Reinhard Sorge
Der Bettler
Reinhard Sorge

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Der zweite Aufzug

Vor einem Vorhang.

Der Vater im blauen Schlafrock. Er bearbeitet eine bunte Kindertrommel mit allzu großem Schläger. Noch bei geschlossener Bühne sind die ersten Schläge zu hören; während sich dann das Theater öffnet, werden sie rascher und rascher, jetzt folgen sie einander wirbelnd schnell.

Der Vater (schreit in den Lärm). Hei! Hei! Ho! Holla! Fort! Fort ihr Bälge! Hei! Ha, wie sie rennen! Fort ihr Bälge! Fort, fort, fort, fort, fort! Tüchtig! tüchtig, du gute Trommel, tüchtig! (Er hält inne.) Ah – nun sind sie fort... (Er blickt empor.) Haha, da seh ich dich wieder, Mars, da seh ich dich wieder... ! Du sollst auch einen Kuß haben, Trommel, weil du so brav bist, und die alten Fratzen verjagst. So... (Er küßt sie.) Pfui, die alten Fratzen. – Da ein Feuer, da ein Sargdeckel und Qualm, hier eine Laus, da eine Kröte, da ein Herz, da ein Herz mit dem Messer, hier ein Eimer Tränen, da eine Kiste Mord – dabei soll man nicht verrückt werden. Aber ich habe jetzt die Trommel – ätsch – ja, ich habe die Trommel. Der liebe Gott meint es doch noch gut mit seinem Baumeister. Liegt da oben auf dem Boden, als ich die alten Pläne suchen will, ganz verlassen die Trommel. Hahaja, der liebe Gott meint's noch gut mit seinem Baumeister, jaja. (Kurze Trommelschläge.) Eins, zwei, drei, und ich sehe den Mars wieder. (Wirft Kußhand nach oben.) Guten Tag, lieber Mars, guten Tag, guter Mars, ich habe jetzt die Trommel! (jäh umschlagend.) Was, du Kerl... was! Du Qualmriese, stell dich nicht vor den Mars, du! (Er beginnt wieder zu trommeln.) Holla, hoho, fort, fort! willst du wohl! du Teufel... fort! fort! Willst du wohl! fort! (Wild trommelnd dringt er nach links vor, als treibe er jemand hinaus. Kurze Weile ist noch das Trommeln hinter der Szene zu hören, dann Stille.)

Nun teilt sich der Vorhang, man sieht in ein Wohnzimmer. Rechts im Vordergrund Chaiselongue. Vor einem roten Vorhang inmitten der Hinterwand Tisch und drei Stühle. Links Mitte ein Sessel. Links hinten Tapetentür. Teppich rot, Tapeten rot, Polster der Möbel rot, Tischdecke rot.

Mutter und Sohn (der Dichter) sitzen am Tisch einander gegenüber (Profil).

Die Mutter. ... es ist das erste Mal seit deiner Rückkehr, daß du mir eine freie Stunde gönnst. Und du bist schon über eine Woche zurück. Aber du bleibst den ganzen Tag auf deinem Zimmer oder gehst spazieren. Um mich kümmerst du dich gar nicht, ich sehe dich nur zu den Mahlzeiten, dazu bin ich dann gut genug. Wenn du wüßtest... ich weine so um dich...

Der Sohn. Liebe, laß uns diese freie Stunde über anderes reden...

Die Mutter. Nein, nein, ich muß darüber reden können, das möchtest du natürlich nicht! Ach, ich bin ja tot für dich, läßt du mich denn noch irgend etwas von deinem Inneren wissen? Es war schon in den letzten Monaten schlimm genug, aber nun, seitdem du dies Mädchen kennengelernt hast, bist du ganz verschlossen! Von deiner Reise hast du mir kein Wort erzählt, warum bist du nur so schnell wiedergekommen?

Der Sohn. Du weißt doch, daß ich die Reise unternahm, um meiner Kunst etwas Anregung zu suchen. Ich kehrte zurück, als ich genug gesammelt hatte...

Die Mutter. Und du kehrtest so schnell zurück?! Aber ich glaube, du hast die Reise aus ganz anderen Gründen getan, ich glaube das ganz gewiß. Dabei hast du dann irgend etwas Schlimmes erlebt und kamst deshalb so schnell.

Der Sohn. Woher willst du dies alles wissen?

Die Mutter. Als du zurück warst, merkte ich, daß dich innerlich etwas sehr beschäftigte. Und es mußte etwas Trauriges sein, das merkte ich auch. Ich kenne dich doch! Ich weiß doch, was in dir vorgeht! Ach, ich weiß das doch! Vielleicht bist du hingefahren und wolltest ein Stück von dir anbringen, und es wurde abgelehnt.

Der Sohn. Aber laß doch diese unnützen Gedanken...

Die Mutter. Ja, ich merke schon, es ist wahr. Ich dachte es mir, ach...

(Links hinter der Szene klappt eine Tür.)

Die Mutter (empor). Horch! das war doch sein Schlafzimmer! Was ist denn? er schläft doch? er kommt doch nicht etwa?

(Kurze Stille.)

Der Sohn. Es ist alles ruhig.

Die Mutter. Der Wärter wird doch bei ihm sein?

Der Sohn. Soll ich gehen und nachsehen?

Die Mutter. Ja, gehe nur, aber leise! Wecke ihn nur nicht, wenn er schläft. Vielleicht ist es besser, du gehst nicht?

Der Sohn. Ich will doch lieber gehen.

Die Mutter. Ja, aber ganz leise, ja, es ist doch wohl besser. Man kann ja nicht wissen... Aber ganz leise, hörst du?

Der Sohn (nickt Ja und geht durch den Vorhang ab. Eine Stille).

Die Mutter (legt den Kopf schmerzlich auf die Seite, faltet die Hände, blickt starr gradaus und betet dann eintönig und gramvoll).
Gott, du führst alles zum rechten Ende –
Auch all mein Leid!
O Gott, Gott, so nimm du meine Hände
Und führe mich...

(Ein wildes Schluchzen läßt ihr Haupt aufzucken. Hinter der Szene rückt ein Stuhl; die Mutter trocknet rasch ihre Tränen und schaut zum Vorhang.)

Der Sohn (kommt zurück). Ja, der Wärter ist bei ihm.

Die Mutter. Schläft Vater?

Der Sohn. Er liegt in seinem Schlafrock auf dem Bett und scheint zu schlafen.

Die Mutter. Hast du nicht mit dem Wärter gesprochen?

Der Sohn (setzt sich wieder). Nein, ich ging gar nicht ins Zimmer, ich sah nur durch die offene Tür, keiner hat mich gehört.

Die Mutter. Ach, wenn ich daran denke, daß dies am Ende noch ein Jahr so geht, oder noch länger, – ich halte es nicht aus.

Der Sohn. Hast du noch einmal an die Tante geschrieben?

Die Mutter. Sie hat ja schon wieder geschrieben. Ich wollte dir noch den Brief zeigen. (Sucht bei sich.) Wo habe ich ihn nur...? Ich habe ihn vielleicht oben gelassen...

Der Sohn. Was schreibt sie denn?

Die Mutter. Sie schreibt ganz herzlos... Nein, ich habe den Brief jetzt nicht hier.

Der Sohn. Sie schreibt wieder herzlos?

Die Mutter. Sie geht auf nichts ein. Sie beruft sich auf die Aussage der Ärzte und will eben durchaus, daß er seine letzten Tage nicht in der Anstalt verbringt, sondern zu Haus. Sie wirft mir Lieblosigkeit vor, weil ich es anders wollte. Aber wie ich ihn lieb habe, das weißt du...

Der Sohn. Man kann bei ihr nichts ausrichten, Vorstellungen nützen nichts, und sie gibt eben so viel Geld, daß wir von ihr abhängig sind.

Die Mutter. Wenn es noch sein Herzenswunsch wäre! Wenn es ihm seine letzten Tage verschönte! Ja, dann würde ich alles auf mich nehmen! Aber der Arzt hat mir doch selbst gesagt, daß es diesen Kranken ganz gleichgültig ist... ach, es ist so schwer, ich kann nicht mehr schlafen vor Angst...

Der Sohn. Sie liebt wohl den Bruder, aber sie fühlt nicht mit unser aller Qual und deiner großen Liebe...

Die Mutter (senkt das Haupt). Ja, ich liebe ihn ganz und bin immer um ihn...

Der Sohn (leiser). Sieh, ich liebe dich ganz und bin immer um dich...

(Die Mutter blickt schmerzlich auf.)

Die Mutter. Ich weine um euch, die Nächte in die Kissen, mein eines Auge weint um den Vater, mein anderes um dich!

(Es klappt eine Tür, gleich darauf eine zweite, man hört Schritte näher kommen.)

Die Mutter (fährt aus sich auf und schreit). Das ist er! er kommt! (Sie flieht in eine Ecke des Zimmers.) Riegle zu! riegle zu! (Will zur Tapetentür hinaus.) Gott, die Tür ist verriegelt!

Der Sohn. Bleib doch! bleib ruhig! bleib ja ruhig!

Die Mutter (flieht durch das Zimmer in die hinterste Ecke). Ruf doch nur den Wärter!

Der rote Vorhang in der Hinterwand schlägt sich zurück, der Vater erscheint im Rahmen. Er ist wieder im blauen Schlafrock.

Der Vater (im Rahmen des Eingangs).
Nun bin ich fort –
Tralala –
Und kann tanzen!

(Er kommt rechts um den Tisch herum in das Zimmer, ohne die anderen zu bemerken, die rechts beiseite stehen; der Sohn faßt dabei beruhigend den Arm der Mutter.)

Der Vater.
Siehst du wohl, mein Herr Patron,
Heidi, bin ich dir entflohn
Eins! zwei! drei!
Hahaha!
Tralala, ich habe mich verstellt
Und den Herrn Patron geprellt,
Nun lach ich ihn aus
Ätsch
Aus Aus Aus
Und rücke ihm aus –
Bums.

(Er wirbelt umher. Da erblickt er Sohn und Mutter.)

Der Vater. Ah, da seid ihr ja! Guten Abend! Guten Abend!

Die Mutter. Guten Abend, Väterchen. Schläfst du noch nicht?

Der Vater. Hahaja – was sagt ihr zu mir – ich habe mich bloß schlafend gestellt! Aber der Kerl fiel darauf rein und dachte, ich schliefe wirklich. Fein bin ich ihn losgeworden hahaha – ich bin ihn los. Ich tanze schon vor Freude, ihr müßt nicht denken, daß ich verrückt bin. Ich tanze doch bloß vor Freude!! Ja, wir wollen doch alle tanzen, wo ist denn unsere Hedi, die soll Klavier spielen.

Hopsa... hopsa... tralala...

Was sagt ihr denn nur zu mir, ich kann doch noch dichten! fein vorhin, was? Wer verrückt ist, kann doch nicht mehr so dichten! Ja dichten, das war schon immer mein Fach. Weißt du noch, Mutti?:
    Du liebe Braut im Myrtenkranz
    Kochst mir jetzt hule-hule-Gans...
Hahaha...

(Kurze Stille.)

Aber setzt euch doch hin! Was steht ihr denn? Komm doch, Mutti!

(Sie setzen sich alle um den Tisch.)

Na, Junge, du solltest eigentlich schon schlafen – aber du bist ja kein Kind mehr. Früher mußtest du immer Punkt halb acht zu Bett... Punkt halb acht! Marsch – da half alles nichts! Ich weiß noch – haha – fünf Minuten vorher schieltest du schon immer nach der Uhr, so ganz heimlich zwinkertest du... aber ich sah es doch. Und dein Buch wolltest du dann immer noch ins Bett nehmen, aber das gab's nicht. – Ja, du warst ein Racker! Und wenn wir Rätsel rieten, weißt du noch, Junge? Wir beide hatten sie immer eins, zwei, drei, aber Mutti riet nie... nie... (Klopft ihr die Schulter.) Ja, ja, Mutti. So einfach ist die Sache nicht. Haha.

Der Sohn. Du hattest manchmal schon geraten, bevor ich das Rätsel zu Ende gelesen hatte.

Die Mutter. Ja, Väterchen, du rietest wirklich prachtvoll.

Der Vater. Aber wie ist das nun! Wir müssen doch besprechen, wie alles werden wird. Ich bin nun gesund, und der Wärter wird am Ersten entlassen. Ich glaube, Mutti, wir beide leisten uns zuerst eine schöne Reise nach dem Süden, denn woanders ist es jetzt überall noch zu kalt. Ja, ich habe mir das alles schon fein ausgedacht, na, du wirst Augen machen, Muttichen!

Die Mutter. Das wird ja ganz herrlich werden...

Der Vater. Na, und ob es herrlich wird! Und dann geht's mit neuer Kraft an die Arbeit. Aber tüchtig! Haha, wenn ihr wüßtet...
    Arbeit macht das Leben süß
    Macht es nie zur Last –
Jaja.

Die Mutter. Du hast dir ja neulich schon die alten Mappen vom Boden geholt –.

Der Vater. Ja, das habe ich... und die Trommel! Haha, wißt ihr denn schon von meiner alten, lieben Trommel...? Na, das erzähl ich euch ein andermal. Du brauchst nicht gleich ein so ängstliches Gesicht zu machen, Muttichen, es stimmt schon mit der Trommel... Ja – also – wovon sprachen wir denn...

Die Mutter. Von den alten Mappen, Väterchen, und von deiner Arbeit.

Der Vater. Ja, die Mappen, die brauche ich nämlich zu etwas – haha! ja, es gibt tüchtig zu tun, ho, wenn du wüßtest! Wir werden noch steinreich, wir lachen noch alle aus. Aber es wird nichts verraten.

Der Sohn. Du hast jetzt eine besondere Arbeit vor, nicht wahr?

Der Vater. Nein, es wird nichts verraten. Na, dir sage ich's vielleicht doch, Junge, du bist ja »Herr Kollege«. Wie geht's denn jetzt? Tüchtig fleißig, was? Wie lange wird's noch dauern und du machst deinen Bauführer... Mutti, weißt du noch, als ich... (die Mutter nickt) hahaja, das weißt du noch. Du, Junge, sowie ich gesund bin, gehen wir doch zusammen auf die Kneipe, unbedingt, ich will wieder einmal einen richtigen Kommers mitmachen. Ad exercitium salamandri... eins, zwei, drei... Ja, ja, ich kann's immer noch... das verlernt man nicht.

Die Mutter (hat sich inzwischen leise erhoben und will nun durch den Vorhang ab).

Der Vater. Wohin willst du denn, Mutti? Ach nein, bleib doch! Heute kannst du schon etwas länger aufbleiben, mir zuliebe, nicht wahr? Nicht wahr, mein kleines Frauchen?

Die Mutter (hat sich wieder gesetzt). Gewiß, Väterchen.

Der Vater. Du kannst dich ja morgen ordentlich ausschlafen, morgen ist Sonntag, da kamen wir doch nie vor neun aus dem Bett! Gott, wie lange ist das her, daß wir beide so zusammen schliefen! Aber laß nur erst den Wärter fort sein, der Erste ist ja bald, laß nur erst, Muttichen, dann machen wir noch einmal Hochzeit. Mein liebes, schönes Frauchen!

(Eine Stille.)

Die Mutter (betrachtet den Vater ängstlicher).

Der Vater (langsam). Sage mal –

(Stille.)

Die Mutter (zag). Ja...

Der Vater. Sage mal, was wollte ich denn noch mit dir reden... was war es denn

(Stille.)

... Na, warte nur, Muttichen, wenn ich erst wieder verdiene! Da komme ich nicht erst mit 6000 Mark, sondern gleich mit 600 000. Ja, du wirst staunen, aber warten mußt du noch ein bißchen. Es ist ja so entsetzlich, daß ich in diesen Jahren gar nichts tun konnte. Ich werde noch jetzt verrückt, wenn ich daran denke. Hier, hier, (streift den rechten Arm bloß) da seht mal – habe ich mich ins Fleisch gebissen vor Wut, aber es nutzte nichts, ich konnte nicht arbeiten. Ich konnte beißen und beißen wie ich wollte...

Der Sohn. Aber nun hast du ja wieder eine Arbeit vor, Vater.

Der Vater. Ja, nun ist freilich alles gut. Am Ende hat das Beißen doch etwas genutzt. Haha, es kam auch genug Blut, einmal eine ganze Schüssel voll! Haha, jetzt können wir aber lachen! Du, Mutti, wir könnten eigentlich zur Feier des Tages eine Flasche Wein spendieren. Und – weißt du was – dann bringe auch gleich die Hedi mit, sie soll doch mit uns anstoßen... (Er steht auf, reibt sich die Hände und springt vergnügt.) Hopsa, das wird einmal fein...

Die Mutter redet hinten am Vorhang leise mit dem Sohn, der Vater geht inzwischen summend und ganz mit sich beschäftigt im Zimmer auf und ab. Dann verläßt die Mutter das Zimmer. Der Sohn kommt nach vorn, setzt sich auf das Fußende der Chaiselongue und blickt zum Vater. Eine Stille.

Der Sohn. Du wolltest mir doch von deiner Arbeit erzählen, Vater... –

Der Vater (bleibt stehen). Von der Arbeit; richtig! – – Ja, so einfach ist das nun gar nicht zu erzählen...

Der Sohn. Wie lange bist du eigentlich schon dabei?

Der Vater. Hm, der Gedanke dazu oder der Traum kam mir schon vor vier Monaten. Und dann machte ich den Plan fertig, aber da war ich noch nicht wieder zu Hause. – Aber den Entwurf habe ich erst gestern begonnen.

Der Sohn. Du mußt mir alles zeigen. Was sagtest du da vom Traum...?

Der Vater. Ja – wie gesagt – es ist nicht so leicht zu erklären. Hinter der ganzen Arbeit steckt etwas Großes, Wunderbares, weiß du, eine ganz rätselhafte Macht – jaja, das klingt verrückt, ist es aber nicht. Hör nur zu. – Wie fange ich nur an...

Der Sohn. Hast du einen Traum gehabt?

Der Vater. Ja! ja! Denke dir! eines Nachts sah ich im Traum den Mars, ich sah ihn wie gewöhnlich am Himmel stehen, aber plötzlich wurde er immer heller und größer, er wuchs und wuchs, schließlich wurde er so groß, wie das ganze Zimmer hier und stand dicht vor mir, greifbar, denke dir, ich erkannte deutlich die Kanäle. Die Marskanäle, weißt du?

Der Sohn. Ja.

Der Vater. Ich sah sie deutlich flimmern und rieseln – schnurgrade gingen sie durch den ganzen Mars, schnurgrade.

Der Sohn. Hattest du sie schon einmal durch ein Fernrohr gesehen?

Der Vater. Ja, aber doch viel, viel kleiner, nur wie ein Fünfmarkstück so groß, und jetzt sah ich sie so groß wie diese Wand.

Der Sohn. Wie wunderbar.

Der Vater. Ja, wirklich wunderbar! Denn in der nächsten Nacht träumte ich dasselbe, aber dieses Mal konnte ich sehen, wie an einem Marskanal gebaut wurde!

Der Sohn. Ah...

Der Vater (in Gedanken wachsend). Ich sah die Böschungen greifbar vor mir, ich sah die Gerüste und Gruben – alles sah ich! – Und ganz seltsame Maschinen, mit seltsamen Räderwerken und ganz fremden Formen – und all das sauste und surrte vor mir, daß mir wirblig wurde! Ich sah auch Menschen, die uns sehr ähnlich waren, aber alle hatten lange, lose Gewänder und spitze Hüte, genau so, wie ich es einmal in einem Roman gelesen hatte.

Der Sohn. Hattest du alles das gelesen?

Der Vater. Was denn... doch nur von den Menschen hatte ich gelesen, von allem anderen nicht; sonst wäre wahrhaftig nichts Wunderbares dabei gewesen. Hahaha! Also... wo war ich denn...

Der Sohn. Bei den Menschen und Maschinen.

Der Vater. Richtig. Wie gesagt: von den Maschinen und dem ganzen Bau hatte ich natürlich nie etwas gelesen, ja, das wäre kein Kunststück!

Der Sohn. Wie war es nun in der dritten Nacht?

Der Vater. In der dritten Nacht? Ja, da sah ich von der Baustelle noch ein Stück mehr, auch alles noch deutlicher! Da sah ich auch riesige Dinger auf dem Wasser – es sollten wohl Schiffe sein – ich begriff gar nicht, wie sie überhaupt schwimmen konnten! Nichts begriff ich überhaupt, die Maschinen nicht, nicht eine einzige Konstruktion, rein gar nichts, wie ein Ochse stand ich davor! Aber schließlich begann ich doch dies und das zu wittern – ah – ich zersann mir die Stirn vor all den Dingen, es konnte einem fast den Verstand nehmen, aber ich bohrte mich hinein! Das war eine Zeit, Junge! Da lief ich des Tags wie ein Wilder und wartete auf den Abend. Ich glaube, ich hatte immerfort Fieber vor Warten. Ich brannte. Abends, wenn ich den Mars am Himmel sah, ganz rot, sprach ich mit ihm. In der Nacht war ich dann oben. Ja, ich war oben, wochenlang jede Nacht, ich träumte ja gar nicht, was ich sah, war Wirklichkeit – –

Der Sohn. Ich glaube dir, Vater. Und wie ging es weiter?

Geräusche hinter dem Vorhang. Die Mutter und die Schwester kommen. Die Schwester trägt ein Tablett, darauf eine Flasche Wein und vier Gläser. Die Mutter trägt eine Schüssel Gebäck. Sie setzen es auf den Tisch. Der Schwester blondes Haar ist lang offen; sie hat einen Morgenrock übergeworfen.

Der Vater (geht, nachdem er einen schnellen Blick auf die Eintretenden geworfen hat, rastlos und ganz im Geist vorne auf und ab).

Die Mutter (ängstlich). Da sind wir, Väterchen...

(Der Vater hört nicht.)

Die Schwester. Ich war schon zu Bett gegangen, Väterchen, und da hat es wohl etwas lange gedauert...

Der Sohn (erhebt sich). Komm, Vater, nun wollen wir anstoßen. (Führt den Vater zum Tisch.)

Der Vater (wie oben). So... so... so... (Er steht jetzt am Tisch, da trifft sein Blick die Schüssel, er erwacht und sagt lebendig:) Ah! Makronen! Hurra, Mutti, das ist aber eine Überraschung! Makronen! Mein Leibgericht.

Die Mutter (strahlend). Sie sind noch ganz frisch, Väterchen, du solltest sie eigentlich erst morgen bekommen.

Der Vater. Na, da muß ich aber mal kosten – (Ißt eine Makrone.) Hm, köstlich! (Ißt noch eine.) Wirklich unbezahlbar machst du die, Muttichen, – (ißt weiter.) Nein, wie das schmeckt!

Der Sohn. Wir wollen uns doch alle hinsetzen!

Der Vater. Ja, richtig, alle um den Tisch! Aber es fehlt ja ein Stuhl...

Der Sohn (schiebt den Sessel schräg vor den Tisch). Hier, nimm du den Sessel, Vater.

Der Vater (tut es). Ja, ich nehme den Sessel. Ich kranker Mann! – Aber nun wird angestoßen!... Wo hast du den Korkenzieher, Muttichen?

Die Mutter (reicht ihn). Hier.

Der Vater. So... tralala... das soll uns aber schmecken! (Er müht sich, den Korken auszuziehen.) Hoppla... Na, ist das eine schwere Geschichte... (Müht sich wieder.)

Der Sohn. Zeig mal, Vater! (Sie sitzen jetzt alle um den Tisch.)

Der Vater. Versuch du mal, ein verzwicktes Ding – das.

Der Sohn (schraubt tiefer und zieht dann den Korken).

Der Vater. Ah, der Junge wird geschickt... seht doch nur!

Die Mutter. Ja, früher war er immer unser Ungeschick.

Der Vater. Na, und ob!... Nun aber mal eingießen. (Gießt ein und füllt das Glas über den Rand.) Hoppla... das war zu gut gemeint. Na, der Teppich will auch was haben.

Die Schwester. Laß mich eingießen, Väterchen. (Sie nimmt ihm die Flasche aus der Hand und gießt die anderen Gläser voll.)

Der Vater. Was sagst du zu den Kindern, Muttichen –. Tüchtig, nicht wahr?

Die Mutter. Ja, sehr, Väterchen!

Der Vater. Willst du nicht eine Rede halten, Junge – Was? Das tatest du doch früher immer mit Vorliebe. Kein Geburtstag konnte vergehen, du mußtest deine Rede halten.

Der Sohn. Ja, ich weiß noch. Ich hielt immer große Reden; aber heute, denke ich, stoßen wir nur an.

Der Vater. Nein, nein, das gibt es nicht, du mußt reden! Wirklich, du mußt reden!

Der Sohn (erhebt sich und klopft an sein Glas).

Der Vater. Ah... st... st... stille! Hört den Herrn Redner!

Der Sohn. Kommilitonen!

Der Vater. Famos! Das wird ein Kommers.

Der Sohn. Wir begrüßen heute in unserer Mitte unseren lieben alten Herrn wieder frisch und munter. Lange war er unserem Kneiptisch fern, und seine Abwesenheit ließ keine rechte Fröhlichkeit mehr aufkommen. Nun freuen wir uns mit ihm seiner Gesundheit und hoffen für seine Zukunft und seine große Arbeit das Beste.

Der Vater (wischt sich die Tränen). Hört ihn nur! Weiter, weiter, Junge!

Der Sohn. Kommilitonen! Ich fordere euch auf, zur Ehre unseres lieben alten Herrn, dem wir alle so viel zu verdanken haben, der uns stets ein Vorbild war in Treue, Ernst und Pflichterfüllung und es immer sein wird, zur Ehre unseres alten Herrn einen donnernden Salamander zu reiben: Ad exercitium salamandris: Estisne parati?

Der Vater (laut und strahlend). Sumus!

Der Sohn. Eins, zwei, drei – (der Vater reibt sein Glas auf dem Tisch, er macht eine aufmunternde Gebärde zu Mutter und Schwester, diese ahmen ihm schüchtern nach) eins, zwei – bibite! (sie trinken) drei... Salamander ex-est.

Der Vater (Tränen in den Augen, umarmt ihn). Nein, das hast du gut gemacht. Mein Junge! Ganz famos war das von dir. – – Und nun müssen wir auch nochmal alle zusammen anstoßen. Auf die Zukunft! (Sie heben alle die Gläser, wie der Vater mit dem Sohn anstoßen will, sagt er:) Auf den Mars!

Der Sohn. Ja, auf den Mars!

Der Vater (zu Mutter und Schwester). Das ist nämlich ein Geheimnis von uns.

(Mutter und Schwester haben scheu und mit lächelnder Überwindung in die Lustigkeit eingestimmt. Eine Stille.)

Der Vater (wechselt die Augen). Aber ich will dir weiter erzählen – –!

Der Sohn (zu Mutter und Schwester). Nun geht ihr wohl schlafen, nicht wahr? Vater und ich können ja noch ein bißchen aufbleiben...

Der Vater. Ja, wirklich, ihr müßt jetzt zu Bett, – gute Nacht, Muttichen. Sieh nur, wie artig ich bin, ich gehe nicht mit dir. Aber warte nur, über acht Tage... das wird aber schön...

Die Mutter. Ja! Gute Nacht, Väterchen.

Der Vater (rasch auf sie zu und küßt sie). Gute Nacht, gute Nacht, mein Frauchen! (Küßt sie heftiger.) Gute Nacht!

Der Sohn (faßt leise seinen Arm). Recht artig, nicht wahr, Vater?

Der Vater (läßt die Mutter los). Ja, heute noch, aber über acht Tage... (Die Schwester reicht ihm die Hand und wünscht ihm gute Nacht.) Gute Nacht, Hedi. (Wirft der Mutter, die abgeht, eine Kußhand zu.) Gute Nacht, gute Nacht!

(Mutter und Schwester verlassen das Zimmer.)


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