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Mitten auf dem alten Nordgau steht ein ansehnlicher Berg, dessen langgestreckter, breiter Rücken sich vom Morgen gegen den Abend hinzieht.
Auf der höchsten Stelle des Bergrückens erhebt sich aus einem Hain von Eichen, Linden und Nadelbäumen eine große Kirche mit massigem Turm, und daneben steht ein kleines Mönchkloster mit freundlichen, weinumrankten Fenstern. Diese Kirche birgt ein hochverehrtes Wallfahrtsziel des Nordgaus, ein Bild der Jungfrau Maria.
Ich kam mit dem Vater auf der Heimreise von der Mark an diesen Berg, den sie den »heiligen« nennen, stieg aus der Stadt, die sich an seiner Südseite im Thale ausbreitet, über die vielen hundert steinernen Stufen zu seiner Höhe empor, besah mir die goldstrahlenden Altäre und Säulen, die gewaltigen Deckengemälde aus der Jesuitenzeit, die geschnitzten Beichtstühle in den Nischen 170 und las den Spruch, der mit großen Buchstaben über dem Bilde der Jungfrau steht:
Virgo venit, fugiunt morbi pestesque recedunt.
Ich hatte auch, da der Tag ein Festtag und das Wetter sehr schön war, gute Gelegenheit, viele andächtige und viele gleichgültige Gesichter zu sehen.
Alle habe ich sie vergessen, die bunten Gestalten, die sich an jenem sonnigen Vormittag unter den Eichen und Linden und in der Kirche drängten, diese um zu beten, jene um zu sehen, andere, damit man sie sehen möge – alle, nur an den jungen Soldaten denke ich heute noch manchmal, der unter den Strahlen der Sonne, mitten in dem Strome der Menge auf seinen Knieen über die hundert und hundert Steinstufen heraufgerutscht war und nun mit beschmutzter Uniform, mit Löchern in den Beinkleidern, mit heißem Körper, mit bleichem Antlitz zitternd auf den kühlen Platten vor dem Bilde Marias lag. Ich weiß nicht, um was er die Mutter des Herrn angefleht hat, aber es ist wohl ein großes Anliegen der Seele gewesen, das den Körper in den Staub der hundert Treppen drückte. Und immer wieder habe ich an ihn denken müssen, als wir von dem Berge niederstiegen und durch die Wälder gingen, die sich von seinem Scheitel herab viele Meilen gegen Nordosten hinziehen und Thäler und Berge mit dunkelgrünen Gewändern umhüllen.
Desselbigen Tages, als sich die Sonne schon stark zum Niedergange neigte, lichtete sich der große Wald, die 171 Hochebene, über die wir seit einigen Stunden gegangen waren, senkte sich vor unsern Füßen in einem Abhang gegen ein breites Thal, zur Rechten, ganz außen am Rande des Abhangs, erhob sich eine graue Burg mit hohem, steilem Ziegeldache, weit drüben im Thale, über dem Fluß, blitzte im Sonnenschein die Fläche eines großen Weihers, mächtige italienische Pappeln spiegelten sich vornehm und langweilig in dem silbernen Schilde, und zwischen ihnen lugte ein Herrenhaus mit weißen Mauern, grünen Fensterläden, so ein richtiges Herrenhaus, zu uns herauf.
Wir standen und schauten.
Dort waren einst nachgeborene Kinder der Herren vom Walde gesessen, aber das Unglück hatte sie unlängst von ihrem Sitze vertrieben.
Wir schritten hinunter ins Thal.
Wenn ich mir von Zeit zu Zeit das Schloß in der Mark und seine alte, vornehme Herrin ins Gedächtnis zurückrufe, dann muß ich immer zugleich auch an eine andere alte Frau denken, und die habe ich an jenem Nachmittage kennen gelernt.
Diese alte Frau wohnte in keinem Schlosse, sondern nur in dem armseligen Dorfe, das nahe der alten Burg, über dem Flusse drunten im Thale lag. Aber auch sie trug den Namen meines Geschlechts, in das sie einst geheiratet hatte, und vor diesen Namen konnte sie auch noch den Adelstitel der Herren vom Walde schreiben – doch ich glaube, sie hat es damals nicht mehr gethan; denn sie war sehr arm.
Ja, einst hatte sie gute, glänzende Zeiten gesehen. Da wohnte sie in dem schönen Herrenhause drüben unter den Pappeln, war geliebt von ihrem Gatten, nannte gesunde Kinder ihr eigen und war jung. Dann war das Unglück über sie hereingebrochen – (verwunderlich viel Unglück sehe ich in meinem Geschlechte!) – ihr Gatte starb, ihre Kinder starben bis auf einen Sohn, sie wurde arm und war auf einmal alt.
Mit den letzten Groschen siedelte die unberatene, verlassene Frau in das nahe Dorf hinüber, gab ihren Sohn zum Schlosser in die Lehre und erzog ihn in der Stille.
Das alles hatten wir da und dort auf unserer Fahrt gehört und wollten nun an jenem Nachmittag auch diese Vergessenen unseres Geschlechts besuchen.
Wir gingen über die breite Holzbrücke und betraten die Dorfgasse.
Im Dorf war es ganz stille; alle Leute arbeiteten draußen auf dem Felde. Der kleine, spitze Kirchturm ragte mit seinem goldenen Hahn gegen den tiefblauen Himmel empor, sein grausilbernes Schindeldach glänzte im Lichte der Sonne, leise murmelte der Röhrenbrunnen auf dem Platze unter der Linde.
Vor einem Hause saß auf der Holzbank ein alter Mann mit schneeweißen Haaren in der Herbstsonne. Der 173 stützte Hände und Kinn auf einen Stock, hüstelte von Zeit zu Zeit und zitterte vor Kälte in der warmen Luft.
Wir fragten ihn nach der alten Frau, und er wies uns das Haus, in dem sie wohnte.
Es war ein verwahrlostes Haus mit hoher Giebelwand, unten aus Stein, oben aus Holz gebaut und mit Schindeln gedeckt. Der Kalkverputz des Erdgeschosses und des obern Stockwerks war im Laufe der Zeit schmutzig und grau geworden. Aber die kleinen Fenster im obern Stockwerk waren freundlich mit roten Geranien geschmückt. In den entlegensten Dörfern des Nordgaus, in seinen ärmsten Hütten habe ich diese Blume gefunden.
Wir traten in den gepflasterten Flur. Das ganze Haus schien ausgestorben zu sein. Wir stiegen eine dunkle Treppe empor, sie ächzte unter unsern Tritten. Droben standen wir in einem geräumigen Vorplatz, in dem bemalte Truhen und Kasten waren. Wir sahen eine Thüre. Der Vater klopfte. Es erfolgte keine Antwort; da probierte der Vater die Klinke. Die Thüre war verschlossen.
Als wir warteten, ob sich denn gar niemand zeigen wollte, hörten wir von fernher das leise Gemurmel einer Stimme. Wir lauschten. Abseits stand im Dunkeln eine Holzthüre offen; hinter ihr führte eine ganz enge Treppe nach oben in den Speicher, und von dorther kam das Gemurmel.
Der Vater rief, aber es wurde uns keine Antwort. 174 Nur das Murmeln tönte leise durch das totenstille Haus, und hinter der verschlossenen Thüre tickte laut und vernehmlich eine Uhr.
Da sagte der Vater: »Sie wohnt wohl dort oben.« Und langsam und vorsichtig begann er die Treppe empor zu klimmen. Ich folgte ihm auf dem Fuße.
Wir kamen auf einen großen, leeren Speicher. Da roch es nach den staubigen und ausgedörrten, alten Balken, und die Luft war drückend heiß. Das Gemurmel hörten wir viel deutlicher als vordem.
Es war ganz dunkel unter dem schweren Gebälke, aber schrägher fiel aus einer unsichtbaren Quelle ein Lichtstrahl durch die Schatten, und der Staub tanzte in seiner glänzenden Straße.
Wir gingen um den breiten Kamin, der uns die Lichtquelle verdeckte, und sahen ein Bild!
Wo die Giebelwand des alten Hauses auf die Dorfgasse hinausging, stand eine Thüre offen und ließ das Licht hereinströmen.
Weithin lag die schöne Landschaft da im Scheine der Abendsonne: unter uns die niedrigen, grauen Strohdächer des Dorfes, zur Linken der flache Hügel mit der Burg und ihren erblindeten Fensterscheiben, zur Rechten der breite Einschnitt, durch den wir herabgestiegen, dann mit ihren Wäldern die Hochebene, über die wir herzugekommen waren; und ganz hinten, dort wo Himmel und Erde zusammenstießen und der glühende Ball der 175 Sonne in eine rosenrote Herde flaumiger Lämmerwolken niedertauchte, hob sich blau und klar und klein der Rücken des heiligen Berges und die Kirche der Jungfrau Maria mit ihrem festen Turm empor in das flammende Goldrot des Abends.
Hart an der Thüre kniete eine alte Frau mit gescheitelten, weißen Haaren; die betete, trug das Haupt aber nicht gesenkt, sondern hoch erhoben und schien weithin über die Dächer und Wälder in die blaue Ferne zu sehen. Wir standen und hielten den Atem an. Sie murmelte und betete und schluchzte, und ihre Gestalt bebte, aber den Kopf hielt sie immer hoch, und von Zeit zu Zeit lösten sich aus dem Strom ihres murmelnden Flehens die leisen Schreie: »Maria hilf! Hilf Muttergottes! Maria hilf!«
So lag sie da, bemerkte uns nicht und betete wie eine, die in großer Not ist. Mich beschlich ein Gefühl der Beschämung; denn wir sahen da etwas, wozu der keusche Mensch die Einsamkeit aufsucht. Und dennoch konnte ich den Blick nicht von der betenden Frau abwenden, in deren weißen Haaren ein Strahl vom goldenen Abendhimmel spielte. Ich wußte nicht, was für ein schweres Leid ihr die Kniee gebeugt hatte – aber vor meine Seele drängte sich ein altes Wort. Das hieß nicht »Virgo venit, fugiunt morbi pestesque recedunt« – sondern:
»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von 176 welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.«
Leise wollte der Vater hinter den Kamin zurücktreten, da knarrte ein loses Brett. Jäh fuhr die alte Frau zusammen, erhob sich langsam, strich ihr Kleid zurecht und wandte sich zu uns. Sie stand im Schatten, aber wir sahen es, sie hatte große Augen in einem schmalen, weißen Antlitz.
Es war schwierig, gerade jetzt die rechten Worte zu finden. Doch der Vater fand sie auch in diesem Augenblick; nach kurzer Zeit saßen wir drunten in der dämmerigen Stube und fragten die Greisin, ob sie etwas wüßte von der Vergangenheit des Geschlechts oder gar von der alten Urkunde.
Aber nur langsam floßen Rede und Antwort. Vor unseren Seelen stand immer noch das Bild von droben, und immer hörten wir noch das flehende, ringende, schmerzvolle »Maria hilf!«; das war kein Abendgebet, es war ein Angstgebet gewesen! Und die Frau redete jetzt leise und gedrückt.
Wir sprachen weiter. Der Vater fragte, sie antwortete. Sie erzählte von ihrem Unglück, von ihren Kämpfen.
»Nicht wahr, Sie haben auch einen Sohn?« warf der Vater ein.
Da stand die alte Frau von ihrem Stuhle auf, faltete ihre Hände, sah aus ihren großen, dunklen Augen 177 zu uns herüber und rief mit zuckenden Lippen: »Barmherzige Mutter Gottes! Sagen Sie mir's gleich, was Sie mir sagen müssen.« Sie hielt sich am Rande des Tisches. »Er ist tot. Sagen Sie's, machen Sie's kurz!«
»Was ist Ihnen, liebe Frau?« fragte der Vater, der sich auch erhoben hatte. »Ich kenne ja Ihren Sohn gar nicht, ich weiß ja gar nichts von ihm.«
»Sagen Sie's um der Jungfrau willen«, flehte die Greisin. »Sind Sie Gerichtsherren?«
»Bei allem, was mir heilig ist, wir sind das, was ich Ihnen gesagt habe, und wissen nicht, was Sie meinen«, erwiderte der Vater mit großem Ernst.
Da ließ sich die alte Frau in den Sessel sinken, und strömende Thränen brachen aus ihren Augen. Immer tiefer wurden die Schatten im Zimmer, und ruhig tickte die Uhr an der Wand.
»Heute früh habe ich einen entsetzlichen Brief bekommen«, sagte sie, zog aus der Tasche ein zerknittertes Papier und reichte es dem Vater hinüber. »Helfen Sie mir, ich bin hier ganz verlassen.«
Wir traten ans Fenster und lasen die Worte, die von einer schweren Faust auf graues Papier gekritzelt waren:
»Wir benachrichtigen Dich, Alte, daß Dein Sohn von uns erschlagen worden ist. Wir haben ihn auch heimlich verscharrt, wo Du den adeligen 178 Herrn Baron nimmer findest. Der Hungerleider, wo den Handwerkstand schadet. Du weißt warum.
† † †«
Der Vater faltete den Zettel ruhig zusammen und sagte:
»Da seien Sie ohne Sorge. Das ist nichts als ein Bubenstreich. Ihr Sohn lebt, und ich bleibe bei Ihnen, bis er da ist.«
Seine überzeugende Gelassenheit machte auf die gebrochene Gestalt vor uns einen sichtlichen Eindruck. So atmet das fieberkranke Kind ruhiger, wenn sich eine feste Hand sanft und liebend auf die glühende Stirne legt.
»Er ist mein Einziges auf dieser bösen Erde«, sagte leise die Frau. »Und wenn er nicht mehr wäre, dann möchte ich gleich sterben. Er muß ja oft in seinen Geschäften über Land, und ich habe auch keine Sorge, wenn er länger ausbleibt. Ich weiß zwar, daß ihn viele hassen. Er ist eben anders als sie.«
»Ist Ihr Sohn diesmal schon länger fort?« fragte der Vater.
»Erst seit gestern.«
»Nun, sehen Sie!« tröstete der Vater und nahm die Hände der Greisin ruhig in die seinigen. – So schnell bringen Not und Mitleid uns Menschen einander nahe!
»Aber heute früh ist ja der Brief gekommen«, klagte die Mutter. Dann lauschte sie, sprang plötzlich auf gleich einem Mädchen, eilte ans Fenster, riß einen Flügel auf, 179 beugte sich weit hinaus über die Blumen. Wir hielten den Atem zurück, und die Wanduhr tickte.
Langsam schloß sie das Fenster, ging an die Kommode, zündete eine kleine Lampe an und stellte sie vor uns auf den Tisch.
»Er ist so gut«, fuhr sie fort, »er thut mir alles, und niemals murrt er über sein kümmerliches Leben. Er ist Geselle drüben beim Schlosser und ernährt auch mich. Jetzt ist er daran, sich selbständig zu machen, aber er hat vieles zu überwinden. Heute habe ich den ganzen Tag um ihn Angst gehabt und den ganzen Tag gebetet.«
Langsam ließ sie sich auf den Stuhl nieder, kreuzte die Arme über der Brust und sah zur Decke empor in den Lichtkreis der Lampe. Ihre Züge waren schlaff und müde.
»Die Luft war so klar, und ich habe ihren heiligen Berg den ganzen Tag gesehen. Ich habe ihr dort oben schon so viel gesagt; denn da hört sie mich besser als unten. Dort bete ich am liebsten zu ihr, wenn auch die Wolken vor ihrem Berg liegen. Ich habe ihr heute alles gesagt. Aber« – und sie blickte auf uns – »als Sie vorhin zu mir traten, da war mir's, als brächten Sie mir seinen Tod, als hätte ich heute vergeblich zu ihr gebetet und ihr die Kerze vergeblich versprochen. – Und da habe ich mich versündigt.«
Wir saßen und wußten nichts zu sagen.
180 Auf der Treppe tönten Schritte. Wir standen auf und stellten uns in den Hintergrund. Dreimal versuchte die Greisin sich zu erheben, aber ihre Kniee gehorchten dem Willen nicht.
Jetzt ging die Thüre auf, mit zitternden Händen nahm sie den Schirm von der Lampe, und das volle Licht fiel auf ihren Sohn.
Liebe, du hundertblätterige Blume aus der andern Welt, mit deinem viel mißbrauchten Namen! Liebe, die wir mit unsern harten Herzen niemals ganz erfassen und begreifen und üben können, sondern immer nur stückweise, blattweise!
Unbewußt bist du, wenn das Kind jubelnd die Ärmchen um den Hals der Mutter schlingt, glutrot bist du, wenn das junge Weib ihr Haupt an der Brust des Gatten birgt und ihr Leben mit dem seinen verbindet, selbstlos bist du, wenn der Mann freudig sein Blut für das Land der Väter verspritzt, heilig bist du, wenn der Samariter sich in Mitleid herabneigt. Wäre ich aber ein großer Bildhauer, und es sagte mir ein Gewalthaber dieser Erde: »Stelle der Liebe ein Standbild, daß man es weithin sieht in meinen Ländern!« – ich nähme den Marmor und gäbe ihm durch meine Kunst die arme, kümmerliche Gestalt, das faltige Antlitz und die großen Augen jener alten Mutter, wie sie mit ausgebreiteten Armen, mit schwankenden Schritten dem erstaunten Sohn entgegenging und unverständliche, thörichte Worte lallte; 181 und wäre ich in der That der große Bildhauer, so müßte jeder sagen: »Das ist die unbewußte, die glühende, die selbstlose, die heilige – – die Mutterliebe!«
* * *
Zweierlei hat sich mir dann noch an jenem Abend besonders fest ins Gedächtnis gedrückt: das Antlitz, die ganze Gestalt dieses jungen Handwerkers und ein großer, alter Stammbaum.
Vor anderthalb Jahrhunderten hatte sich unser Zweig und der Zweig der Herren vom Walde, aus dem auch dieser Kerdern stammte, in jenem fränkischen Pfarrhaus getrennt, unabhängig von ihrem Blute hatte sich das unsere fortgepflanzt, niemals mehr war es zu einer Vermischung zwischen ihnen und uns gekommen. Ich besitze nun einen nahen Verwandten – er gehört der Generation meines Vaters an – einen Verwandten, den ich besonders verehre. Oft jedoch hatte ich mir im stillen gedacht: der sieht doch gar nicht ins Kerderngeschlecht, weder seiner gedrungenen, kurzen Gestalt noch vor allem seinem Angesicht nach. Als aber damals der Sohn der alten Frau in die Stube kam und der volle Schein der Lampe auf seine offenen, angenehmen Züge fiel, da glaubte ich, jener Verwandte stünde leibhaftig unter der Thüre.
Ähnliches war mir kurz vorher in der Mark begegnet; ich hatte es damals nur nicht so sehr beachtet. 182 Aber jetzt fiel es mir sofort ein: Als dort die greise Herrin des Schlosses auf uns zutrat, da war mir's, als stünde eines meiner liebsten Bäschen, die lebhafte Tochter meines Vatersbruders, in voller Größe vor mir – verwandelt in eine schöne, alte Frau.
Es sind dies seltsame Thatsachen. Stücke eines mächtigen, unerkannten Naturgesetzes möchte ich sie nennen. Belege für das Dasein dieses Gesetzes würden aber wohl in jedem Geschlechte zu finden sein, das von alten Zeiten herab stolz nach einer guten, eigenen Art gelebt hat. Denn in deinem Antlitz spiegelt sich nicht nur dein eigenes Leben, sondern auch das Leben deiner Väter aus grauer Vergangenheit her.
Kennen wir die geheimnisvolle Kraft des Blutes, das in ununterbrochenen Strömen von unbekannten Vorvätern herab in unsere Adern geflossen ist, von uns zu unbekannten Geschlechtern hinabrinnt und in ewiger Wiedergeburt das Neue aus dem Alten hervorbringt?
Es spielt ein Knabe unter den Augen seiner Eltern; er spielt und wächst, und seine Formen treten hervor. Er gleicht nicht seinem Vater, nicht seiner Mutter, er ist anders als alle seine Geschwister, man sagt: er sieht nicht in die Familie. Die Eltern behüten diesen Knaben, wie man sein Bestes behütet. Er wächst weiter, und aus den fremden Zügen spricht allmählich eine so fremde und rätselhafte Seele, daß alle mit schweren Sorgen erfüllt werden. »Er schlägt ganz aus der Art,« klagt oft der 183 Vater. Da treten mit der Zeit seine Formen noch mehr hervor – droben aber an der Wand hängt ein dunkles Ahnenbild, und ein finsterer Männerkopf schaut ruhig aus seinem hundertjährigen Rahmen in die lärmenden Spiele des Urenkels herab, und sehr seltsam: man wird es endlich gewahr, der Knabe sieht gar wohl in die Familie, er hat die Züge des halbvergessenen Alten da droben an der Wand. Ja, das Blut ist ein geheimnisvoller Saft und nimmer zu ergründen! –
Und das andere, was sich mir an jenem Abend ins Gedächtnis prägte, das war der alte Stammbaum. Ganz zuletzt hatte ihn der Schlosser gebracht, und mit einem Blick hatte der Vater seinen Wert erkannt.
Es war eine Kopie jenes gemalten Stammbaums, den der sterbende Mann vor dem Kaminfeuer einst hatte verstümmeln lassen, und da auch ihm das damals weggeschnittene Stück fehlte, so war er sicher nachträglich erst abgeschrieben worden. Aber in diese Kopie war von dritter Hand aus einem alten, jetzt längst durch Feuer zu Grunde gegangenen Kirchenbuch ein schon zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts abgestorbener, uns nur ganz oberflächlich bekannter Zweig, die Pfleger und Richter Kerdern von der Moosburg, ausführlich nachgetragen worden.
Man vertraute uns das Pergament gerne zur näheren Durchsicht an, behutsam machte der Vater eine große Rolle daraus und steckte sie zärtlich unter den 184 Arm. Dann sagten wir der alten Frau und ihrem Sohne Lebewohl und gingen hinunter in die mondhelle Nacht. – –
Wer möchte sich wundern, daß uns auf jener nächtlichen Wanderung durch alle Gedanken und Reden immer und immer wieder tönte der leise Schrei der Todbetrübten: »Maria hilf!« 185