Reinhard Sorge
Der Bettler
Reinhard Sorge

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Der dritte Aufzug

Schaubild: Ein Garten. Links springt aus der seitlichen Mitte der Bühne der Teil einer Veranda quer nach rechts vor, etwa ein Viertel der Bühne weit. Die Veranda ist aus Stein und hat auch Steingeländer. Da sie erhöht ist, verbindet sie ganz links ein efeubewachsenes Mauerstück mit dem Boden, im übrigen ragt sie frei. An der Veranda vorbei vorne links führt ein Weg in den Garten, ebenso kommt einer von rechts vorn. Beide Wege treffen sich. Der Veranda gegenüber eine junge Birke, davor eine Holzbank ohne Lehne. Hintergrund: Rasenbeet, durch den dort nach links umbiegenden Weg geteilt. Den Garten schließt eine Hecke. Die Szene ist vor blauem Frühlingshimmel. Am Morgen.

Unter der Birke sitzt die Mutter, die Hände im Schoß und die Augen geschlossen. Stille. Dann kommt der Sohn von links.

Der Sohn. Guten Morgen, Mutter.

Die Mutter. Ist der Vater schon zurück?

Der Sohn. Nein, noch nicht.

Die Mutter. Ich habe mich hier in die Sonne gesetzt, es ist so schön hier, es ist Frühling geworden. Die Sonne liegt warm auf mir. Und auf meinen Händen.

Der Sohn. Sie wird dir gut tun. Du siehst müde aus. Du hast wohl seitdem nicht mehr geschlafen?

Die Mutter. Was erinnerst du mich wieder daran... Ich will jetzt still hier ruhen und an nichts denken, und du fängst wieder davon an.

Der Sohn. Du hast ganz recht, wir wollen nicht mehr reden.

Die Mutter. Nein, nicht mehr... Du wolltest doch eben erzählen, wie er vor dem Feuer stand und die alten Mappen hineinwarf und dabei sang und tanzte? Es ist doch wahr?

Der Sohn. Wir wollen nun nicht mehr davon reden.

Die Mutter. Nein, sag doch, es ist doch alles wirklich geschehen... Er lief auch herum, schrecklich, mit brennendem Kopf und schrie so grausig? Es ist doch wirklich? Oder ist alles nicht wirklich?

Der Sohn. Mutterchen, freue dich lieber an der Birke und an allem Frühling!

Die Mutter. Ja, hier steht unsere liebe Birke – – – Ich habe solche Angst.

Der Sohn. Sage mir, wovor hast du Angst?

Die Mutter (zergrübelt). Sage mir doch: es ist alles nicht geschehen, es ist alles nur geträumt. ich weiß gewiß, ich habe etwas geträumt. Aber vieles ist auch geschehen.

Der Sohn. Was geschah, Liebe, ist vorüber und was du träumtest, ist auch vorüber. Denke an beides nicht mehr.

Die Mutter. Siehst du auch, wie ich immer welker werde...

Der Sohn. Liebe Mutter! Der Frühling wird dich wieder neu machen.

Die Mutter. Ja, du bist lieb! Es wird ja auch bald kühl werden um mich, ich werde bald in der Erde liegen dürfen. Täglich bitte ich Gott, daß er mich zu sich nimmt. Dann wird alles gut.

Der Sohn (küßt sie auf die Stirn). Bald wird alles gut; warte nur, Mutter!

Die Mutter. Ja, du bist lieb! Aber die Angst geht nicht fort, und der Traum geht auch nicht fort. Und die Wirklichkeit, die ist und bleibt. Ach, es zehrt mich auf; aber laß nur!

Der Sohn. Du weißt doch, daß Susanne heut zu Tisch kommt?

Die Mutter. Wie bist du lieb, du hast noch immer dein gutes Herz! Ja, nun muß ich hinein und mich um das Essen kümmern. Hedi ist wohl noch nicht zurück?

Der Sohn (hilft ihr auf). Ich glaube nicht.

Die Mutter. So. Meine Knie zittern wieder. Na! So, ich danke... danke schön. (Sie geht nach rechts ab.)

Der Sohn (an der Birke; nach einer Stille).
Nun sandte mir der Freund das Gift. Gereift ist
Auch alles andere. Es ist sehr die Zeit!
Der Mutter Siechtum eilt schon rascher grabwärts;
Auch schätzte man des Vaters Werk. Als irr.

(Er sinnt vor sich und pflückt in Gedanken ein Zweiglein der Birke.)

Schnell fertig ward die Tat in mir. Darüber
Vergaß ich fast die Qual des Werdens.
Ihr Lächeln deckte auch das Mädchen liebreich auf die Wunde,
Doch unter goldener Brücke blutet sie fort: die Wunde...
Und steig ich tief, schießt aus dem roten Strom die Wurzel
Auch dieser Tat. Betrüge nicht! sie wuchs aus deiner Qual!
Vater, Mutter, die Schwester boten sich
Ihr dar als Pfeiler. – So bin ich türmende Seele
Seltsam aus einem Willen – ? – Mir ist dies
Symbol des Frühlings, der so Not geworden,
Und erste Sonne und ein erstes Blau...

Das Mädchen und die Schwester kommen von links hinten. Bei ihren Schritten wendet sich der Sohn um.

Der Sohn. Guten Morgen, ihr beide!

Die zwei. Guten Morgen!

Die Schwester. Wir trafen uns an der Gartentür.

Das Mädchen. Wie wundervoll die Birke steht.

Der Sohn. Überall ist Frühling.

Die Schwester (blickt den Bruder an).

(Eine Stille.)

Die Schwester (zum Bruder). Schliefst du heut Nacht noch seitdem?

Der Bruder. Nein, auch du nicht?

Die Schwester. Nein, nein. Die letzten Nächte waren alle unruhig.

Der Bruder. Du siehst recht blaß aus. Auch du siehst blaß aus, Susanne.

Die Schwester. Das kommt von selbst. Ist der Vater schon zurück?

Der Bruder. Ich glaube noch nicht.

Die Schwester. Fragte Mutter nach mir?

Der Bruder. Ja, sie ist jetzt in der Küche.

Die Schwester. Ich will zu ihr.

Das Mädchen. Seht doch nur, die Birke im Wind! Wie blondes Haar. Schön sieht das aus.

(Indem die Schwester nach rechts abgeht, blickt sie zur Birke auf.)

Der Jüngling (küßt das Mädchen auf die Stirn und faßt sie bei den Händen). Guten Morgen, mein Mädchen, hast du nicht gut geschlafen?

Das Mädchen. Doch habe ich gut geschlafen, tief und fest...

Der Jüngling. Du siehst aber blaß aus und magerst.

Das Mädchen. Ich fühle mich gut, Liebling.

Der Jüngling (küßt ihr Haar, setzt sich dann auf die Bank und zieht das Mädchen neben sich). Ich weiß wohl, was du leidest.

(Eine Stille.)

Das Mädchen. Laß es doch Frühling sein!

Der Jüngling. Laß den Frühling in dich!

Das Mädchen.
Was kann ich dazu tun? –
Es kommt ja über uns; verstehst du...?

Der Jüngling (küßt die Stirn). Dieses ist anders.

Das Mädchen. Nein!...

(Eine Stille.)

Das Mädchen. Ich weiß nicht... ich habe schon die Entsagung an mir aufgezogen und liebe sie... Ich liebe mich selbst so in ihr... All mein Besseres... Ich weiß nicht.

Die Schwester (eilt von rechts her und faßt den Bruder am Arm). Der Vater kam nach Haus! Und er will hierher...

Der Bruder (erhebt sich). Er will in den Garten?

Die Schwester. Ja, er kommt mit dem Wärter.

Der Jüngling. Dann geht ihr zwei! Ich will mit dem Vater allein sein.

Die Schwester. Da ist er schon.

(Sie geht mit dem Mädchen nach dem Hintergrund; dort links ab.)

Der Vater kommt von rechts, der Wärter hinter ihm. Der Vater trägt eine große Mappe voll Zeichnungen unter dem Arm, der Wärter das Handwerkszeug: Zirkelkasten, Lineale usw. Der Vater hat einen grünen Frühlingsanzug an, der aber zu weit ist und schlottert. Die oberen Knöpfe der Weste sind offen. Die Halsbinde ist über den sehr niedrigen Kragen gerutscht.

Der Sohn. Guten Morgen, Vater.

Der Vater. Du bist da! Du mußt aber jetzt fort, ich will hier arbeiten. Bei solchem Wetter muß man doch im Garten arbeiten... Ja, ein Wetter ist das...! (Er hat die Mappe an die Birke gelehnt. Zum Wärter.) Legen Sie doch die Sachen da auf die Bank. (Der Wärter tut es.)

Der Sohn (zum Wärter). Bitte, lassen Sie sich von der gnädigen Frau den Kellerschlüssel geben, und holen Sie eine Flasche Wein und zwei Gläser.

Der Wärter (nickt und geht nach rechts ab).

Der Vater. Wein? So am frühen Morgen? Du bist mir einer!

Der Sohn. Wir wollen doch erst anstoßen, bevor du an die Arbeit gehst.

Der Vater. Na, meinetwegen können wir auch erst anstoßen.

(Er hat unterdessen die Mappen geöffnet und eine Zeichnung [dünne Pappe] herausgenommen. Jetzt will er sie mit Hammer und Nagel, die der Wärter mitbrachte, am Stamm der Birke befestigen.)

Der Sohn. Was tust du denn da?

Der Vater. Das geht dich nichts an, Junge. (Schlägt den Nagel ein.) Ich nagle die Pläne der Reihe nach an – äh, das ging daneben – ich nagle die Pläne der Reihe nach an – und will sie – ich will sie alle nebeneinander haben. Nämlich – so, das wäre das erste Blatt – (Nimmt eine neue Zeichnung aus der Mappe.) jetzt das zweite darüber... (Steigt auf die Bank und nagelt das zweite über das erste Blatt.) Weißt du – wir haben nämlich keinen so großen Tisch... zu Haus. Und es ist wichtig... es ist wichtig für die Übersicht, man sieht besser. So. Nun kommt noch das unterste... (Nimmt ein drittes Blatt und nagelt es unter das erste, bückt sich dabei.) Was sagst du zu dem Gedanken – der verdammte Nagel; ist keine Zange da...?

Der Sohn (reicht sie). Hier.

Der Vater. Ja, danke... Ja, wir können wirklich anstoßen... das habe ich verdient, wahrhaftig. Kein Auge zugetan in den letzten Nächten... so – noch einen Nagel – na, dafür bin ich auch vorwärts gekommen. So – jetzt noch in der Mitte – praktisch ist das, wirklich... so.

(Die Birke ist nun mit den drei großen Pappen beschlagen, sie zeigen die seltsamsten Linien, ausschweifend in Schwung und Verschlingung, die seltsamsten Ornamente stärksten Rhythmusses. Die Zeichnungen sind in allen Tuschen.)

Der Vater (vor der Birke). Fein sieht das aus, prachtvoll, was?

Der Wärter (kommt von rechts mit Wein und Gläsern).

Der Sohn. Da ist der Wein. Danke sehr. Sie können gehen, ich bleibe bei Vater.

(Der Wärter rechts ab.)

Der Vater (während er das Handwerkszeug auf der Bank ausbreitet und zurechtlegt). So, nun wollen wir also mal anstoßen! Und dann an die Arbeit! Viel ist gar nicht mehr zu tun, vielleicht werde ich sogar heute noch fertig. Ha, das wäre aber! (Der Sohn füllt die beiden Gläser, die auf der Bank stehen.) Ja, gleich stoßen wir an. Ich will nur erst auspacken. Ach! da habe ich keine rote Tusche mehr. Hm – Das Mädchen muß gleich neue besorgen.

Der Sohn. Die Geschäfte sind aber jetzt geschlossen, es ist Sonntag.

Der Vater. Richtig, es ist ja Sonntag, äh, das ist eklig. Was fange ich nun an! Gerade rote Tusche brauche ich noch so nötig. (Zeigt auf den Plan.) Da... hier unten, das wird alles mit roter Tusche ausgefüllt.

Der Sohn. Kannst du nicht eine andere Stelle fertig machen?

Der Vater. Ja, das ginge wohl auch. (Zeigt wieder.) Da... zum Beispiel, da brauch ich nur Schwarz und Grün. Aber das ist auch bald getan, und nun kann ich heute nicht fertig werden...

Der Sohn. Na, dann wirst du's morgen.

Der Vater. Ach morgen! morgen! Wer weiß, was morgen ist. Da kann ich schon längst tot sein. Haha... wahrhaftig. Was mache ich nun... Eklig ist das.

(Unmutig vor sich pfeifend, das Haupt gesenkt, die Hände in den Taschen, geht er an der Bank vorbei, dann wendet er rechts um und geht ein Stückchen nach dem Hintergrund. Dabei erblickt er am Boden einen jungen Vogel, der irgendwie aus dem Nest gefallen ist.)

Der Vater. Nanu, was liegt denn da? (Beugt sich nieder.) Ein kleiner Piepvogel, wahrhaftig! Nun sieh doch einer an! (Nimmt ihn auf.) So etwas! Wie hat der sich denn hierher verirrt! Wahrscheinlich aus dem Nest gefallen. Was piepst du denn so kläglich?! Hast du Hunger?... Hajaja, ich auch! (Ganz kurze Stille. Der Vater wendet kein Auge von dem Tier, nun preßt er ihm den Leib.) Tut das weh?! tut das weh?! Hajaja... was meinst du wohl...

(Währenddessen kehrt der Vater dem Sohn den Rücken. Der Sohn gießt beide Gläser voll, zieht rasch ein Papier aus seiner Brusttasche und schüttet das Gift in eines der Gläser. Dann sucht er etwas, womit er die Flüssigkeit umrühren kann, schnell bricht er ein grünes Zweiglein von der Birke und rührt damit. Jetzt wendet sich der Vater, und der Sohn wirft das Zweiglein aus der Hand.)

Der Vater (das Vögelchen haltend). Ha, jetzt habe ich aber einen Gedanken! Großartig, wirklich! Weißt du, wie ich meine rote Tusche bekomme? Weißt du das? Ja, das soll mir einer nachmachen! Paß auf! (Er nimmt sehr schnell einen der Zirkel und sticht mit dessen Spitze dem Vogel tief in den Leib.) So...

(Der Sohn faßt unwillkürlich den Arm des Vaters und sucht zu hindern.)

Der Vater. Jajaja, so macht man das. Und nun die Reißfeder. (Nimmt eine Reißfeder und taucht sie in den Vogel) So... Ja, piepse nur!

Der Sohn (macht eine Bewegung, das Tierchen zu nehmen). Laß das doch, Vater!

Der Vater. Was?! Was?! Was willst du denn?! Nimm dich ja in acht, sage ich dir! Soll ich keine rote Tusche haben, was? Nimm dich in acht! Nimm dir nicht zu viel heraus, Junge! Das wollt ich mir doch ausbitten!!

Der Sohn (begütigend). Ich bitte dich...

Der Vater (fast schreiend). Ich brauche die rote Tusche, hörst du! Ich muß sie haben! Was ist denn solch Tier? wie... Ich muß die rote Tusche haben. Ich würde auch Menschen anstechen, sage ich dir, denn ich muß sie haben!

Der Sohn. Du hast ganz recht, Vater. Ich war wirklich unbesonnen. Was ist denn solch Vögelchen? Und du brauchst doch nun einmal die rote Tusche...

Der Vater. Jetzt bist du verständig. So ist's recht... Das wollt ich auch meinen... ja... (An der Arbeit.) Siehst du, wie schön das geht, haha... großartig geht das!

Der Sohn. Wollen wir nicht erst anstoßen?

Der Vater. Anstoßen, ja... das müssen wir wirklich. Auf den glücklichen Einfall müssen wir anstoßen.

Der Sohn hat sein Glas rasch genommen, der Vater hebt den Gifttrank. Da kommt die Mutter von rechts. Als der Vater die Mutter erblickt, setzt er sein Glas nieder, ohne getrunken zu haben.

Der Vater. Ei seht doch, da ist ja unser Muttichen! (Er geht auf sie zu und führt sie vor.) Komm nur, Muttichen, jetzt sollst du auch noch mit uns anstoßen. Ach, ich muß dir doch zeigen – (Er hebt den toten Vogel auf und zeigt ihn der Mutter.) Da, sieh mal, so bekommt man rote Tusche, wenn man keine hat und die Geschäfte zu sind. Was sagst du dazu...? Haha!... Hu, du mußt nicht gleich so erschrecken; ist ein toter Vogel denn so etwas Schlimmes? Nein, erschrecken mußt du nicht, dir tu ich nichts. (Wirft den Vogel fort.) So... bist du nun zufrieden? Was?... Und jetzt wird angestoßen, hol schnell noch ein Glas, Junge, für unser Muttichen.

Der Sohn rasch nach rechts ab. Während des folgenden kommen von links Schwester und Mädchen in den Hintergrund, sie pflücken Blumen.

Der Vater. Gott, du siehst mich immer noch so erschreckt an, ich tue dir wirklich nichts. Und ganz blaß siehst du aus, ach, richtig vergrämt. Und tiefe Schatten hast du unter den Augen...

(Die Mutter versucht zu lächeln.)

Nein, lächle nicht so, denn solch Lächeln ist ja noch schlimmer als Weinen. Ich weiß schon: Ich habe dir das alles gemacht: Die Blässe und die Schatten und die Falten hier und hier...

(Die Mutter schüttelt den Kopf.)

Doch! schüttle nicht den Kopf! Das ist von den Nächten gekommen, die du um mich geweint hast. Ich weiß das! Ich kenne dich doch!

(Die Mutter lächelt ganz schmerzhaft, dabei werden ihr die Augen naß.)

Nicht weinen! Nicht weinen! – Nun wird ja alles besser! Ich bin gesund, siehst du, und kann wieder arbeiten! Vor uns liegt die Zukunft so schön blau wie dieser Tag, nicht wahr, Muttichen? Nein, gräm dich nicht mehr! Mach dich doch nicht krank!... Du mußt mir doch gesund bleiben, Muttichen, was wäre ich ohne dich...! Wer hat mir denn alles immer so schön und warm bereitet –? Das warst du. Du warst immer lieb. Wenn ich mal zankte, vergabst du gleich. Ein trautes Heim hast du mir geschenkt und die Kinder geboren. (Ihm schimmern Tränen in den Augen.)

Die Mutter. Einziger, was wäre mein Leben ohne dich. Du warst mir immer Halt; ich bin so zerbrechlich schwach und brauche Halt. Du warst es immer. Mutter hast du mich gemacht und glücklich... Ich kann ohne dich ja nicht sein...

Der Vater (nickt langsam). Schön wird die Zukunft! Das schwöre ich dir. Meine Krankheit hat die Liebe so fest gemacht! Siehst du wohl, das war das Gute daran. (Er ergreift ein Glas, blickt sehr ernst die Mutter an und trinkt es halb aus. Dann erst ergreift die Mutter das andere Glas, nickt lächelnd und trinkt gleichfalls. Mädchen und Schwester nach wie vor im Hintergrund, Blumen lesend.)

Der Vater. Das tut wohl...

Die Mutter. Schmeckt dir der Wein?

Der Vater. Warum sollte er nicht schmecken? Wie schön er wärmt! Ach! jetzt ist der Frühling da...! (Er legt den Arm um die Mutter.) Ach, mein liebes Frauchen! Weißt du, was ich jetzt denke? (Flüsternd beginnend, dann Steigerung. Er spricht wie ein Kind.)

Noch einmal will ich dich
Im Brautkleid sehen,
Ganz gehüllt in Seide,
Und wartend vor dir stehen.

Noch einmal muß die Ampel
Feenrot leuchten,
Und all die Herrlichkeit
Mir die Augen feuchten –

Dann wirst du scheu und zitternd
Die Seide streifen,
Ich will die Schleier dankbar
Vorfreudig greifen...

Dann wirst du deine Blöße
Mit Händen decken,
Mir wirst du meine Größe
Mächtig erwecken!

Dann werden viele Sterne
Alle... um uns blinken...
Du... bald ist sie nah diese Seligkeit –
Komm! laß uns trinken!...

(Er ergreift das Glas, aus dem die Mutter vorher getrunken, und leert es. Die Mutter greift zum andern Glas, aber ihren zitternden Händen entfällt es, es klirrt zu Boden.)

Der Vater. Na, Muttichen, was machst du denn für Sachen...

Der Sohn kommt von rechts, er trägt das dritte Weinglas.

Der Sohn (vor den Eltern, das Gesicht nach dem Hintergrund gekehrt). Ihr habt getrunken?

Der Vater. Ja, wir haben schon vorher angestoßen. Du mußt nun schon allein nachtrinken, mein Junge, das hilft nichts...

Der Sohn. Da sind Scherben – ? –

Der Vater. Mutti hat ihr Glas hinfallen lassen. Am Ende bedeutet das noch Glück, nicht wahr, Muttichen?

Der Sohn. Also du hast noch nicht getrunken...

Die Mutter. Doch! doch! getrunken habe ich schon, aber dann beim zweiten Mal fiel das Glas hin.

Der Sohn (unwillkürlich leichter). Ah –

Der Vater. Aber nun steh nicht so da mit dem leeren Glas, sondern trink! (Er greift die Flasche.) Komm, laß dir eingießen! (Schenkt dem Sohn ein, der das Glas hält.) Und nun trink auf unsere Gesundheit, mein Junge! (Der Sohn trinkt, Stellung unverändert.)

Der Vater. Na, na, wirf dein Glas nicht auch noch hin! Die Hände zittern dir mächtig. Ja, das kommt vom raschen Laufen.

(Der Sohn setzt das leere Glas auf die Bank.)

Die Mutter. Ich bin müde, mir sind die Glieder so schwer, ich werde mich vor dem Mittagessen noch etwas ruhen. (Sieht auf ihre Uhr.) Ich habe noch Zeit.

(Der Vater hat sich inzwischen zu seiner Arbeit gewandt und bereitet die Instrumente.)

Der Sohn. Dir sind die Glieder schwer...?

Die Mutter. Wie Blei so schwer. Du weißt doch... (leiser) die Nacht –

Der Vater. Ja, geh nur, Muttichen, geh und ruhe dich! Mach das Essen recht pünktlich.

Die Mutter. Ja, Punkt halb zwei.

(Sie geht nach links ab. Bald darauf erscheint sie auf der Veranda, einen – zusammenlegbaren – Lehnstuhl unter dem Arm. Sie stellt ihn auf.)

Der Sohn (wendet sich halb um, tut einige Schritte vorwärts und spricht hinauf zur Mutter). Fühlst du dich sehr schlecht... ?

Die Mutter. Nur müde. Nur müde... Weißt du, ich muß erst einmal wieder ordentlich ausschlafen... (Sie lehnt sich in den Stuhl und schließt die Augen.) Noch ein Viertelstündchen!

(Eine Stille.)

Der Sohn (blickt zum Vater, der eifrig arbeitet, dann vor sich, er betrachtet die Scherben und stößt sie mit dem Fuße an. Darauf fährt er mit der rechten Hand langsam über die Stirn). Wie soll das gemeint sein –?

Der Vater (ist während der Arbeit zweimal mit der Hand über die Stirn gefahren, jetzt legt er die Instrumente beiseite). So. Nun fehlt nur noch eine ganz unbedeutende Ecke, und dann ist es fertig. (Tritt vor die Bank, stemmt die Hände in die Hüften und betrachtet die Zeichnungen.) Da hängt sie nun – die große Arbeit... Ja, da hängt das Werk. (Seine Augen umschleiern sich allmählich. Er gerät sich mehr und mehr steigernd in Rauschzustand.) Ja, es ist zu Ende... endlich... Sieh nur hin, mein Junge... sieh es an! Ah, jetzt ist auch einen Augenblick Ruhe in mir... aber sie wird nicht lange dauern... ich kenne mich ja... ich werde bald weiter müssen... bei einem neuen Stern von vorn anfangen... ich weiß das... Man hat ja nicht Ruhe in diesem Leben... arbeiten! ewig arbeiten... wenn ein Stern fertig ist, kommt ein neuer an die Reihe... jajaja... Sieh nur hin, Junge, es ist zu Ende. – Und du sollst es ins Leben bringen, hörst du?... Ich vertraue dir, hörst du... ich trau dir's an... (jäh.) Ich will dir auch helfen... Du sollst es leicht haben... so... Ja so!... Meine Hände so über mein Gehirn... und ich schöpfe in mein Gehirn... siehst du... tief... und jetzt, da... (Er legt von seinem Haupt die Hände auf das des Sohnes.) schütte ich es in dich... schenke dir's... ich presse es in dich... presse es – schmerzt es?... (Er preßt heftiger.) schmerzt es?... Es muß auch schmerzen! Es soll auch schmerzen, hahaha... So. (Läßt die Hände atemlos wieder sinken.) Nun bin ich noch einmal dein Vater geworden und du mein Sohn. Nicht wahr? Ich habe dir das Werk in dein Gehirn gepreßt?! Hahaha, so ist es doch. Nun sollst du es vollenden... und bau es noch weiter!... dies Werk noch weiter! Hörst du? – Denn wozu hast du deine Mutter? So ist es doch... so ist es doch... Wozu heiratete ich... Ich heiratete nicht... ha! Das Werk hat sich neues Blut gesogen... es wollte, du sollst es weiter bauen... haha, so ist es mit der Heirat!... Wehe, wenn du nicht schaffst... Schaffe! schaffe! Ich bin dein Vater und behalte dich im Auge... denke nicht, daß du tun kannst, was du willst!... ich befehle dir... du sollst mein Werk noch weiter schaffen... ich mache es dir zur Pflicht... Ich bin dein Vater und kann dir befehlen... Du mußt mir gehorchen... Da hast du auch Küsse (Er küßt ihn heftig aufs Haupt.) Ich liebe dich... Du bist ja mein Sohn... und mußt tun, was ich will... Ich liebe dich... und sollst... Küsse! Küsse! ah...

(Er sinkt zurück, der Sohn hält ihn, er sinkt auf die Bank, neigt das Haupt seitwärts und lehnt es an die Birke, an einen der Pläne.)

Er starb. – Die Schwester und das Mädchen, die so lange im Hintergrund Blumen gepflückt hatten, kommen jetzt nebeneinander durch die Mitte. Jedes trägt einen Strauß loser Veilchen.

Die Schwester (reicht dem Bruder ihren Strauß). Dies nimm für den Vater!... Schläft er?

Das Mädchen (reicht ihren Strauß). Dies nimm für die Mutter.

(Sie gehen beide nebeneinander nach rechts ab.)

Der Sohn (legt den einen Strauß neben den Vater auf die Bank, wo auch die beiden Weingläser stehen und mancherlei Gerät des Vaters verstreut liegt. Den zweiten Strauß behält er in der Hand. Dann plötzlich fällt er in die Knie und preßt heftig sein Haupt in des Vaters Schoß. – Stille. Er erhebt sich wieder und geht nach links ab. Kurze Zeit bleibt die Bühne leer).

Darauf erscheint der Sohn auf der Veranda, wo die Mutter ruht, er tritt leise auf und späht, ob sie schläft.

Die Mutter. Komm ruhig näher, ich schlafe nicht.

Der Sohn (tritt heran). Aber du warst nahe daran einzuschlafen?

Die Mutter. Ja, ich bin sehr müde... Ach die schönen Veilchen!... sind sie aus dem Garten?

Der Sohn. Ja. Die schickt dir Susanne. Und Hedi hat auch welche für den Vater gepflückt.

Die Mutter (indem sie die Blumen nimmt und ihr Gesicht darein preßt). Ach, das freut mich! Er war vorhin so lieb zu mir, es hat mir vor Freude ordentlich einen Stoß durchs Herz gegeben. Und er sprach so fest von seiner Gesundheit, daß ich zuletzt selbst glaubte, er würde wirklich noch einmal gesund. Ach, vielleicht wird er es noch!

(Der Sohn ist bei der Mutter niedergekniet und hat ihre Hand gefaßt.)

Ach ja... nimm meine Hand, das ist schön. Ja... recht fest... so...

Der Sohn. Fühlst du dich sehr schlecht?

Die Mutter. Nur müde – und so eigentümlich – so außer mir – so ganz seltsam fühle ich mich – meine Hände und meinen Leib und alles – so außer mir; – wenn ich nur nicht krank werde –

Der Sohn. Hast du Schmerzen im Kopf?

Die Mutter. Nein. – Aber das kommt nun alles von den letzten Jahren – all die Aufregung, weißt du – und die ewige Angst – und dann auch der Kummer mit dir – und gestern Nacht – – ach, ich wünsche mich ja schon so lange ins Grab.

Der Sohn (die Hand auf ihrer Stirn). Liebe Mutter, du mußt das nicht tun, weißt du, – wenn man immer und immer den Tod wünscht, so kommt er endlich...

Die Mutter (lächelt). Wenn Vater gesund wird, möchte ich doch nicht sterben – ich möchte da sein, wo er ist – das möchte ich –

(Eine Stille.)

Die Mutter.
Er sprach so lieb. Es ging mir tief in die Seele.
Er sprach so schön von unserer neuen Hochzeit.
Die sollte nun bald kommen, er sei ja gesund.
Ich sollte noch einmal in weißer Seide vor ihn
Hintreten, ganz wie damals, er vor mir hinknien...
Ach...
Es wird vielleicht. Vielleicht bin ich noch einmal seine Braut,
Nach so viel Not und Prüfung wird er noch einmal mein.
Das wird der Himmel. Wohl noch schöner als wie einst.
Ich kenne nun das Leben und das große Leid,
Und er kennt doch die Krankheit und Gefangenheit.
Dies wird aus unseren Qualen wie eine Auferstehung –
So wundervoll im Wissen, nicht nur junge Freude.
Wir werden noch schöner glücklich. Alles wird hohe Freude...
Oh dann... wie gerne nährt ihm wieder meine Brust ein Kind!

(Sie streckt sich hintüber.)

Der Sohn (kniend und ohne zu ihr aufzublicken). Du Liebe, heilig ruht es sich an deiner Brust. Vieles höre ich rauschen. So seid ihr Mütter. (Er blickt auf – Stille.) O Mutter, wie starbst du schön... (Stille.) Mutter, du starbst an dir. –
.   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .

Die Bühne verfinstert sich. Dann vernimmt man des Sohnes Stimme erzen durch das Dunkel.

Du lebtest jenseits einsam auf dem Fels
Und wußtest nichts...
Die Tiefe klaffte und das Dunkel hüllte uns,
Du sahst mich nicht...
Doch jede Sehnsucht, die mir ward und wuchs,
Die wußtest du...
Und jede Träne, die mir stieg und rann,
Du sahst sie auch...

Unsichtbar band uns Eins:
Das band und klang...
Wortlos ein rührend Lied:
Das sang und sang...

Oft tropfte schwer herab vom schwarzen Fels
Dein schmerzlich Blut,
Manch Wink und Lächeln mein verschüttete
Dein Mutterblut...
Doch sandte es noch heimlich mir den Liebesstrahl
Aus dunkler Haft, –
Nun fährt es auf, wird Stern am Himmel, strahlt
In höchster Kraft.


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