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Fünftes Kapitel.


Endlich!

Endlich war der Tag gekommen, da er sein Bündel schnüren und wieder dahin fliegen konnte, wo's ihm lieb und heimisch war.

Nur mit Mühe bezwang er sich, bis nach Mittag zu warten. Aber der Schulmeister hatte ihm einmal erklärt, es sei nicht nötig, daß er früher als am letzten Nachmittag vor dem Beginn der Schule aus den Ferien zurückkehre.

Gegen ein Uhr, in der tollsten Mittagsglut des heißen Augusttages, brach Peter auf. Den Nock über der Schulter, den Lederholster mit Wäsche und einigen Büchern auf dem Rücken, das rote Herz, dreifach eingepackt, unter dem linken Arm und den Wanderstab in der rechten Hand, so zog er stillfroh seine Straße. Eine laute Fröhlichkeit ließ die glühende Hitze, wie in der ganzen Natur, so auch in ihm nicht aufkommen.

Im Süden braute sich etwas zusammen, und unheimlich schnell zog ein Gewitter herauf. Peter wollte sich anfangs nicht in seinem Marsch aufhalten lassen. Als aber die Donner härter rollten und in der Ferne die grauen Schrägstreifen niedergehender Regenmassen am Himmel sichtbar wurden, flüchtete er doch in einen leeren Schafstall, der nicht weit vom Wege in einem kleinen Fuhrengehölz stand.

Es war gut, daß Peter Zuflucht gesucht hatte. Denn das Unwetter brach gleich darauf mit unheimlicher Gewalt los. Die Fuhren ringsum bogen sich ächzend, um dem über die Heide daherbrausenden Sturm auszuweichen. Durch das blaugraue Dunkel, das sich über das Land gelegt hatte, zuckten unaufhörlich die grellen Blitze und erleuchteten den Stall bis in die verstaubten Spinnegewebe unter dem Dach, und die rollenden Donner ließen den aus Eichenholz gefügten Bau in seinen Grundfesten erbeben.

Das Unwetter ging so schnell vorüber, als es gekommen war, und bald verließ Peter seine Zufluchtsstätte, obgleich es noch nicht aufgehört hatte, zu regnen.

Da sah er, daß das Gewitter auf seinem Wege vor ihm her zog. Schneller als er, mußte es jetzt schon Wehlingen erreicht haben. Da kam eine Angst über ihn. Eben vorher, als das Gewitter über seinem eigenen Kopfe stand, hatte er davon nichts gewußt, sich vielmehr des grausig-schönen Naturschauspiels gefreut. Nun kam's auf einmal über ihn. Konnte nicht jeder Blitzschlag, der drüben niederging, das ihm so teure Leben vernichten? – Er dachte plötzlich an das schreckhafte Erwachen vor einigen Nächten, wie er da das ganz deutliche Gefühl gehabt hatte, daß etwas Schreckliches geschehen sei. Da wurde seine Angst noch größer. Und nun tauchte auf einmal eine Erinnerung auf, die sie noch steigerte. Es hatte ihm vor Jahren einmal jemand gesagt, in der Familie seiner Mutter wäre das »Vörkieken«, das Ahnen künftigen Unheils, erblich. Wenn auch er diese Gabe hatte ...?

Mit wachsender Angst eilte er dahin, so schnell seine Füße ihn tragen wollten. Wenn ein Blitz von Wolke zu Wolke fuhr, atmete er erleichtert auf. Wenn der nächste dann wieder zur Erde zuckte, zitterten ihm die Kniee vor Angst.

Nun liegt die letzte Höhe vor ihm. Er läuft, stürmt sie hinan. Wird die Rauchwolke, die Feuergarbe noch nicht sichtbar? .. Noch nicht? ... Nun hat er die Höhe gewonnen. Unversehrt und friedlich liegt das Dorf in seinem grünen Tale vor ihm. Das Gewitter ist nahe daran, am Horizont mit leisem Grollen zu verschwinden.

Ein Gott sei Dank entrang sich Peters Lippen. Er versuchte, über seine törichte Furcht zu lachen. Aber so recht frei wurde ihm dabei nicht.

Er kam ins Dorf. Einige Leute begegneten ihm auf der Straße, und er sah ihnen scharf ins Gesicht. Es wollte ihm scheinen, als ob sie ihn traurig und fragend anblickten, so ganz anders als sonst. Da wurde die Angst vor drohendem Unheil wieder wach. Ein Kind dämmte und leitete, am Wege hockend, die Bäche, die nach dem Gewitterregen die Straße hinabliefen. An dessen harmlos heiterem Wesen und Gesicht richtete Peter sich auf und suchte wieder über seine dumme Angst zu lachen.

Nun stand er vor dem Schulhause. Sein Herz klopfte in freudiger Erwartung. Und doch fürchtete er sich, die Tür zu öffnen. Er ließ die Augen an dem Hause entlang schweifen. Und es kam ihm vor, als ob dieses etwas Fremdes hätte. Was es war, wußte er nicht, aber es war irgend etwas anders als sonst.

Endlich faßte er sich ein Herz und öffnete die Haustür ...

Warum schweigt die Glocke? ...

Wie angebannt blieb er stehen und wagte nicht, einen Schritt nach vorwärts zu tun.

Da öffnete sich die Stubentür, und ein fremder Mann kam heraus. Er ging leise, auf den Fußspitzen. Peter starrte den Unbekannten an. Ein Zug in seinem Gesicht schien ihm bekannt.

»Was willst du?« fragte der Mann flüsternd.

»Ich will Schule halten,« sagte Peter ebenso leise.

»So, denn bist du wohl Peter Eggers?«

»Jaa.«

»Hast du unsere Nachricht nicht bekommen, daß du vorläufig noch zu Hause bleiben solltest?«

»Nein, aber warum denn?«

»Meine Tochter ist schwer krank.«

»Wer!? Marie? ...«

Der andere nickte: »Doppelseitige Lungenentzündung ... Bitte, gehe leise die Treppe hinauf, und verhalte dich oben ganz still. Sie liegt gerade unter dir. Wir haben ihr Bett in die Wohnstube gebracht.«

»Sie wird doch wieder gesund?« fragte Peter, und die helle Angst stand in seinem Gesicht.

»Wir hoffen es zu Gott,« sagte der Mann. »Heute abend ist die Krisis. Dann muß es besser werden ... oder ...« Er wandte sich und barg das Gesicht in der Hand.

Peter setzte den Fuß so leicht wie möglich auf die dritte Treppenstufe. Trotzdem knarrte das alte Holzwerk. Da zog er die Stiefel aus und schlich auf den Socken nach oben. In seiner Kammer angekommen, ließ er sich auf seinen Stuhl fallen, legte die schlaffen Arme lang auf den Tisch und starrte vor sich hin. Er wiederholte sich die eben gehörten Worte, und immer wieder auf's neue ... aber nur bis zu dem Oder. Davor prallte seine Seele wie vor einem schauerlichen Abgrund zurück.

Irgend ein Geräusch traf sein Ohr. Da lauschte er gespannt, hörte nun aber nichts. Nur vor dem Fenster war ein Fliegengesumm. Er merkte, daß in seinem Zimmer noch die schwüle Gewitterluft der Mittagsstunden war, und öffnete das Fenster. Die Fliegen stürmten hinaus, und ein frischer, würziger Luftzug strömte herein. Da atmete Peter einigemale tief auf.

Dann setzte er sich wieder hin und wagte nicht, sich zu rühren in der furchtbaren Stille, die um ihn war. Das Haus war wie ausgestorben.

So saß er lange, lange, und dachte an die vergangenen glücklichen Tage, vom Spaziergang am ersten Sonntag unter der Kirchzeit, über die gemeinsame Arbeit im Garten, bis zu der abendlichen Wanderung, dem goldenen Tore entgegen, und bis zum Abschied in der Küche. In diesem Kreise suchte er seine Gedanken festzuhalten, aber zuweilen gingen sie doch über die Bannlinie hinaus, und kamen bis an das entsetzliche Oder, und flüchteten sich, von Grausen gepackt, wieder in die vergangenen Tage.

Ein Geräusch traf sein Ohr. Es kam jemand die Treppe herauf ... Was mochte er bringen ...? Die Hand gegen das stürmisch klopfende Herz gepreßt, ging Peter an die Tür und öffnete. Da stand der alte Schulmeister vor ihm und sagte, hastiger, als sonst seine Art war: »Peter, es muß einer zum Arzt, daß er sofort noch einmal kommt. Willst du?« »Ja,« hauchte Peter. »Dann aber schnell!« Und Peter ergriff Mütze und Stock, nahm die Stiefel in die Hand und sprang die Treppe hinunter, zog sie draußen an, drückte die Daumen in die Hände, das Seitenstechen zu hindern, und lief im Laufschritt dahin. Wenn er, um Luft zu schöpfen, im Lauf inne halten mußte, ging er mit lang ausgreifenden Schritten, den Stock kräftig einsetzend. Als er das Wendenloch hinunterlief, stürzte er in dem losen Sande, aber ebenso schnell war er wieder auf den Füßen. Es war nur ein Gedanke, ein Wille in ihm: Vorwärts, vorwärts! An jeder Minute konnte das teure Leben hängen. Eine Viertelstunde vor Olendorf mußte er langsamer werden, da er einen stechenden Schmerz in der Brust fühlte. Dieser wurde zuletzt so heftig, daß er bei den ersten Häusern des Dorfes eine halbe Minute sich an einen Baum lehnen und inne halten mußte. Dann aber quälte er sich weiter und erreichte das Haus des Arztes.

»Nachtglocke!« stand über der Tür. Ohne sich zu besinnen, riß er stürmisch an dem Handgriff und hörte, wie es gellend durch's Haus klang. Da kam des Doktors Kutscher und fragte, was für ein Ochse da so unvernünftig bei offener Tür an der Nachtglocke risse. »Ich muß zum Doktor,« stieß Peter atemlos heraus. »Der Herr Doktor sitzt drüben beim Bier.« Peter lief schräg über die Straße ins Gasthaus.

Auf den Gedanken, den Arzt herausrufen zu lassen, kam er nicht. So platzte er denn mitten in den Kreis der Honoratioren hinein, die in bester Laune um den Stammtisch saßen. Sie hatten eben ein lautes Gelächter über eine Anekdote angestimmt, die ihr Witzbold, der Apotheker, zum Besten gegeben hatte. Wie dieser sich triumphierend im Kreise umsah, begegneten seine Augen über den Tisch denen Peters. »Baah, du Mondkalb, kommst woll direktemang vom Monde 'runtergefallen?« sagte der Apotheker und machte seine beliebte Blödsinns-Grimasse. Schallendes Gelächter, alle Augen wandten sich dem Jungen zu. Wie aber dessen flackernde Augen von einem zum andern irrten, wie er dann an den Arzt heran trat und mit heiserer Stimme sagte: »Herr Doktor, kommen Sie schnell zu des Schulmeisters Marie nach Wehlingen!« da verstummte das Lachen, und der Witzbold war über diesen Witz nicht froh. Der Doktor aber sagte freundlich; »Geh nur, mein Sohn. Ich komme gleich, will nur eben mein Bier austrinken.«

Peter wandte sich und ging taumelnd durch die Stube. An der Tür hörte er aus dem Gemurmel, das sich am Tisch erhoben hatte, zwei Worte deutlich heraus. Die Worte des Arztes: »Wenig Hoffnung.«

Nun war er draußen und schwankte, die Hand auf die noch immer schmerzende Brust gepreßt, die Dorfstraße entlang. Bei jedem Schritt klang es in ihm: Wenig Hoffnung, wenig Hoffnung. Oder hatte der Arzt gesagt: Keine Hoffnung? Nein. Oder doch? Nein, nein, er hatte den Klang der Worte noch im Ohr: wenig Hoffnung ... Er kam ins Freie, der kühle Abendwind umfächelte seine heiße Stirn. Da konnte er sich an das zweite Wort anklammern: Hoffnung. Wenig Hoffnung, aber Hoffnung.

Dann wollte er auch hoffen. Aber nicht wenig Hoffnung, nicht eine kleine Hoffnung wollte er haben, sondern eine große, feste, starke.

Aber wo diese Hoffnung verankern? In der Kunst des Arztes? Unmöglich. Der wollte erst sein Bier austrinken. Und hatte selbst nur wenig Hoffnung.

Da, als er bei dem Menschen, an den in solchen Nöten die letzte Hoffnung sich anklammert, keinen Ankergrund für seine Hoffnung fand, dachte er plötzlich an Gott. Er hatte viel über ihn gelernt, viel über ihn gelehrt, auch wohl in Stunden übergroßen Glücks seiner dankbar gedacht. Jetzt kam er zum erstenmal zu ihm, von des Lebens Jammer und Not gepeitscht. Über ihm wölbte sich in hehrer Schönheit der Sternenhimmel. Sollte der, der diese wunderbaren Welten geschaffen hat, nicht dem jungen Menschenkinde, das auch sein Geschöpf ist, das Leben lassen und die Gesundheit wiedergeben können, auch wenn die armseligen Menschen nur wenig Hoffnung haben? Ja, er kann es gewiß. Aber will er es? Er hat gesagt: Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten. Und er begann zu rufen und zu beten und zu flehen. Aber seine Hoffnung fand keinen Ankergrund. Da fiel ihm das Wort Jesu ein: Ich sage euch: Wahrlich, so ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so möget ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin, so wird er sich heben, und euch wird nichts unmöglich sein. Also auf den Glauben kam's an. Und er zwang sich zum Glauben. Er biß die Zähne aufeinander und sagte: Ich will glauben. Und hoffen. Ja, ich behalte sie. Aber dann kam plötzlich wieder das: Oder? und: Wenig Hoffnung, und der Glaube brach zusammen, und der Hoffnungsanker riß aus. Immer neuen Anlauf nahm er, aber immer wieder stürzte er ab. Zuletzt erhob er sein Haupt und schaute fest zu einem großen, leuchtenden Stern auf, der in unausdenkbaren Fernen über seinem Wege stand, und es wollte ihm scheinen, jetzt wollte es gehen mit dem Glauben, Auge in Auge mit dem aller Erdennot Entrückten. Aber plötzlich traf ein blendender Schein seine Augen. Ein Meteor schoß in weitem Bogen durch die Himmelsräume, um dann plötzlich zu erlöschen .. Nein, wenn selbst die Sterne vom Himmel fallen! .. Bald sah er wohl, daß sein Stern noch in der alten Ruhe und Klarheit am Himmel stand. Aber seine Seele war so müde, daß er nicht noch einmal versuchte, sie zu dem bergeversetzenden Glauben zu zwingen.

Was er heute innerlich erlebt und körperlich geleistet hatte, das ging über seine Kraft, und jetzt taumelte er wie träumend, die Augen manchmal schließend. Das Wendenloch hatte er schon hinter sich und stieg zu jener Höhe empor, von der sie damals in das goldene Wolkentor geschaut hatten. Da machte er die Augen weit offen und sah zur Rechten ... Da sah er sie an seiner Seite gehen ... Er wunderte sich gar nicht darüber .. Nur darüber wunderte er sich, daß sie ein langes, weißes Kleid trug, und daß er ihren Schritt nicht hörte ... Und als er auf ihre Füße sah, ging sie nicht, sondern schwebte ... Und als er nach vorne sah, sah er auch wieder das goldene Himmelstor geöffnet. Da kam eine tiefe, stille Seligkeit über ihn ... Aber plötzlich fing sie an, schneller zu schweben. Er wollte sie halten. Aber ihr weißes Gewand glitt ihm aus den Händen. Er wollte ihr sagen, sie hätte ihm versprochen, daß sie mit ihm zusammen zum goldenen Tore gehen wollte. Aber er brachte keinen Ton über die Lippen. Er strengte sich an, sie einzuholen. Aber der Abstand wurde immer größer. Nun war sie in dem leuchtenden Tore angelangt, wandte sich um, ihr Gesicht glänzte, sie winkte ihm mit der Hand, deutete auf den Weg, das Tor schloß sich, er fühlte den stechenden Schmerz in der Brust, kam zu sich – und stand unmittelbar vor dem Schulhause.

Er wußte jetzt, daß sie gestorben war, ohne daß es ihm jemand zu sagen brauchte. Beim Hinaufsteigen auf seine Kammer gab er sich jetzt auch keine besondere Mühe, das Knarren der Stufen zu vermeiden. Körperlich und seelisch erschöpft sank er angekleidet auf sein Lager und lag wach mit geschlossenen Augen. Unten fuhr ein Wagen vor. Brr! sagte der Kutscher. Der Doktor, dachte Peter, der hat hier nichts mehr zu suchen. Die Haustür wurde geöffnet, kurzer gedämpfter Wortwechsel, Gute Nacht, Üh! der Wagen rollte wieder davon. In der Wohnstube unten wurde es lebendig. Hin- und Hergehen, leise Stimmen, Geräusche wie von Waschgeschirren ... jetzt waschen sie die Tote ... jetzt legen sie ihr das Totenhemd an ... Wieder gehen Türen, und Pantoffeln schurren über den Fußboden ... sie tragen sie aus der Stube hinaus. Wohin? .. Schräg über die Diele, in ihre Kammer. Dort also wird sie aufgebahrt ... Nun ist die Familie wieder unter der Dachkammer in der Wohnstube versammelt ... Gedämpfte Unterhaltung ... Der alte Schulmeister liest den Abendsegen, wie immer. In seinem eigentümlich singenden Tonfall. Jetzt betet er das Vaterunser ... Amen ... Sie gehen auseinander ... Jemand verläßt das Haus ... Noch hin und wieder ein leises, unbestimmtes Geräusch ... Dann ist's still ...

Peter hörte dies alles mit scharfem Ohr und verfolgte es mit wachem Bewußtsein. Aber ohne allen Schmerz, wie etwas, was ihn gar nichts anging, was sich von selbst verstand und nicht anders sein konnte. Sein Geist registrierte einfach mit größter Schärfe, was geschah, ohne daß irgend ein Gefühl die Vorgänge begleitete. Sein Empfindungsleben war lahmgelegt, ausgeschaltet. Dieser Zustand hatte durchaus nichts Unangenehmes. Es war vielmehr eine Art wohliger Schwäche, die ihn umfangen hielt.

Zuletzt fiel er in eine Art Schlaf, ohne jedoch das Bewußtsein ganz zu verlieren. Auch blieb ihm dumpf gegenwärtig, daß er in der Brust einen Schmerz fühlte.

Der Tag war schon weit vorgeschritten, als er endlich die Augen aufschlug.

Das erste war, daß er sich fragte, ob er einen schweren, schrecklichen Traum geträumt hätte. So ähnlich, wie vor einigen Nächten, als er in großer Angst aufwachte. Aber ein Blick auf die beschmutzten Stiefel, die er noch an den Füßen trug, brachte ihm die Erinnerung wieder. Und mit der Erinnerung kam seinem ein wenig ausgeruhten Nervensystem nun auch die Empfindung zurück. Wie eine ungeheure Last warf der entsetzliche Verlust sich mit seiner ganzen Schwere ihm auf die Seele. Er warf sich herum, bohrte die Fäuste in die Augenhöhlen und wühlte sich tief in die Kissen. Das Licht, das nach solcher Nacht wie an jedem Morgen die Kammer füllte, konnte er nicht ertragen.

So lag er lange, lange. Zuletzt fühlte er einen brennenden Schmerz in den Augen. Da wunderte er sich, daß er nicht weinte. Sonst war der Tränenquell ja so leicht geflossen. Schon, wenn er etwas Trauriges oder Rührendes las. Heute war er wie ausgetrocknet. Er versuchte zu weinen und bewegte die entzündeten Lider über den trockenen Augäpfeln auf und nieder. Aber Tränen kamen nicht. Ist auch gut, tröstete er sich, bitter lachend, so kannst du besser den gleichgültigen Menschen unten im Hause was vormachen, die nicht wissen, wie es in dir aussieht, und es auch nicht wissen dürfen.

Er stand auf und fing an, sich umzukleiden. Da fiel sein Blick auf das Bild über seinem Bett, das die Opferung Isaaks darstellte. Er hielt inne, sein Gesicht verzerrte sich, und Verzweiflungsgedanken gingen durch seine Seele. Da sagen sie nun, du wärest die Liebe; du wärest barmherzig und gnädig, und von großer Güte und Treue. Und doch quälst du uns armen Menschenkinder bis auf's Blut. Ja, früher, in der Zeit der Wunder, ging dann zuletzt doch noch alles gut ... wie bei dem alten Mann da ... Aber der war ja auch der Vater der Gläubigen ... Aber bei uns anderen, die wir uns zu solchem übermenschlichen Glauben nicht zwingen können ... Ha! ... Uns, die wir aus der Tiefe heraus möchten ... ja, eine Zeitlang ist's uns wohl, als ob du uns die Hand reichtest, aber dann plötzlich lässest du uns fallen und stürzen, in den Abgrund, in die Verzweiflung.

Er lachte heiser und wandte sich dem anderen Bilde zu. Manchmal hatte es ihm wohlgetan, das verklärte Antlitz in den Wolken. Aber jetzt lachte er es spöttisch an. Ja, Himmelskönigin, du hast es leicht, ein hoheitsvolles, erhabenes Gesicht zu machen. Schwebst ja in den Wolken, fern von Erdenjammer und Erdennot ... Aber einst ... ja, als du auf Erden gingst, ja, da hast du diese auch kennen gelernt ... damals, als du, das Schwert im Herzen, mit tausend Schmerzen aufblicktest zu deines Sohnes Tod ... Bei diesem Gedanken löste sich ein klein wenig der spöttische, höhnische Zug um den Mund des Verzweifelnden.

Sein Blick fiel auf das gut verpackte Kuchenherz, das auf dem Tische lag. Er nahm es und warf es tief unter die Bettstelle. Die ganze Geschichte kam ihm plötzlich wie eine kindische Albernheit vor.

Als er sich fertig angekleidet hatte, ging er hinunter. Die Familie war im Wohnzimmer versammelt. Es wurde gerade das Mittagessen aufgetragen. Peter lachte bitter in sich hinein. Vor zwölf Stunden wuschen sie hier die Tote. Nun setzten sie sich hin zu schmausen ...

Er überlegte sich, ob er nicht den Eltern und Großeltern teilnehmend die Hand geben sollte. Aber warum? Was hatten die denn verloren? Die Großeltern eins von fast zwanzig Enkelkindern, und die Eltern von den acht Kindern, die sie nur mit Mühe sättigen konnten, ein einziges. Die blieben reich und behielten genug übrig, womit sie sich trösten konnten ... Aber er? ...

Er sagte tonlos »Guten Tag«, und wie das Wort sein Ohr traf, lachte er innerlich darüber, daß die Menschen auch an einem solchen Tage eine solche Redensart über die Lippen bringen konnten.

Als er sich an seinen Platz gesetzt hatte, sagte der alte Schulmeister: »Peter, der Doktor ist gestern abend doch nicht mehr früh genug gekommen.«

»Nein,« sagte Peter gleichgültig, »er wollte erst sein Bier austrinken.«

Die vier Menschen sahen ihn verwundert an.

»Es hätte doch vielleicht nicht mehr geholfen,« sagte Mariens Vater sanft.

»Nein, es war keine Hoffnung mehr,« sagte Peter.

»Wir müssen uns unter Gottes Willen beugen,« sagte der Schulmeister.

»Sein Wille ist ja stets der beste,« sagte Peter.

»Aber Peter, wie sagst du das merkwürdig?« fragte der Alte.

»Wieso?« fragte Peter dagegen. »Es ist doch so; das bringen wir ja schon den kleinen Kindern bei.«

Er beugte sich über seinen Teller und aß, gierig und hastig, fast wie ein ausgehungertes Tier. Seit vierundzwanzig Stunden hatte er ja gefastet.

Da sagte Mariens Mutter: »Es ist schade, daß du diese Nacht nicht etwas eher wiedergekommen bist. Unsere Selige fragte nach dir.«

Peter sah die Frau an. Es war das erste Mal, daß er einen der Tischgenossen ansah. »Nach mir?« fragte er. In seiner Stimme war ein leises Zittern.

»Ja, zweimal. Sie wollte dir auch Adieu sagen.«

Peter fühlte, daß sich in ihm etwas lösen wollte. Er konnte nicht weiter essen. Aber mit großer Selbstbeherrschung drängte er die Bewegung, die ihn übermannen wollte, zurück.

Als sie vom Tisch aufstanden, fragte die alte Schulmeisterin, ob er die Tote sehen wollte. Sie sähe so schön und friedlich aus, als wenn sie schliefe und jeden Augenblick aufwachen könnte. Peter fühlte ein Würgen im Halse und stieß ein rauhes »Nein!« heraus. Dann ging er schnell hinaus.

Mariens Vater sah ihm kopfschüttelnd nach und sagte: »Ein merkwürdiger Mensch. Scheint sehr wenig Gemüt zu haben.«

»Och ja,« sagte der Schulmeister, »was soll man von so einem verlangen? Der Vater ist ein Säufer.«

Peter war inzwischen auf seine Dachstube gegangen. Er fühlte, daß er nicht nachdenken und zu sich kommen durfte. So nahm er ein Rechenbuch, und zwang sich, Rechenaufgaben zu lösen. Er wählte die schwierigsten, die er finden konnte. Wo er die richtige Lösung nicht gleich fand, rechnete er die Aufgabe ein zweites und ein drittes Mal. Als sein Geist dieser Arbeit müde war, nahm er das Lesebuch und begann zu lesen. Den Sinn der Sätze faßte er nicht, und wollte es auch nicht. Es kam ihm nur darauf an, durch das mechanische Wiedererkennen der Buchstaben eine Stunde zu überwinden. Zuletzt schlug er ein Schreibheft auf und malte einmal über das andere die Worte: »Aller Anfang ist schwer.« Sorgfältig zog er Haarstrich um Grundstrich, Haarstrich um Grundstrich. So gelang es ihm, sein Empfindungsleben fast ganz auszuschalten und den Tag hinzubringen. Er bedurfte dazu seiner ganzen Willenskraft. Aber er fühlte deutlich, wenn er seinen Empfindungen nachgäbe, so würde er zusammenbrechen, so wäre sein Verstand in Gefahr.

Gleich nach dem Abendessen, bei dem die Familie ihn nicht wieder ins Gespräch zog, ging er zu Bett und zwang sich, von tausend an abwärts zu zählen. Es gelang ihm wirklich, einzuschlafen.

Als er aufwachte, war es dunkle Nacht, und die Uhr in der Wohnstube unter ihm schlug zwölf. Der Schlaf hatte ihn gestärkt. Seine Nerven hatten einige Widerstandskraft wiedererlangt, er durfte es wagen, an sie zu denken. Da faßte ihn auf einmal eine unendliche Sehnsucht, sie zu sehen. Er vertröstete sich auf den kommenden Tag, aber das heiße Verlangen seines Herzens ließ sich nicht abweisen. Zweimal hatte er ihm Schweigen geboten. Als es aber den dritten Angriff auf seine Willenskraft machte, da gab er nach. Er stand auf, kleidete sich leicht an, nahm das brennende Licht in die Hand und trat mit bloßen Füßen aus seiner Kammer. Oben an der Treppe blieb er stehen und horchte angespannt ins Haus hinab. Er hörte nichts als das Klopfen seines Herzens. Da stieg er vorsichtig hinab, indem er die unsicheren Stufen, die am lautesten zu knarren pflegten, mied. Unten an der Treppe lauschte er noch einmal. Kein Ton als das Ticken der Uhr in der Wohnstube. Da ging er weiter, das Licht mit der Linken schirmend. Nun stand er vor ihrer Kammertür. Er stellte das Licht auf die Erde und faßte den Drücker mit beiden Händen, um jedes Geräusch zu dämpfen. Die Tür wich lautlos, er trat ein, zog das Licht nach sich und schloß die Tür so leise, wie er sie geöffnet hatte. Dann erst wandte er sich um. Da stand das Bett, von einem weißen Leintuch überspannt. Mit leise zitternder Hand hob er die Hülle, die sein Liebstes barg. Und nun lag die Geliebte vor ihm, das Haupt leicht zur Seite geneigt, im Haar eine welkende Rosenknospe, die Hände über einem Kreuz auf dem weißen Totenhemd gefaltet. Da löste sich die Erstarrung, die seit vierundzwanzig Stunden auf seiner Seele gelegen hatte, in heißen Tränen, und er mußte sich mit Gewalt bezwingen, daß er nicht laut schluchzte. Aber dem Lauf der Tränen wehrte er nicht.

Plötzlich fuhr er auf und horchte. In der benachbarten Kammer hatte sich etwas geregt. Der Schein des Lichtes konnte ihn verraten, und schnell drückte er es aus. Und nun war er in der dunklen Kammer mit seinem toten Lieb allein. Er umklammerte mit seinen fiebernden Händen über ihren kalten Händen das Kreuz, er beugte sich nieder und küßte sie, auf die Stirn, die Augen und den Mund. Er fühlte die Kälte des Todes nicht. Er fühlte nichts als die heiße, heiße Liebe, die sein ganzes Wesen mit der Geliebten verband. Dann deckte er sie sorgfältig wieder zu, nahm die Kerze und schlich im Dunkeln in sein Dachstübchen hinauf.

Als er wieder in seinem Bette lag, faltete er die Hände über der Brust. Nicht um zu beten. An Gott dachte er mit keinem leisen Gedanken. Aber er hatte ein so dankbares Gefühl in seinem Herzen, daß die Todesstarre, die so lange seine Seele zusammengepreßt hatte, von ihm genommen war, daß er wieder weinen, fühlen und lieben konnte. Wenn aber ein Gefühl froher Dankbarkeit sein Herz durchwärmte, dann mußte er die Hände falten, der gute Peter. – –


Auf der Diele des Schulhauses war über drei Stühlen der Sarg aufgebahrt. Zu Häupten und zu Füßen brannten Lichter, die in einem leisen Zugwind leicht flackerten. Einige Tannenkränze lehnten umher.

Nach und nach fand sich das Trauergefolge ein. Die Lehrer der Nachbarschaft und die großen Bauern wurden in die Stube genötigt, tranken Kaffee oder Grog, nach eigener Wahl, aßen Kuchen. Die kleinen Leute standen auf dem Vorplatz und der Diele umher und ließen die Flasche kreisen. In einer Ecke der Diele hockten die Singjungens um eine Truhe und aßen schmatzend die ihnen als Sangeslohn zukommenden Stuten. Zwei Ziegen streckten die langen Bärte aus ihrem Stall heraus und sahen neugierig zu. Die Hühner, die man nicht vom Wiemen herunter gelassen hatte, gaben ihren Unwillen durch Scharren kund. Eine Henne verkündigte gackernd, daß sie ein Ei gelegt hatte.

Peter kam erst von seiner Dachstube herab, als sie angefangen hatten zu singen. Die Jungens sangen mit schrillen Stimmen: Alle Menschen müssen sterben, alles Fleisch vergeht wie Heu, und musterten inzwischen, da sie die Verse auswendig konnten, die fremden Schulmeister. Dann las Schulmeister Wenckes nächster Nachbar mit halb singender, halb weinerlicher Stimme den neunzigsten Psalm und sprach ein Vaterunser. Nachdem dann die Kinder noch einmal gesungen hatten, traten die Träger herzu, entfernten die Lichter vom Sarge, trugen ihn hinaus und hoben ihn auf den vor dem Tor wartenden, im Grunde mit Stroh bedeckten Leiterwagen. Dann stiegen an einer Leiter die Frauen der nächsten Verwandtschaft hinauf und nahmen tief verhüllt vor und hinter dem Sarge Platz. Der Fuhrmann ergriff das Handpferd am Zügel und ließ anziehen. Da lüfteten die Männer ihre Mützen, und hinter dem Wagen ordnete sich das Gefolge; die Familie voran, die befreundeten Lehrer, die Dorfleute.

Der Leichenzug folgte nicht dem nächsten und gebräuchlichsten Wege nach dem Kirchdorfe; denn alter Volksglaube ließ nicht zu, daß die Toten denselben Weg nähmen mit den Lebendigen. Er zog durch eine Talsenkung, die von dem Zug der Toten seit alters den Namen »Totengrund« führte. Die Wagengeleise waren von blühender Heide überwuchert; denn es war diesen Sommer nur ein Toter dieses Weges gefahren.

An der Grenze der Wehlinger Gemarkung wurde ein Strohbündel unter dem Sarge hervorgezogen und hinter dem Wagen quer über die Spur geworfen. Das sollte den Geist der Toten hindern, in die alte Behausung zurückzukehren und die Lebenden zu schrecken. Das Gefolge wich vor dem Bündel behutsam rechts und links aus.

Peter ging zuerst bei den Lehrern. Da begann ein alter Schulmeister Fragen an ihn zu stellen: Wann er aufs Seminar wollte? Wie alt er wäre? Für welche Fächer er sich besonders interessierte? Nach welchen Büchern er arbeitete? usw. Peter gab kurz Antwort, benutzte aber einen Augenblick, als der Ausfrager mit seinem Nachbarn auf der andern Seite sprach, ein wenig zurückzubleiben.

Nun war er unter den Bauern. Diese hatten ihre kurzen Pfeifen in Brand gesteckt und sprachen über den vor wenigen Tagen im Flecken abgehaltenen Viehmarkt.

Peter blieb noch weiter zurück und folgte bald dem Zuge als letzter. Aber mit seinen Gedanken und Gefühlen war er ihr, die jetzt ihre letzte Straße zog, von allen wohl am nächsten.

Vor ihm wand sich der lange schwarze Zug durch die vollerblühte Heide. So weit der Blick reichte, ein Meer roter Blüten. Und darin das Gesumm und Geschwirr der Immen, die überall, im Totengrund wie auf den luftigen Höhen, ihre süße Weide fanden.

Als die Spitze des Zuges das Kirchdorf erreichte, läuteten die Glocken. Die große tief und regelmäßig, die kleine, von einem Kinde schlecht geläutet, unruhig und aufgeregt dazwischen. Vor dem Kirchhofstor stockte der Zug. Nach einer Minute setzte er sich unter Kindergesang wieder in Bewegung. Nachdem er sich nach alter Sitte um die Kirche bewegt hatte, hielt er aufs neue, der Gesang verstummte mit einer lang gezogenen Schlußnote des Küsters, das Geläut mit einem letzten hellen Nachklang der kleinen Glocke. Peter hielt sich im Hintergrunde, hatte die Augen geschlossen und hörte nur wie aus weiter Ferne, was da vorne vor sich ging: das Schurren der Taue, die liturgischen Formeln, das hohle Aufschlagen der Schollen, das wieder einsetzende Singen und Glockengeläut ... Als er aufblickte, sah er die Augen des Totengräbers fragend auf sich gerichtet. Da wurde er mit Schrecken gewahr, daß die andern sich bereits alle vom Grabe abgewandt hatten. Hastig drehte er sich um und folgte ihnen in die nahe Kirche. Hier setzte er sich im Rücken der Gemeinde hinter einen Pfeiler. Er war froh, einen Platz gefunden zu haben, wo ihn niemand sehen konnte, und er selbst auch keinen Menschen sah.

Peter war nicht gekommen, um sich trösten zu lassen. Er hatte ja in den vergangenen glücklichen Zeiten sein Glück allein, heimlich vor allen Menschen, getragen, und wußte, sein Leid würde er erst recht ganz allein und einsam tragen müssen. Und das wollte er auch. Kein Mensch konnte und sollte ihm davon das Geringste abnehmen.

So hörte er denn auch kaum hin, wie der Pastor die Eltern und Großeltern tröstete, wie er ein blaß gehaltenes Bild der in der Blüte geknickten, lieblichen Jungfrau entwarf. Was ging ihn das alles an? Was konnte der Pastor von der Toten wissen, die nur ein Vierteljahr seiner großen und zerstreuten Gemeinde angehört hatte, mit der er wohl nie ein Wort gewechselt hatte? –

Aber plötzlich traf ein Wort von der Kanzel sein Ohr, das ihn aufmerken ließ. Der Pastor hatte von einem goldenen Tor geredet. Wie kam der Mann dazu, von etwas zu reden, was zwischen ihr, deren Mund nun geschlossen war, und ihm heiligstes Geheimnis war? Und nun horchte er mit angehaltenem Atem. »Die Entschlafene,« so führte der Geistliche aus, »hat sich in ihren Fieberträumen immer wieder mit einem goldenen Tore beschäftigt, so ist mir gesagt worden. Und dann hat sie mit einem Begleiter gesprochen, der an ihrer Seite dem goldenen Tore zugewandert ist. Was, meint ihr, liebe Christen, ist das für ein Wandergenosse gewesen? Ich zweifle nicht daran, es war ein heiliger Engel, den Gott der Herr ihr zum Geleite gegeben, um sie aus dem dunklen Tal der Todesschatten durch das goldene Tor hinaufzuführen in das Land des ewigen Lichts.«

Durch die Gemeinde ging ein lautes Schluchzen.

Wenn einer hinter den Pfeiler geblickt hätte, und er hätte die rechten Augen gehabt, so würde er da ein Menschenantlitz gesehen haben, das für einen Augenblick von tiefinnerer Seligkeit durchleuchtet war. Und vielleicht hätte er da an ein Engelsantlitz denken müssen. –

Die Trauerfeier war beendet. Die Verwandten traten noch einmal an das Grab, die andern kehrten nach der Sitte zu kurzer Rast in dem nahen Wirtshause ein. Peter aber machte sich sofort auf den Heimweg. Er mußte allein sein.

Langsam ging er über die weite, stille, blühende Heide, und dachte mit stiller, tiefer Wehmut der glücklichen Zeiten. Er hatte das Gefühl, als ob sie weit, weit hinter ihm lägen. Und doch lagen nur drei Tage dazwischen. Aber was für Tage! ... Und wie lange war es her, daß er an ihrer Seite den Weg gegangen war? Es waren fünf Wochen. Da wurde er auf einmal zweifelhaft. War er nicht zweimal mit ihr diesen Weg gewandert? Einmal am letzten Sonntagabend vor den Ferien. Dessen erinnerte er sich ganz deutlich. Da hatte er ihr ja die Geschichte vom goldenen Tore erzählt, und sie hatten sich versprochen, von nun an Wandergenossen zu bleiben. Aber es war ihm, als müßte er noch ein zweites Mal mit ihr dieses Weges gegangen sein ... Allmählich dämmerte ihm herauf, was er vor drei Tagen in jenem merkwürdigen Zustande jenseits der Schwelle des wachen Bewußtseins, auf diesem Wege erlebt hatte. Er hatte sich dieses Erlebnisses seither nicht erinnert, wohl deshalb, weil es in Regionen des Unterbewußtseins vor sich gegangen war, die dem vom Willen abhängigen Sicherinnern nicht zugänglich sind. Jetzt, an dem Orte, wo es ihm begegnet war, bei dem lebhaften und innigen Denken an jene erste Wanderung, kam es herauf, traumhaft verschleiert ... Hatte er sie da nicht an seiner Seite schweben sehen? ... In langem, weißem Kleide? ... schnell und immer schneller dem goldenen Tore zu? ... Das mußte um die Stunde ihres letzten Kampfes gewesen sein ... Also um dieselbe Stunde, da sie, wie die Verwandten dem Pastor berichtet hatten, das goldene Tor offen und den Wandergefährten an ihrer Seite gesehen hatte .. Wunderbar ... Während sie mit dem Tode ringend auf ihrem Bette lag, und während er zerschlagen und seiner selbst nicht mächtig über die Heide ging, hatte da zwischen ihren Seelen ein geheimnisvoller Verkehr stattgefunden? ... Hatten die einander geschaut, gegrüßt, aneinander Geleit und Halt und Freude gefunden? ... War das denkbar? ... Denkbar wohl nicht ... aber vielleicht trotzdem Wahrheit ... Je länger er darüber nachsann oder vielmehr -fühlte, um so gewisser wurde es ihm. Dann aber war es ja sicher, daß ihre Liebe nicht an das leibliche Beieinander gebunden war ... daß sie Weggenossen bleiben konnten, auch wenn sie ihm vorausgeeilt war ... Und hatte sie nicht auch, ehe sie in dem goldenen Tore verschwand, auf den Weg, der deutlich vor ihm lag, gewiesen und ihm gewinkt? ... um ihm zu zeigen, daß sie denselben Weg hatten und zusammengehörten? ...

Er dachte an seine Mutter. Die hatte ihm, obgleich sie so früh hinweggerissen war, durch die ganze Kindheit das Geleit gegeben. Ganz gewiß, dann konnte auch die jetzt ihm entrissene, aber durch die engsten Seelenbande ihm verbundene Weggefährtin seine Weggefährtin bleiben, das Stück Weges, das er noch vor sich hatte. Vielleicht war dieses ja auch gar nicht so lang, wie er ihr das vor fünf Wochen in seinem jungen, frohen Lebensmut ausgemalt hatte. Vielleicht mußte er in Beziehung auf das goldene Tor noch einmal umlernen. Am Ende hatte sie doch recht gehabt, als sie damals, wohl vorahnend, sagte: »Aber Peter, wenn wir in das goldene Tor hineinwollen, dann müssen wir ja vorher – sterben.« Damals war er darüber erschrocken und hatte das Sterben ganz ans Ende gesetzt, nach all dem Großen und Schönen, das er vorher erreichen wollte. Aber wenn es früher käme, wäre denn das so schlimm? .. Und vielleicht kam's ja auch so. Er dachte an die Besorgnis seines Vaters, daß er, Peter, zu viel von der Mutter geerbt haben möchte und in keiner guten Haut steckte. Und der dumpfe Schmerz in seiner Brust war ja seit jenem rasenden Laufen nach dem Arzt immer noch nicht ganz gewichen ...

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er dachte wieder an die Leichenpredigt. Was? Er, der Schulmeister Peter Eggers, ein Engel? Das war wirklich zum Lachen. Aber plötzlich wurde sein Gesicht wieder ernst. Ja, sie, wie sie da in weißem, wallendem Kleide neben ihm schwebte, wie sie am Ziel das von innen durchleuchtete Antlitz nach ihm zurückwandte, sie hatte wie ein Engel ausgesehen. Und war sie überhaupt nicht in sein armes, einsames, dumpfes Leben wie ein Engel aus einer andern Welt hineingetreten? Hatte er nicht eines Abends in duftender Jelängerjelieberlaube gesessen und Gott gedankt, daß er sie ihm gegeben? ..

Gefaßt und getröstet langte Peter am Schulhause an. Als er aber eintrat und auf der Diele die drei Stühle sah, die den Sarg getragen hatten, und als sein Blick in ihre offene Kammer fiel, in der eben die einhütende Nachbarsfrau Ordnung schaffte, da übermannte ihn der Schmerz aufs neue. Er hielt die Hand vors Gesicht, eilte die Treppe hinauf und warf sich auf sein Bett.

Die Nachbarsfrau hatte es auch übernommen, für die von der Beerdigung Zurückkehrenden den Kaffee zu kochen. Als sie sah, daß Peter zurück war, goß die gute Seele ihm vorab eine Tasse auf, legte ein Stück Butterkuchen auf den Rand und trug's ihm hinauf. Sie fand den jungen Schulmeister auf dem Bette liegend, den Kopf in die Kissen vergraben.

Da faßte sie ihn mütterlich am Arm, schüttelte ihn und sagte: »He! Wat fehlt em? Is he krank?«

Peter flog erschrocken in die Höhe und sah die Frau hohläugig und verstört an.

»Hier hett he'n Tass' Kaffee .. Wat? He hett weent? Achjajija, dat junge söte Lewen« – die Frau führte mit der freien Hand die Schürze an die Augen – »in düsse Johren, wenn eene so väl köst gekostet. hett und just to bruken gebrauchen. is, huhuhu. Aber se is ja den besten Weg, huhu. Nu drink he man. So'n Tass' Kaffee Helpt den Minschen wedder up.«

Peter nahm die Tasse und setzte sich auf seinen Stuhl. Die Frau stand neben ihm, hatte die Schürze wieder fallen lassen und die Hände in die Seiten gestemmt.

»Hett se 'ne schöne Liekenred' krägen?« fragte sie.

»Och ja,« sagte Peter.

»Wat for'n Text?«

»Text? .. de Text? .. Mewsmudder, dat weet ick würklich nicht.«

»Wat? 'n Scholmester, und denn so vergätern?« sagte Mewsmutter verwundert. »Ick heww noch alle Liekentexte von mine Fründschap in'n Kopp.« Und nun zählte sie ihm die der letzten zwanzig Jahre auf, gab auch bei mehreren einige Gedanken aus der über sie gehaltenen Rede wieder. Dabei weinte sie noch einmal über die Verluste und ließ sich noch einmal von all den schönen Texten trösten. Zuletzt wischte sie sich mit der Schürze die Augen, schnaubte sich in derselben gründlich aus, nahm die leere Tasse und ging wieder an ihre Arbeit.

Peter sah ihr kopfschüttelnd nach. Wie waren solche Leute zu beneiden! Die weinten ihre Tränen, backten Butterkuchen, hörten eine schöne Leichenpredigt, kochten Kaffee und gingen wieder an ihre Arbeit.

Und gingen wieder an ihre Arbeit. Ja, und das tat Peter am andern Morgen auch. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Denn die kleinen Wehlinger Jungens und Deerns wollten darum doch lesen und schreiben und rechnen lernen, wenn Peter auch ein wehes, zerrissenes Herz hatte. Sie stellten sich am nächsten Morgen wieder vollzählig ein. Auf dem Schulhofe waren sie wohl etwas stiller als sonst. Aber ihr Morgenlied sangen sie mit kräftigen Stimmen, und die beiden Lehrer hatten alle Hände voll zu tun. Denn die Jugend hatte beim Heu viel verschwitzt und war durch die lange Freiheit des Stillsitzens aus den Schulbänken entwöhnt.

Am Mittagstisch sagte der Schulmeister, indem er sich ein wenig reckte: »Wie ist das gut, daß wir endlich so weit sind! So etwas bringt immer viel Aufregung mit sich, und die ist nichts für alte Leute. Gott sei Dank, daß nun alles wieder im alten Geleise ist.«

Ja, alles wieder im alten Geleise. Auch den leergewordenen Platz am Tische fand Peter nach drei Tagen wieder besetzt. Beim Familienkaffee nach der Beerdigung war die Verabredung getroffen, daß der Schulmeistersleute ältester Sohn seine älteste Tochter der schwächlichen Mutter zur Hülfe im Haushalt schicken sollte. Diese hieß auch Marie, und war ein munteres, quickes, junges Ding mit lebenshungrigen Augen und runden Gliedern.

Die neue Marie langweilte sich bald bei den grämlichen Alten und suchte Zeitvertreib bei Peter. Wenn die beiden, durch eine Wiederholung der Rede des Schulmeisters vom Zeitvertrödeln und von der Unschicklichkeit getrennt, im Garten Sommerarbeit taten, war sie alle Viertelstunde bei ihm und hatte bald dies zu fragen und bald das zu schwatzen. Das »Es schickt sich nicht für so'n großes Mädchen« des Schulmeisters war für sie nicht da. Peter hörte ihrem munteren Geplauder ganz gern zu, und da ihre in das dumpfe Schulhaus eingezwängte Lebenslust ihn dauerte, so war er immer freundlich gegen sie und zwang sich, auf ihre Interessen einzugehen, auch wenn ihm danach nicht gerade zumute war. Aber das genügte ihr nicht. Und als sie merkte, daß sie ihm durch Äugeln und andere Kunststückchen nicht mehr abgewinnen konnte, versuchte sie's mit einem Bauernsohn aus der Nachbarschaft, wo sie mehr Glück hatte. Sie ist dann nach einem guten Jahre aus dem grämlichen Schulhause als Herrin auf den schönen Bauernhof übergesiedelt und eine kleine dicke, fröhliche, tüchtige Bauernfrau geworden.

Eines Nachmittags gegen Ende September, als Peter Birnen pflückte, kam sie angetänzelt und bat ihn, ihr bei dem Ausziehen der Bohnenstangen zu helfen. Das trockene Kraut hätte sie schon zum größten Teil heruntergerissen. Aber die Querstangen lägen ihr zu hoch. Da könnte ein so kurzes End wie sie nicht heranreichen. Peter verbarg sein Gesicht hinter einem Birnenast und sagte: »Marie, das laß nur. Das will ich wohl gegen Abend allein machen.« »Du bist gut, Peter,« sagte sie erfreut, »dann kann ich ja gleich hingehen und mich hübsch machen. Aber vorher schmeiß mir eine süße, gelbe Birne herunter!« Peter erfüllte ihren Wunsch, und sie ging, herzhaft die Zähne in die Frucht schlagend, davon.

Am Abend, als der müde Herbstsonnenschein auf dem Garten lag, machte Peter sich daran, das Werk des leuchtenden Mainachmittags niederzulegen. Er zog Mariens Schleifen auf und löste seine Knoten. Dann zog er die fest in der Erde steckenden Stangen heraus, erst seine Reihe, dann ihre. Als sie alle auf dem Haufen lagen, setzte er sich darauf und hielt den Kopf in die Hände gestützt. So saß er eine ganze Weile. Dann stand er auf und begann, die Stangen ins Haus zu tragen. Einst hatte er je acht mit spielender Leichtigkeit auf die Schultern genommen. Jetzt ging er schon unter der Last von sechsen gebückt und mühsam.

Als er zum letztenmal zum Felde gehen wollte, um die letzte Tracht zu holen, begegnete ihm Marie auf dem Gartenwege. Sie sah ihn groß an und rief: »Mensch, wie siehst du aus! Fehlt dir was?«

»Ich bin müde,« sagte Peter tonlos.

»Die Stangen sind wohl sehr schwer?«

»Ja ...«

Diese Arbeit war die letzte, die Peter für die Wehlinger Schulmeistersleute tat. Am Tage darauf zog er in die Herbstferien. Den Winter sollte er auf dem Seminar zubringen.

Auf jener Höhe, von der er an jenem Vorfrühlingsabend zuerst das Tal und das Dorf erblickt hatte, blieb er stehen und schaute lange zurück. Er lehnte sich an eine junge Birke, und diese ließ einige vor der Zeit gestorbene gelbe Blätter an ihm hinab zur Erde wirbeln. Auf der Heide ringsum lag das braune Blühen des Herbstes. Keine Imme summte mehr nach Honig, kein blauer Schmetterling gaukelte über den toten Blüten. Nur eine Grille zirpte müde und leise, und in der Ferne rief der Regenpfeifer sein langgezogenes Tüht-Tüht.

Dem Einsamen auf der Höhe lief ein Frieren über den Rücken. Noch einen Blick tat er in das verlassene Tal, dann fuhr er sich mit der Hand über die Augen und wandte sich langsam zum Gehen.


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