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Achtes Kapitel.


Am nächsten Morgen wurde Peter durch die Stimmen der Kinder, die sich frühzeitig vor der Schule versammelten, aus dem Schlaf geweckt. Er stand schnell auf, schloß die Schultür auf, trank seine Ziegenmilch und trat zum erstenmal vor die ihm anbefohlene Kinderschar.

Das Gesicht der Schule war das ihm von Wehlingen her vertraute: Blaue und graue Augen, hellblonde Haare, die Langköpfe weit zahlreicher als die Kurzköpfe. Der Kinder, die irgendwie von dem allgemeinen Typus abwichen, waren nur wenige. Aber ein Kind – das sah Peter auf den ersten Blick – machte in dieser Umgebung einen fremdartigen Eindruck. Es war ein Mädchen von etwa zwölf Jahren. Das schmale Gesichtchen war feiner geschnitten und weißer in der Farbe als die der Kameradinnen, und die dunklen Augen hatten ganz ihren eigenen Ausdruck. Peter glaubte die Gesamtheit der übrigen Kinder auf den ersten Blick ihrem Grundcharakter nach zu kennen. Es war dieselbe Art, mit der er herangewachsen war, und die er in Wehlingen zwei und einhalb Jahre unterrichtet hatte, die ungemischte niedersächsische Rasse. Aber dieses eine Gesicht gab ihm Rätsel auf.

Peter eröffnete seine Tätigkeit als selbständiger Lehrer nach einigen Gesangversen mit einer kleinen Ansprache, in der er die Kinder zu Fleiß, Aufmerksamkeit, gesittetem Betragen und anderen Schülertugenden ermahnte und die Hoffnung aussprach, daß sie selbst es ihm möglich machen würden, den Stock nicht zu gebrauchen. Denn er schlüge höchst ungern und wäre in seiner ersten Schule beinahe ganz ohne Schläge ausgekommen. Dieser Teil seiner schönen Rede fand die größte Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Ein großer Bengel wechselte mit seinem Banknachbarn einen vielsagenden Blick.

Darauf begann Peter nach dem Stundenplan mit der Religionsstunde. Er wollte zunächst feststellen, was die Kinder an Memorierstoff beherrschten, und stellte Fragen aus dem Landeskatechismus. Die Kinder hatten den Text leidlich binnen, trotz des lehrerlosen Jahres, während dessen nur selten ein Schulmeister aus der Nachbarschaft zur Vertretung herübergekommen war. Aber, so oft Peter fragte, fiel es ihm auf, daß das fremdartige Mädchen nicht aufzeigte, ja, nicht einmal aufblickte. Wie verlegen saß sie da und sah vor sich nieder. Zuletzt stellte er eine ausgesucht leichte Frage und rief sie auf, obgleich sie sich wieder nicht meldete. In die Schule kam eine Bewegung, die Kinder stießen sich an, lachten, legten sich auf die Tische und wandten die Köpfe, um die Gefragte zu beobachten. Peter brachte durch ein paar energische Worte die Gesellschaft zur Ordnung und Ruhe und wandte sich dann wieder an die aufgerufene Schülerin, die mit gesenktem Kopf schweigend in der Bank stand. Er versuchte ihr zu helfen, indem er die Antwort anfing. Vergeblich. Ratlos sah er sich in der Klasse um. Da meldete sich ein anderes Mädchen, und als Peter ihr zunickte, sagte sie: »Lina ihr Vater will das nicht haben, daß sie den Katechismus lernt.«

»Soo?« fragte er verwundert.

Da flog die kleine Plappertasche wieder in die Höhe und fuhr fort: »Lina ihr Vater sagt, im Katechismus steht der rechte Glaube nicht in.«

»Setz dich und halt deinen Mund!« sagte Peter ärgerlich.

»Was ist dein Vater?« fragte er freundlich das Kind, das noch immer stand und jetzt rot übergossen war.

»Schuhmacher,« war die schüchtern gegebene Antwort.

Die Plappertasche zeigte wieder eifrig den Finger, wobei sie dem Schulmeister den Arm entgegenzuckte und sich über die Bank warf.

»Was willst du denn nur?« fragte Peter ärgerlich.

»Lina ihr Vater ist ein Fremder, er ist ...«

»Wenn du dich noch einmal um Sachen kümmerst, die dich nichts angehen, stelle ich dich dort in die Ecke,« sagte Peter, scharf verweisend. Das Mädchen nahm ihre Schürze und maulte.

»Na, Lina, setz dich,« wandte er sich wieder an die andere, »ich denke, fortan müssen wir hier in der Schule lernen, was der Lehrer will. Das geht wohl nicht anders.« Er sagte das ganz freundlich. Das Kind in seiner Verlegenheit tat ihm leid. Und über die andern, die mit Interesse und Schadenfreude die Szene zwischen dem neuen Lehrer und dem Kinde des fremden Schusters verfolgten, ärgerte er sich. Er hatte gleich die Empfindung, daß diese Fremdartige keinen leichten Stand unter ihren Mitschülern hätte, und nahm sich vor, auf sie besonders zu achten und sie zu schützen, wenn es nötig sein sollte. Denn er kannte die Herzlosigkeit und Grausamkeit der Jugend gegen alles, was anders ist und sich nicht glatt dem Hergebrachten fügt. Hatte er doch selbst in seiner Jugend sie öfter erfahren.

Nach einer Weile ging er zu der biblischen Geschichte über. »Wer kann mir die Geschichte von Maria und Martha erzählen?« fragte er.

Einige Finger wurden zaghaft gehoben und wieder zurückgezogen. Nur Schusters Lina zeigte ruhig und sicher auf, und ihre dunklen Augen sahen den Lehrer voll an.

Peter war froh, daß er ihr vor der Klasse eine Genugtuung geben konnte, und rief sie freundlich auf.

Und nun erzählte sie. Und erzählte so, daß Peter sie verwundert ansehen mußte. Es kam ihm vor, als hörte er eine ganz neue Geschichte, ja, als sähe er sie vor sich, die geschäftige Martha und die stille, innige Maria, und den Herrn, der von der Wanderung in dem Heim der Schwestern eingekehrt ist. Als sie fertig war, sagte Peter: »Das hast du gut erzählt, Lina. Darüber habe ich mich gefreut.«

Er ließ sich dann noch einige Geschichten von andern Kindern erzählen. Die beherrschten den Text ja auch wohl. Aber wie hölzern und plump kamen sie damit über, wie ging dabei das Zarte, Schöne, Tiefe verloren! Er konnte sich nicht versagen, Linas Erzählen den andern als vorbildlich hinzustellen. Als er es getan hatte, bereute er es aber auch schon. Die Kinder, die ihre Geschichten ebenso fließend aufgesagt hatten, machten verwunderte Gesichter und sandten einen nicht gerade freundlichen Blick nach der durch das erste Lob des neuen Schulmeisters ausgezeichneten Mitschülerin hinüber.

Um zehn Uhr entließ er die Kinder. Er hatte, dem Beispiel seines alten Lehrmeisters folgend, für diese Stunde die Schulneulinge bestellt.

Auch hier in Solten kamen die Eltern der Kleinen zum Lehrer und überreichten ihm süße Anlockungsmittel. Die nahrhafteren Beigaben für den Schulmeister selbst fehlten hier natürlich, wegen des Reihetisches. Peter schrieb auf jede Tute den Namen des Kindes, das er mit ihr an sich fesseln sollte. Als er fünf Tuten vor sich hingelegt hatte, trat ein Vater mit leeren Händen vor ihn hin und redete ihn hochdeutsch an: »Herr Lehrer, mein Paulchen kommt auch ohne Zuckertute gern zu Ihnen. Wir haben ihm erzählt, daß sie ein lieber, freundlicher Herr sind.« Peter sah sofort an den Augen des Mannes, die Ähnlichkeit mit denen der kleinen Lina hatten, daß er den Schuster vor sich hatte.

Vor den versammelten Eltern erklärte der junge Schulmeister, er werde die Kinder einstweilen nach dem Abc setzen, und später nach Betragen, Fleiß und Tüchtigkeit. Die Eltern räusperten sich, einige sahen sich an, und ein Bauer, den Peter von den Hofbesitzern, die er bislang kennen gelernt hatte, am wenigsten leiden konnte, weil er in seinem Wesen etwas Dumm-protziges hatte, sagte: »Jea, dat is man so'ne Sak'; min Kinner hewwt bi den olen Scholmester jümmer baben an säten. Und ick bin ok de böberste wän. Min sel' Vader harr den grötsten Hoff.« »Denn will ich wünschen, Westermann,« sagte Peter, »dat jon Willem 'n düchdigen Jungen is und ok wedder den böbersten Platz innehmen kann.«

Er entließ die Eltern und rief seine Kleinen in die Schulstube. Sie kamen ängstlich und zaghaft. Denn auch in Solten hatten die lieben Mütter aus erzieherischen Gründen die Person des Schulmeisters mit allen erdenklichen Schrecken umkleidet. Auch die Zuckertuten konnten nicht alle Angst aus den Gesichtern verscheuchen. Nur ein kleines, eckiges Bürschchen kam munter angestapft, sah sich mit den schwarzen Äuglein interessiert um und ließ sie dann voll Vertrauen in denen des Lehrers ruhen. Als aber die andern ihre Zuckertuten bekamen, verdunkelte sich das fröhliche Gesichtchen, und in den schwarzen Augen wurde Regenwetter. Peter fragte Westermanns Willem, der, weil sein Vater den größten Hof besaß, die größte Tute hatte, ob er Paul etwas abgeben wollte. Willem sagte stramm: »Nee.« Er wandte sich an die andern. Die wollten sich, Willems Beispiel folgend, ebenfalls auf nichts einlassen. Peter hielt eine kleine plattdeutsche Rede über das Wohltun und Mitteilen und bat dann die Kinder, sie möchten je zwei Boltjen aus der Tute nehmen, und ihm, dem Schulmeister, schenken. Alle taten es, bis auf Willem. Peter ärgerte sich über den dickköpfigen Bengel und nahm sich von ihm, was die andern freiwillig gegeben hatten. Da stellte sich der kleine Kerl steil hin und sagte: »Dat segg ik to minen Vader, dat du mi de Boltjen stahlen hest. De hett he för mi kofft, und nich vör den Schoster sinen.« Peter überreichte die auf diese Weise verfügbar gemachten Süßigkeiten dem kleinen Paul, bei dem nach dem Regen denn auch sofort wieder Sonnenschein eintrat.

Darauf wies er den Kleinen ihre Plätze an. Paul Döhler wurde nach dem Alphabet der erste, Willem Westermann mußte den letzten Platz erhalten. Dieser machte ein Gesicht, als ob er protestieren wollte, sagte aber doch nichts.

Peter beschäftigte die Kinder ein Stündchen mit einem Bilde, auf dem Haustiere fraßen, brüllten, krähten, schliefen und sonst sich ihres Lebens freuten. Viel brachte er aus ihnen noch nicht heraus. Aber es schien ihm, als würde sowohl Paul Döhler seinen ersten wie Willem Westermann seinen letzten Platz während der Schuljahre behaupten.

Als er die Kinder entlassen hatte und in seine Stube gegangen war, hörte er plötzlich draußen ein lautes Geschrei. Er lief hinaus und sah, daß der große, starke Willem den zarten Schusterpaul zu Boden geworfen hatte und auf ihn losschlug. Als er hinzugeeilt war, erhob er sich soeben, die dem Schwächeren geraubten klebrigen Bonbons in der Hand. Peter nahm den Jungen beim Kragen, schnitt sich von einem nahen Birkengebüsch eine Rute und erteilte ihm eine tüchtige Tracht Schläge. Das Kampfobjekt warf der Junge dabei in den Sand.

Als Peter den kleinen Bösewicht los ließ, entfernte dieser sich um einige zwanzig Schritt, und aus dieser sicheren Entfernung streckte er die Hand drohend nach dem Schulmeister aus und sagte: »Töw warte nur. man, dat segg ick minen Vader, dat du mi slan hest.«

Peter mußte über den erbosten kleinen Kerl laut lachen, aber ganz wohl war ihm doch nicht. Die ersten Schultage nach Ostern in Wehlingen beim Schulmeister Wencke waren harmonischer, zu größerer allseitiger Zufriedenheit, verlaufen. Und er selbst hatte das Gefühl, nicht in allem ganz richtig gehandelt zu haben.

Wenn er in Solten Schwierigkeiten haben würde, das fühlte er, so würden sie irgendwie mit den Schustersleuten zusammenhängen. Dem Superintendenten blühte von dieser Seite her viel Verdruß, und der junge Schulmeister machte sich darauf gefaßt, daß es ihm ebenso gehen würde. Er stellte sich aber die Frage, ob er darum die beiden schwarzäugigen Kinder missen möchte, und beantwortete sie sich mit einem entschiedenen Nein. Die beiden würden seine Tätigkeit als Lehrer und seine Stellung im Dorfe erschweren, aber die beiden würden ihm auch Freude machen. Um der beiden willen erschien ihm gleich heute seine Schule so interessant, wie ihm die in Wehlingen mit ihrer ungemischten Niedersachsenrasse niemals erschienen war.

An diesem Tage war der Reihetisch bei Clas Mattens. Beim Mittagbrot war der Bauer sehr aufgeräumt, und über seinen originellen Schnäcken überwand Peter die etwas unbehagliche Stimmung, die sich seiner bemächtigt hatte. Als er aber am Abend wieder zu ihm kam, war ander Wetter eingetreten. Der Bauer fuhr seine Frau an, und dann den Knecht, und war über Tisch sehr einsilbig. Als die Familienangehörigen nach dem Abendbrot das Zimmer verlassen hatten, räusperte er sich einige Male und sagte dann endlich: »Scholmester, dat helpt nich. Ick mutt em mal'n bäten vörnehmen. In't Dörp is düssen Nahmiddag väl öwer em snackt worrn.«

»Soo?« fragte Peter. »Wat harrn de Lüe denn to snacken? Wat Godes?«

»Nee,« sagte Mattens kurz, »hüt' wör't nix Godes!«

»Wat denn?«

»De Lüe hett dat verdraten verdrossen., dat he glieks den ersten Dag enen van de Lütten dörtagelt durchgehauen. hett.«

Peter erzählte, wie ehrlich Willem seine Schläge verdient hatte, und sprach seine Überzeugung aus, daß sie ihm sehr heilsam sein würden.

Der Bauer zuckte die Achseln. »Wenn ick min' Meenung seggen schall,« sagte er, »de Scholmester is Meister van de Schol. Wat buten draußen. passeert, dat geiht em nix an. Daför sünd de Öllern.«

»Nee, Mattens-Vader, dar stah ick up'n ganz anner Stück,« rief Peter lebhaft, »ick bin Scholmester in de Schol, up de Straten und in de Hüser, Alldag und Sünndag. Ick will de Öllern düchdig helpen, de Kinner god uptotrecken.«

»Scholmester, Scholmester, ick ra'e rate. em god. Lat he sine Näs' davon! Dormit makt he blot böse Lüe und't helpt nix. Unse Lüe sind god, wenn ener jüm gewähren lett. Abers wenn ener jüm an den Wagen föhrt ... Scholmester, he is noch jung, he kennt de Buern noch nich.«

»Bangemaken gelt gilt. nich,« sagte Peter zuversichtlich. »De Lüe willt dat woll marken, dat ick dat god mit jüm und ehre Kinner meen.«

»Und denn is da noch väl hen und her snackt. Dat den frömden Schoster sin Jung as de böberste oberste. sitt, und Krischan Westermann sin, den grötsten Buern in't Dörp sin, as ünnerste ...«

»Kann ick wat darto, dat de Schoster 'n D und de grötste Buer 'n W in sinen Namen hett?« fragte Peter.

»So is dat niemals Mode wän,« sagte Clas Mattens ernst. »Süh, Scholmester, unse Herrgott hett dat so inricht, dat't Kaiser und Könige und Edellüe und Börger und Buerslüe in de Welt giwt. Und unse Herrgott hett dat ok inricht', dat't in de Dörper Buern und Anboer und Hüssellüe giwt. Dor kann he nix an ännern.«

»Will ick ok nich. Aber deshalw kann den Schoster sin doch baben sitten in de Schol.«

»Dat is Revolutschon.«

»Revolutschon!?«

»Jawoll. Wat is Revolutschon denn anners as wenn dat, wat nah ünnen hört, nah baben kummt, und wat nah baben hört, nah ünnen. de, dat he nu up'n Mal de Kinner anners setten well, as dat van Adam sine Tieden her begäng gebräuchlich. wän is, de stammt ok van dat dulle Jahr achtunveertig.«

»Dor mögt ji woll recht hewn, Mattens Vader. Van dat Johr stammt öwerall väl Godes.«

»Godes?« Der Bauer machte ein bedenkliches Gesicht. »Scholmester, ick ra'e em god, spräk he sökke Ansichten nich vör de Lüe ut! So wat mögt wi Buern up'n Lanne nich hören.«

»Na, de Revolutschonstied hett doch för den dütschen Buernstand ok väl brocht. Dar hett de Erbuntertänigkeit uphört und ...«

»Erbuntertänigkeit? So lange as de Heide bläuht und de Wind weiht und de Hahn kreiht, sünd wi Lüneborger Buern kenen unnerdan wän as den Herrgott in sinen hogen Hewen Himmel.. Nee, lütte Scholmester, mit sökke Geschichten mutt he uns nich kamen! Daför sünd wi to klok, und mit den olen Demokratenkram wöt wi nix to don hewn. Ick ra'e em god, richt' he sick nah't Dörp und föhr he keene neen Moden in! Dormit schad't he sick man sülwst. Und mi ok. Ick heww em ja 'ranhalt, und wenn dat mal mit em nich so inslan schöll, as ick dat höpen hoffen. do, denn krieg' ick de Nackensläg.«

Claus Mattens griff nach seinem Nacken, als ob er die Schläge schon fühlte.

Peter ging von dieser Unterredung nachdenklich nach Hause. Die ersten Tage in Wehlingen hatte er das Gefühl gehabt, daß es ihm leicht werden würde, sich in diese Welt der Bauern, die ihm plötzlich interessant geworden war, einzuleben. Heute war es ihm deutlich geworden, wie tief doch die Kluft war, die ihn von dem Empfinden dieser Leute trennte. Ganz konnte einer, der einmal etwas durch die Bücher in einer weiteren Welt zu Hause geworden war, doch in dieser engen Welt eines Bauerndorfes nicht wieder heimisch werden. Da er aber gelernt hatte, von sich und seinem Berufe etwas kleiner und von dem ihn umgebenden Leben größer zu denken, so nahm er sich vor, so weit es ihm möglich wäre, dem Hergebrachten und den Wünschen der Gemeinde Rechnung zu tragen. Und als er sich ins Bett legte, war er bereits entschlossen – am nächsten Tage die Kleinen nach der Ordnung: Bauern-, Anbauer- und Häuslingskinder umzusetzen.

Dem gegenüber, was ein ganzes Dorf als das Selbstverständliche, Natürliche, weil Althergebrachte, ansah, seine eigene Ansicht durchzudrücken, war Trinas Stiefsohn und Schulmeister Wenckes Zögling denn doch noch nicht Charakter genug. Und andrerseits war er zu klug und kannte die Bauern zu gut, um nicht zu wissen, daß er mit Hartnäckigkeit in dieser Lappalie den Erfolg seiner Berufstätigkeit in Solten gleich am ersten Tage auf's Spiel setzte.

Außerdem war die Beweisführung des alten Bauern nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben. Er war ja auch selbst der Sohn eines der konservativsten deutschen Stämme. Und wenn er auch ein Wörtlein für achtundvierzig geredet hatte, so hatte er einfach nachgeschwatzt, was er irgendwo einmal gelesen hatte. Er wußte weder, um was es sich damals gehandelt hatte, noch, was dabei herausgekommen war. Von Politik hatte er überhaupt nicht die geringste Ahnung. Ihre bewegenden Fragen wirklich kennen zu lernen, dazu fehlte es ihm an Anleitung und Gelegenheit. Und auf ein paar leicht aufgeschnappte Schlagworte zu leben und zu sterben, dafür war er schon zu reif.

Kurz und gut, am nächsten Morgen nahm er die Umordnung vor. Die Kinder waren damit einverstanden, und das Dorf sehr befriedigt, »'n düchdigen Scholmester,« hieß es, »he is nich so'n Hornoss', de mit den Kopp dör de Wand well. He well noch wat toleern dazu lernen.

Als Claus Mattens den jungen Schulmeister zuerst wieder sah, klopfte er ihm freundlich auf die Schulter und sagte: »Ick heww mi doch nich in em irrt. He hett Charakter.«

Peter sah ihn verwundert an. Daß er in dieser Sache nun gerade viel Charakter gezeigt haben sollte, war ihm neu.


Die ganze körperliche Kraft der Jugend, den vollen Schwung eines jugendlichen Idealismus hatte der junge Lehrer nach Solten nicht mehr mitgebracht. Eine gewisse körperliche und seelische Müdigkeit lag vielmehr auf ihm. Er vergaß sie, wo seinem suchenden Geist sich etwas Neues zum Erkennen bot. Aber in dem täglich wiederkehrenden Einerlei des Schulbetriebes fühlte er sie, da drückte sie auf ihn. Unter diesem Druck war die Gefahr groß, daß er mit der Zeit in den alten Schlendrian des Unterrichtens zurückfiel, in den er bei Schulmeister Wencke im zweiten Jahre, nachdem der Reiz des Neuen verflogen, schon ziemlich tief hineingeraten war: daß er sich nämlich begnügte, den Text der biblischen Geschichten stumpfsinnig einzuprägen und abzufragen, mit dem Landeskatechismus das gedruckte Frage- und Antwortespiel zu treiben, das Lesen nach der Seite der rein mechanischen Fertigkeit zu betreiben usw. Der eingesessenen Soltener Schuljugend gegenüber hätte er dabei sein Gewissen wohl mit der Zeit beruhigt. Die säßen ihre Stunden und Jahre ab, um konfirmiert zu werden und dann möglichst schnell alles zu vergessen: so hätte er sich wohl vorgeredet. Nun war da aber in der Schule ein Augenpaar, das gehörte nicht einem Leib, der seine Stunden absaß, sondern einer Seele, die hungrig war, die etwas verlangte. Den Eindruck hatte Peter am ersten Tage gewonnen, und er wurde ihn nicht wieder los. Es war, als ob diese Augen ihm zuriefen: Schulmeister, laß dich nicht gehen. Hüte dich vor dem Schlendrian. Bereite dich ernsthaft vor. Komm nicht mit dem alten abgeleierten Formelkram ... Schulmeister, das war heute mal schwach. Das hast du nur so dahin geschwatzt, um die Stunde auszufüllen ... Schulmeister, in dieser biblischen Geschichte liegt viel mehr drin, als du herausgeholt hast. Dieses und Ähnliches las Peters Gewissen in den dunklen Augen des Kindes und konnte darüber nicht einschlafen.

Indem aber Peter sich zusammenraffte, um dem einen Kinde etwas zu geben, gab er auch den andern mehr. Er merkte bald selbst, daß sein Unterricht Interesse weckte. Hier und da bekam ein Augenpaar einen lebhafteren Ausdruck. Hin und wieder erhielt er gute Antworten von Kindern, von denen er sie nicht erwartet hatte. Es war doch ein anderes Unterrichten, als früher in Schulmeister Wenckes Manier.

Und vor allem auch für sich selbst gewann Peter etwas, indem er sich zwang, es mit der Vorbereitung ernst zu nehmen und in der Stunde seine Kraft einzusetzen. Er bemerkte mit Verwunderung, wie ihm an den alten Unterrichtsstoffen, die er längst an den Schuhen abgelaufen zu haben glaubte, ganz neue Seiten aufgingen, wie ihm dabei Gedanken kamen, die ihn selbst überraschten und die ihm persönlich wertvoll wurden. Vor allem erging's ihm so mit den biblischen Geschichten. Als Jungen, und auch noch als jungen Schulmeister in Wehlingen, hatte ihn bei diesen besonders das Fremdartige, Wunderbare, das von seiner Umgebung und von dem gewöhnlichen Lauf der Dinge Abweichende interessiert. Das trat jetzt zurück. Er sah hier jetzt Menschen vor seinen Augen irren und zurechtkommen, leiden und jubeln, wachsen und werden, kämpfen und siegen. Immer wieder mußte er sich über den Lebensreichtum der evangelischen Erzählungen und Gleichnisse wundern. Das war nicht das Leben seiner Bauern, und auch nicht das Leben seiner Bücher. Aber Leben war's, echtes, rechtes Leben, das fühlte er immer wieder. Und all dies Leben, das wurde ihm immer deutlicher, ging von einer Quelle aus, von Jesus Christus. Der hatte es so reich und stark in sich und nahm es immer wieder aus verborgenen Tiefen. Und seine Freunde konnten nicht von ihm loskommen. »Herr, wohin sollten wir gehen?« fragten sie, »du hast Worte des ewigen Lebens.« Und was wurden sie in dem Verkehr mit ihm, diese galiläischen Fischer und Bauern!

Es war durchaus kein theologisches Interesse, was den jungen Schulmeister bei diesen Entdeckungen leitete. Es war vielmehr das Interesse des innerlich werdenden Menschen, der sich nach vollem, ganzem, tiefem Leben sehnt und sich dahin wendet, wo etwas diesem Lebenshunger Sättigung zu versprechen scheint. Es war das Wachsen einer Seele, die sich wie die junge Pflanze unwillkürlich dahin streckt, wo die Bedingungen des Wachstums, Licht und Luft und Wärme, vorhanden sind.


Als Peter etwa drei Wochen in Solten war, verspürte er eines Abends Lust, den Schuster einmal zu besuchen. Durch die Kinder hatte er auch an ihrem Vater Interesse bekommen. Und auch die Angst des hochwürdigen Herrn in Brundorf vor diesem Verführer machte den Wunsch in ihm rege, den gefährlichen Menschen kennen zu lernen. So wollte er sich denn doch nicht von dem Herrn Vorgesetzten bevormunden lassen, daß er sich von ihm in seiner eigenen Schulgemeinde seinen Verkehr vorschreiben ließ.

Er wartete die völlige Dunkelheit ab und machte sich dann auf den Weg. Das Haus lag etwas außerhalb des Dorfes auf einer kleinen Anhöhe.

Als er sich diesem näherte, tönte ihm Gesang entgegen. Schon wollte er umkehren, da verstummte der Choral, und er setzte seinen Weg fort. Als er vor der Tür ankam, hörte er drinnen einen Mann reden, im Gebetston. Neben dem nicht ganz schließenden Vorhang her sah er, daß eine größere Anzahl von Menschen in dem Zimmer auf den Knieen lag. Da wandte er sich zum Gehen. Aber in eben diesem Augenblick schlug ein Satz des Gebets ganz deutlich an sein Ohr: »Bringe unsern jungen Schulmeister aus der Finsternis zu deinem wunderbaren Licht.«

Peter lachte kurz auf, wandte sich schnell auf dem Hacken herum und machte, daß er von dem Hause fortkam.

Dieser unverschämte Pechhengst! Diese unausstehlichen Pharisäer! Da lagen sie auf den Knieen und beteten, wie weiland ihr Vorbild im Tempel: »Herr, wir danken dir, daß wir nicht sind wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Schulmeister.«

Ha, diese Dunkelmänner wollten einen klug machen, der auf dem Seminar die Abgangsprüfung als zweitbester bestanden hatte?

Wie die Menschen doch bemüht waren, ihn zum Licht zu führen! Der Seminardirektor auf seine Weise, der Superintendent auf seine, und nun auch noch dieser Schuster! Wenn nur nicht das, was der eine für Licht hält, in den Augen des andern gerade die allerdickste Finsternis wäre! Eine verrückte Welt! Da hält jedermann die armselige Tranfunzel, bei der er sich selbst vielleicht leidlich zurechtfindet, für das große Licht, das aller Welt leuchten soll, und hält alle die für Lichtfeinde und Dunkelmänner, die lieber ihrer eigenen Tranfunzel folgen wollen.

Von dem Wunsch, den Schuster kennen zu lernen, war Peter geheilt.

Am nächsten Morgen, als die beiden Kinder des Mannes vor ihm in ihren Bänken saßen, mußte er sie nachdenklich betrachten. Die hatten beide etwas Sonniges in ihrem Wesen. Auch der kleine Paul. Es war eine Lust zuzusehen, wie er mit muntern Äuglein und spitzen Fingern den Feinden, Buchstaben genannt, keck zu Leibe ging. Wie traurig, daß solche Kinder in dem Hause des Dunkelmannes dahin dämmern mußten! Nicht einmal eine Zuckertute am ersten Schultag hatte der harte Mann dem kleinen Kerl gegönnt, und die hatte doch sogar er, Peter, seinerzeit bekommen. Er nahm sich aufs neue vor, ihnen wenigstens in der Schule zu geben, was irgend in seinen Kräften stände. Was denn? fragte er sich. Auch wieder – Licht. Da mußte er lachen. Das steckte in den Menschen doch einmal unausrottbar drin, daß sie einander Licht bringen wollten. Und es war vielleicht auch gut, wenn auch die Unvollkommenheit der menschlichen Natur es mit sich brachte, daß die Menschen so verschieden darüber dachten, was nun eigentlich das Licht sei. Aber es war doch wohl gut, daß die Menschen das, was sie für das Beste hielten, einander gönnten. Wie er sich die Sache so überlegte, konnte er auch über den Schuster nicht mehr ganz so hart urteilen, als er es gestern abend getan hatte.


Eines Tages im Herbst, als Peter eben den Unterricht begonnen hatte, klopfte es an die Tür, und ehe er Herein rufen konnte, trat der Superintendent in die Schulstube. »Guten Morgen, lieber Eggers,« sagte dieser, indem er sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. »Sie sind nun schon fast ein halbes Jahr hier. Da möchte ich doch mal sehen, wie's eigentlich bei Ihnen aussieht. Lassen Sie mich mal!«

Peter trat bescheiden zwei Schritt hinter den Vorgesetzten zurück.

»Na, Kinder, wollen mal biblische Geschichte nehmen. Wer erzählt mir vom Jüngling zu Nain?«

Einige Finger hoben sich. Auch Schusters Lina zeigte auf, in ihrer stillen, sicheren Weise. Wenn er sie doch nur aufriefe! dachte Peter. Aber der alte Herr griff sich einen vierschrötigen Jungen, der die Geschichte denn auch auf seine Art ordentlich erzählte.

Darauf sprach der Superintendent mit den Kindern von dem Jüngling, den sie so früh von der schönen Erde weg in das dunkle, schauerliche Grab tragen wollten, von der Mutter, die nur den einen Sohn hatte und eine arme Witwe war, von dem teilnehmenden Gefolge und von den andern Einzelzügen, die dabei aus der schlichten Einfalt der evangelischen Erzählung in rührselige Breite gezerrt wurden. Zuletzt fragte er: »Nun sagt mir noch mal, Kinder, wie war also der Jüngling, als der Heiland ihn traf?«

»Tot,« lautete die Antwort.

»Gut, aber was für ein Tod ist das wohl gewesen?«

Kein Finger rührte sich. Die Kinder machten dumme Gesichter und sahen bald den Fragenden, bald den im Hintergrunde stehenden Schulmeister an.

»Dann will ich deutlicher fragen: Wie tot ist der Jüngling wohl gewesen?«

Ein kleines Mädchen meldete sich lebhaft.

»Nun, mein Kind?«

» Ganz tot.«

»So, glaubst du das wirklich?« fragte der alte Herr lächelnd. »Hast du schon jemals gesehen, daß ein Toter wieder aufgestanden ist?«

Die kleine Unschuld schwieg. Sie hatte überhaupt noch keinen Toten gesehen.

»Habt ihr das schon gesehen?« wandte der Superintendent sich an die ganze Schule.

Keine Hand hob sich.

»Na, also!«

»Haben Sie das den Kindern nicht erklärt?« wandte der geistliche Herr sich an den jungen Lehrer.

»Nein, Herr Superintendent ...«

»Dann will ich's euch sagen. Paßt nur hübsch auf! Der Jüngling war schwer krank gewesen, und zuletzt vor allzu großer Schwäche in einen Zustand tiefer Bewußtlosigkeit, in einen ganz festen Schlaf gefallen. Da meinte seine Mutter, er wäre tot, und bestellte die Beerdigung. Weil es bei solchen Leuten scheint, als ob sie tot wären, nennt man sie scheintot. Als nun die Träger unterwegs den Sarg hinstellten, gab das schon einen Ruck, und als nun der Meister den Jüngling an der Hand zog und ihn laut anrief, erwachte er aus seinem Scheintode. Dergleichen hat man öfter gehabt.«

Die Kinder waren ganz Ohr. Peter sah auf seine linke Stiefelspitze.

»Nun wollen wir Katechismus nehmen,« sagte der Superintendent. »Frage 165: Wie hat man für seine Gesundheit zu sorgen?«

Alle Kinder der ersten beiden Bänke zeigten auf, bis auf Schusters Lina. Wenn er nur das Unglückskind nicht faßte! Denn Peter hatte dem Mädchen das Nichtlernen des Katechismus stillschweigend so hingehen lassen.

Richtig, da hat er sie schon. »Du, da, die zweite auf der zweiten Bank!«

Lina stand auf, sah vor sich nieder und schwieg.

»Das weißt du nicht? Und alle aus deiner Bank zeigen die Finger. Schäme dich, du großes Mädchen, setz dich!«

Ihre Nachbarin gab die Antwort.

»Durch gesunde Speise und Trank, durch Mäßigkeit in Essen, Trinken und Schlafen; durch Mäßigung aufwallender heftiger Gemütsbewegungen, durch Arbeitsamkeit, Vorsichtigkeit, und durch die, auch zu unserer Empfehlung bei anderen Menschen unentbehrliche Reinlichkeit.«

»Gut. Wie sagt der weise Sirach darüber?«

Ein Junge schrie die Antwort:

»Mein Kind, prüfe, was deinem Leibe gesund ist, und was ihm ungesund ist, das gib ihm nicht.«

»Gut. Nun aber du noch mal, du Faule da, so billig können wir dich nicht laufen lassen. Warum haben wir unsern Gliedmaßen eine gewisse Leichtigkeit und Gewandtheit zu nützlichen Arbeiten zu verschaffen?«

Lina stand wieder auf und sah verlegen vor sich nieder.

Peter wagte die bescheidene Bemerkung, den kleinen Katechismus Luthers könne das Mädchen sicher und gut.

»Das genügt mir nicht,« sagte der Superintendent kopfschüttelnd. »Gerade auf den Abschnitt unseres Landeskatechismus, der von dem pflichtmäßigen Verhalten gegen uns selbst handelt, lege ich besonderen Wert. Lassen Sie das Kind nachher zurückbleiben und das lernen, was sie nicht gewußt hat.«

Ein anderes Mädchen mußte die ausstehende Antwort geben: »Wir erleichtern uns dadurch unsere Berufsgeschäfte, daß sie uns schneller und besser von statten gehen, und machen uns bei andern angenehm.«

»Gut, mein Kind. Einen schönen Vers dazu. Finger weg! Im Chor!«

Die Kinder standen auf und schrieen:

Gesunde Glieder, muntre Kräfte,
Wieviel sind die, o Gott, nicht wert!
Wer taugt zu des Berufs Geschäfte,
Wenn Krankheit seinen Leib beschwert?
Ist nicht der Erde größtes Gut
Gesundheit und ein froher Mut?

So laß mich denn mit Sorgfalt meiden
Was meines Körpers Wohlsein stört,
Daß nicht, wenn meine Kräfte leiden,
Mein Geist den innern Vorwurf hört:
Du selbst bist Störer deiner Ruh,
Du zogst dir selbst dein Leiden zu!

Darauf prüfte der Superintendent noch kurz im Lesen, Schreiben und Rechnen. Die »Realien« standen noch nicht auf dem Stundenplan einer Dorfschule.

Nachdem er sich zum Schluß einen Choral hatte singen lassen, sagte er freundlich:

»Nun sollt ihr für heute frei haben. Macht, daß ihr nach Hause kommt!« Lina sah fragend ihren Lehrer an, der aber gerade in anderer Richtung blickte. Einen Augenblick zögerte sie, dann ging sie mit den anderen hinaus.

Als das Geklapper der Holzschuhe verhallt war, klopfte der Superintendent dem jungen Schulmeister auf die Schulter und sagte: »Ich bin im ganzen mit Ihren Leistungen zufrieden. Das wird schon werden. Sie müssen nur in der biblischen Geschichte nicht vergessen, den Kindern die Sachen vernünftig zu erklären. Sonst verdunkeln wir damit wieder, was wir in andern Stunden aufklären. Und im Katechismus müssen Sie alle Kinder gleichmäßig im Auge haben. Das darf nicht vorkommen, daß ein so großes Mädchen gänzlich versagt. Sie nannten vorhin Luthers Katechismus. Nun, ich verkenne natürlich nicht, daß Luther für seine Zeit ein ganz tüchtiger Mann gewesen ist. Aber sein Katechismus ist im Grunde heute doch veraltet. Es ist auch bezeichnend, daß unsere neuesten Pietisten sich gerade auf ihn berufen, um uns in das von ihm nicht überwundene finstere Mittelalter zurückzustoßen. Sehen Sie, wir haben Männer wie Röhr und Wegscheider, und Teller und Gabler, und auch der Verfasser unseres Landkatechismus gehört zu ihnen, die sein Werk für unsere Zeit fortgesetzt und vollendet haben. Um noch einmal auf Luthers Katechismus zurückzukommen, wo finden Sie da etwas, was dem Abschnitt unsers Landeskatechismus ›Vom pflichtmäßigen Verhalten gegen uns selbst‹ an die Seite zu setzen wäre?«

»Herr Superintendent, wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, es will mir scheinen, als ob die Dinge, die in diesem Abschnitt abgehandelt werden, zum Teil eigentlich mit der christlichen Religion so ganz viel nicht zu tun hätten.«

»Das verstehen Sie nicht, mein lieber Eggers, weil Sie nicht studiert haben ... Sehen sie, in der alten Religion grübelte man stets über Dinge nach, die wir nicht wissen und wissen können. Da ist es nun gerade der Vorzug der Religion der Aufklärung, daß sie durchaus praktisch gerichtet ist, daß sie sich um das wirkliche Leben kümmert und dafür allerhand nützliche Lehren gibt. Sie werden bemerkt haben, wie ich mich Sonntag für Sonntag bemühe, den biblischen Texten praktische Seiten abzugewinnen, was wirklich zuweilen gar nicht leicht ist. Wenn Sie sich daran ein Beispiel nehmen wollen, werden Sie Ihren Religionsunterricht immer praktischer und fruchtbringender zu gestalten lernen. Nun aber, wie gesagt, im allgemeinen bin ich wirklich sehr mit Ihren Leistungen zufrieden. Und was nicht ist, das wird schon noch werden ...

»Apropos, was machen denn unsere hiesigen Dunkelmänner?«

Peter sagte, er hätte den Schuster erst einmal gesprochen, am ersten Schultage, als er seinen Sohn gebracht habe.

»Hat er auch schon ältere Kinder in der Schule?« fragte der alte Herr interessiert.

»Eins,« sagte Peter kurz.

»Wie machen seine Sprößlinge sich denn?«

»Gut Es sind tüchtige und fleißige Kinder.«

»Naja, wir wollen hoffen, daß die Schule ihnen die Rückständigkeiten aus dem Kopfe herausbringt, die ihnen zu Hause hineingesetzt werden. Haben Sie auf die Kinder besonders acht! Na, nachher kriege ich sie ja auch noch, im Konfirmandenunterricht ... Haben Sie etwas gemerkt, von heimlichen Wühlereien und Winkelversammlungen?«

»Och, Herr Superintendent, es widerstrebt mir, dahinter her zu spionieren. Ich denke immer: Was die Menschen so in ihren Häusern treiben, das geht dich nichts an. Ich möchte auch nicht, wenn einer sich darum kümmerte, was ich zwischen meinen vier Wänden treibe.«

»Es handelt sich aber hier um unerlaubte, heimliche Zusammenrottungen,« sagte der Superintendent mit einem verwunderten Blick auf den jungen Schulmeister.

»Wenn der Schuster sich einige gute Freunde einladen will, um mit ihnen zu singen und zu beten, was ist dagegen zu sagen?«

»Dagegen ist zu sagen, daß zum Singen und Beten die öffentlichen Gottesdienste in der Kirche eingerichtet sind. Ich muß jetzt gehen, damit meine Frau nicht mit dem Essen auf mich zu warten braucht. Vergessen Sie aber nicht, mein Freund, daß Kirche und Schule gemeinsam berufen sind, über dem Wohl und der Gesundheit des Volkslebens zu wachen. Und lassen Sie sich nicht verführen! Bleiben Sie ein geistig freier und aufrechter Mensch.«

Der alte Herr hatte Hut und spanisches Rohr genommen und ging. Peter gab ihm über den Hof bis an die Straße das Geleit. Nachdenklich ging er dann nach seinem Hause zurück. Alle diese Menschen, der Superintendent, der Schuster, Claus Mattens, lebten zusammen in einer kleinen Heidegemeinde, fernab von der großen Welt, aßen dasselbe Brot, tranken dasselbe Wasser, und doch lebte jeder von ihnen in seiner eigenen Welt, ohne den andern und seine Wett zu kennen. Und alle waren sie bemüht, ihn, den Unfertigen, der sich noch nicht irgendwo festgesetzt hatte, zu sich herüberzuziehen, der eine durch sein Gewicht als Vorgesetzter, der andere durch seine Bauernklugheit, der dritte durch sein Gebet. Eine wunderliche Wett!

Peter schüttelte den Kopf. Wie leicht wurde der alte Herr mit den Dingen fertig, die er selbst für die schwersten hielt! Der sagte einfach: »Ich habe das studiert; ich muß das wissen. Und Sie haben nicht studiert; folglich verstehen Sie nichts davon.« Wenn es mit der Religion nicht mehr auf sich hat, als dieser studierte Herr sich darüber zusammenstudiert hat, dann weg damit, lieber heute als morgen, aus der Schule, und aus dem Leben auch. Aber etwas mehr sitzt doch wohl dahinter ... Oder wenigstens ursprünglich ist's mehr gewesen ... Darüber würde wohl die Bibel am besten Auskunft geben können, die ja damals geschrieben ist. Will mich doch einmal danach umtun, unbekümmert darum, was Kirchenleute und Schuster nachher aus dem Ursprünglichen gemacht haben, interessant ist und bleibt die Sache nun doch einmal. Wenn unsereiner nur Lesen, Schreiben und Rechnen pauken sollte, es wäre ja, um aus der Haut zu fahren. Hierbei kann man doch einmal warm werden, kann seinen Kindern mal ans Herz kommen ...


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