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Der weißhaarige Mann war der Großvater meines Urgroßvaters, und es ist fast merkwürdig, daß wir die alte Geschichte noch so gut wissen. Aber Friedrich hatte sie Wort für Wort auf die letzten Blätter seiner Bibel geschrieben, danach hatte sie einer dem andern erzählt, und so ist sie mit allen Einzelheiten herabgewandert bis auf unsere Tage.
Von den drei Söhnen des greisen Pfarrherrn war in drei Ästen eine große Nachkommenschaft erblüht. Auch Martha hatte sich einige Zeit nach des Vaters Tode an einen geliebten Mann verheiratet und einen andern Namen angenommen. Es kann wohl sein, daß auch von ihr noch Urenkel vorhanden sind; aber wir kennen sie nicht.
Es ging mit unserm Geschlechte jahraus jahrein wie es mit allen andern Geschlechtern auf Erden zu gehen pflegt: die Kindlein wurden geboren, sie wuchsen heran, und ihre Väter und Mütter alterten. Die Knaben wurden Jünglinge, die Jünglinge Männer, sie nahmen sich 21 Frauen wie ihre Väter und Urväter, lebten ihrem Berufe, verjüngten den alten Stamm und fielen ab gleich dürren Blättern im Herbste, wenn ihre Pflicht gethan und ihre Zeit aus war. Viele von den Mädchen aber haben wie Martha unser Blut mit seinen guten und bösen Eigenschaften in fremde Geschlechter getragen, und wenn dort das Gute vorherrschte, dann ging ihre gute Mitgift auf, wenn aber das Böse stärker war, dann schlug wohl auch ihre böse Mitgift durch; denn es folgt so vieles auf Erden dem Unfreien, Argen, es folgt, wie unsere Altvordern sagten, »der böseren Hand«.
An den Zweigen aber, die aus den drei Ästen trieben, konnte man noch lange die Sinnesart jener drei jungen Männer erkennen.
Von dem Ältesten ging ein schaffensfreudiges Geschlecht aus. Er selbst vermochte sein kleines Pachtgut nach wenigen Jahren zu kaufen, baute sich in der abgelegenen Gegend ein festes Haus mit Wall und Graben, rings herum fiel der dunkle Wald, Saatfeld an Saatfeld breitete sich aus in dem großen, fruchtbaren, bergumschlossenen Thale, und auf ächzenden Wägen schickte er sein Korn in die Welt.
Weithin im Lande sprach man von dem reichen Herrn, man sprach von ihm im nächsten Städtlein, man sprach von ihm auf allen Straßen, auf denen seine Güter fuhren, man sprach zuletzt auch am Hofe des 22 Kurfürsten von ihm, und die Räte des Kurfürsten traten zusammen.
Und bald brachte der Postreiter in das entlegene Waldthal ein großes Diplom auf Pergament, und in dieser Urkunde stand zu lesen, daß der Landesvater des Gutsherrn Fleiß, Biederkeit und Ehrbarkeit angesehen habe und ihn deshalb von nun an für einen Edelmann und seine vier Ahnen im Grabe für Edelgeborene erkläre. In der Mitte des Pergaments aber war ein Wappen gemalt, an seidenen Schnüren hing das Staatssiegel herab – und der Neugeadelte, der einst die Rückkehr in die Heimat seiner Väter und in die alte, glanzvolle Stellung seines Geschlechtes verschmäht hatte, – der durfte fortan drei Buchstaben vor seinen alten Namen schreiben.
Als aber auch seine Stunde kam, da standen vier Söhne an seinem Sterbebett, und jedem von ihnen konnte er ein großes Erbe geben und starb im Frieden. –
Von diesen vier Söhnen ging das Geschlecht aus, das bald das angesehenste in der Waldgegend wurde, das im Munde des Volks bald nur schlechthin den Namen »die Herren vom Walde« führte. –
Andere Wege machte Georg und seine Nachkommen. Als ein armer Offizier war er vom Vater gegangen, hatte bald darauf ein blühendes Weib heimgeführt, hatte sich in ein großes Unternehmen eingelassen und war zuletzt im Unglück gestorben. Viel hatte man sich von 23 diesem seinem Unglück erzählt in unserem Geschlechte. Es hatte einen tiefen Eindruck auf alle gemacht.
Seine Nachkommen aber nahmen auch den Degen und wurden Soldaten wie der Vater. Sie gingen in fremde Dienste nach dem Norden des Reiches, brachten es dort zu hohen Ehren, und es kam durch ihre eigene Tüchtigkeit und durch ihre glücklichen Heiraten in angesehene Geschlechter dahin, daß auch dieser Zweig wieder in Schlösser einzog, ja sogar von dem Fürsten des Landes die Erlaubnis erhielt, das alte Wappen und die alten Auszeichnungen aufs neue zu führen. –
Von dem jüngsten Sohne des alten Mannes aber, von jenem Friedrich, stammt das Geschlecht meines Vaters. Es hat wieder ganz andere Wege gemacht, als die Nachkommen der beiden älteren Brüder, es ist niemals in Schlössern zu wohnen gekommen, es hat niemals Überfluß an irdischen Gütern gehabt, und wenn auch in manchem seiner Glieder das alte Kriegerblut wieder durchgebrochen ist, so hat es doch zu allen Zeiten mehr mit der Feder geleistet als mit dem Schwert, es hat niemals sein altes Wappen und seine alten Titel vor der Welt zur Geltung gebracht, sich niemals neue Titel erworben, aber seine Söhne haben als Staatsbeamte, als Geistliche, als Professoren ehrenvolle Plätze unter ihren Mitmenschen eingenommen, und wenn auch keiner von ihnen Wälder gerodet, Schlösser gebaut, Regimenter gegen den Feind geführt hat, so haben sie doch im stillen ebensoviel 24 geleistet als ihre reichen Vettern im Walde und ihre stolzen Vettern im Ausland. Denn es besteht einmal die Einrichtung auf dieser Erde, daß nicht einem jeden Stamm gegeben ist, Schlösser zu bauen, Wälder zu roden und Regimenter zu führen. Und wenn ich's recht bedenke, so freue ich mich darüber, daß wir niemals in Schlössern gewohnt haben; denn die Schlösser haben weite Thore, und es flutet viel durch diese Thore, was an den Thüren kleiner Häuser vorübergeht.
Mit den beiden andern Ästen hatte vordem unser Ast noch lange Fühlung behalten. Seit einem halben Jahrhundert jedoch hatte man aufgehört, nach den andern zu sehen, und war unbekümmert um sie seine eigene Straße gezogen. Nur das eine wußte man, daß über die Herren im grünen Wald schwere Wetter gegangen waren, und auch das andere hatte man gehört, daß der Stamm im Norden nur noch auf zwei Augen stehe. Dann aber war auf einmal dieser letzte Mann gekommen. Er war ein alter Offizier von großer Gestalt, er hatte blitzende, blaue Augen und wellige Haare wie alle Männer des Kerderngeschlechts, aber seine Haare waren schneeweiß. Von der Sehnsucht getrieben hatte er die Stätten bereist, an denen seine Väter gewohnt hatten, das Klosterpfarrhaus im Frankenlande hatte er besucht, hatte die Stube mit dem alten Kamin betreten, hatte über das weite Thal zu den Waldhügeln geschaut und war wieder in seine Heimat zurückgekehrt.
25 Man unterhielt sich anfangs viel von ihm in unsern Häusern, dann zeigte man nur noch zuweilen seine Karte den Kindern, zuletzt aber vergaß man ihn fast ganz; die Verwandten im Norden wurden wieder zu sagenhaften Leuten, und ruhig ging man seine Alltagswege dahin.
Und doch wurde gerade in unserem Stamme von jeher gar viel über die alten Geschichten des Geschlechtes gesprochen; ich glaube, daß weder die Herren im Walde mit der neuen Adelskrone, noch die Soldaten auf ihren Schlössern droben im Norden sich je so sehr um die Vergangenheit kümmerten, als diese armen Geistlichen und diese schlichten Professoren. Es mochte das wohl zum Teil an unsern Müttern gelegen sein, die fast alle auch aus alten Familien waren, unsere ehrwürdigen Überlieferungen begierig in sich aufnahmen und sie mit den Geschichten ihrer eigenen Geschlechter an ihre Kinder weitergaben.
So hat sich viel von wahren und sagenhaften Dingen bei uns erhalten, von der alten, geheimnisvollen Stammburg Kerdern herab bis auf die merkwürdige Geschichte von dem Häuflein verbrannter Pergamente und dem sterbenden alten Manne.
Unter allen seinen Brüdern und Vettern war es wieder mein Vater, den diese Dinge von seinen Jugendjahren her am meisten beschäftigten.
In seine Knabenspiele schaute sagenumhüllt, sonnig und doch dunkel die verlassene Burg der Väter – und 26 oft fragte er die Erwachsenen, wo im weiten Böhmen sie denn läge; aber niemand vermochte ihm Antwort darauf zu geben, auf keiner Landkarte konnte er sie finden.
Da setzte sich allmählig in dem kleinen Kopfe die Idee fest: Wenn ich erst groß bin, dann suche ich die Burg; und wenn sie zerfallen ist, dann baue ich sie wieder auf im grünen Wald und lebe als Ritter darinnen mit glänzendem Harnisch und Helme. Und er sprach von diesen Plänen und verworrenen Bildern auch zu seinen Geschwistern; als sie ihn aber verlachten, da verschloß er sie in sein Herz.
Und er wurde ein Jüngling, seine Gaben bewirkten, daß ihm die Welt offen stand, und es schien, als winke ihm das irdische Glück. Er aber jagte ihm freudig nach, und – hinter allem, was er dachte und that, hoffte und erreichte, lag eben immer noch die alte Burg, und wie damals der thörichte Knabe, und doch anders, sagte sich jetzt der Jüngling: Wenn ich das irdische Glück erreicht habe, dann mache ich mich auf und wandere hinein in dieses wunderbare Böhmen, gehe von Ort zu Ort und frage, wo mein Kerdern liegt, steige auf alle Berge und streife durch alle Thäler, und wenn es die Jahrhunderte etwa mit Wäldern umsponnen haben, dann will ich die Hirten fragen, ob sie's wissen, ich will die Köhler fragen, ob sie davon gehört haben, ich will die Jäger fragen, ob sie's gesehen haben. Und ist es dann gefunden, vielleicht zerfallen in einem Thale, vielleicht in 27 Trümmern auf einsamer Höhe, dann werbe ich Leute, lasse die alten Mauern und die alten Türme aufs neue emporsteigen aus dem Schutt, aber in großer Pracht, und ziehe wieder ein, wo sie vor vierhundert Jahren verjagt wurden, erhebe mein Geschlecht zum alten Glanz und beschließe meine Tage. So dachte der Jüngling; das Leben aber führte ihn auf einmal andere Wege, es ging von Kampf zu Kampf, von Mühe zu Mühe, von Plage zu Plage; und ehe er sich besann, war er alt, grausilberne Fäden zogen sich durch die blonden Haare von damals, und die lustigen Träume von damals – sie waren mit den eilenden Jahren entflohen.
Da fiel ihm eines Tages bei seinem ältesten Bruder die Bibel Friedrichs, eine Abschrift jenes zerschnittenen Stammbaumes und der Brief des böhmischen Herrn in die Hände, und mit einemmale erwachte wieder die alte Sehnsucht mächtig in ihm: Das Kerdern möchte ich doch noch finden!
Aber es war nicht mehr der kindische Wunsch des Knaben, einen Ritter zu spielen, nicht mehr der gehaltlose Traum des Jünglings, zerfallene Mauern aufzubauen. Der Wille des ernsten Mannes war ein anderer. Wohl hoffte auch er noch das alte Kerdern zu finden, doch er gedachte, seine Trümmer ruhig liegen zu lassen. Den verlorenen Faden wollte er an ihnen anknüpfen, ihn rückwärts und vorwärts verfolgen, der Geschichte seiner Vorfahren wollte er nachgehen auf ihren verschlungenen Pfaden und seinem Geschlechte, das er sehr liebte, von 28 seiner Vergangenheit erzählen. Und je länger er sann, desto fester wurde seine Absicht, desto greifbarer wurde die Gestalt ihrer Ausführung.
Er begann zunächst alles zu sammeln, was seine Brüder hatten – aber es war nicht viel. Dann nahm er die gedruckten Werke zur Hand, in denen von den Herren im Walde und von den Soldaten im Norden die Rede war – aber es standen manche Irrtümer darinnen. Zuletzt versuchte er es auch, in dem einen oder dem andern Archive Einlaß zu finden – aber diese Thüren blieben ihm sehr oft verschlossen.
So sammelte er eben, was zu erreichen war, beschränkte sich aber bald nicht mehr auf sein eigenes Geschlecht, sondern zog auch die Geschlechter unserer Mütter und Großmütter in den Kreis seiner Forschungen – und wurde so unvermerkt zum Genealogen.
Und je länger seine genealogischen Arbeiten dauerten, desto klarer wurde ihm, daß es eine große Menge gestürzter, verjagter Geschlechter gibt, und indem er die verschlungenen Pfade seiner verwandten Geschlechter zu verfolgen suchte, sah er auf einmal auch die große Geschichte selbst in einem viel wärmeren, helleren Lichte. Seine Augen waren durch den Blick aufs Kleine geschärft worden für die Erkenntnis des Großen, und er vermochte das zu sehen, woran die meisten Leute achtlos vorübergehen: die Wechselbeziehung zwischen Kleinem und Großem in der Geschichte.
29 Denn es sind breite Heerstraßen über die Erde gespannt, und auf ihnen ziehen die Großen, die Könige mit ihren goldenen Kronen, die Feldherrn mit ihren blutigen Schwertern, die Weisen, von denen man sagt, sie tragen ihrer Zeit die Fackel vorauf. Sie sind gut zu sehen in ihrer Pracht, und weit zurück kann man die mächtigen Gestalten mit den Augen verfolgen, bis auch die breiten Straßen immer enger und enger erscheinen, bis nur zuweilen noch ein goldener Helm ragt, eine hohe Lanze blitzt, ein weiser Spruch tönt, und dann endlich nichts mehr vorhanden ist als graue Nebel in einem tiefen Thale.
Auf diesen Heerstraßen, mit diesen hohen Gestalten ziehen die Völker aus dem Dunkel der Vergangenheit durch die helle Gegenwart in die verschleierte Zukunft, und es ist viel von diesen Straßen zu lesen in allen den dicken Geschichtsbüchern, die von den Großen der Erde zu reden, goldene Kronen, blutige Schwerter und weise Männer in dem bunten Gewimmel mit Namen zu nennen vermögen.
Aber neben diesen breiten Straßen laufen ungezählte schmale Pfade, und auf ihnen ziehen in unlösbarem Gewirre die »numeri« des Horaz, die namenlosen Leute, die nicht so gewichtig sind, daß sie die breiten Straßen mitzubahnen vermöchten, und sich deshalb auf schmalen Pfaden vorwärts schieben müssen, so gut es geht, einfache Leute, Bauern und Bürger, Edle und Unedle, Böse 30 und Gute, Freie und Unfreie, unsere Voreltern, wir, unsere Verwandten, unsere Freunde, unsere Feinde, alles bunt durcheinander, lauter Menschen, von denen nichts in den dicken Weltgeschichten steht noch stehen wird.
Manchmal freilich will es uns dünken, wenn wir so zurücksehen, als ob fort und fort Wechsel wäre zwischen den kleinen Wegen und den großen Straßen, als ob da droben das eine oder das andere hohe Geschlecht seine Krone verlöre, sein Schwert sinken ließe und sich seitab verirrte; eine Zeit lang sehen wir vielleicht seine Gestalten noch ragen, dann aber verschwinden sie im namenlosen, unendlichen Haufen. Und zuweilen sehen wir auch wieder das eine oder das andere von den schmalen Weglein auf eine stolze Straße münden, neue Geschlechter treten unter die Reihen der Großen, heben gefallene Schwerter auf, lassen sie blitzen und sind weithin zu sehen, bis auch ihre Pfade wieder im Gewirre der drängenden, hastenden, schiebenden Haufen verschwinden.
Wo läuft nun die »Geschichte«? Auf den großen Straßen? Auf dem Wirrsal von kleinen Wegen? Auf beiden! Auf den großen Königsstraßen nicht mehr wie auf den kleinen Pfaden, auf denen die Masse der Geschlechter kämpft und leidet, lacht und weint, lebt und stirbt, ihren Zweck zu erfüllen. Und auf beiden ist sie gleich groß, gleich wunderbar zu schauen; denn die Sonne blitzt nicht nur schön auf dem blanken Helm und auf der goldenen Krone, sondern auch im kleinen Tautropfen 31 am schwankenden Blatte, der Wind bläst nicht nur in die rauschenden Heerfahnen, er streicht auch über das grüne Gras am Wege, und der zornige Blitz fällt nicht nur die Eiche – er zerstört auch das stille Nest des Vogels, der sich in ihren Ästen geborgen hatte.
* * *
Lange war mein Vater den Wegen seines verjagten Geschlechtes nachgegangen, auf und ab, ab und auf hatten sie ihn geführt und lagen endlich ziemlich klar vor ihm bis zurück auf den Anfang des sechzehnten Jahrhunderts. Von da ab verloren sie sich ganz im Dunkel. Martha hatte ja damals das Feuer gut geschürt, und die Flammen hatten alles verzehrt, was uns weitere Kunde hätte geben können über unsere Vorzeit!
Aber wo war doch die alte Urkunde mit den drei Siegeln geblieben, die man damals nicht in den Kamin geworfen hatte? Mein Vater fragte nach ihr bei den nächsten Verwandten – jeder hatte von ihr erzählen hören, doch keiner hatte sie jemals gesehen.
Da machte er sich im nächsten Herbste auf, diese geheimnisvolle Urkunde bei den Vettern im Walde und bei dem Zweig im Norden zu suchen und so auch einmal diese fremden Verwandten kennen zu lernen, zu hören, was sie noch von der Vergangenheit wußten, und die alten Stätten zu sehen, an denen das Geschlecht vordem gewohnt hatte. Mich aber nahm er mit auf die Fahrt. 32