Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war zehn Uhr vormittags. Vor den weitgedehnten Badehäusern standen in langen Reihen die Droschken, auf den Parkwegen strömte das Volk der Badegäste, da und dort wurde ein Schwerleidender im Fahrstuhl herangeschoben; in den Wartehallen waren die meisten Stühle besetzt, an den Kassen klirrte das Geld, mit eintöniger Stimme riefen die Badefrauen die fälligen Nummern aus. In den langen, feuchtwarmen Korridoren rannten geräuschlos die leinengekleideten Diener und Dienerinnen mit Besen und Eimern, mit Wäsche und Eisblöcken. Brausend fuhr der Sprudel in die hölzernen Wannen, geheimnisvoll stiegen die Perlen empor im krystallenen Wasser, vielhundertmal erklang das mechanische »Lassen Sie sich's gut bekommen!« In den Ecken der Korridore häuften sich die gebrauchten Badelaken und verschwanden bündelweise im Freien; auf den 107 dunkelgrünen Rasenflächen hinter den Badehäusern trockneten in Masse die feuchten, braunen Fußmatten. Viele hundert Minutenuhren tickten in den Kabinen. In gewaltigem Fabrikbetriebe arbeitete 108 die weltberühmte Heilkraft von Sprudelingen an den Herzen der leidenden Menschheit. –
Lore von Ostenhusen saß mit ihrem Vater in der Wartehalle, und zu ihnen hatte sich der menschenfreundliche Gourmand aus dem Hotel gesellt.
»Bekommt der Sprudel, Herr Hauptmann?«
»Der erste heute, mein Herr.«
»Ach, der erste? Na, da haben Sie noch etliche Wochen Sprudelingen abzusitzen. Sind zum erstenmal hier? Ja? Sehen Sie mich an, ich bin nun zum fünfzehntenmal hier. 'n langweiliges Nest, das Sprudelingen, aber ich versichere Ihnen, ich bedarf seiner wie des Salzes auf meinem täglichen Brote. Und ich sage Ihnen, auf Ehre, wenn ich dieses Sprudelingen nicht hätte, auf meinem Grabe wüchsen Bäume!« Er hatte die Hände über dem Goldknaufe seines Stockes gefaltet und starrte ins Leere, als hörte er im Geiste die Bäume rauschen über seinem marmorgeschmückten Grabe. »Bäume!« quakte er nach einer Weile in tiefem Sinnen.
»Ich höre, daß es viele Stammgäste in Sprudelingen giebt,« bemerkte der Hauptmann.
»Viele! Sehr viele! Ich sage Ihnen, Herr von Ostenhusen, wer einmal in Sprudelingen gewesen ist und kommt im nächsten Jahre nicht 109 wieder, ich sage Ihnen, der begeht ein Verbrechen an seiner Gesundheit!«
»Wenn er sich überhaupt noch unter den Lebenden befindet!« lachte der Hauptmann.
»Ich sage Ihnen, wer zur rechten Zeit nach Sprudelingen kommt, der stirbt überhaupt nicht so leicht. Uebrigens, haben die Herrschaften schon das Neueste gehört? Nicht? Unglaublich, was es für Leute giebt! Kennen Sie die korpulente Dame, die mir beim Mittagsbrote gegenübersitzt? Vom Sehen? Eine Frau Aktienwurstfabrikdirektorsgattin, ich bitte Sie, meine Herrschaften, so 'n langer Titel, den sollte man doch im Interesse seiner leidenden Mitmenschen zu Hause lassen, wenn man ins Bad geht! – Nun also, diese Dame wurde vor einer Stunde ohnmächtig aus ihrer Kabine getragen. – Und wissen Sie, warum? Weil sie – ich bitte, kaum glaublich – weil sie fünfundvierzig Minuten im Sprudelbade gesessen hatte. Na, was sagen Sie dazu?«
»Das langt!« meinte der Hauptmann. »Mir sind zehn Minuten verordnet.«
»Und das Höchste sind fünfzehn Minuten. Ich bitte Sie, fünfundvierzig Minuten im Sprudelbade! Dilettanten des Lebens!« Der Lebenskünstler starrte tiefsinnig ins Leere.
110 »Achtundachtzig, neunundachtzig – quatre-vingt-dix!« rief die Badefrau.
»Neunundachtzig, Papa!«
Der Hauptmann erhob sich.
»Möchte wissen, ob man in einem französischen Bade auch so rücksichtsvoll wäre!« quakte der Gourmand. »Haben Sie gehört – quatre-vingt-dix? Da hat sich nun diese Person wahrhaftig die Nummer eines einzelnen Franzosen gemerkt und ruft sie auch richtig französisch aus!«
»Was fängst du derweil an, Lore?«
»Ich habe einen dringenden Brief zu schreiben. Und laß dir's recht gut bekommen, dein Bad!«
*
Lore von Ostenhusen saß in dem kleinen Schreibsalon neben der großen Wartehalle und schrieb:
Liebe Ida!
Es ist hohe Zeit, daß ich Dir nun einen ordentlichen Brief schreibe; denn die beiden Ansichtskarten sind ja eigentlich gar nicht zu rechnen. Vor allem – und bitte, sage das auch nebst ehrerbietigen Grüßen Deinem Herrn Vater: Wenn mein geliebter Kranker noch gerettet werden kann, so geschieht das in Sprudelingen. Und man erzählt sich hier von wahren Wunderkuren gerade in solchen Fällen, wie der unsre ist.
111 Schwer, sehr schwer waren die ersten Tage nach unsrer Ankunft. Die Reise hatte meinen Vater dergestalt erschöpft, daß der Arzt zunächst den Gebrauch der Bäder gar nicht gestatten konnte und sich lediglich auf die Anwendung von Medikamenten 112 beschränken mußte. Aber nun ist alles in der Reihe, und er badet wie – fast hätte ich geschrieben wie ein Gesunder.
Ganz besondern Dank auch Deinem lieben Herrn Vater, daß er uns diesen vortrefflichen Arzt ausfindig gemacht hat. Sage ihm doch, ich bin glücklich, daß wir unter der großen Menge von Aerzten gerade an diesen gekommen sind. Als ich mit meinem armen Kranken so auf einmal mitten in dem Getriebe des Weltbades stand, war mir seltsam zu Mute, und ich kam mir so schrecklich verlassen vor. Ja, ich hatte am ersten Tage Momente, wo ich das Ganze für eine ungeheuer große, kaltherzige, raffinierte Vorrichtung hielt, einzig und allein zu dem Zweck ins Leben gerufen, Leute aus allen Weltteilen anzulocken, sie ein wenig abzuwaschen und zuletzt gehörig gerupft wieder in die Heimat zu entsenden! – Mag ja sein, daß viele, vielleicht die meisten der »Hiesigen« die Sache lediglich vom Standpunkte des Geschäftes aus ansehen und behandeln. Aber die meisten sind doch, Gott sei Dank, bei weitem nicht alle. Und als ich zum erstenmal vor unserm neuen Arzte saß und ihm die Krankheitsgeschichte ergänzte, von diesem Augenblicke an fühlte ich mich ganz heimisch in der großen Fremde. Denn ich wußte aufs bestimmteste: der Mann da vor 113 dir hat ein warmes Herz für seine Kranken, ihre Behandlung ist ihm eine Gewissenssache, und an ihm hast du für alle Fälle nicht nur einen Arzt, sondern auch einen warmfühlenden Freund. Was ist's doch Großes um den ärztlichen Beruf, wenn er richtig erfaßt und ausgeübt wird. Und was ist's Ehrwürdiges um einen klugen, vertrauenerweckenden Arzt, der nur so viele Patienten annimmt, als er mit gutem Gewissen kann.
Empfindungen ganz eigner Art beschlichen mich beim ersten Anblicke der Sprudel, die als mächtige Fontänen aus dem Innern der Erde hervorbrechen; ich habe diese Empfindungen noch immer ungeschwächt, so oft ich vorbeigehe. Der Arzt hat uns eine große wissenschaftliche Abhandlung über die Entstehung dieser warmen Quellen geliehen. Vater liest sie und sagt, sie sei äußerst interessant. Ich habe auch hineingesehen, kapiere aber nicht den vierten Teil davon. Ist mir auch an und für sich ziemlich einerlei, daß da drunten in gewaltiger Tiefe fort und fort Kalkmassen in glühende Erdmassen versinken und aus dem Chaos fort und fort die Kohlensäure emporsteigt und sich mit den rinnenden Gewässern höherer Schichten verbindet, ich verstehe auch rein gar nichts von der stofflichen Zusammensetzung der mächtigen Sprudel, die da nun Tag und Nacht durch die 114 riesigen Bohrlöcher ans Licht emporsteigen. Ich stehe nur oft ganz andächtig vor den rauschenden, schäumenden, dampfenden Wassern, die hier aus der Tiefe brechen müssen, damit mein Vater und tausend, tausend andre wieder gesund werden. Und dann dringt mir aus dem geheimnisvollen Rauschen ganz vernehmlich das Wort ans Ohr, das einst in fast unergründlicher Tiefe der Zeit der königliche Sänger gesprochen hat: »Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter.«
Nun aber ade und Schluß, liebes Herz! Ich bin ja ganz pathetisch geworden. Aber meine Freude ist zu groß. Fast hoffnungslos bin ich hierher gekommen, und nun sitze ich hier und schreibe, voller, voller Hoffnung und Dankbarkeit gegen Gott und die Menschen. –
»Ob ich auch bade?« hat mich neulich eine liebenswürdige alte Dame gefragt. »Gewiß, immer am Samstag,« lautete meine unter Erröten gestammelte Antwort.
Du siehst, es gelingen mir sogar schon wieder Späße. Freue Dich mit mir, grüße Deinen ehrwürdigen Vater aufs innigste und behalte lieb
Deine Lore.
*
115 Fräulein von Ostenhusen steckte den Brief ins Couvert und ging in die Wartehalle.
An der Kasse stand ein Männchen in schäbiger schwarzer Kleidung und agierte lebhaft mit Armen und Beinen.
»Bedaure!« sagte achselzuckend der Kassier. 116 »Ich gestehe, eine derartige Anfrage ist überhaupt noch niemals an mich ergangen.«
»Noch niemals? Nun sehen Sie, die Sprudelbäder sind doch einmal zu teuer, ich bitte Sie, zwei Mark und fünfzig Pfennige des Vormittags!«
»Dann baden Sie eben nachmittags, mein Herr!« rief der Kassier und fixierte die funkelnde Busennadel des Kleinen.
»Thu' ich doch auch, Verehrtester! Wenn ich mich nun aber verabrede mit 'nem guten Freunde und frage Sie, ob ich nicht benutzen dürfte für Geld und gute Worte hernach sein gebrauchtes Bad zu herabgesetztem Preise, was ist dabei? Ist es nicht meine Sache? Und jammerschade ist's um das schöne, klare Wasser, das da leicht gebraucht wegläuft und voller Kohlensäure!«
»Bedaure, mein Herr, dieses Verfahren ist zurzeit noch nicht üblich in Sprudelingen,« sagte der Kassier mit verhaltenem Lachen und ließ geräuschvoll das Fenster herab.
»Sünd' und schade!« rief das Männlein und stelzte zornig von dannen. 117
Es war ein sonniger Vormittag. Gelling ruhte ausgestreckt auf der Chaiselongue im Vorgärtchen des Hotels, las, nickte verschlafen, ließ das Buch fallen, griff es wieder auf, nickte wieder. Menschenleer war die breite, schattige Bahnhofstraße. Nur zuweilen schoß mit Geklingel ein Radfahrer vorüber, rauschte und fauchte ein Automobil um die Ecke. Endlich schlug die Bahnuhr zwölfmal, und in scharfem Trabe rollte 118 Hotelwagen an Hotelwagen, Droschke an Droschke von der Parkstraße herauf.
Gelling war nun vollkommen wach geworden, ließ mit tiefem Ernste alle die Wagen an sich vorüberrasseln, wie jeden Vormittag, und sann vergeblich über die Frage, warum denn die armen Gäule immer so erbarmungslos die beträchtliche Steigung hinangejagt würden, wie jeden Vormittag.
Wieder war's ganz stille in der schattigen Straße. Geräuschlos eilte der kleine, blonde Portier die Freitreppe des Hotels herab und spähte nach dem Bahnhofe, wartend der Dinge, die da kommen sollten oder doch wenigstens möglicherweise kommen konnten. Und zu gleicher Zeit erschien im würdigen Rahmen der Eingangsthüre die tadellose Gestalt des Besitzers. Die Spinne muß den ganzen Tag über lauern, wann ihr wohl eine Fliege ins Netz gehe; Hoteliers und Portiers wissen wenigstens die Zeit genau bis zur Minute; denn ihre Fliegen kommen abteilungsweise und fahrplanmäßig zur Stelle. Das Leben der Spinne verläuft im ganzen sorgenvoller als das des Hoteliers in einem Weltbade. –
Es lag nicht nur blinkender Sonnenschein, beträchtliche Hitze und leichter Mittagsrauch über den Häusern von Sprudelingen, sondern auch jene feierliche Erwartung – nur der Hotelier kennt 119 sie, der nach Ablauf der Hochsaison über einige Dutzende unbesetzter Zimmer verfügt.
Die Hotelwagen und Droschken rasselten wieder zu Thale, hochbepackt, vollbesetzt, halbleer, ganz leer; etliche Trüpplein von Neuangekommenen gingen vorüber; geräuschlos verschwand die gebietende Gestalt des Besitzers im Portale; gesenkten Hauptes, nach seiner Gewohnheit mittels des Daumennagels den ungeheuer langen Nagel des kleinen Fingers geräuschvoll knipsend, schlich auch der blonde Portier die Freitreppe empor. Nicht nur Spinnennetze, sondern auch Badehotels stehen zuweilen etwas leer.
Herr von Gelling beschäftigte sich aufs neue mit seiner Lektüre. –
»Morgen, Gelling, oller Knabe!« tönte es auf einmal in der wohligen Klangfarbe des heimischen Idioms an sein Ohr. Zweifel, Freude, Entsetzen – alles zugleich spiegelte sich auf seinem Antlitze. »Du, Stackelhofen, oder dein Geist?« fuhr er empor.
»Des Mittags um zwölfe wohl ich selbst,« kam die gemütliche Antwort zurück. »Also, das ist Sprudelingen, Konfuchs? Schauer der Erwartung überrieseln meine Seele! Und also da liegst du für gewöhnlich? Aber sag an, wo steckt denn das Täfelchen?«
»Welches Täfelchen?« fragte der Leidende gereizt.
120 »Nun, ich dächte doch, sie sollten dir ein Täfelchen anstecken mit der Inschrift: Hier liegt Herr von Gelling nach siebenwöchigem Gebrauche der Sprudelinger Bäder – sehet und staunet.«
121 »Konfuchs, wenn du vielleicht hierher gekommen bist, nur um mich zu ärgern, so wisse, Aerger ist mir von meinem Arzte aufs bestimmteste untersagt. Und ich ärgere mich also prinzipiell nicht,« rief der Leidende mit halblauter, vibrierender Stimme.
»Na, na!« tröstete der andre, und das rote, gesunde Gesicht guckte belustigt über das Eisengitter herüber.
Gelling zuckte leise zusammen; sein scharfes Ohr hatte den bekannten Schritt vernommen – Lore von Ostenhusen trat auf die Freitreppe. Hastig erhob sich der Leidende ein wenig aus seiner Lage und lüpfte die Mütze. –
»Donner und Doria, Gelling!« Stackelhofen blickte dem jungen Mädchen nach wie einer Erscheinung. »Gelling, wohnt die da im Hotel?«
»Die da!« murrte der Leidende. »Wen meinst du denn eigentlich, wenn ich fragen darf? Die da!«
»Nu, die Königin Luise–wen sonst?« sagte Stackelhofen und starrte noch immer die Bahnhofstraße entlang dem weißen Kleide nach. »Gelling, frappant! Diese großen, seelenvollen Augen – blaue Augen, nicht? Natürlich, blaue Augen! – Das stolze Kinn, das königliche Antlitz, das süße Lächeln – Luise von Preußen!«
»Du hast wohl eine recht heiße Fahrt hinter dir, Konfuchs? Es ist eine Dame aus Bayern, 122 wenn ich nicht irre, und sie befindet sich in Begleitung ihres kranken Vaters hier, soviel ich weiß,« sagte Gelling ärgerlich.
»So – wenn ich nicht irre, soviel ich weiß?« knurrte der andre. »Gelling, entweder bist du sehr leidend oder aber einer der größten Heuchler in Sprudelingen!« Und damit kam er in den Vorgarten herein.
»Wenn ich nur eigentlich wüßte, warum du auf einmal hier auftauchst?« fragte der Leidende mißtrauisch.
»Auf einmal?« Stackelhofen lachte. »Ja, in welcher Verfassung sollte ich denn hier auftauchen – abteilungsweise vielleicht?«
»Stackelhofen, nimm bei der Auswahl deiner Witze Rücksicht auf meinen Zustand! Und wenn mir recht ist, so wolltest du doch heuer nach Rügen? Oder hat dich am Ende der Doktor zum Spionieren hierher geschickt? Was willst du denn?«
»Was ich will? Nun, einmieten, Gelling, da im Hotel, auf fünf, sechs Wochen, in deiner holden Nähe verweilen, baden!« rief Stackelhofen. »Uebrigens eine ernste Veranlassung, Konfuchs,« setzte er mit einem Seufzer hinzu.
Wie auf ein Zeichen des Regisseurs war inzwischen unter der Eingangsthüre der blonde 123 Portier zum Vorschein gekommen, und hinter ihm tauchte auch schon das ewiglächelnde Antlitz aus dem Dunkel hervor.
»Noch 'n Zimmer zu haben?«
»Zu dienen!«
»In der Nähe dieses Herrn hier?«
»Des Herrn von Gelling – Nummer 18? Gleich nachsehen.«
»Nummer 19 – aber gewiß! Habe die Ehre!« lächelte der Hotelier.
124 »'n Tag. Hier, bitte, mein Gepäckschein!«
»Wird alles besorgt.« –
»Na und also, sei mir gegrüßt, alter Gelling!« Stackelhofen zog einen Strohstuhl heran, setzte sich und reichte dem Gutsnachbar die Hand.
»Ueberraschung – was? Nun will ich dir's aber auch sagen, Konfuchs: weißt du, man macht sich doch zuweilen auch so seine Gedanken über Gesundheit und Krankheit, namentlich wenn man einen seiner besten – still, Gelling, ich sage besten, nicht liebenswürdigsten – Freunde in badendem Zustande weiß. Und sieh – lach mich aber gewiß nicht aus! – hm, 's ist doch 'n eignes, kompliziertes Ding um so ein Menschenherz.«
»Das sage ich auch!« rief Herr von Gelling lebhaft. »Du glaubst gar nicht, Stackelhofen, was man hier nach dieser Richtung hin Studien machen kann.«
»Glaub' ich,« meinte der andre lakonisch und sah die Bahnhofstraße hinab, wo sein gutes Auge noch immer das weiße Kleid erspähte. »Und sieh, Konfuchs – na, du warst ja von jeher 'n Tugendspiegel, kannst dich vielleicht gar nicht so recht in meine Lage versetzen – sieh, Konfuchs, unsereiner, der Wahrheit die Ehre, unsereiner hat doch in seiner Jugend zeitweilig ein wenig gesoffen!«
125 Gelling nickte interessiert.
»Und du kennst doch die entsetzliche Wirkung des Trinkens aufs Herz, Gelling?«
»Ochsenherz!« sagte dieser mit harter Betonung.
»Nun, sagen wir Trinkerherz, feiner ausgedrückt, Gelling; denn es wäre doch genierlich, wenn man vielleicht am Ende selber 'n Herz mit solch hübscher Aufschrift im Busen trüge – ahnungslos, hoffnungslos.«
»Du fühlst dich also leidend, herzleidend, Stackelhofen?« Der Kranke machte ein triumphierendes Gesicht. »Dann bist du am rechten Orte, und ich empfehle dir dringend meinen Arzt – selbstverständlich nimmst du sofort meinen Arzt, Stackelhofen!«
»Danke für dein teilnahmevolles Freudengeschrei, Gelling, bin gerührt bis in die Waden. Natürlich werde ich mich an deinen Arzt wenden, habe das nie anders vorgehabt. Aber sage, könnten wir nicht vor Tisch noch ein wenig durch das Nest bummeln, was? In ein paar Augenblicken bin ich zurück!«
»Aber Konfuchs!« Der Leidende verzog spöttisch das hübsche Gesicht. »In meinem Zustande! Was fällt dir denn ein? Ich bin ja noch ganz erschöpft von meinem Bade.«
126 »Ja, dann liegst du wohl den ganzen Tag hinter dem langweiligen Gitter und säugst Fliegen?«
»O, wenn ich mich wohlfühle, nach der Mittagsruhe, versuche ich fast täglich im Parke zu promenieren. Geb's aber allerdings in der Regel bald wieder auf.«
»Reizende Aussicht, das!« brummte Stackelhofen. »Und wie geht's dir denn eigentlich, Konfuchs?« setzte er laut hinzu.
»Ja, weißt du, eigentlich nahezu erträglich. Das Herz macht sich, es ist nur noch ein ganz kleiner nervöser Fleck rechts oben vorhanden, erklärt mein Doktor. Aber diese allgemeine Depression – nicht zum Sagen, Stackelhofen!«
»Kleiner nervöser Fleck?« fragte Stackelhofen. »Ja, kann man denn das so genau örtlich bestimmen? Das ist mir neu!«
»Aber ich bitte dich, Stackelhofen, so 'n großer Arzt!«
»Na, dann auf Wiedersehen bei Tisch, Konfuchs.«
*
»Portier!« Herr von Stackelhofen trat in die leere Loge.
»Der gnädige Herr befehlen?«
128 Stackelhofen zog das Portemonnaie: »Meinen Dank für Ihre wertvollen Dienste im voraus und eine kleine Abschlagszahlung pränumerando!«
Der blonde Portier verbeugte sich tief.
»Wer ist die Dame?«
»Die Dame in Weiß, gnädiger Herr?« Ueber das gutmütige, rosige Gesicht legte sich ein fast andächtiger Schimmer. »Fräulein Leonore von Ostenhusen, in Begleitung ihres schwer leidenden Herrn Vaters, – eines pensionierten Hauptmanns –, seit drei Wochen zum Kurgebrauche hier.«
»Wie ist denn die Tischordnung, Portier?«
»Darf ich bitten, ich werde dem gnädigen Herrn den Speisesaal zeigen.«
»Ach was, Portier, wozu? Sie lassen mir eben ein Couvert auslegen in der Nähe der Dame in Weiß!«
»Königin Luise,« flüsterte der Portier. »Entschuldigen, so heißt die Dame hier ganz allgemein. Aber in ihrer Nähe, nein, das wird leider nicht wohl gehen.«
»Und warum nicht? Wahrscheinlich schon alle Plätze in der Nähe besetzt?« Stackelhofen runzelte die Stirn. »Herr von Gelling in der Nähe, was?«
»Herr von Gelling speisen mit Herrn Assessor 129 Schreckschuß an einem der separaten Tischchen; dort ist kein Platz mehr.«
»Will ich auch gar nicht, Portier. Will in die Nähe der Ostenhusenschen Herrschaften!«
»Wird nicht gut gehen, gnädiger Herr. Diese Herrschaften speisen stets ganz allein ebenfalls an einem der separaten Tischchen.« Der Portier zuckte ratlos die Achseln.
»Ist der Speisesaal besetzt?«
»Ziemlich stark; denn es speisen bei uns auch viele Pensionsgäste aus der Nachbarschaft. Aber einen Platz können wir an der langen Haupttafel schon noch für den gnädigen Herrn herausbekommen.«
»Herausbekommen? Hören Sie, Portier, ich danke! Sie lassen mir unweigerlich ein Couvert auf das bewußte separate Tischchen legen! Ich verantworte die Geschichte.«
Der Portier verneigte sich stumm. 130