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Wenn unter eine Spatzenschar ein Spatz kommt, der etwas anders aussieht, als die andern Spatzen, dann hacken diese so lange auf ihm herum, bis er tot ist. Ein Spatz soll eben ein Spatz sein, von der alten guten Spatzenart. Jede Abweichung davon ist ein todeswürdiges Verbrechen.
Die Rolle eines solchen unglücklichen Vogels spielten unter der Soltener Schuljugend die Schusterskinder. Warum hatten die dunkle Augen? Warum kamen sie nicht mit Holz-, sondern mit Lederschuhen zur Schule? Warum balgten sie sich nicht wie die andern? Warum kamen sie abends nicht zum Spiel? Warum machten sie sich durch ihre Streberei bei dem Schulmeister so beliebt? Kurz, warum waren sie anders als die andern? Das konnte die Schuljugend nicht hingehen lassen, und wo sie konnte, wischte sie den Fremden eins aus. Und sie hatte dabei das allerbeste Gewissen von der Welt. Sie war überzeugt, damit die Sache der Heimat gegen das Fremde, ja die der Kirche gegen die Abtrünnigen zu vertreten. Ja, sie war eben auch ein getreues Abbild der großen Welt, die Schule in Solten.
Peter hatte einige Male den Stock gebraucht, als er von diesen Hänseleien und Quälereien etwas gemerkt hatte, aber damit die Sache natürlich nur schlimmer gemacht. Nur daß die Bösewichter jetzt vor den Augen des unbegreiflich parteiischen Lehrers sich hüteten, wenn sie ihrer guten und gerechten Sache weiter dienten.
Peter war jetzt fünfviertel Jahr in Solten. Er hatte sich gut eingelebt, und die Leute hatten ihn gern. Er fühlte sich wohl im Dorfe und brachte auch die Ferien dort zu. Nach Hause zu gehen, konnte er nicht mehr über sich gewinnen, seitdem der Vater ihm öffentlich im Wirtshause von Brundorf Undankbarkeit für viele empfangene Wohltaten vorgeworfen hatte. Von der bei Clas Mattens geliehenen Summe hatte er bereits einen Teil zurückgezahlt.
Am Abend vor dem Wiederbeginn der Schule nach den Sommerferien sah Peter zu seiner Verwunderung den Schuster auf sein Haus zu kommen. Er hatte sonst keine Beziehung zu ihm, als daß er sich von ihm seine Schuhe flicken und besohlen ließ. Was mochte der Mann wollen? Wollte er einen Bekehrungsversuch machen? Er nahm sich die größte Kühle und Zurückhaltung vor.
Er schlug sein dickstes Buch auf und begann irgendwo zu lesen.
Es klopfte. Peter schwieg.
Es klopfte noch einmal. »Herein,« sagte Peter wie aus dem tiefsten Nachdenken heraus.
»Guten Tag, Herr Lehrer.«
»Guten Tag,« sagte Peter tonlos und las seinen Satz zu Ende. Dann wandte er sich langsam herum und fragte kühl: »Was wünschen Sie?«
»Herr Lehrer,« sagte der Schuster, wobei er in großer innerer Erregung die Mütze zwischen den Händen drehte, »meine Kinder müssen von den andern Kindern im Dorf viel leiden. Aber ich habe bis jetzt immer dazu still geschwiegen. Denn es steht geschrieben: Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr. Aber, Herr Lehrer, heute darf ich nicht schweigen. Denn wenn Menschen schweigen wollten, müßten die Steine schreien.«
»Was ist denn passiert?« fragte Peter. »Machen Sie doch nicht so viel Worte!«
Der Schuster erzählte nun kurz und sachlich, seine Tochter Lina hätte mit dem kleinen Paul diesen heißen Nachmittag unten in den Wiesen das letzte Heu trocken gemacht, das wegen der Regenzeit nicht eher hätte eingebracht werden können. Und da hätten die beiden wegen der großen Hitze sich in der Aue gebadet. Während sie im Wasser waren, wären ein paar Jungens gekommen, die von ihnen unbemerkt im Gebüsch geangelt hätten, und hätten Linas Kleider versteckt und sich dann von ihrem Gebüsch aus an der Verlegenheit des Mädchens geweidet und ihr häßliche Worte zugerufen. Paul hätte lange suchen müssen, bis er die Kleider wiedergefunden hätte. Und seine Tochter läge nun im Bette, müsse in einem fort krampfartig weinen und wolle sich gar nicht beruhigen lassen.
Peter war aufgefahren und fragte zornblitzenden Auges: »Wer hat das getan?«
»Erkannt haben meine Kinder,« sagte der Schuster, »nur Westermanns Johann. Aber es ist noch ein anderer dabeigewesen.«
»Gut,« sagte Peter, »ich werde die Buben schon herauskriegen und sie dann in einer Weise bestrafen, daß Sie zufrieden sein sollen.«
Der Schuster sagte sanft: »Ach, Herr Lehrer, es ist ja nicht um meinetwillen. Es ist doch nur der armen Jungen wegen, daß die nicht so auf dem Weg des Verderbens weitertaumeln.«
»Meinetwegen können Sie's auch so ansehen,« sagte Peter, unangenehm berührt. »Übrigens, ... es tut mir sehr leid, daß gerade Ihre Lina von einer solchen Bosheit und Schändlichkeit betroffen ist. Ich kann mir denken, wie sie das mitgenommen hat. Sie ist so ein feines, zartfühlendes Kind. Überhaupt eigentlich meine liebste Schülerin.«
»Das freut mich, Herr Lehrer,« sagte der andere, »Lina erzählt uns auch immer viel Schönes vom Herrn Lehrer, aus der biblischen Geschichtsstunde.«
»So? Das freut mich. In diesen Stunden habe ich auch am meisten Freude an ihr. Sie hat so eine feine Art, die biblischen Geschichten zu erzählen, die einem wohltut.«
»Ach ja,« sagte der Schuster und hielt den Kopf ein wenig schief, »sie hat den Herrn Jesum recht lieb, und es freut mich, daß wir einen Lehrer haben, der auch auf das eine, was not ist, hinarbeitet. Die Geschichte, wo der Herr dies zu der Maria und Martha sagt, ist ja die erste gewesen, die der Herr Lehrer sich hier in Solten haben erzählen lassen.«
»Ach ja,« sagte Peter, »das machte sich so zufällig.«
»Ich dachte,« fuhr der andere fort, »der Herr Lehrer hätten uns wohl schon einmal besucht.«
»Ich war auch schon einmal auf dem Wege,« sagte Peter, »aber ich glaubte zu stören.«
»Warum?«
»Sie hatten die ganze Stube voll Menschen und sangen und ..«
»Ach so, denn war das an einem Mittwoch Abend. Ja, da sind immer einige Brüder und Schwestern bei uns, und wir betrachten Gottes Wort ... Aber wenn der Herr Lehrer uns sonst mal besuchen will, dann stört er nie ... Oder wenn er auch mal an unsern Versammlungen teilnehmen will? ...«
»Ich danke,« sagte Peter kurz und schroff »ich fürchte, zu Ihren Freunden passe ich nicht.«
»Nichts für ungut, Herr Lehrer! Es war nicht böse gemeint ...«
»Weiß ich, weiß ich. Wir Menschen sind eben verschieden.
Der Schuster ging. Peter blieb nachdenklich zurück.
War ihm der Mann sympathisch oder unsympathisch? Seine höfliche Art, das ewige »Herr Lehrer« berührte den an die einfache Anrede »Scholmester« Gewöhnten fremdartig. Mit den vielen biblischen Redewendungen in seiner Sprechweise machte er ihm den Eindruck eines Menschen, der auf Stelzen geht, statt auf den eigenen gesunden Füßen. Aber trotzdem war in seiner Art und auch in seinem Gesicht etwas, was Peter zweifelhaft machte, ob er ihn kurzerhand als einen Frömmling und Pharisäer abtun dürfte. Er fühlte, daß dieser Mann gegen den Strom schwamm, daß er anders war, als die andern. Solche nannten die Menschen denn gleich Pharisäer, was ja – so hatte er auf dem Seminar gelernt – »Abgesonderte« hieß. Auch er selbst hatte diesen Titel auf dem Seminar einmal bekommen, weil er ja auch mehr seine eigenen Wege ging.
Der Schuster hatte die feine, stille Art seines Kindes damit erklärt, daß sie den »Herrn Jesum recht lieb« habe. Das klang ja nun recht pietistisch und hatte Peter sehr fremdartig berührt, und die schiefe Kopfhaltung des Mannes bei diesen Worten erst recht. Aber, indem er jetzt darüber nachdachte, erschien die Sache selbst ihm doch gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Warum sollte nicht ein Kindesherz dem Menschensohn, wie sie ihn das letzte Jahr aus seinen Worten und Gleichnissen und aus den Erzählungen der Evangelisten kennen gelernt hatten, etwas wie Liebe entgegenbringen? Und warum sollte dieses freundliche, holde Bild nicht auf eine Kindesseele schließlich einwirken? – Auch er, der Lehrer selbst, hatte ja gegenüber dieser Gestalt, die in solchen Stunden vor ihnen stand, etwas empfunden. Liebe würde er es gerade nicht nennen. Eher Bewunderung, Ehrfurcht oder so ähnlich ... Aber vielleicht konnte man es auch Liebe nennen. Man mußte dieses Wort denn nur anders verstehen, als es gewöhnlich im Leben gebraucht wurde. Wenn der Schuster davon sprach, klang das etwas süßlich und weichlich. Das mußte heraus. Dann war eigentlich nicht so viel dagegen zu sagen.
Peter dachte plötzlich wieder daran, wie schändlich man diesem Kinde mitgespielt hatte. Da packte ihn ein großer Zorn, und er ging auf den Hof und schnitt sich ein paar tüchtige Eichenstöcke. Swiebertsbauer kam zufällig darauf zu und fragte: »Na, Scholmester, wat will he denn mit de Eken?«
»Tweislan Entzweischlagen. up den Puckel Rücken. van böse Buben,« sagte Peter grimmig.
»Scholmester, nehm he lewer Barken, de sünd daför wussen.«
»Barken, de dot't düttmal nicht. Dor möt de Eken ran.«
»Wer schall de Släg denn hewn?«
»Wer se verdeent hett.«
»De armen Jungs ...«
Als Peter am nächsten Morgen in die Schulstube trat, suchte sein erster Blick Schusters Lina. Sie fehlte.
»Wo ist deine Schwester?« fragte er den kleinen Paul.
»Im Bett,« sagte der, »is krank.«
Über die Gesichter einiger großen Jungens ging ein verstohlenes Grinsen.
»Johann Westermann, komm eben mal mit in meine Stube!« sagte Peter.
Der Junge kam frech mit seinen Holzschuhen angeklappt.
Als Peter ihn in seinem Zimmer allein hatte, trat er dicht vor ihn hin: »Hast du gestern nachmittag Linas Kleider versteckt?«
Der Junge sah ihn dreist an und sagte stramm: »Nein.«
Peter öffnete die Tür zum Schulzimmer und rief Paul heraus.
Er stellte dem großen Jungen den kleinen gegenüber und fragte diesen: »Ist der hier gestern bei euch in den Wiesen gewesen?«
»Ja,« sagte Paul.
»Weißt du's ganz gewiß? Hast du ihn selbst gesehen?«
»Ja.«
»Dann gehe wieder in die Schulstube.«
Als Paul die Tür hinter sich geschlossen hatte, packte der Lehrer den großen Jungen im Kragen, warf ihn über den Stuhl und schlug ihn, so fest er konnte und solange seine Kraft vorhielt.
Dann riß er ihn wieder in die Höhe und fragte mit heiserer Stimme und außer Atem: »Wer war der andere?«
Der Junge biß sich auf die Lippen und schwieg.
»Was, du willst auch noch trotzen?« schrie Peter in Wut. »Willst du's mir sagen oder nicht?«
»Nee,« sagte der Junge.
Da packte Peter eine namenlose Wut. Er griff dem Jungen an die Kehle, warf ihn auf den Boden und schlug mit dem Eichenstock auf ihn los, gleichgültig, wohin er traf. Dabei kreischte er: »Du sagst es mir, und wenn ich dich totschlagen soll.« Der Junge stieß und schlug und biß um sich, aber gegenüber dem immer rasender werdenden Zorn des Erwachsenen war er machtlos. Endlich gab er den Namen seines Kameraden preis.
Da ließ Peter von ihm ab, stürzte in die Schule, riß Swieberts Georg aus der Bank. Wie der sich sträubte, packte er ihn ins lange Haar, und als er ihn endlich vor den Bänken hatte, schlug er blindlings auf ihn ein.
Endlich mußte er erschöpft innehalten. Da sah er, daß eben die letzten Kinder sich entsetzt zur Tür hinausdrängten. Einige Knaben waren durch das Fenster gegangen und hatten dabei eine Scheibe zertrümmert. Peter ließ sein Opfer los und wankte keuchend an die Tür. »Hierbleiben!« schrie er mit heiserer Stimme, aber kein Kind wandte sich um. Von einer wilden Panik erfaßt, flüchtete die ganze Schar davon.
Peter ging in die Schulstube zurück. Er war allein. Swieberts Georg hatte sich durch das Fenster davon gemacht.
Er sank auf einer Schulbank zusammen und preßte die Hände gegen die Schläfen, in denen das Blut hämmerte. So saß er und stierte eine Weile gedankenlos vor sich hin. Dann fühlte er plötzlich ein Würgen in der Brust und im Halse und wurde von einem schrecklichen Hustenanfall gepackt. Es schüttelte ihn, daß ihm das heiße Blut im Gesicht glühte und die Augen aus ihren Höhlen traten.
Als der furchtbare Anfall ein wenig nachließ, wankte er in seine Stube und warf sich auf sein Bett.
Allmählich kehrte ihm die Besinnung wieder. Da griff er sich in die Haare, und in ihm rief es: Was hast du gemacht? Was hast du gemacht? Er fühlte eine tiefe Scham und wühlte den Kopf in die Kissen. So lag er lange.
Ein neuer Hustenanfall riß ihn in die Höhe, noch schrecklicher als vorhin. Er hatte das Gefühl, als könnte jeden Augenblick in seiner Brust etwas zerreißen.
Als er sich endlich ermattet in das Bett zurückfallen ließ, kam es ihm zum Bewußtsein, daß er schwer krank war. Seit jenem kalten Trunk und seit jenem nächtlichen Rennen zum Arzt hatte er sich ganz gesund nicht mehr gefühlt. Seit längerer Zeit hatte er einen quälenden Husten, dessen Anfälle ihn sehr ermatteten. Er dachte an das bedenkliche Gesicht des Amtsphysikus nach der Untersuchung seiner Lungen. Kein Zweifel, es war dieselbe Krankheit, an der seine Mutter so jung gestorben war, die nun auch in ihm ihr langsames Zerstörungswerk verrichtete. Dieser Gedanke war ihm in dem letzten Jahre hier und da wohl schon gekommen, aber er hatte ihn, ausgenommen die Stunden, in denen er besonders innig an seine Tote dachte, immer wieder schnell davon gescheucht. Das tat er heute nicht, sondern mit einer Art grausamer Wollust ging er ihm nach. Wenn der Husten ihn packte und schüttelte, wartete er auf einen Blutsturz und war beinahe enttäuscht, daß er ausblieb.
Es wurde Mittag. Er spürte keinen Hunger und hatte schon beschlossen, auf die Mahlzeit zu verzichten. Aber da erwachte sein Trotz. Das konnten sie ihm im Dorf als Schwäche, als Bekenntnis eines Schuldgefühls auslegen. Er biß die Zähne aufeinander, das wollte er nicht. So raffte er sich auf, wusch sich, brachte das Haar in Ordnung, nahm seinen Stock zur Hand und ging erhobenen Hauptes, aufrecht, durch das Dorf nach dem Hofe, der ihn heute zu speisen hatte.
Als er in das Haus trat, kam ein Dienstmädchen und wies ihn in eine kleine Altenteilerstube, die er sonst noch nicht betreten hatte. Hier trug sie ihm schnell und scheu das Essen auf. Sonst hatte er hier, wie in allen Häusern, mit der Familie am Tisch die Mahlzeit eingenommen. Er begann zu essen. Aber er brachte nur mit äußerster Anstrengung ein wenig hinunter. Als er sich eine Zeitlang gequält hatte, nahm er ein Stück Fleisch und einige Kartoffeln, wickelte sie in Papier und steckte sie in die Tasche. Er wollte den Leuten nicht verraten, wie dieser Morgen ihn mitgenommen hatte. Aus demselben Grunde setzte er die Füße hart auf und schlug die Türen kräftig zu, als er das Haus verließ. Auf dem Hofe sah er sich einmal um. Aus den Fenstern blickten ihm feindselige Gesichter nach.
Auf der Dorfstraße sah er in der Ferne Clas Mattens daher kommen. Er freute sich, diesen zu treffen, und ihm gegenüber sein Verhalten rechtfertigen zu können. Der konnte vielleicht dann auch die andern wieder zur Vernunft bringen. Aber kurz bevor sie einander begegnen mußten, bog der Bauer auf ein Gehöft ab. Und als Peter vorbei war und sich umblickte, sah er, daß jener das nur getan hatte, um eine Begegnung zu vermeiden. Jetzt ging er schon seines Weges auf der Dorfstraße weiter.
Den ganzen Nachmittag wurde er von widerstreitenden Gedanken hin- und hergeworfen. Bald lobte er sich, daß er den Bubenstreich so gründlich geahndet hatte. Bald wieder machte er sich schreckliche Vorwürfe, weil er sich so vergessen hatte. Bald glaubte er, in einem heiligen, gerechten Manneszorn aufgelodert zu sein. Und dann wieder schämte er sich tief vor sich selbst. Bald hob er den Kopf, als ob er Kraft in sich fühlte, der ganzen Welt zu trotzen, um darauf wieder den Tod herbeizuwünschen, der ihn aus dem Kampf entrücken sollte. Ein wie trotziges, und denn doch wieder bis zum Äußersten verzagtes Ding das Menschenherz ist, das erfuhr er in diesen Stunden gründlich.
Am Abend kam der Knecht des Gemeindevorstehers und brachte ihm einen Brief. Dieser enthielt die kurze Aufforderung des Superintendenten, am nächsten Morgen um acht Uhr vor ihm zu erscheinen.
Peter schlief die Nacht über leidlich, fühlte sich am andern Morgen erquickt und war geneigt, seine Sache als eine Kleinigkeit anzusehen. Auch die Wanderung durch die frische Morgenluft tat ihm wohl, und als er bei der Wohnung seines Vorgesetzten anlangte, fand er beinahe Freude daran, sich vor diesem zu verantworten.
Als er in seine Studierstube trat und ihm wie gewöhnlich die Hand zur Begrüßung reichen wollte, wurde er durch eine Handbewegung und ein kurzes »Setzen Sie sich« auf einen Stuhl verwiesen.
»Ich habe Sie in einer sehr unangenehmen Sache herzitieren müssen,« begann der Superintendent, nachdem er seine Pfeife in die Ecke gestellt hatte. »Es waren einige Hausväter Ihres Dorfes bei mir, um im Namen der ganzen Schulgemeinde Beschwerde über Sie zu führen. Sie wissen wohl, warum.«
»Jawohl,« sagte Peter klar und bestimmt, »weil ich ihren sauberen Jungens die Prügel gegeben habe, die sie doppelt und dreifach verdient hatten. Haben meine Verkläger das auch gesagt?«
»Ich habe natürlich den Ursachen der Züchtigung nachgeforscht, und da sind sie damit herausgekommen. Die Männer geben selbst zu, daß es eine Dummheit von den Kindern war.«
»Eine Dummheit? Ich meine, eine Bosheit.«
»Nun ja, ich gebe Ihnen gern zu, es war kein schönes Stück, und eine mäßige Züchtigung war da wohl am Platze. Immerhin muß man bedenken, es handelt sich um Kinder. Bei ruhigem Blute besehen, war's schließlich doch wohl nur ein unschuldiger Kinderstreich.«
»Herr Superintendent, ich muß Ihnen in aller Ehrerbietung widersprechen. Ich kenne meine Missetäter ganz genau. Von ›kindlicher Unschuld‹ kann bei denen wohl nicht gut die Rede sein. Ich bin auf dem Lande, nur vier Stunden von hier, groß geworden. Und wenn ich auch von jeher mehr meine eigenen Wege gegangen bin, so weiß ich doch sehr gut, was bei unsern vierzehnjährigen Jungens von dem, was Sie ›kindliche Unschuld‹ nennen, zu halten ist. Aber ich würde nicht viel daraus gemacht haben, wenn nicht durch diesen Streich gerade ein Kind betroffen wäre, das in meiner Schule und im Dorfe schon seit langem einen schweren Stand hat, weil es begabter, zarter, empfindlicher ist, als die ganze andere Gesellschaft. Andere Mädchen meiner Schule hätten in solchem Falle vielleicht halbverschämt gekichert. Aber Lina Döhler ist darüber krank geworden. Darum, was anderen gegenüber vielleicht nur ein dummer Jungensstreich gewesen wäre, das war bei diesem Kinde einfach eine Gemeinheit.«
»Es will mir scheinen, mein Lieber, daß die Bauern auch in dem andern Beschwerdepunkt nicht ganz Unrecht haben, daß Sie parteiisch wären und nicht alle Kinder mit dem gleichen Maß mäßen. Was bewegt Sie, die Tochter des Schusters vorzuziehen?«
»Vorziehen? Ich bin mir nicht bewußt, sie vorgezogen zu haben. Ich versuche nur, jedes Kind nach seiner Eigenart zu behandeln. Das muß ich freilich sagen, ich bin froh und dankbar, daß ich diese Schülerin in meiner Schule habe. Ein solches Kind ist für den Lehrer nicht nur eine Freude, sondern geradezu ein Segen. Es zwingt ihn, sich zusammenzureißen und sein Bestes zu geben. Es bewahrt ihn davor, ein seichter Schwätzer zu werden ..«
»Also Ihr Pflichtgefühl ist nicht stark genug, um Sie davor zu bewahren? Dazu brauchen Sie eine kleine niedliche Larve mit dunkelbraunen Augen?«
»... Herr Superintendent!«
»Wir schweifen zu weit ab. Ich habe Ihnen einige Fragen vorzulegen, die Sie mir kurz beantworten wollen. Warum schenken Sie diesem Kinde das Lernen des Katechismus?«
Peter sah seinen Vorgesetzten betroffen an und schwieg.
»Als ich im letzten Herbst Ihre Schule revidierte, ertappte ich dieses Mädchen darauf, daß sie zwei wichtige Fragen des Katechismus nicht konnte. Ich gab Ihnen auf, das Kind nachsitzen zu lassen. Man sagt mir, Sie wären dieser dienstlichen Weisung nicht nachgekommen. Wie steht's damit?«
»Die Leute haben Ihnen recht berichtet.«
»Haben Sie denn im Hause das Kind das Versäumte nachholen lassen?«
»Nein,« sagte Peter kurz.
»Warum nicht?« fragte der Superintendent scharf.
Peter schwieg.
»Na, denn will ich's Ihnen sagen. Außer einem andern Grunde, der heimlich mitgespielt haben mag: weil Sie den Schuster mehr fürchten, als mich, Ihren Vorgesetzten.«
»Nein, Herr Superintendent,« sagte Peter, indem er sich aufrichtete, »sondern, weil ein Mädchen wie Lina Döhler es nicht nötig hat, die Pflichten gegen sich selbst aus dem Katechismusgeschwätz auswendig zu lernen.«
Der Superintendent schlug mit der Hand auf den Tisch und rief: »Unerhört! Sie aufgeblasener Schulmeister Sie, der seine ganze Weisheit in einem Winter auf dem Seminar aufgesammelt hat, Sie wagen, unsern altehrwürdigen, bewährten Katechismus zu beschimpfen? Unerhört! Ja, wenn Sie ihn selbst nur besser kennten und beherzigten! Gerade in den Sätzen, um die es sich bei Ihrer geliebten Schülerin damals handelte, war, so weit ich mich erinnere, die Rede von ›Mäßigung aufwallender, heftiger Gemütsbewegungen‹. Hätten Sie sich diese Worte hinter die Ohren geschrieben, statt in Ihrem schulmeisterlichen Dünkel darüber zu Gericht zu sitzen, dann hätten Sie sich nicht so weit vergessen können, in blinder Wut mit einem Eichenknüppel um sich zu schlagen und zu schreien: Ich schlage dich tot. Sie können Gott danken, daß es nicht wirklich zu einem Totschlag gekommen ist. Ihr Verdienst war das jedenfalls nicht! Schämen Sie sich! Sie haben alle Ursache, die großen Worte, die Sie hier geführt haben, zu lassen und sich einmal gründlich zu demütigen. Na, nun husten Sie man nicht auf einmal so!«
Peter hatte während der letzten Sätze seines Vorgesetzten einen Hustenanfall bekommen, der fast eine halbe Minute anhielt. Als er wieder Ruhe hatte, sagte er gequält: »Herr Superintendent, verzeihen Sie, ich bin schwer krank. Ich glaube, meine Krankheit ist auch mit schuld daran, daß ich mich so vergessen habe.«
»Ach was! Sie krank? Sie haben sich in Solten tüchtig herausgemacht und sehen geradezu blühend aus. Solche faulen Entschuldigungen kann ich nicht gelten lassen. Wegen Ihrer Jugend und Unerfahrenheit will ich jedoch von weiteren Schritten absehen, erteile Ihnen aber wegen gröblicher Überschreitung des Züchtigungsrechtes und wegen Ungehorsams gegen einen Befehl Ihres Vorgesetzten hiermit eine scharfe Rüge. Außerdem lege ich Ihnen auf, mir binnen drei Tagen zu berichten: erstens, daß Sie die Väter der von Ihnen mißhandelten Kinder um Verzeihung gebeten haben, und zweitens, daß die Tochter des Schusters die Katechismusstücke, um die es sich bei der Revision handelte, inzwischen gelernt hat. Innerhalb sechs Wochen haben Sie weiter zu berichten, daß sie alles nachgeholt hat, was sie dank Ihrem freundlichen Entgegenkommen bisher hat versäumen dürfen. Endlich möchte ich Sie noch ersuchen, im dienstlichen Verkehr mit mir sich eines angemesseneren Tones zu befleißigen. Sie hätten heute öfter als einmal verdient, an die Luft gesetzt zu werden. Sie können jetzt gehen.«
Der Rückweg nach Solten wurde Peter sauer. Er mußte sich mehreremale an einen Baum lehnen.
Zum Mittagessen ging er nicht in das Dorf. Der Reihetisch hätte ihn heute zu Westermann geführt, und dem wollte er lieber doch nicht unter die Augen treten. Er blieb auf seinem Zimmer und aß ein wenig von dem Brot, das die Häuslingsfrau, die ihm die Morgenmilch besorgte und sein Zimmer aufräumte, für ihn mitzubacken pflegte.
Und dann kamen wieder die unendlich langen Nachmittagsstunden. Eine Arbeit, die ihm über sie hinweggeholfen hätte, vorzunehmen, war er nicht imstande. Er lag auf seinem Bett und mußte grübeln und grübeln. Grübeln über das Geschehene, wie gestern. Und grübeln, was nun werden sollte. Und dabei wurde er auch von den widerstreitendsten Gedanken hin- und hergeworfen. Bald war er entschlossen, dem Vorgesetzten zu trotzen, was auch daraus werden mochte. Dann wieder erwog er dessen Forderungen, und überlegte, wie er sie erfüllen könnte. Zu einem festen und dauernden Entschluß kam er nicht.
Als er lange so einsam sich gequält hatte, kam ihm der Gedanke: Wenn du doch nur einen Menschen hättest, mit dem du dich beraten könntest. Aber mit wem?
Mit Clas Mattens? Ja, es war gut mit ihm zu reden und zu beraten, so lange man im Dorfe lieb' Kind war. Es war interessant und lehrreich, ihm zuzuhören, wenn er in seiner sachlichen und humorvollen Weise von den Dingen des bäuerlichen Lebens sprach. Aber für das, worum es sich jetzt handelte, fehlte ihm jedes Verständnis. Da war er einfach der Bauer, der mit den Bauern durch dick und dünn ging. Und diese alle hielten fest zusammen. Peter fühlte, daß er die Dorfgemeinde geschlossen gegen sich hatte. Und er empfand auch, dieser Gemeingeist war so stark, daß er selbst von den wohlwollendsten Männern unter diesen Umständen keine gerecht abwägende Beurteilung seiner Sache erwarten dürfte.
Da dachte er an den Schuster. Wie seine Kinder in der Schule, so nahm er selbst in der Dorfgemeinde eine Ausnahmestellung ein. Ob er sich einmal mit ihm beraten sollte? Der Mann hatte ja auch die Menschen gegen sich gehabt und Kämpfe durchgemacht. Und um seinet- und seiner Familie willen war er, Peter, ja auch in diese böse Lage hineingekommen. Ohne Lina und Paul hätte er alle seine Lebtage in Solten so friedlich Schule halten können, wie der alte Wencke in Wehlingen. Sollte er versuchen, sich bei ihm Rat zu suchen? Nein, der Mann war doch zu wunderlich. Der redete dann wieder seine Sprache Kanaans und wollte alle Schwierigkeiten mit schönen Bibelsprüchen lösen.
Aber je länger Peter grübelte und sich quälte, desto größer wurde sein Verlangen, einen Menschen, ein Menschenantlitz zu sehen und ein Menschenwort zu hören. Und endlich schrieb er ein paar Zeilen an den Schuster, in denen er ihn dringend bat, ihn noch heute abend zu besuchen. Diese übergab er dem Kinde seiner Aufwärterin, nebst einem Paar Stiefel, die besohlt werden mußten.
Der Weg bis zur Wohnung des Mannes nahm zehn Minuten in Anspruch. So glaubte er, ihn in einer halben Stunde erwarten zu können ...
Eine ganze Stunde war schon vergangen, und noch immer wartete er vergebens. Da nahm er, um die Zeit hinzubringen, seine Geige, stimmte sie sehr sorgfältig und begann zu spielen. Aber die gute Freundin war diesen Abend kalt und teilnahmlos. Sie machte wohl ihre Töne, aber es war keine Seele darin.
Fast hart warf er das Instrument auf den Tisch. Nach einem Menschen sehnte er sich, nach einem Menschenauge und Menschenwort.
Endlich, es war bereits völlig dunkel geworden, da wurden draußen Fußtritte laut, und nach umständlichem Fußreinigen vor der Haustür trat der Erwartete ein. »'Abend, Herr Lehrer haben mich herbestellt,« sagte er förmlich und steif. »Was wünschen der Herr Lehrer von mir?«
»Ach bitte, nehmen Sie doch Platz!« sagte Peter, »und lassen Sie mich erst Licht anzünden.«
Als die Lampe brannte, fing er an, unruhig und gesenkten Hauptes in der Stube hin und her zu gehen.
»Der Herr Lehrer sieht sehr angegriffen aus,« sagte der Besucher.
»Kein Wunder, ich habe auch schreckliche Stunden hinter mir, die ich meinem schlimmsten Feinde nicht gönnen möchte,« sagte Peter, vor dem Manne stehen bleibend.
»Ja,« sagte der Schuster und nickte still vor sich hin, »des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist.«
Der erste Bibelspruch! dachte Peter.
Er fuhr fort, die Stube zu durchmessen. Plötzlich blieb er wieder vor seinem Gaste stehen: »Was soll ich machen? Raten Sie mir!«
»Sie müssen sich demütigen,« sagte der andere einfach.
»Ach, gedemütigt bin ich heute genug. Ich war beim Superintendenten.«
»Das nützt nichts. Sie müssen sich selbst demütigen ... vor Gott und Menschen ...«
»Vor Gott?«
»Ja, das ist die Hauptsache.«
»Ja, mein Lieber, Sie reden immer so viel und schön von Gott, als ob Sie mit in seinem Rate säßen. Nun hören Sie mal zu, aber erschrecken Sie nicht zu sehr. Wir wollen mal ganz ehrlich sein. Was hilft es, sich und anderen Menschen was vorzumachen? An Ihren »lieben Gott« glaube ich gar nicht. Ich habe auch wohl mal geglaubt, aber eine schreckliche Nacht meines Lebens hat mir meinen Glauben hingemordet.«
»Soo? ... Das ist vielleicht gut.«
»Das ist gut?«
»Ja.«
»Warum?«
»Was Sie da verloren haben, das war der wirkliche Gott gar nicht. Das war nur ein Götze, den Sie sich selbst in ihrem kindlichen Unverstand zurecht gemacht hatten, und meinten dann, dieser arme Götze könnte und müßte Ihnen nun alle irdischen und sündlichen Wünsche erfüllen. Und als er das nicht tat, warfen Sie ihn über Bord ... Wer den lebendigen Gott einmal gefunden hat, der kann ihn nicht wieder verlieren.«
»Wer ist denn dieser lebendige Gott?«
»Der Vater unsers Herrn Jesu Christi.«
»Das habe ich tausendmal gehört, und bin damit nichts klüger als vorher.«
»Lieber Herr Lehrer, ich weiß von meiner Lina, daß Sie unsern Herrn nicht verachten, daß Sie ihn auch lieb haben. Nun, der hat gesagt: Philippe, wer mich siehet, der siehet den Vater.«
»Aber wie macht man's denn, daß man in ihm den Vater sieht?«
»Das muß Gott uns blinden Menschen offenbaren. Niemand kennet den Vater denn nur der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren. Und niemand kennet den Sohn denn nur der Vater, und wem es der Vater will offenbaren.«
»Ja, so jagt ihr uns ewig im Kreise hemm, ihr klugen Schriftgelehrten. Da steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor ..«
»Wissen Sie was, Herr Lehrer? Ich freue mich herzlich, daß Sie in diese Not hineingekommen sind.«
»Darüber freuen Sie sich?«
»Sie sagten vorhin, Sie hätten in einer schrecklichen Nacht Gott verloren. Und ich sage Ihnen, in einer noch schrecklicheren Nacht der Seele werden Sie den lebendigen Gott wiederfinden. Wenn der Wellen Macht in der trüben Nacht will des Herzens Schifflein decken, da wird er seine Hand nach Ihnen ausstrecken.«
»Verstehen Sie sich auch aufs Prophezeien?«
»Nein, aber ich weiß, Sie werden die Last, die Sie sich selbst aufgeladen haben, nicht eher los werden, als bis Sie sie auf Gott geworfen haben.«
»Soo? Das meinen Sie ...«
»Sie gehören überhaupt zu den Menschen, die nicht ohne Gott sein können. Sie haben auch schon in ihren Kinderjahren Stunden gehabt, wo Sie ihm nicht ferne waren.«
»Woher wissen Sie das?«
»Das weiß ich nicht. Das fühle ich. Was ich aber wirklich fühle, das ist mir viel gewisser, als was ich mit dem Kopfe weiß. Sehen Sie, Herr Lehrer, bei welchen Menschen muß ich an das Wort des Apostels Paulus denken: Der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Und bei welchen an das Wort des Kirchenvaters Augustin: Du hast uns zu dir geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in dir. Das unruhige Herz haben Sie schon. Schon lange haben Sie das Herz, das da dürstet nach dem lebendigen Gott wie ein dürres Land. Und seine Ruhe wird es noch finden ...«
»Ja, wenn sie's mit Erde zudecken ...«
»Nein ... schon früher .... vielleicht schon gar bald ...«
»... Naja ... aber ich habe Sie nicht hergebeten, um mit Ihnen über theologische Spitzfindigkeiten zu streiten und mir Ihre Ahnungen erzählen zu lassen. Ich wollte Sie in meiner schwierigen Lage um Rat fragen.«
»Darüber sprechen wir ja auch nur.«
»Naja, aber nun etwas anderes! Ich war heute vor den Superintendenten geladen. Dieser, Ihr besonderer Freund, verlangt von mir, daß ich hingehen und die Eltern der bösen Buben um Verzeihung bitten soll.«
»Da hat der Herr Recht. Ich sagte ja auch vorhin schon, Sie müßten sich demütigen vor Gott, und vor den Menschen auch.«
»Aber wo bleibt denn meine Achtung im Dorf? Wie kann ich mich dann noch als Schulmeister sehen lassen?«
»Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöhet werden.«
»Achja, Ihre Bibelsprüche kenne ich auch.«
»Aber Sie verstehen sie noch nicht recht ... Ihre Stellung als Lehrer haben Sie durch Ihre Raserei selbst zunichte gemacht. Sie können sie nur wieder gewinnen, wenn Sie es ehrlich aussprechen, daß Ihnen das, was geschehen ist, leid tut.«
»Das ist aber nicht so leicht ...«
»Nein, für den alten Adam nicht.«
»... Und was der Superintendent dann noch verlangt, geht Sie besonders an. Ich soll Ihre Lina zwingen, den Katechismus zu lernen.«
»Das dulde ich nicht, daß dieses Buch in mein Haus kommt.«
»Wenn ich nun aber Ihre Tochter tagtäglich nachsitzen lasse und auf diese Weise zwinge?«
»Das ist Ihre Sache, die Sie mit Ihrem Gewissen abmachen müssen. Ich könnte es ja nicht hindern. Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen. Aber ich sage meinen Kindern auch immer, daß sie in der Welt vieles sehen, hören und lernen müssen, was dem Herrn nicht zur Ehre ist. Das müßten sie sehen, als sähen sie es nicht, hören, als hörten sie es nicht, lernen, als lernten sie es nicht. Was in den Kopf hineingeht, das verunreinigt den Menschen nicht. Wenn's nur nicht ins Herz eingeht! Und dafür bin ich bei meiner Lina nicht bange.«
»Warum sprechen Sie eigentlich immer in biblischen Ausdrücken?«
»Soo? Tue ich das? Denn muß das wohl davon kommen, daß ich viel in der Bibel lese.«
»Deshalb halten viele Menschen Sie für einen Heuchler.«
»Das mögen sie tun. Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber Gott siehet das Herz an ...«
»Ach, was sitzt so ein armer Schulmeister dazwischen ...!«
»Nicht bloß die Schulmeister, wir alle sitzen arg dazwischen in dieser bösen Welt ...«
Sie schwiegen. Draußen schlug der Hofhund an und riß wütend an seiner Kette.
Der Schuster horchte auf. »Ist da jemand vor dem Fenster?« fragte er leise.
»Och, wer sollte da sein ...« sagte Peter gleichgültig. Aber in demselben Augenblick zuckten sie beide zusammen. Mit scharfem Geklirr und Gekrach war ein faustdicker Stein durch das Fenster dicht an Peters Kopf vorbeigeflogen, und an der Wand, ein Stück Kalkbewurf mit sich reißend, zur Erde gefallen. Draußen entfernten sich eilige Schritte.
Peter ging hin, nahm den Stein auf und sagte bitter, ihn in der Hand wägend: »Wenn dieser eine halbe Elle mehr nach rechts geflogen wäre, dann wäre alle Not auf einmal zu Ende.«
»Herr Lehrer!« rief der Schuster erschrocken, »so dürfen Sie nicht reden.«
»So hassen sie mich,« sagte Peter und drückte den Stein verzweifelnd vor die Stirn.
»Das hat ein böser Bube getan,« sagte der andere, »deshalb dürfen Sie nicht an den Menschen verzweifeln!«
»So und so ähnlich habe ich die Menschen immer gekannt ...«
»Herr Lehrer, ich weiß wohl, wie tief das sündliche Verderben ist, das seit Adams Fall in der menschlichen Natur steckt. Aber wirklich, so schlecht sind die Menschen nicht.«
»Die gegen mich anders waren, kann ich an den Fingern einer Hand abzählen, und behalte noch einige Finger übrig ...«
»Herr Lehrer, Sie lästern Gott, wenn Sie so sprechen.«
»Kann ich dafür, wenn er die Menschen nicht besser geschaffen hat? Wenn er seiner Schöpfung keine bessere Krone hat aufsetzen können?«
»Herr Lehrer, reden Sie nicht so, ich bitte Sie!«
»Ich werde in meinem Hause wohl noch reden können, was ich will. Wer's nicht hören will, kann ja gehen.«
»Mein lieber Herr Lehrer, darf ich mir eine Bitte erlauben?«
»Was wollen Sie?«
»... Darf ich mal mit Ihnen beten? ...«
»Das fehlte auch noch: hier auf den Knieen herumrutschen! Das machen Sie lieber mit Ihren Brüdern und Schwestern.«
»Herr Lehrer, Sie wissen nicht, was Sie reden.«
»Bitte, gehen Sie!«
»Es wird mir schwer, Sie in diesem Zustande allein zu lassen ...«
»Aber ich will und kann von der ganzen Bande, die sich Krone der Schöpfung nennt, keinen mehr vor Augen sehen. Hören Sie, keinen!«
»... Dann muß ich ja gehen ... Aber ich werde diese Nacht daheim für Sie beten.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Was Sie in Ihrem Hause machen, geht mich nichts an.«
»Gott .. sei .. Ihnen .. gnädig,« sagte der Schuster bewegt und streckte Peter die Hand hin. Dieser zögerte erst, dann berührte er sie flüchtig mit der Linken, die er darauf schnell wieder zurückzog.
Der Mann sah ihm in die irren, glühenden Augen und bat sanft: »Lieber Herr Lehrer, bitte, gehen Sie gleich ins Bett. Nicht wahr, das versprechen Sie mir?«
»Wenn Sie nur erst hinaus sind!« sagte Peter, erregt mit dem Fuße aufstampfend.
Da ging der Mann. Draußen hallten seine Schritte, und der Hund schlug an. Dann verhallten die Schritte und der Hund kroch wieder in seine Hütte, die hohl schurrende Kette nachschleifend.
Nun atmete Peter auf und ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. Da horchte er plötzlich auf. Was war das wieder für ein Geräusch? ... Jetzt war's still. Aber plötzlich fiel ihm ein, das ganze Dorf ringsum steckte voll von Menschen, Menschen. Hinweg! Da draußen, in der Heide, da sind keine Menschen. Er nahm hastig Mütze und Stock und taumelte hinaus.
Aah, wie das wohltut, so ein kühler Nachtwind, nach der dumpfen Stubenluft .. Wenn mir nur keiner begegnet. Ach nein, die schlafen alle. Die Art hat es gut. Des Tags über arbeiten sie sich müde, und des Abends kriechen sie in ihre Butzen, zu zweien oder zu mehreren. Jeder hat welche, die zu ihm gehören. Und das ganze Dorf gehört zusammen. Da versteht einer den andern, und jeder findet am andern Rückhalt. »Wi sünd alltohopen gode Lüe,« sagt Clas Mattens. Ha! ..... Da brennt ein Licht ... Achja, da wohnt der Schuster. Der gute Narr ... er will diese Nacht für mich beten. Wie damals: Herr, bringe auch unsern lieben Schulmeister aus der Finsternis zum Licht, ha! ..... Wie das gleich anstrengt, wenn der Weg ein wenig bergan steigt. Das Herz rast, wohl hundertzwanzig Schläge in der Minute ... Ach, der schreckliche Husten ..... So, nun geht es wieder .... Hier hören die Äcker auf, die Heide fängt an. Wie das duftet ... Achja, es ist August, die Heide blüht ... Und da oben glühen die Sterne .. Mutter, was waren das für glückliche Zeiten, als du da oben noch an den goldenen Himmelsfenstern saßest! Mutter, wo bist du? Kannst du deinem verlorenen Kinde nicht nahe sein in diesen schrecklichen Stunden? Hier geht es, in dunkler Nacht, durch die öde Heide, den Tod in der Brust, von den Menschen gehaßt, und muß sich selbst verachten. Und du hast so kalte, tote Augen .. Und Marie, du ... du hast auch so kalte, tote Augen ... Zum goldenen Tore? ... ha! .... Einst leuchtete es vor uns, und das Herz war all seines Suchens und Sehnens so froh, nun ist's verschlungen in Nacht und Grauen .. Das war alles, alles Lüge ... Das Grab ist tief und stille, und schauerlich sein Rand, es deckt mit dunkler Hülle ein unbekanntes Land .... Oder einen Ort der Qual ...? Voll Heulen und Zähneklappen ...? Ach einen Ort mit mehr Qual als diese »schöne Erde« kann's ja gar nicht geben. Hier stoßen sie einen mit Füßen, werfen einen mit Steinen .... machen stamme Redensarten, und es steckt nichts dahinter ... Aber nein, mach dir selbst nichts vor! ... Wie schrieen damals die Kinder im Chor? ... Du selbst bist Störer deiner Ruh, du zogst dir selbst dein Leiden zu ... Ja, so ist's ... Und das ist das Schlimmste ... Das Allerschlimmste ... Das bringt einen so herunter ... Das jagt einen in die Nacht hinaus ...
So weit schon? Da ist ja die Mergelgrube ... Wie die Füße schwer sind ... ein wenig liegen und ruhen. Ah, wie das wohltut ... Da unten, zwischen den hohen, steilen Wänden, blinkt das tiefe Wasser ... War es nicht hier? ... Ja, hier haben sie vor Jahren ein armes Menschenkind herausgezogen, dem des Lebens Bürde zu schwer geworden ... hinterm Zaun liegt's begraben in Brundorf .... Wenn sie morgen wieder einen herausziehen ... niemand würde eine Träne weinen ... niemand .... »Der elende Selbstmörder« würden sie sagen und ein Grab hinterm Zaun graben, wo der Weg drüber hingeht ... Aber was schadet das ... es sind ja Menschen ... wen sie im Leben von sich gestoßen haben, der braucht ja auch nicht im Tode bei ihnen liegen. Warum langsam und qualvoll hinsiechen ... wem geschieht damit ein Gefallen ... Vier Schritte weiter gekrochen, ein Sturz, ein kurzer Kampf, und alles ist vorbei ... Ja, es ist das Beste ... »Ich eile von der schönen Erde hinab in dieses dunkle Haus.« Noch einen Blick zurück ... Was ist das für ein heller Stern dort über der Höhe? Ach so, es ist das Licht im Hause des Frommen ... »Ich werde diese Nacht für Sie beten ...« Da unten ist Ruhe ... Soo, jetzt nur noch ein wenig Übergewicht und ... Was hat der Mann für einen andern zu beten? ... Zu wem betet er denn? ... Gott! ... bist du? So gib mir Antwort! ... Der Nachtvogel schreit; – denn er ist. Das Gras säuselt; – denn es ist ... Aber du? .....................
Wie kommt es denn aber, daß, solange Menschen atmen, Menschen an ihn glauben? Wie kommt es, daß der da auf dem Berge an ihn glaubt? ... Er sagt, Jesus Christus ist der Weg zu Gott. Aber da sind wir gleich wieder mitten in der Ungewißheit. Die einen sagen, der ist ein irrender, schwacher Mensch gewesen und am Kreuze an seinem Gott verzweifelt. Und die andern sagen, er ist der Sohn Gottes, lebet und regieret in Ewigkeit ... Ja, als wir in den Büchern deiner Jünger von dir lasen, da hob deine Gestalt sich groß und herrlich vor uns. Da wurde uns, als könntest du uns das wahre Leben schenken, wonach wir uns sehnten, und uns helfen, die Welt zu überwinden, mit ihrer Lust und ihrem Leid ... Und Karfreitags haben wir unter deinem Kreuze gestanden ... und haben gesungen: All Sünd hast du getragen, sonst müßten wir verzagen, erbarm dich unser, o Jesu. Ja, das war einmal ........................ Das war einmal .............................. Oder? ...... Oder ......
Es wurde ihm, als ob die tiefsten Tiefen seines Wesens, Seelentiefen, die er bis auf diese Stunde in sich nicht einmal geahnt hatte, wunderbar durchwärmt würden. Und diese Wärme entband Kräfte, ungekannte, ungeahnte Seelenkräfte des Lebens ... eines Lebens, das fühlte er bei seinen ersten heimlichen Regungen, nach dem er sich lange gesehnt hatte.
Er sprang plötzlich auf seine Füße. Nein, nein, nein, nein! Da unten in dem dunklen Wasser war sein Ziel nicht. Er mußte weiter wandern. Dem goldenen Tore zu ... Durch die grauenvolle Nacht fing es nun wieder an vor seiner Seele zu schimmern.
Und die schon am Ziel waren, seine Toten, die ihm Wegweiser und Wandergenossen geworden, jetzt sahen sie ihn wieder mit lebenden, liebenden Augen an. Es war, als hätten auch sie aus einer geheimnisvollen Quelle des Lebens und der Liebe Leben und Liebe getrunken ...
Und die Menschen ... Er konnte jetzt nicht an die denken, die ihm Böses getan auf seinem Wege. Er mußte derer gedenken, die ihm Liebe erwiesen, und fand ihrer eine ganze Reihe, mehr als er früher je gedacht hätte, von seinen Kindestagen an bis auf die letzten Stunden ... Er war am Hause des Schusters angelangt, in dem das Licht jetzt auch gelöscht war. Da blieb er einen Augenblick nachdenklich stehen, und als er seinen Weg fortsetzte, nickte er still vor sich hin.
Er ging jetzt die Dorfstraße entlang und dachte an die Schwierigkeiten und Wirrnisse, in die er hineingeraten war. Wo waren sie geblieben? Was war einfacher, als morgen in dieses und in jenes Haus zu gehen und zu sagen, daß das Geschehene ihm herzlich leid täte? Und was das andere betraf? Was war leichter, als dem Superintendenten kurz und klar hinzuschreiben, für die Behandlung seiner Schülerin in Sachen des Katechismus nehme er, der Lehrer, die volle Verantwortung auf sich, und er halte es für eine Ungerechtigkeit, jene für etwas büßen zu lassen, was er selbst gefehlt habe, wenn es eine Verfehlung sei.
Zu Hause angekommen zündete er ein Licht an. In der schwachen Helligkeit, die dieses um sich verbreitete, sah er die Bilder des Harfenspielers und Mignons. Da nahm er das Licht und hielt es nahe heran und las die Verse und nickte dazu, langsam und nachdenklich und froh. Wie einer, der über einem Rätsel, das ihn nicht losließ, lange gesonnen hat und nun sich endlich auf dem Wege sieht, es zu lösen ...
Dann ging er zu Bett. Was er in den letzten Stunden Schreckliches erlebt hatte, lag wie ein halbvergessener grausiger Traum hinter ihm. Und vor ihm leuchtete, lockender und heller und näher denn je, das goldene Tor ..
Von einem Geräusch an der Haustür erwachte er. Einige Kinder standen vor der Schule und begehrten Einlaß. Mit Schrecken sah Peter, daß es gleich sieben Uhr war, und kleidete sich eiligst an.
Als er vor die Tür trat, sah er, daß kaum die Hälfte der Schulkinder versammelt war. Da sagte er ihnen, sie möchten vorläufig nach Hause gehen, um neun Uhr wiederkommen und die noch fehlenden Kinder auch mitbringen.
Als die Schulkinder sich zerstreut hatten, ging Peter ins Dorf und geraden Weges nach Westermanns Hofe. Er traf den Bauern auf der Diele vor den Kühen. Dieser starrte ihn verwundert an. Aber Peter ging schnell auf ihn zu und sagte, es täte ihm aufrichtig leid, daß er sich so vergessen hätte, und er bäte ihn um Verzeihung.
Wenn ein Bauersmann etwas Unangenehmes auf dem Herzen hat, was herunter soll, macht er meist erst viele allgemeine Redensarten und kommt dann ganz zuletzt und wie beiläufig mit der Hauptsache heraus. Ähnliches mochte Westermann auch vom Schulmeister erwartet haben, und inzwischen hätte er sich wohl eine Antwort überlegt, die dem Groll, den er gegen den Schulmeister hegte, entsprochen hätte. Aber diese Art Peters, so mit der Tür ins Haus zu fallen, verwirrte ihn und er brachte stockend etwas heraus wie: Das wäre schon gut, und er selbst hätte mit dem großen Jungen ja auch oft seine Not, und Prügel müßten sein; nur zu Schanden dürfe man so'n Kind doch nicht schlagen. Na, der Schulmeister wäre ja noch jung und hitzig, und hätte nun ja wohl eingesehen, wie weit er gehen dürfe, und mit den Jahren kühlte das Blut sich auch mehr ab, und der Mensch würde besinnlicher. Zuletzt fragte er Peter, ob er mit ihm frühstücken wollte. Der nahm das Anerbieten an, und die beiden setzten sich zusammen in die Dönze und aßen Brot und Sülze und tranken einen kleinen Köm dazu. »Dat wi nu jümmer gode Lüe bliewt,« sagte der Bauer, indem sie anstießen.
Auch bei Swiebertsbauer ging's Peter ganz gut. »Ick heww't ja glieks seggt,« meinte dieser trocken, »he schöll Barken nehmen und kene Eken. Eken sünd för so wat nich wussen.«
Peter ging auch zu seinem alten Freunde Mattens und erzählte ihm mit Freuden, nun wäre alles wieder gut. »Würklich?« fragte dieser und kratzte sich im Nacken, »Scholmester, Scholmester, wat heww ick van sin'twegen för Nackensläg krägen düsse Dag'! Oh, wo mi dat freut! Kumm rin, darup möt wi'n lütten Köm nehmen.«
Peter dankte. Er hätte schon bei Westermann einen getrunken.
»Bi Westermann?« fragte Mattens erstaunt. »Deuker ja, wenn de Mann enen utgiwwt, denn is't würklich alles wedder god. Scholmester, ick freu mi nu doch wedder, dat ick em in de Iserbahn ankaschiert heww.«
Um neun Uhr hatte Peter seine Schule vollzählig beisammen. Die Kinder hatten die Einladung bestellt, er selbst hatte unterwegs eingeladen, was er getroffen hatte, und wie ein Lauffeuer war die Kunde durchs Dorf gesprungen, der Schulmeister wäre wieder vernünftig geworden und hätte mit seinem ergrimmtesten Feinde gefrühstückt.
Als Peter in die Schulstube trat und alle Blicke halb neugierig, halb ängstlich auf sich gerichtet sah, war es ihm nicht möglich, den Unterricht in der üblichen Weise zu beginnen und zu tun, als ob nichts geschehen wäre.
»Meine lieben Kinder,« begann er bewegt.
Die Kinder machten verwunderte Gesichter. Diese Anrede war ihnen fremd, und noch mehr ihr Ton.
»Ihr seid mir vorgestern alle davongelaufen. Aber ich mache euch keinen Vorwurf daraus. Es war meine Schuld ... Des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist. Aber ihr werdet mich, will's Gott, nie wieder so sehen, wie ihr mich gesehen habt ... Wie sagt doch Gott zu dem Brudermörder Kain? ›Die Sünde ruhet vor der Tür. Aber laß du ihr nicht ihren Willen, sondern herrsche über sie.‹ So ist's bei mir, und bei euch, bei uns allen. Gott helfe uns, daß wir über sie herrschen können. Und wenn sie uns einmal überrumpelt, daß wir wieder aufstehen. Und nun laßt uns unsern Morgengesang singen: Aus meines Herzens Grunde, die ersten beiden Verse.«
Die Kinder setzten voll und kräftig ein, und Peter sang das Lied mit einem freudig bewegten Herzen, wie in seinem ganzen Leben nicht. Nur bei den ersten Strophen des zweiten Verses mußte er vor innerer Bewegung schweigen: »Daß du mich hast aus Gnaden in der vergangnen Nacht vor Gefahr und allem Schaden behütet und bewacht.«
Und dann fing er an, zu unterrichten. Er hatte eigentlich gefürchtet, er würde nach solcher Nacht dafür zu müde sein. Jetzt wunderte er sich, wie ihm die Gedanken zu und die Worte von den Lippen strömten. So hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht unterrichtet, so hatten die Kinder noch nie an seinem Munde gehangen. Was er ihnen heute gab, das stand nicht in den Büchern, die er vor der Schule zur Vorbereitung schnell eingesehen hatte, das nahm er aus seinem Eigensten und Tiefsten. Zwar störten ihn einige Hustenanfälle. Aber wenn er sie überwunden hatte, war er gleich wieder voll Freudigkeit und Kraft, fortzufahren.
Als es Mittag war, entließ er die Kinder. Wie er den sich zur Tür Hinausdrängenden nachsah, fiel ihm plötzlich der Vers von Mignons Bilde ein: »So laßt mich scheinen, bis ich werde.«
Da jauchzte sein Inneres auf. Was er so lange geschienen, das war er heute geworden: ein Schulmeister, ein wirklicher Meister der Schule. All seine bisherige Schulmeisterei erschien ihm plötzlich als Scheinkram, Wortgeplärr, Karrendienst. In diesen drei Stunden erst war er der Herrlichkeit seines Berufes ganz inne geworden. Er hatte nicht nur kleine Finger gesehen, die Buchstaben schreiben lernen wollten, blaue Äuglein, die sie wieder zu erkennen sich mühten. Er, der Gewordene, hatte die Nähe junger Seelen gefühlt, die wachsen und werden wollten ....
Als er vom Mittagessen aus dem Dorf zurückkam, setzte er sich sofort hin, um dem Superintendenten zu schreiben. Er zeigte ihm an, daß er mit den betreffenden Hausvätern Rücksprache genommen habe und die Sache erledigt sei. Was die die Tochter des Schusters betreffende Forderung seines Vorgesetzten anbeträfe, schrieb er diesem ehrerbietig und bestimmt in dem Sinne, wie er sich schon in der Nacht darüber klar geworden war, daß er ihr nicht nachgekommen sei und nicht nachkommen werde. Den Brief schickte er gleich durch einen Jungen an seine Adresse.
Der Superintendent machte beim Lesen dieses Briefes seines jüngsten Schulmeisters verwunderte Augen. Aber seinem Lebensgrundsatz, sich vor aufwallenden, heftigen Gemütsbewegungen aus Pflichtgefühl gegen sich selbst zu hüten, blieb er auch in dieser Sache treu. Er verfolgte sie auch nicht weiter. Beim hohen Konsistorium war für den alten Landeskatechismus nicht mehr viel zu machen. Da hatte der Wind sich in den letzten Jahren auch gedreht. Außerdem verriet ihm der Ton des Briefes, daß er hier nicht einen servilen Kriecher und Jajabruder vor sich hatte, sondern einen aufrechten Menschen, einen, der über Nacht etwas wie ein Charakter geworden war. Dieses war sein erster Eindruck beim Lesen des Briefes. Bald ging ihm freilich ein besseres Licht auf. Der junge, ungefestigte Schulmeister war natürlich auch ein Opfer der Verführungskünste des pietistischen Schusters geworden.
Am Abend dieses Tages, um die Stunde, da gestern der Schuster bei ihm gewesen war, kam Peter auf den Gedanken, den Mann, gegen den er jetzt eine tiefe Dankbarkeit empfand, zu besuchen. Aber als er länger darüber nachdachte, unterließ er es doch. Was sollte er ihm sagen? Ihm saß das Herz nicht so auf der Zunge wie jenem. Er konnte über das, was er in tiefster Seele erlebte, nicht zu andern Menschen sprechen.
In der nächsten Zeit fühlte Peter, wie seine Kräfte allmählich nachließen. Aber der befreite, von einer neuen Kraft getragene Geist, belebt durch die neugewonnene Freude am Beruf, hielt den hinsiechenden Leib noch längere Zeit aufrecht und gewann ihm, nach Zeiten allzu großer Schwäche, noch manche Stunde freudigen und kraftvollen Wirkens ab. Ein Wort des Herrn wurde ihm in dieser Zeit vor andern lieb und wertvoll: Ich muß wirken, so lange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Peter war froh und dankbar für jeden Tag seines dem Ende zueilenden Lebens, den er durch Willenskraft noch für den so spät in seiner Herrlichkeit erkannten Beruf gewinnen konnte.
Bis Mitte November gab er den Unterricht noch einigermaßen vollständig, wenn er auch häufig gezwungen war, die Stunden umzulegen und die Kinder verhältnismäßig viel mit Schreiben und Rechnen still zu beschäftigen. Von da an mußte er die Kinder nach zweistündigem Unterricht, den er zuletzt nur noch sitzend erteilte, heimschicken. Seine Kraft war dann völlig erschöpft, und er brachte die übrigen Stunden des Tages, meist fiebernd, im Bett zu.
Die Dorfleute taten, was sie konnten. Jetzt, nachdem sie ihren Schulmeister erzogen und zur Vernunft gebracht hatten, mochten sie ihn recht gern. Da er nicht mehr zu den Mahlzeiten in die Häuser gehen konnte, schickten die Bauernfrauen ihm das Essen ins Haus, und die guten legten nach dem Schlachtfest eine frische Wurst bei, oder schlugen trotz der Eierknappheit ihm eins extra in die Suppe, um ihren guten Schulmeister, wenn's möglich wäre, recht bald wieder auf die Beine zu bringen, oder ihm doch eine Freude zu machen. Die Kinder der Häuslingsfrau, die bei Peter aufwartete, lebten in diesen Wochen herrlich und in Freuden.
Peter hoffte noch immer, bis Weihnachten den zweistündigen Schulunterricht aushalten zu können. Aber am Montag der Weihnachtswoche mußte er liegen bleiben und den Kindern zurufen, daß sie nach Hause gingen. Er hörte, wie sie sich langsam und still entfernten, wie die Schritte der letzten Nachzügler auf dem Hofe verhallten. Sein Tagwerk war getan.
Der Kranke, der von der Häuslingsfrau nur mangelhaft verpflegt und bedient wurde, hatte auf seinem einsamen Krankenlager manche schwere und trübe Stunde durchzumachen.
Hin und wieder kam einer von den Dorfleuten zu Besuch. Claus Mattens stellte sich gleich am ersten Tage ein. Er erzählte dies und das, aber Peter merkte bald, daß der Mann etwas Besonderes auf dem Herzen hatte. Das kam denn zuletzt auch herunter. Peter könnte, so meinte der Bauer, ja nicht selbst hingehen und sein fälliges Gehalt holen. Ob er ihm den Weg abnehmen sollte? Und ob er nicht von dem Gelde so viel behalten könnte, daß Peters Sachen, bis auf den Tisch etwa, bezahlt wären? Peter gab seine Zustimmung. Da war der Freund sichtlich erleichtert, machte noch einige nette Scherze und wünschte beim Weggehen gute Besserung.
So kam der Tag vor dem Fest heran. Es war dicke Schneeluft, und der Kranke hatte viel unter Atemnot zu leiden, bis nach Mittag die Luft klarer wurde.
Gegen Abend kam der Schuster. Er entschuldigte sich, daß er nicht schon eher einmal vorgesprochen hätte. Aber zu Weihnachten wollte alle Welt in neuen Stiefeln gehen, und grad' eben hätte er das letzte Paar abgeliefert.
Der Besucher blickte in den Ofen, und fand das Feuer erloschen. Er sah sich im Zimmer um. Es war seit mehreren Tagen nicht gekehrt. »Herr Lehrer,« sagte er, »es wäre besser, wenn Sie nach Hause reisten. Hier kriegen Sie Ihr Recht nicht.«
»Nach Hause?« fragte Peter schmerzlich. »Ich kann nicht nach Hause, hab' keine Heimat mehr. Meine Mutter ist tot, und die enge Kate ist voll kleiner Kinder. In all der Unruhe halte ich's nicht aus.«
»Aber Sie können hier doch nicht allein liegen bleiben.«
»Ach, es wird wohl nicht lange mehr dauern.«
»Das steht in Gottes Hand .... Herr Lehrer, darf ich mir eine Bitte erlauben?«
»Und?«
»Kommen Sie zu uns!«
»Zu Ihnen?« fragte Peter verwundert.
»Ja, sehen Sie, wir haben selbst viel Schweres durchgemacht und verstehen uns wohl ein wenig auf das Krankenpflegen. Und es ist auch besser für Sie. Da kommen manchmal Stunden, wo einer sich nach dem Wort und Gesicht eines andern Menschen sehnt. Unser Heiland ist in Gethsemane auch immer wieder aufgestanden und zu seinen Jüngern gegangen.«
Peter sah den Mann einen Augenblick an. Dann streckte er die weiße, abgezehrte Hand aus und ergriff die harte, braune Pechhand des Schusters, die er stumm mit warmem Druck festhielt.
»Dürfen wir Sie holen?« fragte der andere wieder.
Peter nickte. »Gott vergelt's Ihnen, was Sie an mir tun, und ... schon getan haben ...«
Der Mann sah dem Kranken ein paar Sekunden tief in die Augen, als ob er in seiner Seele lesen wollte. Dann ging er.
Nach einer guten Stunde kam er zurück, begleitet von ein paar Männern, in denen Peter Häuslinge des Dorfes erkannte. An der Art, wie der Schuster mit ihnen verkehrte, merkte er, daß sie zu denen gehörten, die jener »Brüder« zu nennen pflegte. Das wunderte Peter; denn sie waren von ganz anderer Art als der Schuster und lebten still für sich hin, ohne irgendwie hervorzutreten.
Die Männer legten ihn mit dem Bett auf eine mitgebrachte Tragbahre, verhüllten ihn sorgfältig gegen die Winterkälte und trugen ihn sorgsam durch das Dorf.
Als endlich die Bahre hingestellt und von den Decken befreit wurde, riß Peter die Augen weit aus. Vor ihm stand ein Christbaum, im Schmuck seiner brennenden Lichter. Und um ihn her standen Lina und der kleine Paul, und noch ein kleines Mädchen, und ein Jüngstes hockte aus dem Arm der Mutter, und die Kinder sahen bald in den hellen Lichterbaum, und bald aus den kranken Gast. »Singt mal, Kinder,« sagte der Vater, und Lina schlug den Arm um Paulbruder, und sie sangen zusammen zweistimmig das Weihnachtslied, das Peter in den letzten Wochen sie gelehrt: »Stille Nacht, heilige Nacht.« Dann setzte der Schuster sich die dicke Hornbrille auf und las das Evangelium von der Geburt des Heilandes, und die Kinder, in deren dunklen Augen die Lichter des Tannenbaumes glänzten, hörten andächtig zu, und die Männer standen mit den Mützen in den Händen und schauten ernst und still drein.
Als der Hausvater das Buch geschlossen hatte, sagte er: »So, Kinder, nun drückt die Lichter vorsichtig aus und geht in die andere Stube, daß der Herr Lehrer Ruhe hat. Und du, Mutter, sorgst wohl, daß er noch etwas Warmes zu essen kriegt. Und ji beiden gaht noch mal in dat Scholhus und bringt den Scholmester sin Kram her, dat wi em dat recht gemütlich maken könnt.«
»Ok de beiden Biller an de Wand,« sagte Peter reife, »und min Vigelin'. Dat dor man nix an passiert!«
»Herr Lehrer, Sie können sich auf meine Freunde verlassen,« beruhigte der Schuster den Kranken.
Als Peter ein wenig genossen hatte, kamen die Männer schon zurück. Der Schuster mußte die Bilder über seinem Bett befestigen, Mignon links, den Harfenspieler rechts. Dazwischen fand die Geige ihren Platz, so, daß der Kranke sie ohne große Anstrengung erreichen konnte. Dies waren ihm die liebsten Besitztümer. Die Anordnung des übrigen überließ er den andern.
Bald hatten sie ihn verlassen, und im Hause würde es still. Aber Peter konnte noch lange nicht einschlafen.
Es war ja der erste Weihnachtsabend, den er im Leben gefeiert; in der Stube war noch der Harzduft des ersten Christbaums, in dessen Lichterglanz er geschaut hatte. Wie schabe, daß das alles so schnell vorübergegangen war, fast ehe er sich recht hatte besinnen können! Nein noch nicht einschlafen, noch eine Weile liegen und sich still weiter freuen ..
Bald holte er sich die Genossin seiner Leiden und Freuden heran, seine Geige. Stillfroh spielte er mit den Fingern auf dem einsamen, dunklen Krankenlager die lieben alten Weihnachtsweisen, die um dieselbe Stunde wohl durch Hunderttausende froher, heller Christenhäuser schallten. So schlummerte er zuletzt ein, die treue Freundin im Arm und stille Weihnachtsfreude im Herzen.
Es folgten schwere Tage und Wochen für den Kranken. Manche Stunde blieb ihm nichts als stillhalten und leiden. Aber im tiefsten Grunde blieb er immer froh und dankbar. Denn er konnte leiden unter treuer Liebe Hut und Pflege.
Was hatte der arme Junge in seinem kurzen Leben von Liebe erfahren! Eine dunkle Erinnerung aus den ersten Lebensjahren sagte ihm, daß er einmal warm in Mutterarmen geruht hatte. Dann der kurze Maimond seines Lebens, da sein ganzes Wesen in Liebe aufgeblüht war. Dann noch die Freundlichkeit des Musiklehrers auf dem Seminar. Sonst war er ohne Liebe und einsam seine Straße gezogen. Nun hatte der dunkle, stürmische Tag doch noch seinen füllen, lichten Abend, über den letzten Wochen seines zur Neige gehenden Lebens lag der warme Glanz treusorgender Liebe.
Wie gut sie alle im Hause sich auf die Behandlung des Kranken verstanden! Wenn es dem Leidenden lästig wurde, Menschen um sich zu haben, brauchte er es gar nicht zu sagen. An irgend welchen Anzeichen merkten sie das und verließen leise das Zimmer. Und wenn er sich nach Gesellschaft sehnte, so dauerte es auch meist nicht lange, bis jemand kam.
Der Schuster sprach am liebsten über geistliche Dinge, und seine Gesellschaft konnte dem Kranken am ehesten drückend werden. Es blieb eben zwischen den beiden der Gegensatz zwischen rheinischer und niedersächsischer Art. Bei dem lebhaften Rheinländer ging es ganz nach dem Wort: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Der schwerfällige Niedersachse dagegen mußte sein Bestes und Tiefstes keusch im Busen verschließen. Er mochte und konnte nicht darüber reden. Diese Schweigsamkeit und das Fehlen eines Echos machte den Schuster manchmal bedenklich, ob es mit dem Seelenheil seines Pfleglings schon recht bestellt sei, und er sprach immer wieder über alles, was ihm dazu nötig schien. Peter lag dann meist mit geschlossenen Augen und nickte von Zeit zu Zeit, wenn ein Gedanke darunter war, den er als Baustein seines inneren Werdens, das in diesen Leidenszeiten nicht ruhte, gebrauchen konnte, oder ein Wort, das ihm für die dunklen Nachtstunden Trost versprach. Der gute Schuster brachte aber auch manches zutage, was Peter höchst wunderlich vorkam, ja was ihn wohl geradezu abstieß. Denn ganz konnte der Schriftgelehrte hinter der Schusterkugel die Finger von dem heiklen Gebiet der Theologasterei nicht lassen.
Am liebsten war ihm Linas Gesellschaft. Wenn das Mädchen an seinem Bette saß, das feine Gesichtchen über die Handarbeit gebeugt, wenn sie ihn fragend anblickte, ob er einen Wunsch hätte, wenn sie seinen fiebernden Lippen zu trinken reichte, dann konnte er sein Leiden fast vergessen. Hatte sie ihn so eine Zeitlang durch ihre stille Gegenwart erfreut, fühlte er meistens den Wunsch, ihre liebe Stimme zu hören. Dann bat er sie, ihm etwas vorzulesen, bald ein Stück aus der heiligen Schrift, bald ein Gedicht, das ihm lieb geworden war, oder wonach er sonst gerade Verlangen trug. Dann lag er meist mit geschlossenen Augen; und wenn er auch oft zu schwach war, um den Inhalt des Gelesenen in sich aufzunehmen, so tat ihm doch der Klang ihrer Stimme schon wohl. Am Abend seines kurzen Tagewerks war es ihm eine fülle Freude, daß er fast zwei Jahre an dieser lieblichen Menschenknospe Gärtnerdienste hatte tun dürfen.
Eines Nachmittags in der Dämmerung, als sie an seinem Bette saß und ihm lange vorgelesen hatte, ergriff er ihre Hand und hielt sie lange fest. »Die dritte«, kam es zuletzt leise über seine Lippen.
»Wie, Herr Lehrer?« fragte das Kind.
»Ach Lina, ich dachte an etwas. Habe ich etwas gesagt?«
»Ja, Sie sagten: Die Dritte.«
»Achso, ja; ja, ich dachte an etwas ...«
Er hatte daran gedacht, daß das Kind, dessen Hand er in der seinen fühlte, die dritte gewesen war in der Reihe der Frauengestalten, die ihm den Weg gezeigt hatten. Das letzte und, wie er empfand, tiefste und innerste Werden, das er erlebt hatte, konnte er sich ohne die Arbeit und Vertiefung, wozu ihn dieses Kindes Wesen gezwungen, gar nicht denken.
Die Frau des Schusters hielt es nicht, wie ihr Mann, mit vielen Worten. Dafür aber war sie die Verständnis- und liebevollste Pflegerin. Wenn sie ihm das Bett machte, wenn sie ihm das Essen brachte und dem Appetitlosen freundlich zusprach, oder wenn sie ihn bei zu großer Schwachheit fütterte wie ein kleines Kind, immer hatte der Kranke das Gefühl, von Mutterhänden verpflegt zu fein. Ganz so, dachte er, würde seine eigene Mutter es auch machen, wenn sie noch lebte.
Peter sann in einsamen Stunden viel über sein Leben nach. Und da fiel es ihm auf das Gewissen, daß er einst mit einem so pietätlosen Wort von seinem Vater gegangen war. Er bat den Schuster, diesem von seiner Krankheit zu schreiben und ihn zu bitten, daß er seinen kranken Sohn einmal besuchte. Nach drei Tagen kam Harm Eggers an. Peter hatte sich vorgenommen, wegen jener häßlichen Abschiedsszene ihn um Verzeihung zu bitten. Aber er kam nicht dazu. Denn kaum hatte der Vater das abgezehrte Gesicht des Sohnes gesehen, so brach er in wildes, krampfartiges Schluchzen aus. Peter war tief ergriffen, daß dem Vater sein Leiden so zu Herzen ging, und fühlte auch, daß die kindliche Liebe trotz allem in seinem Herzen noch nicht erstorben war. Als aber der Vater sich gar nicht fassen konnte, sah er ihm scharf in die Augen und merkte, daß der Alkohol an diesem Gefühlsausbruch nicht unschuldig war. »Vader!« sagte er tieftraurig. Da fing dieser an, ihm zu versichern, daß er an seiner Krankheit keine Schuld habe. Die hätte er ganz allein von seiner Mutter geerbt. Aber er würde wohl bald wieder besser werden, denn er, der Vater wär so gesund, und die ganze Familie, und Trina, und die Geschwister wären alle so gesund, und Peters Urgroßvater wäre beinahe neunzig Jahre alt geworden und hätte alle Zähne mit in den Sarg gekriegt. Peter hatte sich gequält zur Wand umgedreht, und als der Vater im Weggehen ihn einlud, die Osterferien zu Hause zu verleben, antwortete er nicht. Die nächsten Stunden waren sehr schwer für den Kranken. Er mußte noch einmal seine verlorene, elende Jugendzeit in der Erinnerung durchleben und konnte den ganzen Tag keine Menschen um sich haben. Und auch in den nächsten Tagen kam immer wieder ein bitteres Gefühl über ihn, daß er so von dem Menschen, der ihm das Leben gegeben, hatte Abschied nehmen müssen.
Und dann, Anfang März, kam der Tag der letzten Kämpfe.
Als der Schuster an diesem Morgen an sein Bett trat, sagte der Kranke, matt zu Mignons Bilde deutend: »Ich eile von der schönen Erde hinab in jenes feste Haus.«
»Herr Lehrer, diese Erde schön?« fragte der andere erschreckt. »Ein rechtes Jammertal ist sie.«
»Ja. ... ja ... ein Jammertal ... und doch wunderschön ....«
Über die bleichen Züge ging wie ein stilles Leuchten die Erinnerung glücklicher Tage.
»Und doch .... schön,« sagte er noch einmal.
»Herr Lehrer,« sagte der Schuster dringlich und voll Angst, »Sie stehen vor den Toren der Ewigkeit. Ich bitte Sie um Ihrer Seelen Seligkeit willen, denken Sie an das Eine, was not tut, denken Sie an Gott und unsern Heiland!«
»Ich danke ihm ... daß die Erde ... so schön war ...«
»Nein, nein, nicht rückwärts schauen, sondern vorwärts ... Der Apostel Paulus schreibt..«
Der Kranke schüttelte abwehrend den Kopf und sagte leise: »Ich weiß, an wen ich glaube.
Da ließ der Mann von ihm ab und beschränkte sich darauf, für seine Seele still zu beten.
Als die Sonne untergehen wollte, warf sie einen letzten Schein auf die Fenster der stillen Krankenstube, daß sie tief goldig erglänzten.
Da öffnete der Sterbende, der schon lange bewußtlos gelegen hatte, die Augen und flüsterte leise: »Marie!«
Der Schuster erschrak und wandte sich zu seiner Frau: »Immer noch diese weltlichen Gedanken! Daß so ein junges Blut gar nicht von der Welt loskommen kann .... Herr, zeige ihm dein Heil!«
Wieder machte der Sterbende langsam und weit die Augen auf und wandte sie dem Lichte zu. Sie schienen in unendliche Fernen zu schauen. Und diese blassen Lippen öffneten sich und hauchten: »Das .... goldene ... Tor. ....«
»Er ist doch auf dem rechten Wege,« flüsterte der Schuster, und über sein Gesicht ging eine fülle Freude, »er sieht schon die Tore Jerusalems, der hochgebauten Stadt, von ferne leuchten.« ...
»Und nun ist er angekommen,« sagte er nach einer Weile.
Zu der Beerdigung kamen der Vater, die Stiefmutter und die ältesten Geschwister auf einem geliehenen Wagen angefahren. Aus Solten sandte jedes Haus zwei zum Trauergefolge. Auch die ganze Schuljugend folgte; jedes Kind trug einen Tannenkranz.
Der alte Superintendent hatte seit Weihnachten einen Adjunkten und war froh, diesem das Begräbnis übertragen zu können. Als die Gemeinde vom Grabe sich in die Kirche begeben hatte, verlas der junge Pastor nach der Sitte zunächst den von einem Lehrer der Nachbarschaft verfaßten Lebenslauf, der die äußeren Lebensdaten des Verstorbenen in stereotyper Form aufzählte. Dann legte er das Blatt zur Seite und fuhr fort: »Was wir eben gehört haben, andächtige Trauerversammlung, ist von dem Leben unseres Entschlafenen das, was vor aller Augen liegt. Sein wirkliches Leben, das Leben, das sich in dem Tiefsten und Eigensten abspielt, das kennt wohl kein Mensch, die nächsten Angehörigen nicht ausgenommen. Ich habe den Entschlafenen auf seinem letzten Lager einige Male besucht und hätte gern einen Blick in sein inneres Leben, seine Entwicklung, sein Werden und Wachsen getan. Aber er hat mir diesen Blick nicht verstattet. Er durfte es wohl nicht, weil die Zartheit und Keuschheit seiner Seele es ihm verbot. Ich habe aber den Eindruck gewonnen, daß er in der Stille viel Leid erfahren und schwere Kämpfe hat durchmachen müssen, und daß er gesiegt hat in der Kraft dessen, durch den wir Christen die Welt überwinden wollen. In dem Lebensalter, in dem er von uns gegangen ist, sind die meisten von uns noch gar nichts. Aber ich glaube, er ist hingegangen nicht als ein Unreifer, sondern als ein Reifer, der ganz in der Stille durch Beides, Liebes und Leides, was der Lenker seines Lebens ihm geschickt, etwas geworden ist zu seines Gottes Ehre. Vielleicht sind solche Menschen, die nichts aus sich machen, unerkannt und manchmal auch wohl verkannt ihren Weg gehen, still suchen und sich sehnen, still lieben und leiden, still glauben und hoffen, wachsen und werden, kämpfen und siegen, gerade die besten unseres Geschlechts und Gottes liebste Kinder ....«
Nach Beendigung der Feier kehrten die Verwandten nach dem Sterbehause zurück. Sie wollten der Einfachheit halber Peters Hinterlassenschaft gleich auf dem Wagen mitnehmen. Als sie diese zusammensuchten, verteilte die Stiefmutter gleich die einzelnen Kleidungs- und Wäschestücke an ihre anwesenden größeren Kinder. »Düsse Mütz,« sagte sie, »kannst du man updrägen, Vader.« Und Harm Eggers paßte sie gehorsam auf. Die Schulbücher sollten die Jüngsten in der Schule verreißen; wo man mit den gelehrteren bleiben wollte, mußte sich später finden. »Wat fangt wi mit de Vigelin' an?« fragte Trina. Der Schuster bat, sie zum Andenken an den Toten behalten zu dürfen. »Wat will ge utgewen?« Zwanzig Silbergroschen bot der Mann. »Nee, ünner'n Daler geiht dat Ding nicht weg,« erklärte Trina bestimmt. Der Schuster legte schweigend den Taler auf den Tisch. Die Bilder an der Wand blieben ihm ohne Entgelt, da sie nicht als zur Erbmasse gehörig erkannt wurden. Reich mit Beute beladen fuhr die trauernde Familie davon. Trina berechnete grade den Gesamtwert des Erbes, da hielt der Wagen an. Clas Mattens war ihm mit seinem Schein in den Weg getreten, und erhob Anspruch auf den Tisch. Es gab eine häßliche Szene, aber der Schein und des Bauern Hartnäckigkeit behielten den Sieg. Mit geschmälertem Erbe zog die Familie trauernd weiter.
Die Schustersleute ließen die Zimmerwand, an der Peter seinen letzten Kampf gekämpft hatte, wie sie war. In der Mitte hing seine treue, nun auch verstummte Geige. Links schaute Mignon sehnsuchtsvoll träumerisch in die Ferne:
So laßt mich scheinen bis ich werde,
Zieht mir das weiße Kleid nicht aus;
Ich eile von der schönen Erde
Hinab in jenes feste Haus.
Rechts saß der Alte über die Harfe gebückt und raunte zu ihren müden Klängen:
Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Über den dreien aber hing ein Stück gelblichen, starken Papiers, das mit schlichten schwarzen Buchstaben bedruckt war. Diese schlichten schwarzen Buchstaben waren der Jubelruf und Triumphgesang eines Mannes, der auch ein Lebensbezwinger und Weltüberwinder war:
»Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Christum!«
* * *