzschuhe an den nackten Füßen und einen mächtigen Knittel in den mageren schwarzen Händen. Dergleichen Gestalten sind in Italien wohl alltäglich, hier aber machte sie einen ganz wunderlichen, rührenden Eindruck. Der alte Mann sprach kein Wort deutsch und Niemand verstand ihn, und ich weiß nicht, ob er sich zurecht gefunden haben würde, wenn ich mich seiner nicht mit meinem bischen Italienisch angenommen hätte. Es werden irgendwo in der Nähe Eisenerze in Hütten geschmolzen und dahin wollte er. Mehr zu erfahren, hinderten mich seine Schweigsamkeit und die Kürze der Zeit. Ich bot ihm Geld, aber er schüttelte den alten Kopf und ich schämte mich. Dann sah ich ihn nicht wieder als in Flums. Da stand der alte Mann auf dem Perron unter wildfremden Menschen in wildfremder Umgebung und schaute mit seinen tiefliegenden, unsäglich melancholischen Augen umher, und als er mich am Fenster des Waggons sah, nickte er mir zu, und dann setzte sich der Zug in Bewegung und der Alte war verschwunden. In welchem Winkel wird der alte Mann seinen letzten Seufzer aushauchen und wer wird ihm die müden Wimpern schließen? Es giebt wunderliche Existenzen auf dieser wunderlichen Erde.

Und nun macht die Bahn eine scharfe Biegung und vor uns, oder genauer rechts neben uns liegt der Wallensee. Die Bahn zieht sich die ganze Länge des Sees, d. h. 1½ Meile etwa ununterbrochen so hart am (südlichen) Ufer hin, daß der Blick aus dem Wagen sehr häufig unmittelbar in das grüne Wasser fällt. Mir ist der See wunderbar schön erschienen und mein einziges Bedauern war nur, daß ich nicht mit einem Kahn die spiegelglatte Fläche durchfurchen und mich all der Herrlichkeit behaglich erfreuen konnte. Von der Farbe des Wassers möchte ich gern eine Vorstellung geben, wenn das möglich wäre. Sie spottet aller Beschreibung und spottet auch der vielen Nachbildungen auf den Gemälden zum Theil sehr berühmter Maler. Nur auf einem Calame'schen Bilde erinnere ich mich etwas annähernd Aehnliches gesehen zu haben. Und nun denke man sich diese einzig schöne tiefgrüne ¾ Stunden breite Wasserfläche, über welche unser Auge schweift, drüben eingerahmt von einer breiten Felsenmauer, die beinahe ohne Unterbrechung 5000 bis 6000 Fuß fast lothrecht aus dem Wasserspiegel aufsteigt. Es ist dies der Felsenbau der Churfirstenkette, deren wunderlich geformte Häupter wir schon in Ragaz von der Ruine Wartenstein bewunderten. Wie jäh diese Mauer ist, kann schon der Umstand beweisen, daß in der ganzen Länge von 3½ Stunde die Menschen nur drei oder vier Punkte gefunden haben, wo sie auf einer Handbreit Vorstrand Fuß fassen und ihre Hüttchen bauen konnten. Wenn ich nicht irre, waren es sämmtlich Mühlen; bei der einen sah ich auch den von der Felsenmauer herabrinnenden Bach, der ihre Räder trieb.

Ich glaube gern unserm Berlepsch, der den Wallensee nächst dem Urner See »den von den imposantesten Gebirgsufern umgebenen, aber beim Sturm auch für die Schifffahrt gefährlichsten schweizerischen See« nennt. Wehe der Nußschale von Schiffchen, das von dem wüthenden Föhn gegen die erbarmungslosen Felsen geschleudert wird! Wen die Brandung nicht zerschmettert, der versinkt in die Tiefe, die kirchthurmhoch unter ihm gähnt. Von diesem Bilde kann man sich allerdings kaum eine Vorstellung machen, wenn man, wie wir, den glatten tiefgrünen Spiegel sieht, und darüber einen tiefblauen, wolkenlosen Himmel, aus dem die Morgensonne blendend herabstrahlt. Uebrigens ist, seit die Eisenbahn am südlichen Ufer entlang fährt, die Dampfschifffahrt auf dem See eingegangen und auch die sonstige Schifffahrt kann nicht bedeutend sein, zum wenigsten haben wir nur einen einzigen jener plumpen stumpfschnäbligen Nachen bemerkt, die uns aus den Schweizerlandschaften schon so bekannt waren. Die Uferseite, auf der wir fuhren, steht in einem auffallenden Gegensatze zu der gegenüberliegenden. Sie ist lieblich, anmuthig; wo der Blick etwas weiter schweifen kann, sehen wir grüne Alpenmatten, lachende Dörfer, friedliche Sennhütten. Meistens freilich ist auch nach dieser Seite hin die Aussicht verschlossen, und mit welchen Schwierigkeiten man dem Ufer das Bahnterrain abgewann, beweisen die sieben oder acht Tunnel, die ich auf der eine halbe Stunde dauernden Fahrt zählte.

Nun haben wir das schmale Defilé zwischen Felsen und See hinter uns, und die Gegend ist mit einem Male eine ganz andere. Die Berge sind weniger hoch und treten weit und weiter zurück. Wir fahren durch lachende Kornfelder, kommen an Weilern und Dörfern vorüber, und nicht lange währt es, so sind wir wieder am Gestade eines Sees, der aber diesmal uns an der linken Seite begleitet. Es ist der Züricher See. Er ist im Vergleich mit seinem tragisch ernsten Bruder, dem Wallensee, ein lachendes Idyll und seine Gestade erinnern an das Jean Paul'sche Land voll Licht und Ernten und Sonnenschein.

Wir sind in Rapperschwyl und steigen aus. Das Dampfschiff nach Zug geht erst in einer und einer halben Stunde; wir suchen unter den am Ufer liegenden Gasthöfen nach dem »Schwan«, und finden ihn auch, aber ach! »in den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen«, auf lateinisch: fuimus Troes, auf deutsch: es hat sich ausgeschwant. Läden und Thüren sind verschlossen und das pompöse Schild: Hôtel du Cygne. Restaurant etc. ist ein Papier, dessen Werth gleich Null ist. Da hat sich der »Gasthof zum Steinbock« gleich nebenan, dessen unser Berlepsch nicht Erwähnung thut, besser gehalten. Zwar ist dieser Steinbock gar kein vornehmes Thier, aber die hohe, an der Vorderseite des Hauses hinlaufende Terrasse, in der eine Steintreppe hinaufführt, winkt so einladend unter ihrem breiten schattigen Dach, daß wir ohne Bedenken hinaufsteigen. Ein dicker Wirth und sein blonder vierzehnjähriger Bub mit dem sommersprossenreichen runden Gesicht machen uns die Honneurs, decken auf der Terrasse einen Tisch, bringen uns Landwein (wißen, der rothe ist nit so guet), delicate Butter und Käse und frisch duftendes Weizenbrod für den ersten Hunger, hernach Coteletten, trefflichst zubereitet. Dazu die Aussicht über die herrliche Wasserfläche, die Schiller nothwendig in seinen Träumen gesehen haben muß, ehe er die Verse schrieb: »Es lächelt der See, er ladet zum Bade«; und die nicht minder schöne Aussicht, die Sonne, die sich in der Fluth spiegelt, heute Abend vom Rigi aus untergehen zu sehen, und last, not least: »Geld im Beutel, Muth im Herzen« – ich frage jeden, ob wir in dieser Stunde irgend welche Ursache hatten, die Welt nicht schön, oder das Leben ekel, schaal und flach und unersprießlich zu finden?

In unserer Herzensfreude störte es uns kaum, daß der dicke Wirth über unsere großen Pläne bedenklich den Kopf schüttelte und meinte: wir kämen heute schwerlich noch hinauf, und daß sein blonder Bub hartnäckig aus irgend welcher Wolkenconstellation Regen prophezeite. Ach! sie haben Beide recht gehabt. Wir sind noch wer weiß wie weit vom Rigi, und es regnet, was nur vom Himmel will.

Doch das ahnten wir nicht, als wir in der Mittagsgluth stolz über den Züricher See fuhren, der es bei dem frischen Winde zu etwas brachte, das beinahe wie kleine Meereswellen aussah, und eine Stunde später auf dem westlichen Ufer in Wädenschwyl landeten. Hier aber fing die Sache an, uns bedenklich zu werden. Die Post nach Zug ging erst um halb Zwei, bis Zug sollten es drittehalb Stunden sein, dann noch die Fahrt über den See, bis Arth, dann zu Fuß oder zu Pferde, oder vielmehr blos zu Pferde, denn zu Fuß schien kaum noch möglich – auf den Rigi. Wie soll das werden? fragten wir mit dem Apostel.

Endlich ging die Post ab. Wir kamen in einem offenen Beiwagen zu sitzen, mit uns ein Schweizer aus dem Aargau mit seiner Frau; auch sie wollten heute noch auf den Rigi. Der Mann, abwechselnd mit uns hochdeutsch und mit seinem »armen Madli«, das an Zahnschmerzen litt, im Dialekt sprechend, mochte ein Landwirth sein, und wir verdankten ihm manche interessante Mittheilung über Land und Leute. Indessen gerieth das Gespräch bald in's Stocken, denn die Luft war erdrückend schwül. Nur wie durch einen Nebelschleier sah ich die grüne Fläche des Züricher Sees dann und wann zwischen den Bergen und Bäumen heraufgrüßen, und plötzlich rasselten wir über urvorweltliches Pflaster in ein Städtchen hinein, ohne daß ich zu sagen wußte, wie wir dorthin gekommen sind.

Der Wagen hielt. Wir waren in Zug.

»Wann geht das Dampfboot?« fragten wir vier wie mit einer Stimme.

»Heute geht kein Schiff mehr,« antworteten ebenfalls unisono ein halbes Dutzend Individuen, die vor der Thür des Posthauses herumlungerten.

Wir wollten das erst nicht glauben, als wir uns aber zuletzt von der Wahrheit überzeugten, gerieth unser Schweizer in hellen Zorn und nannte laut mit republikanischer Freimüthigkeit die Directoren der Zuger Dampfschifffahrtsgesellschaft Schwindler und Lügner, die dem Fremden ein X für ein U machten, blos damit sie in dem langweiligen Neste liegen bleiben müßten – eine willkommene Beute für die hungrigen Gastwirthe. Er aber wolle sich nicht beschwindeln lassen, und werde so oder so seine Reise fortsetzen.

Auch wir hatten Anfangs dieselbe Absicht – aber es war mittlerweile 5 Uhr geworden; wir konnten nach menschlicher Berechnung nicht vor 10 Uhr auf dem Rigi anlangen, dazu schien es regnen zu wollen – wir beschlossen zu bleiben und trennten uns von dem biedern Schweizer, dessen Höflichkeit uns gegenüber in einem beinahe lächerlichen Contrast mit der massiven Grobheit stand, die er in demselben Athemzuge den auf ihn eindringenden Anerbietungen der Einspännervermiether entgegensetzte; gingen in das Hôtel du cerf, und waren kaum von dem scharwenzelnden Wirth mit » par ici, madame! par ici, monsieur!« in unser Zimmer geleitet, als der Regen, welcher schon lange gedroht, in Strömen herabzufallen begann. Doch dauerte der Guß nicht lange und wir hatten vor dem Dunkelwerden noch Muße, die Stadt zu besichtigen, an der leider nichts zu sehen ist. Ein kleines, altes, winkliges, schlechtgepflastertes Nest. Uns wurde ganz melancholisch zu Muth bei dieser Wanderung. Wer in großen Städten zu leben gewohnt ist, kann sich kaum eine, oder vielmehr gar keine Vorstellung von dem Thun und Treiben der Leute in solchen kleinen Oertern machen. Es kommt ihm vor, als ob die Menschen vor langer Weile sterben müßten. Ein zweites Räthsel war für uns die Menge der Gasthäuser. Fast jedes dritte Haus war ein »Hôtel« mit drei Fenstern in der Fronte, oder eine »Speisewirthschaft.« Wahrscheinlich stammen diese Einrichtungen aus einer Zeit, wo es noch keine Eisenbahnen und keine Dampfschiffe gab, und man hat nur vergessen, diese anachronistischen Schilder, die keine Bedeutung mehr haben, herabzunehmen. Auch in unserm Gasthofe sind wir die einzigen Fremden, da wir die Mäuse, die in unserm Zimmer herumhuschen, doch am Ende für Hausbewohner halten müssen. Uns graut vor der Rechnung morgen früh.

Ich bin neugierig, wo ich das nächste Blatt schreiben werde; auf dem Rigi schwerlich, denn den haben wir so gut wie aufgegeben.

*

Alpnach, 2. Juli.

Das waren zwei Tage in meinem Leben, die in der That verdienten gelebt zu werden. Endlich sind wir wahr und wahrhaftig auf den Bergen gewesen, auf den Bergen, wo die Freiheit wohnt, wo die Adler horsten und die Gemsen klimmen. Adler und Gemsen haben wir freilich nicht gesehen, aber frei und leicht, federleicht und doch auch wieder centnerschwer ist uns um's Herz gewesen, als wir von den zackigen Gipfeln des Pilatus die Welt zu unsern Füßen sahen.

Denn vom Pilatus kommen wir – vom Pilatus, dem Nebenbuhler des Rigi. Wie froh bin ich, daß uns vorgestern Abend das Dampfschiff im Stich ließ! Wir verdanken diesem Umstande die herrlichste Tour, die mir für dieses kurze Leben unvergeßlich sein wird, und die ich hier in dieser niedrigen holzgetäfelten Stube des echten hölzernen Schweizer-Wirthshauses »zum Schlüßli« in seinen Hauptzügen wenigstens schildern muß, ehe ich das mit schneeweißem Linnen bedeckte thurmhohe Lager aufsuche.

Am Morgen des ersten Juli von Zug über den See hinüber nach Immensee – nicht dem poetischen von Theodor Storm, für den die jungen Damen nicht ohne Unrecht so schwärmen – sondern dem Schweizer Dörfchen in der Ecke des Zuger Sees, die dem Vierwaldstätter See am nächsten liegt. Der Morgen ist rauh für die Jahreszeit, schwere Wolken hangen auf den Bergen so tief herab, daß man meistens nur ihren grünen breiten Fuß sieht. Es regnet nicht, aber es sieht so aus, als ob es jeden Augenblick, und das tüchtig, anfangen könnte. In Immensee erwartet uns die Post, die uns durch die hohle Gasse nach Küßnacht bringen soll, denn noch immer führt dahin »kein andrer Weg.« Ich war nicht wenig gespannt auf die »Hohle Gasse«, in der ich mit dem wackern Wilhelm Tell so unzählige Male auf der Bank von Stein gesessen und monologisirt hatte, als ich noch still und harmlos lebte und die Milch frommer Denkungsart, die mein ganzes Herz erfüllte, sich noch nicht träumen ließ, daß die Welt in der Phantasie und die Welt in der Wirklichkeit zwei ganz verschiedene Dinge seien. Aber die wirkliche hohle Gasse sieht der poetischen genau so ähnlich, wie ein moderner constitutioneller König dem König im Märchen, der mit der Krone auf dem Kopfe zu Bett geht. Die wirkliche hohle Gasse ist eine gut gehaltene Chaussee, über welche der Postwagen lustig wegrasselt, an einer Stelle, die man, wenn man gerade dazu aufgelegt ist, einen Hohlweg nennen kann. Indessen mag der Ort, bevor nivellirende Wegebaumeister in ihn eindrangen, wohl anders ausgesehen haben. Jetzt erinnert nur noch ein Kapellchen rechts am Wege an den weltberühmten Schuß.

Doch da ist Küßnacht und mit ihm der Vierwaldstätter See. Was hätten wir auf der Fahrt nach Luzern für einen einzigen Sonnenblick gegeben, aber die schweren Wolkenschleier waren nur noch tiefer gesunken und wir sahen von all den Herrlichkeiten seiner vielgepriesenen Umgebung so gut wie nichts. Unsere eigentliche Absicht war, ihn seiner ganzen Länge nach bis Flüelen zu durchfahren, aber es wäre ein Schauspiel mit heruntergelassenem Vorhang gewesen, und so hatten wir uns denn entschlossen, lieber gleich nach Luzern zu gehen und da geduldig zu warten, bis der Himmel sich aufklären würde. So kamen wir – gestehe ich es nur – in bedenklich schlechter Laune nach Luzern, und diese schlechte Laune mag auch wohl der Grund gewesen sein, daß uns die Stadt mit ihren engen Gassen, auf denen sich – es war gerade Wochenmarkt – Menschen, Wagen und Pferde im wirren Durcheinander bewegten, eben kein großes Interesse abgewinnen konnte. Schlechte Laune ist eine angelaufene Brille, durch die alle Katzen grau erscheinen, selbst eine so königliche, großartige, erhabene Katze, wie der weltberühmte Löwe von Luzern. Ja, ich war so übel gelaunt, etwas von Tyrannenknechten zu murmeln (das Denkmal ist dem Andenken der 800, bei der Verteidigung der Tuilerien am 10. August 1792 gefallenen Schweizer gewidmet) als ob ich nie gelesen hätte, daß der Dichter und der Künstler auf einer höhern Warte ständen, denn auf den Zinnen der Partei. Jetzt nachträglich bitte ich Thorwaldsen und Meister Ahorn, der das Denkmal nach einem Modell des ersteren ausführte, meine Ungerechtigkeit ab, und erkenne an, daß sie ein in seiner Art einziges, in der Idee und in der Ausführung gleich herrliches, geistreiches und tiefsinniges Kunstwerk geschaffen haben.

Aber wie gesagt, gestern Morgen wollte ich nichts von Kunst wissen, selbst nicht von einer, die sich, wie diese hier, so innig mit der Natur vermählt, ich wollte in die Berge, ich schmachtete nach den Bergen, ich konnte meine Ungeduld kaum zügeln, und sobald der erste Sonnenblick durch die Wolken brach, trieb ich zum Aufbruch, trotzdem der Pilatus, den wir nun statt des Rigi besteigen wollten, nicht blos seinen Hut, sondern auch seinen Kragen und seinen Degen dazu trug. Der Pilatus nämlich, unter dem man sich nicht einen einzelnen Berg, sondern einen mächtigen Gebirgsstock mit fünf oder sechs verschiedenen, weitgetrennten Gipfeln denken muß, ist als der am weitesten vorgeschobene Posten der Hochalpen, der Wettermacher der Gegend. Auf seinem kahlen Haupte, an seinen schroffen Wänden lagern sich die Wolken, und der Thalbewohner achtet genau darauf, denn er weiß:

Hat der Pilatus einen Hut,
Dann wird das Wetter gut;
Hat er einen Kragen,
Kannst du's wagen;
Hat er einen Degen,
Giebt es Regen.

Indessen klärte sich der Himmel immer mehr auf, während wir in einem Einspänner durch eine Ebene, auf der Schweizer Miliz ein Lager aufgeschlagen, und hernach am Gestade des Sees entlang nach Hergiswyl fuhren, einem Dörfchen unmittelbar am Fuße des Giganten. Gleich hinter dem Wirthshaus führt der Weg bergauf, erst durch Wiesen und verstreute Bauernhöfe mäßig steil, allmälig aber steiler eine Stunde etwa bis zu einem kleinen Hause »zum Brünneli« genannt, wo die Wirthin die Kelle, mit der sie die Ziegenmilch in dem Kessel über dem Feuer umrührte, aus der Hand legt, um uns ein Glas trefflichen kühlen Biers aus dem Keller zu holen. Dicht neben dem Hause ist unter einer hochragenden Tanne eine Bank auf einem vorspringenden Felsen. Von diesem Punkte konnten wir den Weg, den wir zurückgelegt, den breiten Rücken des Berges hinab, deutlich verfolgen. Es ist eine wundervolle Stelle. Am Fuße des Berges der herrliche See, der jetzt, wo sich der ganze Himmel nach dieser Seite aufgeklärt hatte, seine Schönheit entschleiert. Eine waldige Halbinsel links, umkost von der smaragdnen glatten Fluth, rechts schroffe Fichtenhöhen, in deren Schatten das dunkelgrüne Wasser noch tiefere Töne annimmt. Drüben Berge über Bergen, in allen Schattirungen von blau und grün sich von einander abhebend, ein paar Schneekuppen, die aus weiterer Ferne herüberblinken. So ist, was wir vor uns sehen. Und nun thürmen sich hinter uns die steilen nackten Wände des Pilatus auf, deren Wildheit, im Vergleich mit dem lachenden Bilde vor uns, etwas Grausiges hat, um so mehr als ihre höchsten Zacken noch immer von dunkeln unheimlichen Wolken, die sich jetzt etwas hoben und dann wieder tiefer senkten, bedeckt sind.

In diese Wolken mußten wir hinein: es half nichts. Weiter also. Ein mächtiger Tannenwald empfing uns in seinem kühlen Schatten – alte hochgewachsene Bäume, die ihre Wurzeln klaftertief in die Felsen treiben. Ueberall sickert das Wasser an den Felsen herab, zum größten Theil durch den Weg und im Wege entlang. Mit einem Male werden die Tannen kleiner, verkrüppelter. Wir sind, immer rüstig steigend, auf eine Höhe gelangt, die keine andere Flora duldet, als kurzes Gras und die freundliche Campanula rotundifolia, die uns rechts und links zwischen den Steinen den Weg hinauf begleitet hat und noch begleitet. Jetzt sehen wir auch das Wirthshaus auf Klimsenhorn Egg, dem Ziele unserer Wanderung, in scheinbar unersteiglicher Höhe vor uns, zwischen den kahlen Zacken. Wie wir da hinauf kommen sollen, ist gar nicht abzusehen. Die einzige Stelle, wo möglicherweise der Weg liegen kann, ist eine ungeheure, immer noch jäh genug abfallende Fläche, die aussieht, als ob die Geister des Berges alle großen und kleinen Steine, die sie im ganzen Gebirge seit ein paar tausend Jahren aufgelesen haben, daran hinuntergeschüttet hätten. Und doch ist dieser Steinwall wirklich erkoren, um den Weg daran in die Höhe zu führen. Aber wie! in einem Zickzack, das die zäheste Geduld auf eine harte Probe stellt. Alle fünfzig Schritt eine Ecke, wie sie ein Schiff macht, das gegen den Wind ein schmales Fahrwasser hinaufkreuzt. Wir steigen eine Stunde, zwei Stunden – das Wirthshaus muß behext sein; wir kommen nicht hinauf. Wir steigen noch eine Stunde und mit einem Male kommt es mit jedem Schritt sichtbar näher, und endlich, endlich – nein noch nicht! noch ein paar Dutzend Zickzacks hinüber und herüber und nun, nun sind wir wirklich oben.

Unsere Kräfte waren beinahe erschöpft; wir mußten uns erst einmal restauriren. Hatten wir doch bis Sonnenuntergang noch Zeit genug, uns an der entzückenden Aussicht zu laben! Aber es kam anders. Pilatus hatte nicht umsonst heute den ganzen Tag den Hut nicht abgesetzt und den Kragen nicht von den Schultern gethan. Wir hatten kaum unsern Kaffee getrunken, als sich an den Fenstern des Saales eine graue Wolke vorüberwälzte. Wir sprangen fast erschrocken auf und kamen eben noch zeitig genug, um das letzte Stückchen des Vierwaldstätter Sees verschwinden zu sehen.

Das Licht ging aus,
Und wir saßen im Dunkeln.

d. h. alles Ernstes; es war plötzlich aus hellem Tag Nacht, zum mindesten dunkler Abend geworden, so daß der Wirth die Lichter anzünden mußte. Er meinte, die Sonne würde wohl wieder zum Vorschein kommen; aber die beiden Herren, die wir bei unserer Ankunft im Saale fanden, schüttelten den Kopf. Es waren ein paar curiose Käuze, diese beiden Herren. Der Eine war, wie ich hernach aus dem Fremdenbuche sah, ein Prediger aus Aarau, ein hochgewachsener Mann mit einer so seltsamen Vogel-Physiognomie, wie man sie an dem längsten Sommertage nicht zweimal findet. Der Andere K. K. Lieutenant, übrigens ebenfalls Schweizer, – ich vermuthe, daß der Prediger vor Zeiten des Lieutenants Hauslehrer gewesen war. Sie waren schon drei Tage auf dem Pilatus und warteten vergeblich auf einen hellen Tag. Inzwischen saßen sie vor dem Ofen – in welchem von Morgen bis Abend ein helles Feuer brennt – schürten die Gluth und rauchten unausgesetzt Cigarren. Der Lieutenant sprach kein Wort, der Prediger wenig. Und nun denken Sie sich einen großen, spärlich erleuchteten Saal mit dieser geistreichen Gesellschaft, und draußen ein Nebelmeer, das mit jedem Augenblick trüber und trüber wird, und ich frage Sie, ob diese Situation nicht einigermaßen unheimlich ist. Nach dem schweigsamen Abendessen gingen wir, dicht in unsere Plaids gehüllt, noch ein wenig vor die Thür und wandelten eine Zeitlang auf dem nicht eben großen Platze vor dem Hause auf und ab. Nach unten war von Aussicht nicht die Rede. Man hätte eben so gut durch eine zehn Fuß dicke Mauer als durch die Nebelschichten sehen können. Aber um uns her und über uns war der Nebel etwas lockerer geworden. Von Zeit zu Zeit kam die braune, schroffe Wand der höheren Kuppen des Gebirges etwas zum Vorschein, eine Felsenmasse, eine wildzerklüftete Zacke, anzuschauen wie ein altes verwittertes Gesicht – ein geisterhaftes Treiben. Es war, als wenn aller Sonnenschein und alle Lieblichkeit auf ewig aus der Welt verschwunden wären, und die Versicherung des Wirthes, daß in diesem selben Augenblick drunten im Thal vielleicht die schönsten Abendlichter ihr goldgrünes Gespinnst über die Seen und Matten weben, erschien geradezu lächerlich. Und doch hatte er, wie ich heute Abend erfuhr, Recht gehabt. Es war gestern hier in Alpnach und überall am See ein entzückend schöner Abend gewesen. Nur um das Haupt des Pilatus habe eine Wolke gelegen. Ja wohl! wir wußten ganz genau, wie diese Wolke inwendig ausgesehen.

Der Eigensinn des Pilatus, selten seinen Kragen abzuthun, wird ihn nie mit seinem Nebenbuhler auf der andern Seite des Sees, dem Rigi, rivalisiren lassen können, obgleich nach dem Urtheil Aller, die beide Berge kennen, der um 1000 Fuß höhere Pilatus sowohl durch die Schönheit der Aussicht, als durch seine eigene Großartigkeit, den andern Berg bei weitem übertrifft. Ich für mein Theil bin der Ansicht, daß dem Pilatus an dem Besuch der Menschenmäuse, die an seinen Seiten herumkrabbeln, gar nichts gelegen ist, und daß er ihnen zum Hohn und Trotz den Kragen umbehält. Was sollen Wirthshäuser auf seinen Schultern? was gar die Kapelle, welche der Besitzer von dem Hotel auf dem Klimsenhorn Egg, ich weiß wahrhaftig nicht, für wen und wozu, hat erbauen lassen? Der Pilatus ist ein Berggeist, der nichts von der alle Welt beleckenden Cultur wissen will, und ich glaube alle die Geschichten, die von seiner heidnischen Abkunft und von seinen Koboldneigungen erzählt werden. Ich glaube auch, daß er nächtlicher Weise in den verhaßten Gasthäusern spuken geht, z. B. mit seinem eiskalten Geisterathem in die ofenlosen Fremdenzimmer hineinhaucht und bis zum Morgen mit heiserer Stimme krächzt und kräht, wenn auch der Wirth behauptet, daß letzteres Geräusch von den jungen Hähnen herrühre, die im Hofe eingesperrt seien. Wenn es wirklich junge Hähne waren, warum bekamen wir sie am nächsten Mittag nicht auf den Tisch anstatt des alten zähen Hammelbratens, der mindestens schon drei bis vier Wochen in Essig gelegen?

Auch heute Morgen – mir kommt es vor, als sei das schon acht Tage her – bewies Pilatus, daß er, selbst gut gelaunt, von seinen Tücken nicht ganz lassen könne. Um halb vier Uhr, wo wir aufstanden, Alles klar, die ganze Welt in ein durchsichtiges, feines, blaues Morgenkleid gehüllt. Eine Viertelstunde vor Aufgang der Sonne undurchsichtig grauer Nebel allüberall. Wieder eine Stunde später die ganze Welt in dem lachendsten, entzückendsten Sonnenschein; fünf Minuten später wieder Nebel allüberall. So ging's den ganzen Vormittag; auch als wir mit Xaver Bali, dem Hausknecht auf Klimsenhorn Egg, nach dem Tomlishorn, einem der andern Gipfel, gingen. Xaver Bali war eine urgemüthliche Erscheinung in einer blauen Blouse, einer Art von Schlafmütze und alten nägelbeschlagenen Schuhen. Er war schon seit fünf Jahren auf Klimsenhorn Egg, Sommer und Winter. Im Winter ist er ganz mutterseelenallein oben, und es vergehen manchmal Monate, ehe er einen Menschen zu sehen bekommt. Man versetze sich, ich bitte, einen Augenblick in diese Situation! Schnee und Eis und Eis und Schnee und starre Felsen einen Tag wie alle Tage, notabene, wenn es den dicken, trüben Nebelwolken gefällt, sich einmal zu verziehen, sonst vierundzwanzig, achtundvierzig Stunden, wochenlang Nacht, oder höchstens eine graue Dämmerung, die sich von der Nacht nicht viel unterscheidet. Wenn der Mann seine Winteraufgabe abgethan, das Holz für den Sommer nämlich gesägt und gespalten hat, ist er ohne alle Beschäftigung und mit dem Schlafen wolle es auch nicht immer gehen! Eine wunderliche Existenz! Pennsylvanisches System! Einzelhaft für zehn Silbergroschen pro Tag! Und dabei hat der arme Mensch eine Frau und drei Kinder irgendwo unten im Thal! Freilich, würde er sich, wenn er die nicht hätte, zum lebendig Begrabensein und monatelangen ausschließlichen Umgang mit Ehren Pilatus verdammen? Armer Xaver Bali! ich fürchte, der Berggeist dreht Dir doch noch einmal in so einer langen Winternacht zum Spaß den Hals um und die Leute sagen dann, Du habest Dich in einem Anfall von Trübsinn erhängt. Aber sei ruhig! sobald ich es erfahre, werde ich Dir eine »Ehrenrettung« schreiben, denn Du bist ein guter Mensch und selbst ein galanter Mensch, trotzdem Du Deinen tagelangen Aufenthalt in den Ziegen- und Kuhställen auf keine Weise verleugnen kannst.

Seine Galanterie bewies Xaver Bali durch die Freundlichkeit, mit welcher er auf dem Wege nach dem Tomlishorn an einer unangenehm steilen Stelle plötzlich Halt machte und meinem Gefährten (dessen Anzug ihm wahrscheinlich zum Bergsteigen nicht ganz passend erschien) den Arm bietend sagte: »Wollen's nicht a bißle einhänkle?« Mein muthiger Gefährte schlug Xaver's Anerbieten zuerst lächelnd ab und ließ sich endlich nur durch meine Bitte bewegen, abwechselnd die rechte oder die linke Hand, je nachdem der Abgrund auf dieser oder jener Seite gähnte, auf die Schulter des braven Burschen zu legen.

Der Weg nach dem Tomlishorn hat nämlich mehr als eine Stelle, die Jemandem, der an Lebensüberdruß leidet, eine merkwürdig bequeme Gelegenheit bietet, sich den Hals zu brechen. Ja, ich gestehe, daß ich, während wir so auf dem schmalen Pfade an der Felsenwand hingingen, mehr als einmal dem Nebel sehr dankbar war, der die Tiefe neben uns mit dichtem Schleier gnädig bedeckte, obgleich wiederum dieses Hineinsteigen in eine graue Ungewißheit etwas eigenthümlich Schauerliches hat. Dazu kommt, daß der Weg von dem Hôtel aus nach dem Tomlishorn erst im Angriff ist, und gerade da, wo man seiner am meisten bedürfte, plötzlich aufhört. Aber mit Xaver Bali's Hülfe überwanden wir alle Schwierigkeiten, gingen (immer im Nebel) über eine himmelhohe Alpmatte, kletterten wieder am Felsen hinauf und kamen aus dem Nebel heraus auf ein kahles Felsenhaupt und da waren wir denn auf dem Tomlishorn.

Und nun ward uns ein Schauspiel, das in dieser Großartigkeit wohl nicht allen Alpenreisenden zu Theil wird. Denn nicht allen möchte es begegnen, daß sie auf einer schroffen Klippe stehen, mitten in einem Wolkenmeer, das unermeßlich weit rings zu ihren Fußen liegt. Auf einmal fängt das graue Meer an zu wallen und zu wogen, hinüber und herüber, erst langsam, dann immer wilder, toller, und plötzlich zerreißt es hier und man sieht durch den Spalt in unermeßlicher Tiefe ein im Sonnenschein lachendes Thal mit puppengroßen Häusern und das Silberband eines Baches durch das wonnige Grün; und plötzlich zerreißt es da und wieder ein ähnliches Bild, und so geht das fort in immer bunterem Wirbel, bis, ohne daß man sagen könnte: »so geschah es«, das ganze unermeßliche Panorama der Alpenwelt in zauberhafter Schönheit vor uns ausgebreitet liegt. Es ist unbeschreiblich. Die Seele trinkt in vollen Zügen all diese Pracht und Herrlichkeit, bis sie schier trunken ist und man nicht weiß, ob man seinem Entzücken in Jauchzen oder Thränen Luft machen soll.

So standen wir lange, lange, im Schauen versunken und hörten nicht auf den guten Xaver, der uns die einzelnen Höhenpunkte nannte. Und was ist's denn auch am Ende, wenn man weiß, daß jene silberne Kuppe der große Eiger und jene andere die Jungfrau ist? Name ist eitel Rauch, umnebelnd Himmelsgluth. Ich will dort oben von Namen nichts wissen; will nicht wissen, daß die Menschen all diese Wunder nach Höhe und Breite gemessen und sorgfältig registrirt haben. Liegt die Welt doch da, wie sie nach der uralten, kindesfrommen Sage vor dem Schöpfer gelegen haben muß, als er am siebenten Tage ruhte von allen seinen Werken und herabsah auf die morgenfrische Erde und fand, daß »Alles sehr gut war.« Vergißt man doch auf dieser Höhe, so fern, so fern dem dumpfen Brodem der Erde, daß seit jenem Schöpfungsmorgen Manches anders geworden und bei weitem nicht Alles mehr »sehr gut« ist; vergißt man doch so gern, daß Liebe sterben und Freundschaft brechen mag, daß die Jugend verrauscht und daß noch viele Tage kommen werden, von denen wir sagen: »sie gefallen uns nicht!« vergißt so gern, daß in diesem selben Augenblick manch Auge thränenlos verzweifelnd vor sich hinstarrt; so gern, daß unter dem trügerischen Boden der modernen Gesellschaft mit all' ihren stolzen Errungenschaften und großartigen Hülfsmitteln die furchtbaren Schlünde ungelöster und auch wohl unlösbarer socialer Fragen klaffen, und daß wir die Kette, mit der jeder denkende und fühlende Mensch an die schwere Noth seiner Zeit geschmiedet ist, wohl verlängert, aber nicht zerrissen haben; daß diese Kette unsichtbar und doch unzertrennlich fest um diesen unsern Fuß geschlungen ist, der uns an jähen Schlünden vorbei, über Felsen hinweg, hinauftrug in diese ätherische Höhe. Ach, ja wohl, meine alte Wärterin hatte so Unrecht nicht, wenn sie auf mein kindisches: »Ich dachte« den grauen Kopf schüttelnd erwiderte: »Denken macht Kopfschmerzen.« In gewissen Stunden und in gewissen Situationen sollte man sich das Recht der Kinder wieder holen, das Recht: nicht denken zu brauchen, und zu diesen Situationen gehört wohl jedenfalls, wenn man an einem strahlenden Sommermorgen hoch oben im blauen Aether auf dem Tomlishorn steht.

*

Heute Nachmittag machten wir uns, wiederum in Begleitung Xaver Bali's, auf, um Alpnach noch bei guter Zeit zu erreichen. Der Weg führt über den »Esel«, die höchste Spitze des Pilatus, von dort steil bergab in einen Thalkessel, auf den drei der Hauptspitzen des Gebirges: Esel, Tomlishorn und Matthorn, herabsehen. Wohin das Auge blickt, nackter Fels und Steingeröll – eine öde, unwirthliche Wildniß, die schon am hellen, lichten Tage gespensterhaft aussieht und in einer Mondscheinnacht dem prosaischsten Auge Geistererscheinungen zeigen muß. – Dann geht's über wüstes Geröll weiter hinab; plötzlich tritt der Fuß auf Rasen, und da steht auch ein zwerghaftes, verkrüppeltes Ding von einer Tanne, und dann kommen bald mehr solcher Tannenkrüppel, je weiter sich der Weg herabsenkt, und dann machen die Krüppel, wiederum ganz plötzlich, sehr stattlichen, breitastigen Nadelholzbäumen Platz; wir sind aus der öden Region in die Waldregion gelangt. Hier verabschieden wir den wackeren Xaver, nachdem wir ihn so reichlich belohnt, daß seine hellen Augen vor Vergnügen blitzen; er geht, nachdem wir seine rauhe Faust herzlich geschüttelt, und klimmt wie eine Katze die Felsen hinauf; als wir uns nach zehn Minuten wieder umsehen, erscheint er unseren Augen in der That nicht größer als eine Katze.

Und nun sind wir allein und schlendern das reizendste Thal hinab, das meine Augen je gesehen haben; rechts und links ragende, tannenbekränzte Höhen und grüne Matten, von denen das Läuten der Heerdeglocken herabklingt, in der Tiefe rauschendes Bergwasser, in der Ferne vor uns der Blick niederwärts in ein unglaublich liebliches Thal voll unzähliger Dörfer und Häuschen, und jenseits des Thales grüne, schwellende Höhen, die zu braunen Felsen hinaufdrängen, über welche blendende Schneegipfel still und fern herüberblicken. Ich wollte, ich könnte die Bilder, die ich noch jetzt in jedem Moment sehe, sobald ich das Auge schließe, auf das Papier bannen!

So ging's bergab und immer bergab, ein, zwei, drei Stunden lang, zuletzt immer steiler und steiler, als ob der Weg nur für die Ziegen eingerichtet wäre, die wir unfern vom Orte auf dem Heimwege trafen. Endlich kamen wir doch in's Thal. Ein kleines, bildschönes, zwölfjähriges Mädchen bot sich uns als Führerin an und brachte uns zum »Schlüßli«, und da sitze ich denn nun und schreibe, schreibe, schreibe. Wir sind entschlossen, morgen unsere Reise zu Fuß fortzusetzen, also von keinem vorausbestellten Kutscher abhängig, und können schlafen, so lange wir wollen. Hoffentlich nicht zu lange. Der Weg von Alpnach nach Sarnen ist lang, und von Sarnen über den Brünig nach Meiringen ist es weit …

*

Meiringen, 4. Juli.

Wir hatten natürlich zu lange geschlafen; aber, als wir um 9 Uhr (oder war es 10?) aus dem Hause traten, lachte der Himmel so blau, die Sonne schien so lieblich herab, die Vögel in den Gärten sangen so lustig ihr Trileri! Wandern auf der Landstraße, die Reisetasche umgehängt, die Plaids zusammengerollt an dem Regenschirm auf der linken Schulter, in der rechten Hand den langen Pilatusstock mit der eisernen Spitze – das ist das wahre Reisen! Und dann die Romantik eines bescheidenen »Deschennöh« – wie uns unser in Genf »gebildetes« Wirthstöchterlein in die Rechnung geschrieben – an der Wegseite im kühlenden Schatten breitastiger Buchen, während Reisewagen mit schlafenden Engländern vorbeirollen, und lustige Gesellen, das Ränzel auf dem Rücken und den Stab in der Hand, singend vorüberziehen. Fallen einem da nicht alle die ähnlichen Situationen im Don Quixote, im Gil Blas, und wer weiß sonst wie vielen alten und neuen Romanen ein? Freilich, es ist mittlerweile ein wenig heiß geworden, aber man kann doch nicht ewig im kühlen Schatten an der Wegseite sitzen! Also weiter!

Und weiter zogen wir unsere Straße, die jetzt von Wagen und Wanderern völlig leer war, denn

»Der Morgen schwand; die Sonne stieg und stieg
Am blauen Himmel – jeder Strahl war Gluth.
Im Schatten barg der Bauer sein Gespann,
Die Vögel saßen in den Bäumen, still
Der Abendkühle harrend –«

Die Stunde des großen Pan! Es ist mitternächtig still rings umher; keinen Laut vernimmt das Ohr als das Schwirren der Cicaden in den Feldern und den Büschen. Kein Blättchen rührt sich, als ob die Gluth der Sonne Alles paralysirte. Die Luftschicht unmittelbar auf den Felsen an der Wegseite zittert, wie an einem heißen Ofen. Was auch die Hand berührt, ist von der Wärme getränkt; das Gesicht glüht, der Athem geht schwer; das Flimmern und Blitzen der Sonnenstrahlen auf dem spiegelglatten Wasser des Lungernsees blendet das Auge; das intensive Licht scheint aus jedem Gegenstande einen Spiegel zu machen. Von Schatten nicht die Spur, denn die Sonne steht so hoch, daß es ist, als ob sie von allen Seiten zugleich schiene. Ich habe auf allen meinen Uebungs- und Manövermärschen niemals mehr von der Hitze ausgestanden als auf dem Wege von Sarnen nach Lungern. Was hätte ich jetzt für einen Einspänner gegeben! nicht sowohl meinethalben, als meines lieben Genossen wegen, der diesen ersten Versuch, die Romantik in die Wirklichkeit zu übertragen, gleich so schwer büßen mußte, und dennoch Muth und Kraft genug behielt, um über das Ungemach, das wir in unseres Sinnes Thorheit uns selbst bereitet, heiter zu scherzen.

Mit welchem Entzücken traten wir endlich, endlich! aus dem Wüstenbrande in den kühlen Schatten der Oase des Gasthauses zu Lungern! Wie labten wir uns an den gebotenen Erfrischungen! und wie schnell schlossen wir mit dem Wirth den Handel um einen Einspänner, der uns von Lungern über den Brünig-Paß nach Meiringen führen sollte!

Der Weg über den Brünig ist prachtvoll. Die sehr gute, breite Straße steigt gleich hinter Lungern ziemlich steil hinan in einem herrlichen Tannen-Hochwald, bis man nach ungefähr anderthalb Stunden auf der Höhe des Passes anlangt; dann geht's, wiederum ziemlich steil, bergab, rechts die ragenden Felsen, von denen so manche jähe Ecke hat weggesprengt werden müssen, um der Straße Platz zu machen, links das schöne Haslithal, durch welches die Aare dem Brienzersee zuströmt. Als wir auf der Sohle des Thales ankamen, und auf der überdachten Holzbrücke den Fluß überschritten, war die Sonne schon hinter die braunen Felswände gesunken. Nach dem beängstigenden Fahren auf der steilen Bergstraße that es ordentlich wohl, endlich einmal glatt und leicht über eine ebene Chaussee wegzurollen. Unser kleiner zwölfjähriger Kutscher klatschte lustig mit der Peitsche, lustig trabte der starke Braune, lustig hüpften die Wasserfälle rechts und links von den Bergen in's Thal hinab, und so kamen wir nach Meiringen, herzlich müde zwar und angegriffen von unserer Mittagspromenade, aber doch vergnügt im Rückblick auf die überstandenen Leiden, die uns nun beinahe schon wie ein Traum erschienen und in Aussicht auf all' das Schöne, das uns der morgende Tag bringen würde.

Aber daß wir die Promenade von Sarnen nach Lungern nicht geträumt hatten, bewiesen uns heute unsere schmerzenden Füße zur Genüge. Wir mußten hier bleiben, und wahrlich, das Unglück, einen Tag in Meiringen zubringen zu müssen, ist so groß eben nicht. Es würde manchem gutem Menschen, der auf der öden Pappelallee seines Werkeltagstreibens schier verschmachtet, höchlichst willkommen sein. Wenn ich durch irgend einen Zufall in den Besitz des Zaubermantels komme, den Faust nicht für die köstlichsten Gewänder, ja für keinen Königsmantel hingeben will – ich bin überzeugt: ich würde mich noch manches Mal für ein paar Stunden nach Meiringen tragen lassen.

Wir haben, Halbinvaliden, wie wir sind, den Tag gut benutzt. Schon das Treiben in dem Gasthofe und in dem Orte zu beobachten, ist amüsant genug. Meiringen ist, als einer der Haupt-Touristenorte, die eigentliche Heimath der Führer. Man sieht diese Edlen zu Dutzenden vor den Thüren der Häuser, besonders der beiden großen Hôtels, herumlungern. Man kann auf der Straße nicht drei Schritte thun, ohne von einem dieser Gentlemen mit: Morning, Sir! oder: Good evening, Sir! begrüßt zu werden, woran sich denn in gutem Schweizerisch das Anerbieten knüpft: uns nach den Reichenbachfällen, nach der Grimsel, nach dem Rosenlauigletscher, nach allen näheren oder ferneren und den entferntesten Punkten des Landes zu geleiten. Ueberall ist das Angebot viel größer, als die Nachfrage, besonders wenn, wie in diesem Sommer, der Fremdenverkehr ungewöhnlich schwach ist.

Ueber diesen Mangel an Fremden hören wir überall, wohin wir noch gekommen sind, von den Gasthofsbesitzern gewaltig klagen; auch hier in Meiringen, obgleich kaum eine Stunde vergeht, ohne daß nicht eine kleine Cavalcade oder ein kleiner Trupp Fußwanderer anlangt oder weiter zieht; an der Table d'hôte gestern Abend und heute Mittag waren vier oder fünf verschiedene Nationen vertreten. Besonders viele Holländer sind uns überall begegnet. Ich kann mir denken, daß für sie das Reisen in der Schweiz ganz vorzüglich ergötzlich ist, wenn sie, was ich voraussetze, sinnige Gemüther sind und den Contrast eines gemächlich durch fette Wiesen hindämmernden Kanals mit einem Wasserfall, der schäumend und zischend lothrecht von einer nackten Felswand herabschießt, zu empfinden vermögen.

An dergleichen Fällen ist das Haslithal überreich. Gleich neben dem Dorfe sind drei nebeneinander, von denen immer einer schöner ist, wie der andere. An der Stelle, wo der schönste, der Alpbach, in einem kühnen Sturz von vierzig bis fünfzig Fuß das braune Gestein herniederdonnert, haben wir heute Vormittag stundenlang gesessen. Es liegt für uns in der wilden Schönheit des Schauspiels ein unwiderstehlicher Reiz. Wer das in Worten malen könnte! Goethe, der unübertroffene Meister der Naturschilderung, hat ein paar Verse im Faust, die es besser thun, als Alles, was ich sonst gehört und gelesen habe, und die ich mir immer wiederholen muß. Faust sagt in einem Gespräch mit Mephisto:

Bin ich der Flüchtling nicht, der Unbehauste?
Der Unmensch ohne Zweck und Ruh'?
Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste,
Begierig wüthend nach dem Abgrund zu
?

Das ist es! Nichts anderes! Jede Periphrase würde die unnachahmliche Schönheit und Wahrheit des Ausdrucks nur zerstören. Und wenn sämmtliche vierzig Bände Goethe's sammt den Supplementbänden verloren gingen und diese wenigen Verse allein erhalten blieben, so würden die alexandrinischen Gelehrten des Xten Jahrtausends nach Christi Geburt noch immer sagen müssen: Der Mann war ein Dichter! Denn was kann der Dichter der Natur gegenüber Anderes thun, als daß er der Empfindung, welche ihre Betrachtung in einer harmonischen Seele hervorruft, den vollendeten Ausdruck giebt!

Der wilde Alpbach wird sich übrigens, wenn er, was nach ein paar hundert Schritten geschieht, in die Aare kommt, gerade nicht über Langsamkeit der Bewegung zu beklagen haben. Es ist ein ungestümes Ding, diese Aare, die das ganze Haslithal durchströmt. Sie kann ihre Abstammung von der wilden Familie der Alpbäche in keiner Weise verleugnen. Es ist eine Lust, auf der Brücke zu stehen, die oberhalb Meiringens hinüberführt, und, auf das Geländer gelehnt, das Treibholz, mit dem sie bedeckt war, herankommen und vorüberschießen zu sehen. Die schweren Kloben tanzen so leicht wie Schaumblasen auf den weißlichen Wellen und die Schnelligkeit der Bewegung und das Auf- und Niedertauchen lassen sie wie lebendige Wesen erscheinen. Während der paar Minuten, die wir auf der Brücke standen, trieb mehr Holz vorüber, als ein well regulated Haushalt in einem norddeutschen Winter konsumiren würde.

Heute Nachmittag habe ich von dem Balcon des Gasthauses aus, in die Wette mit einer blondhaarigen englischen Miß, die Engelhörner zu zeichnen gesucht. » Wonderful!« sagte das hübsche Mädchen einmal über das andere leise vor sich hin. Ob sie damit ihre Zeichnung oder die Berge meinte, weiß ich nicht. Sollte das Letztere der Fall gewesen sein, so stimme ich ihr vollkommen bei. Die Engelhörner sind in der That wonderful. Die kühnen Linien, mit denen sie oben gegen den Horizont abschneiden, sind überaus schön, und dabei erscheint der höchste Grat so scharf und schmal, wie eine Messerschneide. Weshalb diese himmelhohen Zacken Engelhörner heißen? Vielleicht weil die Leute gemeint haben, daß die Engel dort oben so eine Art von Absteigequartier haben möchten, da die Menschen von unten doch sicherlich nicht hinauf könnten. Dem ist aber nicht so. Unser junger rüstiger Wirth ist schon mehr als einmal oben gewesen, um Gemsen zu schießen, und, obgleich ich mich auf Engel wenig verstehe, so glaube ich doch behaupten zu dürfen, daß der junge Mann ein ganz gewöhnliches Menschenkind ist.

*

Interlaken, 8. Juli.

Unsere Reise ist zu Ende! Wir stehen noch mitten in der Schweiz und doch ist sie zu Ende! Wir werden morgen, ohne uns aufzuhalten, über Thun, Bern und Basel an den Rhein eilen. Wir hätten freilich noch ein paar Tage für die Schweiz übrig, aber ich mag nichts mehr sehen. Seitdem ich der Jungfrau gegenübergestanden, erscheint mir das andere Alles klein und unbedeutend, und ich eile, ohne nach rechts und links zu blicken, davon, wie ein Liebender, der aus der Umarmung der Geliebten kommt, sich in die Wagenecke wirft und für die nächsten Stationen mit seinen starren Augen und seiner gerunzelten Stirn den Mitreisenden den Eindruck eines Menschen macht, der an furchtbaren Zahnschmerzen leidet.

Unsere Reise ist zu Ende – vielleicht zur rechten Zeit; vielleicht, daß, wenn ich länger hier wäre, mir die Schweiz so alltäglich würde, wie – sehr Vieles auf der Welt. Und das wäre doch Jammer und Schade! Nein, es ist besser so; zehntausendmal besser dies Gefühl der Sehnsucht nach dem verlorenen Schönen, dieses Heimweh nach der versunkenen Herrlichkeit, als das öde, dumpfe Bewußtsein, etwas unwiderruflich abgethan zu haben, wie einen modernen Roman, den man einmal gelesen hat, um ihn nie, und wenn man hundert Jahre alt würde, wieder in die Hand zu nehmen. Es ist besser so! Jetzt weiß ich doch eine Stelle auf dieser platten Erde, wohin ich mich auf dem Faustmantel der Erinnerung tragen lassen kann, wenn das Einerlei des Alltagslebens gar zu bleiern auf meiner Seele liegt. Es ist kein Campanerthal, kein liebliches Idyll von sanfter, schmelzender Schönheit, sondern ein Stück Gebirgsnatur von tiefer, beinahe erschütternder Schwermuth.

Der Nachklang dieser Stimmung stillt noch meine ganze Seele, und dennoch möchte ich nichts als Narrenspossen schreiben, z. B. meine Kämpfe mit den Wespen, die mein Pferd auffressen wollten, und wie wacker ich meinen Pilatusstock bei der Gelegenheit schwang; oder wie die neuvermählte junge Sachsin, die mit ihrem Gemahl, einem Kaufmann aus Ch…, sich uns angeschlossen hatte, in der Grotte des Oberen Grindelwald-Gletschers einmal über das andere die fetten weißen Händchen zusammenschlug und ausrief: »Ach, wie ist das scheen! das ist das Scheenste, was ich auf der ganzen Reise gesehen habe!«

Wir trafen das edle Paar hinter Rosenlaui auf dem Wege nach der Großen Scheidegg. Da sie beritten waren, wie wir, und in durchaus demselben Tempo dieselbe Straße zogen, blieb uns zuletzt nichts übrig, als mit ihnen Kameradschaft zu machen, bis wir am zweiten Tage eine Gelegenheit, uns von ihnen zu trennen, freudig ergriffen. Und doch hatten die Leutchen uns so viel Stoff zur Heiterkeit gegeben! Der junge Gatte war ein Mann, der die Höhelinie des Lebens bereits überschritten und mehr graue Haare hatte, als ihm lieb sein mochte. Um so stolzer war er auf seine kaum achtzehnjährige stattliche und auf größere Distanzen, wo man die totale Geistlosigkeit ihrer Züge nicht bemerkte, beinahe schöne Frau. Ihn auf seinem alten steifen Schimmel mit dieser hohen Selbstzufriedenheit sitzen zu sehen, war schon ein Schauspiel. Offenbar dachte er von meiner Reitkunst sehr gering, weil ich meinem Pferdchen zu seinem und meinem Vortheil die Zügel auf den Hals legte und es klettern ließ, wo und wie es wollte; und doch hatte er sicher vorher noch nie im Sattel gesessen und konnte sich nicht genug über die abscheulichen Fliegen wundern, »die er in seinem Leben nicht gesehen«, und die nichts anderes als die gewöhnlichen Pferdefliegen waren, die jeder Junge kennt, der einmal in einen Stall geblickt hat. Die junge Frau unterhielt meinen Gefährten (zu dessen unglaublicher Erbauung und Genugthuung) von ihrer vorzüglichen Garderobe und kam besonders oft auf einen gewissen Koffer zu sprechen, den sie unter anderen in Interlaken vorzufinden erwarte und an dessen Inhalt ihre Seele ganz zu hängen schien. Während des Tages, daß wir gezwungen waren, mit dem trefflichen Paar zu reisen, summte mir immer der Rhythmus eines Schiller'schen Verses vor den Ohren, ohne daß ich auf die Worte hätte kommen können. Plötzlich, als ich schon im Bette lag und das Licht ausgelöscht hatte, fielen sie mir ein:

Ohne Wahl vertheilt die Gaben,
Ohne Billigkeit das Glück.

Freilich, freilich! es wandelt der Mensch nicht ungestraft unter Palmen, und die Genies waren gerade nicht die glücklichsten, denen der Zufall auch das Füllhorn der äußern Glücksgüter in die Wiege schüttete. Wir kamen gestern an einer Stelle vorüber, die ein Memento für diese Wahrheit ist; das Haus am Fuße der Jungfrau, in welchem Byron seinen »Manfred« schrieb.

Den Moment, wo wir die Jungfrau zuerst erblickten, werde ich nie vergessen.

Es war am zweiten Tage, seitdem wir Meiringen verlassen hatten. Wir waren zur Nacht in Grindelwald gewesen, am Morgen dann bei Zeiten aufgebrochen. Schon um acht Uhr war es glühend heiß; dazu die Straße, die steinernen, treppenartigen Wege in den Dörfern und die steilen Pfade durch waldiges Revier abscheulich. Endlich kamen wir auf den Rücken des Gebirgssattels, des zweiten der beiden Sättel, welche sich durch das Thal zwischen der Jungfrau- und der Faulhornkette hinziehen, und die beiden Scheideggs genannt werden. Der Weg führte über öde Haiden und Felsen langsam bergan. Links neben uns dieselbe Kette, die uns nun schon seit dem Morgen des ersten Tages begleitete: das Wetterhorn, das Schreckhorn, der Wellenberg, der Eiger und der Mönch; wahre Ungeheuer von Bergen, die uns ihre breiten lothrecht aufgebauten Felsenseiten zukehren, an denen der Blick, weil er das Ungeheure nicht fassen kann, rathlos umherirrt. Ueber den schneebedeckten Häuptern brütet das blaue Firmament. Es ist unglaublich still in dieser Gebirgsöde. Von Zeit zu Zeit trifft das Ohr ein dumpfer, donnerähnlicher Laut, der anschwillt, abnimmt, wieder anschwillt, um zuletzt wieder in dem anfänglichen Schweigen zu verhallen. Man weiß, daß es eine Lawine ist. Der Blick irrt abermals an den Felswänden hin und bemerkt zuletzt einen schmalen weißlichen Streifen, der von einer schneebedeckten Stufe über eine braune Wand herabschießt auf ein breiteres Schneefeld, das von mehreren sich zusammendrängenden Ecken und Zacken getragen wird. Dieser weißliche Streifen ist die Lawine. Das Phänomen scheint seinem Anblick nach mit der Wirkung, die es auf das Ohr hat, in keinem Verhältniß zu stehen, bis man bedenkt, daß das, was man dort als einen Silberfaden sieht, vielleicht viele tausend Centner Schnee und Eis sind, die Hunderte von Fußen hinabstürzen.

Und immer noch steigt der Weg langsam bergan. Plötzlich wächst über die Höhe des Kammes eine Schneepyramide von so wunderbar schönen Formen und so blendender Weiße hinein in den tiefblauen Morgenhimmel, daß man zuerst seinen Augen nicht traut, und dann, wenn man sich überzeugt hat, daß dies keine Fata Morgana der Alpen, sondern wahrhaftige Wirklichkeit ist, in einen Schrei des Entzückens ausbricht. Diese blendende Pyramide ist die Jungfrau. Und mit jedem Schritte, den die geduldigen Pferde auf dem rauhen Pfade bergauf klimmen, wächst die Pyramide höher und höher hinauf, immer höher, bis zuletzt, sobald man oben anlangt, auch die untere Hälfte, die bis dahin durch den Querriegel verdeckt war, hervorkommt und nun die Riesin mit ihrem blendenden Schneegewande leibhaftig vor unsern trunkenen Augen steht.

Dieser Punkt, das Gasthaus auf der kleinen Scheidegg, von wo man nach rechts und links, die ganze Kette der Riesenberge des Berner Oberlandes, von den Engelhörnern, deren Fuß im Haslithal steht, bis zum Silberhorn, das in's Lauterbrunnenthal hinabblickt, auf einmal überschaut, ist großartiger als Alles, was die Phantasie erdichten kann. Man wird still, ganz still; mein lieber Gefährte sagte mir nachher, daß ihn die Aufregung, in die ihn der ungeheure Anblick versetzt, wie mit Fieberschauern geschüttelt habe. Meiner bemächtigte sich, je länger wir auf der Scheidegg waren und je tiefer sich das gewaltige Bild in meine Seele prägte, eine tiefe Melancholie, über deren Ursache ich selbst jetzt noch nicht ganz klar bin. Es war gewiß einmal der Schmerz des Abschiedes von einer Natur, deren Schönheit und Erhabenheit mich in tiefster Seele gerührt hatte und die ich nun in langer Zeit nicht, wer weiß, ob überhaupt jemals, wiedersehen sollte. Es geschah bereits im folgenden Jahr. Anmerk. d. Verf. Dann aber war es auch vielleicht noch etwas Anderes. Vielleicht eine Ahnung dessen, was der Mensch sein könnte und müßte und was er in Wahrheit ist; vielleicht ein sehnsüchtiger Traum von einer übermenschlichen Existenz, in welcher die Psyche mit den Geistern der Höhe und den Dämonen der Tiefe auf Du und Du verkehrt.

Ich schreibe das so hin auf's Gerathewohl, damit ich es später schwarz auf weiß habe, daß der Traum am Fuße der Jungfrau nicht ein Traum im Traume war.

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