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Obwohl selbst die Idee einer Spartakiade eine Chalture war, konnte ich nicht umhin, Uspenski und den übrigen Würdenträgern den Gang unserer Arbeit und »unsere Errungenschaften« zu demonstrieren. Deshalb wurden außer dem Publikum, das nach Witschka aus Gründen kam, die nicht das geringste mit Sport zu tun hatten, zweiundvierzig Mann von der Sportjugend dort zusammengezogen. Um Uspenski die Leistung zu zeigen, führten wir zwei Fußballkämpfe durch – man spielte nicht schlecht – und einen »ausgesuchten« leichtathletischen Wettkampf. Die Stoppuhren behielten wir selbst in Händen, die Bandmaße prüfte niemand nach, die Diskusscheiben und das übrige wog niemand – außer mir selbstverständlich – nach, so daß es an »Errungenschaften« nicht haperte. Somit hatte ich, sozusagen, ein juristisches Recht, Uspenski zu vermelden:
»Sehen Sie, ich habe Ihnen doch gesagt: noch einen Monat Training, und dann sollen sich die anderen in acht nehmen!«
Meinen Talenten spendete Uspenski gebührendes Lob.
*
Das Haus in Witschka füllte sich mit sehr buntem Publikum: eine undefinierbare Mischung zwischen Sportklub und Statistenbande aus Hollywood. Der Professor, von dem ich im vorigen Kapitel erzählte, fing mich einmal am Fluß ab und sagte:
»Hören Sie mal, bitte, wenn Sie schon die Rolle des Wohltäters der Lagermenschheit auf sich genommen haben, dann führen Sie sie auch bis zum Ende durch. Versetzen Sie mich in irgendein anderes Gebäude, ich kann es nicht mehr aushalten. Tag und Nacht Radau!«
Radau gab es tatsächlich Tag und Nacht. Ich ging in Witschka einher und war eigentlich neidisch. – Eben erst – und auf nicht lange – waren diese Burschen dem Zuchthaus entrissen, kaum von der Hungerration zu Beefsteaks übergegangen (man fütterte sie auch mit Beefsteaks; in Moskau war ein Beefsteak undenkbar) – und nun: die ganze Welt war für sie voll Freude, Optimismus, Munterkeit und Energie. Es gab hier Russen, Usbeken, Tataren, Kaukasier und weiß Gott wen noch. Ein schweigsamer Langstreckenläufer war da, der sich ein Basmatsch aus Afghanistan nannte, weiter einer, welcher der Staatsangehörigkeit nach Engländer war, der Geburt nach Syrier, der Nationalität nach Levantiner und dem Spitznamen nach Tschumburbaba. Außergewöhnlich groß gewachsen und stark, hatte er eine Stimme: die Posaune von Jericho. Berühmt war er dadurch, daß er zweimal versuchte, von den Solowetzki-Inseln zu fliehen. Er konnte allein gegen eine ganze Mannschaft Korbball spielen und gewann sogar. Sein lebensfrohes Gebrüll donnerte über ganz Witschka.
Meine ganze »Jugendkolonie« neckte Tschumburbaba, doch zeigte er allen lustig seine Zähne.
Diese Menschen alle spielten Fußball, sprangen, liefen, wärmten sich in der Sonne und machten Radau: eine solche Marke konnten selbst die Lagerbuchhalterinnen nicht aushalten; deshalb mußte man den mehr soliden Teil der Kolonie getrennt unterbringen … Georg und ich dachten zunächst daran, unser Domizil auch in Witschka aufzuschlagen, doch nach dem Gang der Lagerdinge konnte unsere Flucht von dort sehr unangenehm für diese ganze Gesellschaft werden. Deshalb blieben wir in der Baracke. Nach Witschka ging ich aber täglich und versuchte, dort einigermaßen Ordnung zu halten. Eine besondere Ordnung kam dabei allerdings nicht heraus, und es war auch nicht nötig, diese zu schaffen. Nach und nach bildete sich um mich, besonders aber um Georg, ein kleiner Kreis von »Gleichgesinnten«.
Ich versuchte, mich in der für mich neuen Welt der Lagerjugend zurechtzufinden, und stellte sehr bald fest, daß diese von der Jugend in der Freiheit sich nur in einem unterscheidet: es fehlten alle sowjetistischen Enthusiasten – in der Freiheit kommen sie noch vor. Man könnte sagen, daß hier die Creme der antisowjetistischen Jugend sich versammelt hatte – wenn die wirkliche Creme nicht im Jenseits oder auf den Solowetzki-Inseln wäre. Die Stimmungen dieser Gruppe waren somit nicht für die ganze Sowjetjugend charakteristisch – doch waren sie es immerhin für sechzig bis siebzig Prozent. Selbstverständlich kann bei solcher Statistik nicht von Genauigkeit die Rede sein, doch bildete diese scharf antisowjetistisch gesinnte Jugend eine erdrückende Mehrheit in der Freiheit, vom Lager gar nicht zu sprechen.
Das ganze Völkchen saß fast ausschließlich wegen Terror und hatte durchweg die gleiche Strafzeit: je zehn Jahre. Die Terrorparagraphen des Urteils wurden so angewandt, daß sie überhaupt keine Aussicht hatten, jemals wieder die Freiheit zu sehen: nach dem Lager kommt eine wirkliche Verbannung oder jene dem Ausland sehr wenig bekannte Art der Verbannung, die man in der Sowjetunion unter dem Namen »Lagerdienst nach freien Vereinbarungen« nennt. – Hast du deine Jahre abgesessen, kommst du nicht aus dem Lager, sondern erhältst das Recht, an Stelle in der Baracke in einer Privatwohnung zu wohnen und monatlich nicht drei Rubel achtzig Kopeken wie ein Holzfäller, nicht fünfzehn bis zwanzig Rubel wie ein Buchhalter, auch nicht siebzig bis achtzig Rubel wie beispielsweise ich, sondern dreihundert bis vierhundert Rubel zu verdienen, doch wirst du nie aus dem Lager können. Wer einmal in die Wirtschaftsmaschine der GPU geraten ist, hat im allgemeinen fast gar keine Aussicht, ihr zu entkommen – ein Mensch, der wegen Terror hineingeraten ist – um so weniger.
In Anbetracht all dessen verhielt sich die Lagerjugend der Administration gegenüber sehr unabhängig und, ich möchte sogar sagen, herausfordernd. Bei Gesprächen mit irgendeinem Kolonnenführer oder Chef des Unterlagers machte jeder den Eindruck, als ob er dachte: »was weiter auch kommen mag – ich spucke drauf, einstweilen aber kann ich dir auch eine reinhauen«. Psychologie der Verzweiflung.
Man schlug auch ziemlich oft und ziemlich gründlich. Dafür wurde man selbstverständlich in den Strafisolator gesetzt, mitunter, allerdings selten (es war doch ein qualifiziertes und brauchbares Publikum), wurde man sogar erschossen. Doch immerhin zog es die Verwaltung aller Rangstufen vor, mit dieser Jugend nicht anzubändeln, sondern ihr aus dem Wege zu gehen.
Ich wußte natürlich, daß Genosse Podmokly unter all diesem Publikum seine »Geheimmitarbeiter« hatte, konnte mir aber nicht vorstellen, wer unter den von mir ausgesuchten Fußballspielern sich darauf einließ. Anfänglich war es einem Burschen gelungen, sich einzuschleichen; er war wegen Amtsüberschreitung zu fünf Jahren verurteilt. Wie sich später herausstellte, bestand diese Amtsüberschreitung in dem »ungesetzlichen Mord« von zwei Verhafteten – der Bursche war ein Dorfmilizist. Diese Tat plauderte er selbst aus – beim nächsten Fußballtraining brach er ein Bein. Podmokly bestellte mich in die dritte Abteilung und verhörte mich beharrlich darüber, ob es ein Unglücksfall oder ein Vorsatz war.
Es wurde Podmokly bewiesen, daß von einem Vorsatz nicht die Rede sein konnte: ich selbst leitete das Training und sah, wie alles kam. Podmokly blickte mich feindselig und mißtrauisch an, übrigens erlebte er jeden Morgen den Weltschmerz des »Katers«. Er fragte mich aus, was für Volk sich bei mir in Witschka versammelt hätte, worüber man spreche und wie die »politische Stimmung« sei. Ich erwiderte darauf:
»Was wollen Sie von mir. Sie haben doch dort Ihre Spitzel – fragen Sie die!«
»Spitzel habe ich natürlich, ich will aber eine Bestätigung Ihrerseits!«
Ich begriff, daß der Bursche mit Amtsüberschreitung sein einziger Spitzel war: Witschka war so stürmisch organisiert, daß die dritte Abteilung keine Zeit hatte, dorthin ihre Leute abzukommandieren; aber auch das Abkommandieren war schwer; denn die Kandidaten suchte ich selbst aus.
Die Unterhaltung mit Podmokly nahm äußerst diplomatische Formen an. Er drehte und wendete sich, ging wie die Katze um den heißen Brei, empfahl mir irgendwelche fabelhaften Stürmer, die er in seiner Operationsabteilung hatte. Ich schlug vor:
»Wir wollen mal sehen, was es für Spieler sind – sind sie tatsächlich gut, dann nehme ich sie auf.«
Podmokly begann, sich wieder zu winden, und ich stellte direkt die Frage:
»Sie brauchen in Witschka Ihre eigenen Leute – dann hätten Sie auch gleich damit anfangen sollen!«
»Und warum haben Sie den Naiven gespielt – verstehen Sie denn nicht, worum es sich handelt?«
Die Lage wurde ungemütlich. Sich direkt zu weigern, war technisch unmöglich. Die Kandidaten Podmoklys aufzunehmen und meine Sportsleute darüber in Unkenntnis zu lassen, war psychisch unmöglich. Aufnehmen und vorher in Kenntnis setzen – das würde bedeuten, daß man diesen Kandidaten schon beim ersten Training die Knochen brechen würde, wie man es mit dem ehemaligen Milizisten tat – und ich hätte Rede und Antwort stehen müssen. Ich sagte Podmokly, daß ich gegen seine Kandidaten nichts habe, daß aber, wenn sie nicht so gute Spieler seien, wie er sie hinstelle – die übrigen Sportsleute sofort begreifen würden, daß diese Kandidaten durchaus nicht dank ihrer sportlichen Eigenschaften nach Witschka kamen – darum könne ich für keinerlei Folgen Bürgschaft und Verantwortung übernehmen.
»Sie sind aber ein Diplomat«, sagte Podmokly unzufrieden.
»Und ob … wenn man mit Ihnen in Berührung kommt, lernt man so was, auch ohne es zu wollen.«
Podmokly fühlte sich etwas geschmeichelt. Er entnahm seiner Aktentasche eine Flasche Wodka:
»Aber man muß den Kater vertreiben, wollen Sie ein Gläschen?«
»Nein, ich muß zum Training!«
Er goß sich ein Teeglas voll und sog es langsam ganz aus.
»Wir müssen dort unbedingt ein eigenes, wachsames Auge haben. Nehmen Sie schon meine Leute auf! Bricht man ihnen die Beine, dann hol sie der Teufel – auf die Ware kommt es uns nicht an!«
So kamen zwei gewesene Trotzkisten nach Witschka. Bevor ich sie nach dort schickte, sagte ich Chlebnikow und noch einigen, daß sie ihre Zungen zähmen sollten. Chlebnikow antwortete mir darauf, daß seine Burschen auf die »Geheimmitarbeiter« spucken. Denselben Standpunkt nahm auch Korenewski ein – ein beharrlicher und kämpferischer Sozialdemokrat. Er sagte, daß er selbst vor Stalin keinesfalls seine politischen Überzeugungen verbergen würde: für ihn, Korenewski, arbeite die Geschichte und das erwachende Bewußtsein der proletarischen Massen. Ich erwiderte darauf, daß es ihre Sache sei – ich habe gewarnt.
Die Geschichte und die Massen haben nicht geholfen. Korenewski führte eine nachhaltige und fast offene Agitation für die Menschewiki Sozialdemokraten. – und fuhr von Witschka auf die Solowetzki-Inseln; ich bin nicht ganz sicher, daß er diese lebendig erreichte.
Übrigens fand die menschewistische Agitation unter meinen »Sportkultur-Massen« keinerlei Teilnahme. Es war sehr naiv, mit irgendwelcher sozialistischen Agitation unter die Menschen zu gehen, die einen fast hundertprozentigen Sozialismus dauernd in der Praxis erlebten. Sogar Chlebnikow, der einzige der ganzen Gesellschaft, der das Wort »Sozialismus« auszusprechen riskierte, hat – angesichts des Ergebnisses der Agitation von Korenewski – aufgehört, dieses Wort zu gebrauchen.
Mit Korenewski hatte ich seinerzeit eine heftige Auseinandersetzung. Er war ein hoher, magerer Jüngling, mit der menschewistisch-freidenkerischen Mähne, ein in Rußland aussterbender Typ des Bücheridealisten. Über Revolution, Sozialismus und Proletariat sprach er mit Bücherphrasen – mit den Phrasen der sozialdemokratischen Werke der Vorkriegszeit, zog das Erfurter Programm heran, zitierte Kautsky, natürlich auch in der Vorkriegsausgabe, bewies, daß die Bolschewiken – Usurpatoren der Macht seien, vulgäre Marxisten, Diktatoren über Proletariat und dergleichen mehr. Die Jugend von Witschka, die bereits die Revolution, den Sozialismus und das Proletariat überlebt hatte, betrachtete Korenewski als einen etwas übergeschnappten Menschen und lächelte nur. Eines Tages rief mich ein Schlosser aus Jekaterinoslaw namens Fomko zur Seite, er war ein solider Proletarier von etwa achtundzwanzig Jahren:
»Ich möchte mit Ihnen wegen Korenewski sprechen. Sagen Sie ihm doch, daß er die Klappe hält. Ich bin selbst Proletarier, nicht schlechter als ein anderer, und doch hängt mir der Sozialismus zum Halse heraus! Der wird sich noch für nichts und wieder nichts das Genick brechen. Sprechen Sie mit ihm! Sie sind für ihn eine Autorität.«
Doch erwies es sich, daß keine Autorität da war. Ich rief Korenewski zu mir und forderte ihn auf, mich von Witschka nach Medgora zu begleiten, und versuchte unterwegs, ihm väterliche Ermahnungen zu erteilen. – Erstens war seine ganze Agitation zu augenscheinlich, denn er konnte doch nicht annehmen, daß es unter sechzig Mann des Witschka-Kurortes keinen »Geheimen« gebe, und zweitens, wenn man schon bereit ist, seinen Kopf vor die Nagans der dritten Abteilung zu bringen, dann für etwas weniger Hoffnungsloses, als es die Propaganda des Sozialismus in der Sowjetunion im allgemeinen und im Lager im besonderen ist.
Doch war das Leben an Korenewski irgendwie vorbeigegangen. Er strich sich mit einer nervösen Bewegung seine in das Gesicht fallenden, zerzausten Haarsträhnen zurück und antwortete mir mit Zitaten von Marx und aus dem Erfurter Programm. Ich sagte ihm, daß ich beides ohne ihn kenne und das in den Auflagen noch vor 1914. Es half nichts, er war ein unverbesserlicher Dickkopf. Er sagte mir, daß er für meine freundschaftlichen Gefühle mir sehr erkenntlich sei, daß aber die Interessen des Proletariats für ihn über allem stünden. – Nebenbei bemerkt, hatte er mit dem Proletariat nichts Gemeinsames: sein Vater war ein Moskauer Arzt, und er selbst wählte sich den für Sowjetrußland ganz merkwürdigen Beruf eines Astronomen. Was ist ihm Proletariat, was ist er dem Proletariat? Ich erinnerte ihn an Fomko. Das Ergebnis war gleich Null.
Etwa zwei Wochen nach diesem Gespräch empfing mich Chlebnikow am Eingang von Witschka und sagte sehr verstimmt:
»Korenewski hat man geschnappt. Er ist, unbekannt wohin, verschwunden, morgens kamen ›Operateure‹ und nahmen seine Sachen mit.«
»So!« sagte ich. »Das Spiel ist aus!«
Chlebnikow streifte mich mit einem erwartungsvollen Blick:
»Wir wollen uns setzen. Irgendeinen Plan muß man ausarbeiten!«
»Was nützt hier noch ein Plan?« sagte ich gereizt. »Man hat doch den Burschen gewarnt …«
»Ja, das weiß ich. Das ist natürlich ein Trost«, Chlebnikow zuckte spöttisch die Achseln, »wir haben's gesagt, du hast nicht gefolgt – deine Sache. Der Teufel soll den Trost holen! Warten Sie mal, anscheinend kommt jemand!«
Wir schwiegen eine Weile. Einige Lagerinsassen aus Witschka gingen vorüber und sahen unfreundlich und neidisch zu uns herüber. – Die Beefsteaks von Witschka auf dem Hintergrund der Rationen riefen keine besonderen Sympathien der Lagermasse hervor. Hinter den Lagerinsassen erschien die große Gestalt Fomkos, der, mit Angeln beladen, daherschritt. Er trat auf uns zu:
»Wissen Sie, was Korenewski passiert ist?«
»Gehen wir lieber etwas zur Seite«, sagte Chlebnikow. Wir gingen etwas abseits und setzten uns.
»Sehen Sie, Iwan Lukjanowitsch«, sagte Chlebnikow, »ich verstehe natürlich, daß Sie keinerlei Sympathien für den Sozialismus hegen – doch müssen wir Korenewski frei bekommen.«
Ich zuckte nur die Achseln – wie soll man ihn befreien?
»Versuchen Sie, sich an den Chef der dritten Abteilung heranzupirschen – ich weiß. Sie sind mit ihm, sozusagen, intim bekannt.«
Chlebnikow sah mich nicht ohne Ironie an. »Oder vielleicht gar zu Uspenski selbst?«
Fomko sah düster drein:
»Hier, Genosse Chlebnikow, ist es nicht so einfach. Gerade so stille Burschen, wie dieser Korenewski – gibst du ihm die Macht – dann wird er noch mehr als Uspenski unter den Menschen aufräumen. Ein Proletarier will der Hundesohn sein … mir will er vom Proletariat etwas erzählen? Nein, wenn die Bolschewiken die Menschewiken ausrotten, dann ist das ihre Sache, wir – wir brauchen unsere Nasen nicht hineinzustecken – eine Bestie frißt die andere auf!«
Chlebnikow sah Fomko kalt und hart an:
»Dummes Gerede! Erstens ist Korenewski unser Kamerad …«
»Wenn es Ihr Kamerad ist, dann können Sie sich mit ihm küssen. Wir brauchen solche Kameraden nicht. ›Kameraden‹ und ›Genossen‹ hängen uns zum Halse hinaus …«
»Und zweitens«, ebenso kalt fuhr Chlebnikow fort, ohne die Worte Fomkos zu beachten, »zweitens ist er gegen das Stalinsche Regime – folglich haben wir einstweilen den gleichen Weg. Und wen wir dann nach Stalin aufzuknüpfen haben, das wird man noch sehen. Außerdem ist Korenewski der einzige Sohn … Wenn Sie ihn frei bekommen können, Iwan Lukjanowitsch, dann müssen Sie es tun!«
»Ich bin vielleicht auch der einzige Sohn!« sagte Fomko. »Wieviel dieser Söhne haben Ihre Sozialisten ins Jenseits befördert? Übrigens ist es Ihre Sache, wenn Sie wollen, versuchen Sie es … Was aber die ›Geheimen‹ anbetrifft, die müssen wir von hier wegbekommen!«
Fomko und Chlebnikow tauschten verständnisvolle Blicke.
»Tja«, sagte Chlebnikow unschlüssig. Wieder schwiegen wir eine Weile. »Unsere Kerls sind durch die Verhaftung Korenewskis in große Aufregung geraten – im Grunde genommen war er doch ein passabler Bursche.«
»Ja, es ging«, etwas weicher sagte es Fomko.
Ich sah keinerlei Möglichkeiten, Korenewski zu helfen. Zu Podmokly gehen? Was soll ich ihm sagen? Die menschewistische Agitation Korenewskis war so kindisch, daß darüber alle im Bilde waren – merkwürdig, daß man ihn nicht schon früher geschnappt hatte. Gelegentlich konnte man versuchen, mit Uspenski darüber zu sprechen; aber nur in dem Falle, wenn er mich ruft – nur mit dieser Sache zu ihm zu gehen, das hieße, den Versuch von vornherein einem unbedingten Reinfall auszusetzen. Aber Chlebnikow sah mich unverwandt an, sah sozusagen direkt in mein Gewissen hinein, und in seinem Blick lag eine Andeutung darüber, daß ich, wenn ich schon mit Podmokly herumsaufe, auch moralisch verpflichtet sei, irgendwie meinen Sündenfall zu kompensieren.
Am gleichen Abend versuchte ich in der »Dynamo«, Podmokly die ganze Geschichte in äußerst humoristischer Form darzustellen. Er schaute mich mit seinen trunkenen und listigen Augen an und lächelte nur. Ich erzählte ihm, daß die Geschichte mit der Verhaftung im allgemeinen sehr dumm organisiert war; denn kaum habe man nach Witschka zwei offensichtlich für die Umwelt verdächtige »Trotzkisten« eingeführt, und schon eine Verhaftung. Wir einigten uns schließlich unter folgender Bedingung: Podmokly läßt Korenewski frei, ich verpflichte mich dafür, noch einen »Geheimen« in Witschka aufzunehmen.
»Wissen Sie auch wen?« fragte mich Podmokly mit dem Triumph eines Angeheiterten.
»Das ist mir ganz schnuppe!«
»Wirklich? Den Professor Y.«
Es verschlug mir den Atem. Professor Y. – ein Mensch fast von Weltruf! Soll der ein »Geheimer« sein? Soll mein Witschka aus einem Kurort zu einer Falle werden? Soll sich meine Chalture in eine Tragödie umwandeln? Und das schlimmste – es sieht so aus, als ob nichts zu machen wäre.
Aber Professor Y. kam nicht nach Witschka, und Korenewski frei zu bekommen, gelang mir nicht. Die Fischerkolonne, die die Netze auf dem See auslegte, dort wo die Witschka mündet, zog nach einigen Tagen die Leiche eines der beiden Trotzkisten heraus. Die Beine der Leiche hatten sich in der kräftigen Angelschnur verwickelt, und der Körper war von den Witschkawasserfällen fast zermalmt: es sah so aus, als ob der Bursche beim Angeln in einen Wasserfall gestürzt sei, und es war um ihn geschehen.
Diesmal ließ mich Podmokly offiziell vorladen und sagte:
»Also, Bürger Solonewitsch, antworten Sie mir gefälligst …«
Es kam zu einem Wortgefecht. Podmokly mit seiner ganzen dritten Abteilung zu fürchten, hatte ich keinerlei Gründe. Bis zur Durchführung der Spartakiade war ich allen Attentaten gegenüber gepanzert. Deshalb sagte ich, als Podmokly den Ton zu heben versuchte, er solle hier keine Komödie aufführen, sonst würde ich zu Uspenski gehen und ihm berichten, daß man nach Witschka die »Geheimen« ganz tolpatschig einsetze, daß ich ihn, Podmokly, davor gewarnt habe, und daß er mir selbst sagte, »auf die Ware kommt es uns nicht an«, und schließlich, daß ich ihm, Podmokly, kategorisch vorschlüge, meine Arbeit nicht zu untergraben; jedem ist doch klar, daß es keine Enthusiasten des sozialistischen Aufbaues in Witschka gibt und auch nicht geben kann, daß dort Konterrevolutionäre sitzen (nicht umsonst hat man sie doch festgesetzt), und daß, wenn die dritte Abteilung mit der Verhaftung meiner Leute weiterfährt, ich zu Uspenski gehen und ihm sagen werde, daß er, Podmokly, die Durchführung der Spartakiade einer großen Gefahr aussetze.
»Sie brauchen nicht gleich hochzugehen«, sagte Podmokly, »wir können doch als Mensch zu Mensch reden.«
Der Zwischenfall war erledigt. Nach den Schuldigen am Ertrinken des »Trotzkisten« fahndete man nicht weiter. Mit dieser »Ware« war die dritte Abteilung in der Tat reichlich versehen. Aber es gelang nicht, Korenewski zu befreien. Der andere »Trotzkist« wurde am gleichen Tage von Witschka abberufen und irgendwo anderweitig eingesetzt. Doch fühlte ich, daß nach der Spartakiade oder, richtiger gesagt, nach meiner Flucht Podmokly versuchen wird, manchen aus unserem Kreise zu packen. Wieder sah ich vor mir eine der widerlichsten, idiotischen Sackgassen des Sowjetlebens: was man auch organisiert, sei es auch etwas völlig Parteiloses, etwas außerhalb jeder Politik Stehendes, sofort schleicht sich die GPU ein und stellt eine Falle. Kurz vor der Flucht mußte ich einige meiner Sportsleute von Witschka nach den anderen Abteilungen als Sportinstruktoren abkommandieren, damit sie der dritten Abteilung von Medgora aus den Augen kamen. Übrigens, drei Tage vor der Flucht beschlauchte sich Podmokly so, daß er im Korridor der GPU-Gemeinschaftswohnung zu schießen begann, und war danach von der Bildfläche verschwunden. Was aus ihm geworden, erfuhr ich nie. Es liegt schon bestimmt eine Vergeltung darin, daß von den GPU-Henkern nur wenige am Leben bleiben. Die Reste des menschlichen Gewissens schläfern sie mit Alkohol, Morphium oder Kokain ein und werden dann von der GPU-Maschine auf den Schutthaufen geworfen oder auch ins Jenseits. Dorthin wurde offensichtlich auch Genosse Podmokly befördert.
Eine kurze Zeit erlebte Witschka den Zustand einer gespannten Unruhe, als man in Verbindung mit der Ermordung des »Geheimen« die Razzien der dritten Abteilung, Durchsuchungen, Verhöre und Verhaftungen zu erwarten hatte. Gewöhnlich wurde in solchen Fällen alles, was unter die Hand kam, auf den Kopf gestellt: eine Unterkolonne, eine ganze Baracke, mitunter sogar eine ganze Kolonne. Die GPU läßt nicht gern das Umbringen ihrer Agenten ungestraft. Doch in diesem Falle hätte das Auffliegen von Witschka zugleich das Auffliegen der Spartakiade bedeutet, und für diese wäre Uspenski gern bereit, Hunderte von seinen »Geheimen« zu opfern. Deshalb ließ man Witschka in Ruhe. Die Spannung legte sich allmählich; die stillgewordene Jugend begann wieder zu randalieren, und in den kleinen, losen Kreisen meiner Sportsleute wurden die politischen Debatten wieder aufgegriffen.
Man debattierte in allerhand mehr oder weniger verborgenen Winkeln des Witschkageländes, und von Zeit zu Zeit kam zu mir irgendein Petersburger Student oder ehemaliger Komsomolez des Moskauer Werkes »AMO«, um sich eine richtige Auskunft zu holen. – Man fragte zum Beispiel: »Existiert in Europa eine legale kommunistische Presse oder nicht?«
»Nehmen Sie doch die Prawda und lesen Sie! Dort finden Sie Zitate aus der kommunistischen Presse und die Angaben über die Anzahl der kommunistischen Abgeordneten in den bürgerlichen Parlamenten.«
»Das wohl; aber das ist doch alles nur versteckte Propaganda!«
Oder man fragte:
»Stimmt es, daß es bei dem alten Regime üblich war, wenn ein Arbeiter in der Straßenbahn saß und ein Burschui hinzukam, dann mußte der Arbeiter aufstehen und den Platz frei machen?«
Solche Fragen stellten hauptsächlich die ehemaligen unteren Komsomolze – Komsomolze »von der Werkbank«. Die Fragen des gebildeteren Publikums waren schon komplizierter, zum Beispiel über die Weltwirtschaftskrise. Die Mehrheit der Jugend ist überzeugt, daß eine Krise überhaupt nicht da ist; denn wenn darüber die Sowjetpresse schreibt, dann ist es eine Lüge. Gewiß können Stockungen da sein; aber »unsere Genossen« blasen es nur auf. Oder: gab es in Rußland früher eine Staatsverfassung? Oder: ist es richtig, daß Trotzki über Lenin als von einem »berufsmäßigen Bekämpfer jedweder Rückständigkeit in der russischen Arbeiterklasse« schrieb? Oder: war es Tatsache, daß man vor der Revolution in die Universitäten nur Adlige aufnahm?
Nicht alle diese Fragen riskierte ich, erschöpfend zu beantworten.
Die Frager waren vernünftige Burschen, junge Menschen mit klarem Gehirn, doch mit einer ungeheuren Unwissenheit, die einzig dasteht in der bisherigen Geschichte Rußlands und der Welt. Sie alle, wie auch die Jugend in der Freiheit, befanden sich in einer Periode innerer Gärung und rastlosen Suchens. Meine Fußballelf stellte ein ganzes Spektrum von politischem Suchen und politischen Gesinnungen dar. Auch ein Trotzkist war darunter – ein richtiger, nicht aus der dritten Abteilung. Er war in die Sache einer Organisation verwickelt, die Waffen aus dem Auslande nach Rußland einschmuggelte, doch sprach er kein Wort, weder über diese Organisation noch über seine Vergangenheit. Ich bin sogar dessen nicht sicher, daß er ein Trotzkist war: die Bezeichnung »Trotzkist« ist juristisch genau so dehnbar wie die Bezeichnung »Kulake«, »Weißbandit«, »Bürokrat«.
Den Beweis zu erbringen, daß man kein Trotzkist oder kein Bürokrat ist, ist ebenso schwierig wie zum Beispiel zu beweisen, daß man kein Lump ist. Dazu noch ist in der Sowjetpraxis nicht der Ankläger, sondern der Angeklagte beweispflichtig. Jedenfalls war dieser »Trotzkist« der einzige, der das Prinzip der Sowjetmacht anerkannte. Er und Chlebnikow saßen auf dem äußersten linken Flügel des Parlaments von Witschka. Das übrige Publikum in seiner erdrückenden Mehrheit gehörte zu jener unbestimmten und verschwommenen Organisation oder genauer gesagt, zu jener Strömung, die sich als »Verband der russischen Jugend« oder »Verband der denkenden Jugend« oder auch »Junges Rußland« und überhaupt mit allen Kombinationen aus den Worten Rußland und Jugend benennt. In der Freiheit hat sich all das in den Studenten- und Arbeitergemeinschaftswohnungen eingenistet, in deren Komsomolzellen. Mitunter hört man plötzlich auf einer öffentlichen Versammlung, wie irgendein Wanja oder Petja den Fünfjahresplan so verteidigt, daß man nur staunen muß. Es dauert aber nicht lange, und es spricht sich herum, daß dieser Wanja oder Petja während der Nachtwache in dem Werkkomitee dabei überrascht wurde, daß er auf der Schreibmaschine eine blutrünstige antisowjetistische Proklamation abtippte. Und so fährt Wanja oder Petja ins Jenseits. Ich muß sagen, daß man unter dieser Jugend vergeblich nach irgendeinem auch nur grob skizzierten Programm suchen wird – auf jeden Fall nach einem positiven Programm. Ihre Ideologie baut sich vor allem auf der Verneinung dessen auf, was ihnen auf keinen Fall paßt. Das Sowjetsystem paßt ihnen in keiner Beziehung, auch keine Parteidiktatur, und deshalb existiert zwischen jener Jugend, die die gegenwärtige Lage auf dem Wege der Vervollkommnung der kommunistischen Partei zu ändern sucht, und jenem Teil, der es vorzieht, die Partei einfach aufzuknüpfen, ein grundlegender, entscheidender Unterschied: zwei Seiten einer Barrikade. Der erste Teil ist im Lager äußerst spärlich vertreten.
Die gesamte Jugend, fast ohne jede Ausnahme, verhält sich allen religiösen Fragen gegenüber völlig indifferent. Das ist keinesfalls eine kämpferische Gottlosigkeit, sondern einfach eine völlige Gleichgültigkeit: »vielleicht braucht die Religion jemand, für uns ist sie aber ganz entschieden nicht zu gebrauchen«. In dieser Hinsicht hat die antireligiöse Propaganda der Bolschewiken ihr Werk vollbracht – obwohl sie außerstande war, eine Feindseligkeit der Religion gegenüber zu suggerieren. Monarchistische Stimmungen sind auch nicht vorhanden. Die Vorstellung vom alten Rußland ist äußerst verworren, was in der Hauptsache auf den Einfluß der sowjetistischen Variante der Russischen Geschichte zurückzuführen ist. Wenn aber über die religiösen Themen mit der Jugend zu sprechen sich nicht mal lohnt – man hört achtungsvoll zu, und man wird sogar nichts entgegnen –, so kann man sich über das Zarentum wohl unterhalten: »ja, kann sein, daß es technisch ganz gut wäre«. Dem Kapitalismus gegenüber verhält man sich unbestimmt: einerseits ist es jetzt klar, daß man ohne den Kapitalisten, ohne das Eigentumsprinzip nicht auskommen kann, andererseits aber – wie ist es nun, die Werke sind doch auf unseren Knochen gebaut? Jede Jugendgruppe hat ihre eigenen Programme einer Regulierung des Kapitalismus. Es gibt sogar einige, die nicht eines gewissen Interesses entbehren. Zusammenfassend könnte man sagen, daß die russische Jugend, getrennt von der übrigen Welt, bar jeglicher Führung seitens der älteren Generation, ohne jeglichen Zugang zu einer halbwegs objektiven Wirtschaftsliteratur, auf der Suche nach den künftigen Kompromissen zwischen Staats- und Privatwirtschaft ist. Die Gedankengänge sind rein ökonomisch und technisch, völlig irdisch, wenn Sie wollen, sogar nur auf das Heil der eigenen Haut gerichtet. Keinerlei »ewige Fragen« und keinerlei überirdische Jenseitsthemen. Und hinter allem – eine große und schöne Liebe zum eigenen Vaterland – das ist wahrscheinlich das Kommende, was in der Emigration mit dem Ausdruck »nationale Wiedergeburt« bezeichnet wird. Doch wird das Wort »national« für diese Jugend unverständlich sein. Oder, noch schlimmer – es wird doppelsinnig sein. Man wird in ihm das verdächtigen, was einst bei uns als zoologischer Nationalismus bezeichnet wurde, das heißt eine der russischen Nationalitäten der anderen gegenüberzustellen.
An dieser Stelle gestatte ich mir – flüchtig und ohne Beweisführung – die sehr komplizierte Frage des Nationalismus als solchen zu berühren und dabei außerhalb meiner persönlichen Ansichten hierüber zu bleiben.
In der ungeheuren Vermischung der »Volksstämme, Sprachen und Stände«, die die Sowjetrevolution nach sich zog, ist der nationale Unterschied unter der Jugend völlig verwischt. Eine Gegenüberstellung des Russischen dem Nichtrussischen in Daseinsfragen ist gar nicht vorhanden. Diese Tatsache schafft außerordentlich wichtige Nebenerscheinungen: eine stürmische Russifizierung der Grenzjugend.
Merkwürdig, aber auf die Russifizierung wurde Georg zuerst aufmerksam während unserer Fußwanderungen im Kaukasus. Ich habe nachher seine Rückschlüsse nachgeprüft, sowohl nach meinen Erinnerungen als auch nach meinen weiteren Beobachtungen, und war eigentlich erstaunt, wie eine so bedeutende und augenfällige Tatsache an mir vorbeiging. Für irgendeinen Abarzumjan war die russische Sprache sein neuerworbenes Eigentum, seine Eroberung, und er wird – was die Jugend anbetrifft – diese seine Eroberung für keinerlei Separatismen eintauschen. Das ist sein Billett für das Recht zum Eintritt in die Weltkultur; im heutigen Rußland – bei allen sonstigen Unbequemlichkeiten des Sowjetlebens – hat man tatsächlich in durchaus nicht provinziellen Maßstäben zu denken gelernt.
Eine zwangsweise Ukrainisierung, Jakutisierung und dergleichen brachten die am allerwenigsten erwarteten Folgen. Der ukrainische Bauer war von dieser Ukrainisierung gar nicht begeistert: erstens verstand er das offiziell eingeführte galizische Plattukrainisch nicht, und zweitens ist er davon überzeugt, daß man ihm und seinen Kindern den Zutritt zu der russischen Sprache mit dem Sonderzweck verwehrt, sie alle als ungebildete Bauernkinder zu belassen und ihnen dadurch alle Wege nach oben zu versperren. Und die Wege nach oben sind praktisch nur durch die russische Sprache zugänglich. – Dnjeprostroj, der Charkower Traktorenbau, die Städte Kiew und Odessa sprechen alle russisch, und bei den gigantischen Verschiebungen der Massen von Gebiet zu Gebiet können die entsprechenden Teile der Bevölkerung sich an irgendein ukrainisches Platt oder sonstigen Dialekt auch technisch nicht halten. In Daghestan hatte man noch mehr Scharfsinn entwickelt: man führte acht offizielle Staatssprachen ein – um kurz darauf alle zu liquidieren: die Eisenbahnen konnten nicht arbeiten, weil sich immer Hurrapatrioten im Maßstabe eines Kreises fanden, die auf Grund des Gesetzes über acht Staatssprachen ein Volapük daherredeten, daß keiner sie verstehen konnte. Somit trat bei dem Nichtvorhandensein der nationalen Unterdrückung und folglich bei dem Nichtvorhandensein der verletzten nationalen Eigenliebe die rein technische Erwägung hervor, daß man ohne die russische Sprache nicht auskommen konnte. Der ukrainische Betonarbeiter, der gestern einen Damm am Dnjepr mitbaute, heute nach der Wolga verschickt wird und morgen davon träumt, wie er nach Moskau auf die höhere Spezialschule kommen kann – wird keinerlei Verlockungen einer Ukrainisierung folgen. Die Grundlage von allerhand separatistischen Strömungen bildete eine verhältnismäßig dünne Schicht von Halbintellektuellen; aber auch diese Schicht hat der Bolschewismus zertrümmert. Programme, die Rußland mit dem Zeigefinger auf der Karte abzutrennen versuchen, sind von vornherein dem Mißerfolg geweiht, selbstverständlich soweit es sich um innere Prozesse des russischen Lebens handelt.
Besonders Genosse Tschernow Der Name ist entstellt, wie auch alle anderen Namen der Witschkabewohner. kam um politische Auskunft oft zu mir – ein ehemaliger Komsomolz und ehemaliger Student, der Bobriki, Magnitostroj und Weißmeer-Ostsee-Kanal bereits hinter sich hatte; die ersten beiden in der Eigenschaft »des Enthusiasten des Fünfjahresplanes«, die letzte Stelle als Zuchthäusler des BBK. Er war ein semmelblonder, grauäugiger Bursche, Anfang zwanzig, von einer Bärenstatur, der er allein zu verdanken hatte, aus all diesen Enthusiasmen lebendig entkommen zu sein. Nach einigen allerdings äußerst vagen Vermutungen meinerseits konnte nur er den GPU-Trotzkisten in die Witschkawasserfälle befördert haben; ihn selbst habe ich natürlich nicht gefragt. Auf seinen Wanderungen hatte er sich eine erstaunliche Fähigkeit angeeignet, aus allen denkbaren und undenkbaren Quellen sich Nahrung zu verschaffen: Kiefernsprößlinge und Blüten eßbar zu machen, im Frühjahr den Birkensaft abzuzapfen, schließlich einfach zu angeln. Nachdem er meine vergeblichen Bemühungen, mir das Forellenangeln anzueignen, beobachtet hatte, bot er mir seine Dienste als Lehrmeister an. Ich verschaffte ihm einen Tagesausweis, und wir gingen weiter den Fluß hinauf; auf dem Gelände von Witschka durften alle angeln – für weitere Gebiete war ein Spezialausweis erforderlich.
Mein Angelsystem wurde einer vernichtenden Kritik unterzogen, die Angel rekonstruiert, doch auch mit einem neuen System und einer neuen Angel wurde es nichts. Tschernow hat etwa zwanzig Stück gefangen, ich nur eine oder zwei Forellen. Wir machten Rast, legten ein Feuer an und begannen, auf den Holzstäbchen die Tschernowsche Beute zu braten. Wir brieten und unterhielten uns, zunächst über die üblichen Lagerthemen: welche Paragraphen, auf wie lange. Tschernow bekam zehn Jahre gemäß dem für die Jugend üblichen Paragraphen: Terror; man hatte den Sekretär der kommunistischen Zelle einer Zeche und irgendeinen »Geheimen« ermordet. Elf Mann wurden verhaftet, drei davon erschossen, acht ins Zwangsarbeitslager verschickt, doch blieb der richtige Mörder unauffindbar.
»Wer gemordet hat, ist natürlich unbekannt«, sagte Tschernow. »Vielleicht ich, vielleicht auch nicht. Eine dunkle Sache!«
Ich sagte, daß es in solchen Fällen besser wäre, wenn der Mörder ein Geständnis abgelegt hätte, dann wäre er allein ums Leben gekommen.
»Nee, das geht nicht. Man hat es schon gut verabredet. Die Sache ist die, wenn niemand geständig wird, dann löscht man zwar einige aus, aber die Organisation bleibt. Wenn man aber mit Geständnissen anfängt, dann ist es schon eine ganz verlorene Sache.«
»Was war das für eine Organisation?«
»Jugendverband, was sonst noch, andere gibt es wohl gar nicht.«
»Na, es gibt doch wohl auch andere.«
Tschernow zuckte die Achseln:
»Ach was, andere – anderthalb Menschen in jeder. – Trotzkisten, Arbeiteropposition. Halbreife …«
»Warum Halbreife?«
»Ja, sehen Sie, was für eine Ansicht wir, die Jugend, vertreten: man muß von dem ganzen Sowjetsystem abrücken, Retraite blasen. Auf der ganzen Front. Für uns ist es doch ganz klar, daß aus der ganzen Soße rein gar nichts wird. Was hilft das schon, zu flicken und zu schmieren – das Ganze muß man zu allen Teufeln jagen, damit es hier nicht mal nach dem Sowjetgeist riecht. Das sind doch, man muß es gerade heraussagen, lauter Karrieremacher. Diese und jene haben im Grunde genommen die gleiche kommunistische Parteiorganisation, nur wenn Trotzki den Platz Stalins einnimmt, dann setzt sich irgendein Iwanow an die Stelle von Molotow oder so was Ähnliches. Trotzkismus, Arbeiteropposition oder die Gruppe der Arbeiterwahrheit – alle sie schreien über die Parteidemokratie; wozu brauchen wir, zum Teufel, diese Parteidemokratie – wir brauchen Demokratie schlechthin. Wer läuft ihnen nach? Jene, die bei der Stalinschen Partei keine Karriere gemacht haben und denken, daß sie es unter Trotzki erreichen. Nichts als eine Aventüre? Was denken Sie, wenn es jenen gelingt, Stalin zu stürzen, wer wird dann sie an seine Stelle lassen? Stalin hat sich fest eingenistet, überall sitzt seine Sippschaft, eine andere, ähnliche Organisation kann man nicht so schnell aufziehen. Denken Sie, daß man jenen die Zeit gibt zur Aufziehung solcher Organisationen? So sehen die aus.«
Ich fragte Tschernow, wieweit seiner Ansicht nach Chlebnikow für die Arbeiterjugend charakteristisch wäre.
Tschernow legte einen ordentlichen Ast ins Feuer und frische Tannenzweige darauf: »Es ist nicht auszuhalten, diese verdammten Mücken!«
»Chlebnikow?« fuhr er fort. »Er ist doch keine Arbeiterjugend! Genau so wenig Korenewski; wie Chlebnikows Vater ist ein großer Kommunist, Chlebnikow sieht, daß Stalin die Partei in einen Sumpf führt, und will doch beim Sowjetregime bleiben, mit anderen Worten – dasselbe in grün. Er ist zwar auch gegen die Parteidiktatur, aber das ist nur eine Redensart! Was brauchen wir? Wir brauchen für den Bauern sein eigenes Stück Land, und für den Arbeiter einen freien Berufsverband. Es ist doch klar, wenn ich ein Dreher bin, dann kann ich keinen Betrieb verwalten. Wer verwalten wird? Ist mir ganz schnuppe – nur nicht die Partei! Beim Kapitalisten wird es auch nicht schlimmer sein – das weiß heute jeder Dummkopf. Als ich noch auf dem Magnitostroj war, da hat man uns amerikanische Arbeiter hergeschickt – unter den Arbeitslosen dort angeworben … Gott verdamm mich«, Tschernow erhob sich und stützte sich auf den Ellbogen, »pikfeine Anzüge, Köfferchen, Grammophonchen, Sonderverpflegung, und arbeiten tun sie bei Gott schlechter als unsereiner; unsereinem solche Verpflegung, dann überrennen wir jeden beliebigen Amerikaner. Meinen Sie nicht?«
Ich gab zu, daß man es tun wird – man tat es auch tatsächlich –, bei den gegebenen Bedingungen haben die ausländischen Arbeiter durchschnittlich schlechter als die russischen gearbeitet.
»Na, manches haben wir von ihnen doch erfahren. Wir wissen jetzt, wie der Kapitalismus aussieht! Da haste die Krise! Aber, das war ja Ausland – dort gibt es nichts zu essen, und die Fabrikproduktion hat keinen Absatz. Und bei uns? … Wir brauchen einen Wirt … Sie sagen Monarchie? Man kann auch von Monarchie reden. Doch denke ich nicht, daß dabei was rauskommt. Wissen Sie – solange der Zar von Gottes Gnaden war, da war es eine andere Sache. Doch jetzt kommt man mit Gottes Gnaden nicht weit … Nein, ich persönlich habe nichts gegen die Monarchie; aber das ist heute gar nicht aktuell. Was aktuell ist? Daß jeder Arbeiter und jeder Bauer zu Hause ein Gewehr hat. Das nenne ich Verfassung! Und ob Monarchie, ob Präsident, das ist zunächst ganz nebensächlich. Halt, da knackt es!«
Aus dem Gebüsch traten zwei WOCHR-Männer. Der eine blieb abseits stehen, mit dem Gewehr im Anschlag, der andere kam düster auf uns zu.
»Ausweise, bitte!«
Wir zeigten unsere Ausweise. Den meinigen sah der WOCHR-Mann nicht näher an: »Wir kennen Sie auch so!« Das war sehr schmeichelhaft und sehr bequem. Auf den Ausweis Tschernows warf er nur einen flüchtigen Blick.
»Wozu zum Teufel fragen Sie denn nach Ausweisen«, fragte ich in einem intim-freundlichen Ton. »Sie sehen doch selbst, am hellichten Tage sitzen hier Menschen und braten Fische.«
Der WOCHR-Mann sah mich gereizt an:
»Weil es auch so kommen kann: da sitzt einer, wie Sie zum Beispiel, und ich frage nicht nach dem Ausweis, und er sagt: ›Genosse, zeigen Sie mal Ihren Dienstausweis, warum haben Sie nicht nach meinem Ausweis gefragt?‹ – Schon hat man einen Monat im Strafisolator weg.«
»Ja, Ihr Leben ist auch nicht so ohne …« sagte Tschernow.
»Von solchem Leben besser kopfüber in den Abgrund, so ist es«, platzte bärbeißig der WOCHR-Mann heraus. »Davon leben wir nur, daß einer den anderen bewacht … Da – mein Moskitonetz ist von den Ästen zerrissen, ein anderes gibt man mir nicht – sehen Sie meine Visage an, aufgedunsen wie eine Wassermelone.«
Das Gesicht des WOCHR-Mannes war tatsächlich stark angeschwollen, als ob er an Wassersucht litte.
Der zweite WOCHR-Mann senkte sein Gewehr und trat ans Feuer:
»Was quasselst du dauernd daher, du Vogelscheuche, willst wohl sitzen!«
»Ich weiß, vor wem ich quasseln darf und vor wem nicht; das sind doch gebildete Menschen. Darf ich mich dazusetzen?«
Der WOCHR-Mann ließ sich von dem Rauch des Feuers einhüllen: »Muß mich etwas einräuchern lassen, die verdammten Mücken setzen einem gewaltig zu – schlimmer als die Revolution!«
Der zweite WOCHR-Mann sah seinen Kameraden mißbilligend und etwas beunruhigt an. Tschernow lächelte düster:
»Und wenn ich mit meinem Kameraden hingehen und sagen würde – da ist eine Patrouille, die herumschlendert und konterrevolutionäre Gespräche führt?«
»Ich führe keine Gespräche«, sagte der zweite WOCHR-Mann. »Gibt es aber so was nicht?«
»Kommt vor«, pflichtete Tschernow bei, »kommt vor!«
»Ach was – ich pfeife darauf! Bei so einem Leben kann man sogar das Sprechen verlernen. Es bleibt nur noch übrig, wie die Kühe zu muhen.«
Der WOCHR-Mann war völlig von den Mücken zerstochen. Seine Hände und sein Gesicht waren angeschwollen, seine Stimmung war äußerst oppositionell.
»S–e–hr angenehm: laufe wie so'n Hammel im Walde herum – angeschwollen, unausgeschlafen, und da sitzt ein Genosse und denkt – diese verfluchten Zuchthauswärter.«
»Ja, ungefähr so ist es«, sagte Tschernow.
»Behaupte ich etwa das Gegenteil? Selbstverständlich ist es so: du bewachst mich, und ich bewache dich. – Die einzige Beschäftigung! Doch zum Pflügen, da ist, entschuldigen Sie, niemand da. Das ist die ganze Geschichte!«
»Wofür hat man Sie festgesetzt?« fragte ich den WOCHR-Mann.
»Für den neugierigen Charakter. Ich war bei der roten Armee, habe den Kommandeur gefragt, wie ist es nun: Zarentum der Werktätigen, und unser Dorf, das ganze Dorf, hat man dem Erdboden gleichgemacht. – Die einen sind vor Hunger krepiert, die anderen verbannt oder erschossen. Und so fragte ich ihn – für welches Zarentum der Werktätigen werden wir eigentlich kämpfen, Genosse Kommandeur?«
Der zweite WOCHR-Mann legte sein Gewehr behutsam neben sich und streifte die umliegenden Büsche mit einem vorsichtig verstohlenen Blick: ob niemand dahinterstecke.
»Rede nur weiter, dann wird es dir noch schlechter gehen«, sagte er.
Der erste WOCHR-Mann sah ihn durch die schmalen Spalten seiner geschwollenen Lider verächtlich an und antwortete nichts. Der andere starrte mit seinen fast farblosen Augen ins Feuer, wollte etwas sagen, hüstelte dann und schauerte fröstelnd zusammen:
»Ja, wie man's auch dreht … weder hin noch her …«
»Das ist's ja eben!«
Wir schwiegen eine Weile. Plötzlich, irgendwo, ein halbes Kilometer südlicher, ertönte ein Schuß, dann noch einer und noch einer. Beide WOCHR-Männer sprangen wie von der Tarantel gestochen auf, man sah die militärische Ausbildung. Das geschwollene Gesicht des ersten verzog sich zu einer erbosten Grimasse:
»Schon wieder jemand geschnappt. – Hier soeben ging eine Operateurpatrouille vorbei, die lassen schon nicht locker!«
Gleich nach den Schüssen ertönte die Signalpfeife und dann noch mehrere Schüsse.
»Verdammt noch mal, jetzt müssen wir laufen, sonst hängt man uns noch Sabotage an!«
Beide WOCHR-Männer verschwanden im Dickicht.
»Der Bursche ist fertig«, sagte Tschernow. »Es kommt schon so vor: geht der Mensch herum, schweigt immerzu und legt dann plötzlich los. Bei uns in Bobriki hatten wir einen Parteiorganisator, der brüllte und redete, spitzelte und schnüffelte – und dann, eines schönen Tages, auf der allgemeinen Versammlung der Zeche, bestieg er die Rednertribüne: ›Vergebt mir‹, sagte er, ›Genossen, mein ganzes Leben war ein Betrug, ich Lump, der ich bin, machte eine Karriere, dirnenhaft habe ich mich benommen …‹ Dann packte er seinen Nagan – ich weiß nicht, mit wieviel Kugeln – und los ins Präsidium – zwei auf der Stelle tot, einer verwundet und die letzte Kugel sich selbst in den Mund. Der war auch fertig. Und wie denken Sie, hier unter diesen WOCHR-Männern, wieviel zu uns halten? Neunzig Prozent! Ich habe es Ihnen gesagt, Sie glaubten aber nicht.«
»Was glaubte ich nicht?«
»Im allgemeinen, Ihr Aussehen ist so skeptisch. Ne – e, in Rußland ist alles fertig. Es fehlt nur eins – ein Signal. Und dann in zwei Tagen – ist alles zum Teufel! Was für ein Signal? – Egal, was für eins. Meinetwegen der Krieg!«
Das Schießen hob wieder an und näherte sich uns. Vorsorglich nahmen wir den Rückzug nach Witschka auf.
Dieses ganze Getümmel mit der Spartakiade zerstörte unsere Verbindung mit der Monteurstube nicht – hier war die einzige Stelle, wo wir uns mehr oder minder zu Hause fühlten, unter den guten, einfachen, russischen Menschen – einfach und doch gut. Diese Menschen waren aufrichtig, krochen nicht auf die Aktivistenleiter, machten keine Lagerkarrieren. Nur hier, und wenn es nur eine Stunde war, konnte ich mich wie außerhalb des Lagers fühlen, nur hier entspannte sich meine Seele.
Eines Abends, auf dem Nachhausewege von Witschka, kehrte ich in die Stube ein. An der Tür, an der selbstgezimmerten Werkbank stand Muchin und bearbeitete etwas mit einem Stemmeisen:
»Sie erfüllen wohl den Produktionsfinanzplan?« scherzte ich und reichte Muchin die Hand.
Muchin ließ von dem Schraubstock ab, schaute mich etwas merkwürdig von der Seite an – sein Blick war düster und traurig – rieb seine Hand an der Hose und nahm wieder das Stemmeisen.
»Entschuldigen Sie, meine Hand ist schmutzig«, sagte er. Etwas verdutzt zog ich meine Hand zurück. Muchin stocherte mit seinem Stemmeisen weiter, ohne mich anzusehen und ohne ein Wort zu sagen. Es war klar, daß er mir die Hand nicht geben wollte. Ich stand wie eine Säule da, mit der Empfindung einer unverdienten Kränkung und unerwarteten Fassungslosigkeit.
»Mucksen Sie etwa mit mir?« fragte ich nicht sehr geschickt.
Muchin stocherte mit seinem Stemmeisen weiter, nur daß dieses ganz sinnlos irgendeine im Schraubstock eingeklemmte Mutter bearbeitete:
»Was ist da noch zu mucksen«, sagte er nach einer Weile, »meine Hand ist tatsächlich voll Öl. Wozu brauchen Sie auch meine Hand, wenn Sie noch andere Hände haben.«
»Was für Hände?« Ich verstand nicht gleich.
Mit einem schweren Blick sah mich Muchin an:
»Na, das weiß man schon.«
Ich verstand. Was konnte ich sagen und wie konnte ich es erklären? Ich drehte mich um und ging in die Baracke. Georg saß auf dem Erdanwurf der Baracke, die Hände um die Knie geschlungen und sah in die Ferne. Neben ihm lag ein aufgeschlagenes Buch.
»Warst du in der Monteurstube?« fragte Georg.
»Ja, ich komme von dort.«
»Nun?«
»Warst du auch dort?«
»Auch.«
»Und nun?«
Georg schwieg etwas und zuckte dann die Achseln:
»Wie einen ›Geheimen‹ behandelten sie mich. Nun, ich ging fort. Pigoliza sagte, daß man dich mit Podmokly und bei Uspenski gesehen hat … Weißt du, Wa, wir wollen nicht weiter verschieben. Irgendwie muß man Bob Nachricht geben. Das Ganze hier soll der Kuckuck holen … Direkt zum Aufhängen.«
Mir war auch zum Aufhängen zumute. Man kann wohl sagen – genug des frevlen Spieles … Das kommt davon, wenn man zuviel Chalture treibt! Und wie kann ich Muchin erklären, daß ich diese Chalture gar nicht deshalb mache, um nachher, wie jetzt Uspenski, mich auf die Hälse von diesen Muchins, Lentschiks, Akulschins zu setzen und auf ihren Knochen und Leben meine sowjetistische Karriere aufzubauen: wenn ich eine Sowjetkarriere machen wollte, dann täte ich es nicht im Lager. Wie soll man das erklären? Man müßte dann das Wort »Flucht« aussprechen – ich werde es aber, nach der Erfahrung mit Frau E. und mit Babenko niemandem sagen. Und wie kann man es ohne die Flucht erklären?
»Und wie ist es mit Pigoliza?« fragte ich.
»Mit dem ist auch was nicht in Ordnung. Ausführlich habe ich mit ihm nicht gesprochen – worüber auch noch sprechen? – Kann man es denn erzählen?«
Ein scheußlicher Druck lag auf der Seele.
Ungefähr eine Woche nach diesem Vorfall wurde die offizielle Aufnahme in das Technikum eröffnet. Georg wurde ohne weiteres aufgenommen, obwohl er im Technikum nicht das geringste zu tun hatte; Pigoliza wurde nicht angenommen, weil in seinen Papieren die Terrorparagraphen standen. Dieses Technikum war eine völlig idiotische Anstalt. Es waren darin etwa dreihundert Schüler mit den Abteilungen für: Wegebau, Hochbau, Geodäsie, Holzverwertung und noch etwas Ähnlichem. Im Lehrerkollegium war eine Reihe von Professoren aus Petersburg und Moskau – selbstverständlich auch Lagerinsassen. Die Schülerschaft bestand aber ausschließlich aus Urkis: es wurde nur ein »sozial nahes Element« aufgenommen, folglich ließ man nicht einen einzigen Konterrevolutionär auch nur bis an die Schwelle. Man suchte dreihundert Halbanalphabeten zusammen, dazu noch Kriminalverbrecher, und paukte mit ihnen zwei Monate lang das Einmaleins. Doch sagten die Urkis ganz offen, daß sie auf keinen Fall weder zu lernen, noch zu arbeiten vorhätten: genau wie früher werden sie auch weiterhin klauen – lernen, d. h. wie Esel Wasser fahren – sucht euch andere Esel … Georg war die einzige Ausnahme – der einzige Schüler, der in den Papieren konterrevolutionäre Paragraphen hatte, aber auf die Vorbereitungskurse auf Grund eines Zettels von Radetzky und ins Technikum durch den Zettel von Uspenski aufgenommen wurde. Von einem Studium in diesem Technikum konnte nicht mal die Rede sein, aber unter den Lehrmitteln befanden sich die Karten der Gegend und die Kompasse. Georg bezog das Technikum mit dem einzigen Ziel, dies und jenes zu stibitzen, ein Vorhaben, das er zur gegebenen Zeit auch in Erfüllung brachte.
In diesem Technikum erteilte ich eine Zeitlang Unterricht im Sport und in Russisch, dann hielt ich es doch nicht aus und ließ diese Sisyphusarbeit sein. Russisch brauchten die Schüler sowieso nicht – sie hatten ihr eigenes Slang, und den Sport betrachteten sie ausschließlich vom nutznießerischen Standpunkt aus, sozusagen als eine Nebenwissenschaft in ihren verschiedenen Diebesspezialitäten. Übrigens zeigte man dieses Technikum auch den ausländischen Touristen: schaut, wie wir hier umerziehen … Woher sollten die Ausländer auch die Wahrheit wissen? So, von der Seite beobachtet, hätte auch ich geglaubt.
Pigoliza ließ man nicht ins Technikum hinein – wie gesagt, seine Papiere enthielten Terrorparagraphen. Wohl bestand dieser Terror nur in einer Ohrfeige, die er irgendeinem Zellensekretär verabfolgte, wohl war die Mehrheit der Urkis nicht ganz sicher, ob sechs mal acht = achtundvierzig, während Georg und ich Pigoliza bis einschließlich Logarithmen brachten, wohl legten die Urkis offensichtlich ihre Unlust zu lernen an den Tag, hatten auch keine Lust, »sich umzuschmieden« nach der problematischen Absolvierung des Technikums, während Pigoliza mir gelegentlich sagte – »ich, wissen Sie, würde für das Lernen die Hälfte meines Lebens hingeben …« Doch hatte er Paragraph 58, Absatz 8.
Georg sagte mir, daß Pigoliza durch dieses Mißgeschick ganz niedergeschlagen sei: er wolle sich entweder ertränken oder aufhängen. Ich ging zu Korsun. Er empfing mich ebenso korrekt und wohlwollend wie immer. Ich trug ihm meine Bitte wegen Pigoliza vor. Korsun spreizte die Arme – nichts zu machen: Instruktion der GULAG. Ich war sehr aufgebracht und sagte Korsun erregt, daß es sich hier, unter vier Augen, bei Gott nicht lohnte, über die Instruktion der GULAG zu reden, sonst wolle ich anfangen, über »Umschmiedung« und über die Nützlichkeit des Lagersports zu sprechen – für beide werde es dann genierlich sein.
Korsun runzelte die Stirn:
»Warum haben Sie sich in die Sache so verbissen?«
»Verstehen Sie doch! Klimtschenko (Familienname Pigolizas) ist eigentlich der einzige Mensch, der aus diesem Technikum wenigstens etwas mit ins Leben nimmt.«
»Und Ihr Sohn wird nichts mitnehmen?« – fragte Korsun nicht ohne Tücke.
»Mein Sohn hat nicht mehr lange hier zu sitzen, Wegemeister wird er selbstverständlich nicht, ich lasse ihn zur gegebenen Zeit in das Kinoinstitut nach Moskau versetzen. Übrigens, Genosse Korsun, wenn Ihre Vollmachten zur Aufnahme Pigolizas nicht ausreichen, dann wende ich mich an Uspenski.«
Korsun seufzte: »Ein verbissener Mensch!« Er griff nach einem Formular und füllte es aus.
»Hier haben Sie, übergeben Sie es unmittelbar dem Direktor des Technikums.«
Kurz danach kam Pigoliza zu mir in die Baracke, bedankte sich etwas verworren und verschwand wieder. Die Monteurstube verstand natürlich, daß der Mensch, der eine derart schwindelnd hohe Karriere zu machen begann, wohl imstande ist, von seinem Tisch einen Wohlfahrtsknochen hinzuwerfen, doch änderte sich dadurch das Wesen der Karriere nicht. Die von der Monteurstube reichten uns die Hand nicht wieder.
… Abends, auf dem Heimweg in die Baracke begegnete ich Akulschin. Er war noch mehr abgemagert, mit schmutzigrotblonden Borsten bewachsen und noch vergrämter als sonst.
»Ich warte hier auf Sie, der Chef des Unterlagers 3 verlangt nach Ihnen.«
Der Chef des Unterlagers 3 konnte von mir nichts verlangen. Ich wollte schon Akulschin entsprechend antworten, sah ihn an und merkte, daß es sich hier nicht um den Chef des Unterlagers 3 handelte.
»Na, dann gehen wir.«
Wir gingen schweigend. Das Lagergelände blieb hinter uns. Am Ufer der Kumsa lagen Hunderte von Holzstämmen umher. Akulschin sah sich aufmerksam und verstohlen um.
»Hier können wir uns setzen!«
Wir ließen uns auf einen Stamm nieder.
»Wegen dem Lagerchef, das habe ich nur so gesagt – für die anderen.«
»Verstehe …«
»Die Sache ist die …« Akulschin holte feinen Tabakbeutel hervor »drehen Sie sich auch eine!« Wir begannen zu drehen. Die eisenstarken Finger Akulschins zitterten leicht.
»Ich komme zu Ihnen, Genosse Solonewitsch, offen gesagt – alles oder nichts. Ich war bei Muchin. Er sagte – eine Dirne ist dein Solonewitsch geworden, säuft mit Podmokly herum, sitzt bei Uspenski … Tja …« Akulschin sah mich mit einem forschenden, schweren und zu gleicher Zeit irgendwie verzweifelten Blick an.
»Und was weiter?« fragte ich.
»Ich sagte, daß das Ihnen nicht ähnlich sähe. Muchin sagte – ach was, nicht ähnlich – wir haben's doch selbst gesehen … Darauf sagte ich, daß ich von meiner Flucht Ihnen erzählte. Da bist du ein schöner Narr, sagte er. Ich glaube nicht, sagte ich, Solonewitsch hat mir allerhand Griffe beigebracht. Sereda sagt, daß daraus der Teufel klug werden soll – solche Menschen machen alles mit List, da kann man nicht gleich dahinterkommen.«
Ich zuckte die Achseln und schwieg. Auch Akulschin schwieg eine Weile. Dann, als ob er sich entschlossen hätte, kopfüber ins Wasser zu gehen, hub er mit stockender gedämpfter Stimme an:
»Also, wie ich sagte – alles oder nichts. Ich muß von hier auskratzen. Wahrscheinlich noch heute, denn ein großer Transport geht an die Tuloma ab. Auf morgen früh ist die Abreise festgesetzt.«
»Wollen Sie nach Altai auskratzen?« fragte ich.
»Ja, nach Altai, zur Familie. So Gott will … Aber das ist so 'ne Sache. Ich muß eigentlich den See von Norden umgehen. In der Richtung nach Powenez kann man jetzt nicht durchkommen, von Petrosawodsk gar nicht zu sprechen. Wenn ich …« Akulschin brach ab, wie vor einem ganz hoffnungslosen Versuch:
»Wenn ich ein Papierchen nach Powenez bekommen könnte. Ohne Papierchen ist nicht durchzukommen.«
Akulschin verstummte und sah mich mit einem strengdüsteren Blick an, hinter dem eine verborgene Bitte stand. Ich erwiderte den Blick. Es war ein merkwürdiges Spiel. Wenn ich ihm das Papierchen gebe (das Papierchen konnte ich besorgen, und Akulschin wußte oder erriet es), und wenn jemand von uns ein »Geheimer« ist, dann ist es für den anderen, der kein »Geheimer« ist – aus. So saßen wir und schauten uns in die Augen. Natürlich wäre es einfacher, zu sagen – von Herzen gern, aber wie soll ich dieses Papierchen holen? … Dann überlegte ich, daß es für die dritte Abteilung augenblicklich keinen Sinn hat, mir durch einen »Geheimen« das Bein zu stellen: wird sie es tun, dann fällt die Spartakiade ins Wasser. Sollte die dritte Abteilung sogar irgendein meine Sowjetunschuld belastendes Material haben, dann wird sie es erst nach der Spartakiade auspacken; fällt aber die Spartakiade gut aus, dann wird die dritte Abteilung überhaupt nichts auspacken – es wird keinen Sinn haben.
Ich ging zur administrativen Abteilung und ließ mir dort ein Kommandoschreiben auf Georgs Namen ausstellen, auf einen Tag befristet, zum Zwecke der Schaffung des Sportinventars nach Powenez. Morgen wird Georg erklären, daß er dieses Papierchen verloren hätte, und daß das Inventar gelegentlich jemand anders mitnehmen könne. Akulschin blieb auf dem Holzstamm sitzen, schwer vornübergebeugt und wahrscheinlich tausende Kilometer der Vorural- und Hinterural-Taiga vor sich sehend oder auch die Möglichkeit, daß ich nicht mit dem »Papierchen«, sondern mit den »Operateuren« zurückkomme. Ohne Papierchen war es in diesen Wochen tatsächlich nicht möglich durchzukommen. – Nördlich von Powenez wurden neue tausende »freiwillig siedelnder« Bauern ausgeladen, und das ganze Gebiet war von starken Posten und Streifen der GPU-Truppen umstellt.
Das Kommandoschreiben stellte man mir ohne viel Reden aus – die Vorgesetzten des Unterlagers 1 waren bereits eingedrillt. Ich kehrte an das Flußufer zu den Stämmen zurück. Akulschin saß immer noch in gleicher Stellung, mit herabhängendem Kopf und mit starr auf den Boden gerichteten Augen. Er nahm schweigend das Papierchen aus meiner Hand. Ich erklärte ihm, wie man damit umgehen und was man sprechen müsse.
»Haben Sie Geld für den Autobus bis Powenez?« fragte ich.
»Jawohl, danke. Doch es ist kein Leben – das ist die Sache. Kein Leben und basta! Angenommen, komme ich hin. Und dann? Bleibe ich wie ein Dachs in seinem Bau, bis man mich zu Tode beißt. So sieht es überall aus … Und rings herum der gute Boden! Man kann sagen – greifbar, doch unerreichbar.«
Ich setzte mich auch auf einen Stamm Akulschin gegenüber. Wir rauchten.
»Und wegen Ihres Papierchens brauchen Sie keine Angst zu haben. Geschieht was, dann reiße ich es mit den Zähnen raus, ohne zu kauen, verschlucke ich es … Und für Sie wäre es auch besser, auszukratzen.«
»Wo soll ich hin? Mit Ihnen wird's noch gehen – in der Taiga untergetaucht und sucht nach mir! Was werde ich aber dort tun? Soweit komme ich gar nicht.«
»Tja, beinahe sieht es so aus. Manchmal geht es dem Gebildeten besser, mitunter aber auch ganz schlecht.«
Eine große seelische Niedergeschlagenheit übermannte mich. Ich erhob mich, Akulschin ebenfalls.
»Na, auf alle Fälle, behüt' Sie Gott, Genosse Solonewitsch, behüt' Sie Gott!«
Wir drückten uns die Hände. Akulschin wandte sich ab, und ohne sich umzusehen, schritt er von dannen. Sein herabhängender Kopf tauchte hie und da über den aufgetürmten Holzstämmen auf und verschwand dann ganz. Mein Herz zog sich zusammen – da geht Akulschin hin, vielleicht in die Freiheit, vielleicht auch ins Jenseits. Noch einen Monat, und dann werden wir, Georg und ich, genau so ungewiß die weite Wanderung antreten.
Der letzte Monat unseres Lebens vor der Flucht gestaltete sich nach allen Regeln eines Detektivromans, geschrieben unter Anwendung der besten Technik dieser Kunst, der Gegenwart. Die Ermordung des »Trotzkisten« in Witschka, die Flucht Akulschins und die darauffolgende Untersuchung, die Aufdeckung einer Panama auf meinem Witschkakurort, die ersten genauen Nachrichten über Boris, der Versuch Gollmanns, allerdings ein erfolgloser, meine große Nummer bei Uspenski zu unterminieren, und vieles andere ballte sich zu einem derart unsinnigen Knäuel, daß mein literarisches Können nicht ausreichte, um es mehr oder weniger zusammenhängend zu erzählen. Um mich auszulüften und das BBK-Gelände im allgemeinen zu erkunden, trat ich eine Dienstreise nach Norden an. Über die Reise später. Diese Dienstreise beendete ich nicht, hauptsächlich infolge des Widerwillens, den der Eindruck vom richtigen Lager bei mir hervorrief. Kein Lager wie in Medgora, mit Uspenskis, Korsuns und dem »Slang«, sondern ein Lager nach allen Regeln der sozialistischen Kunst … Als ich wieder ankam, zog es mich in die Monteurstube, doch war ich dort bereits ein unerwünschter Gast.
Einmal, auf dem Wege nach Witschka, bemerkte ich Lentschik, der mit seinen Hämmern, Schraubenschlüsseln und übrigen Werkzeugen seines Monteurgewerbes hastig irgendwo hinlief. Eine Begegnung war mir unangenehm, und ich bog in eine Gasse zwischen den Scheunen seitwärts ab. Lentschik holte mich ein:
»Genosse Solonewitsch«, sagte er in einem bittenden Ton, »kommen Sie doch mal wieder zu uns herein, wir wollen etwas besprechen.«
»Was ist da noch zu besprechen?« wehrte ich ab.
Lentschik ergriff mit der linken Hand einen Knopf meiner Jacke und begann auf mich schnell einzureden, die rechte Hand gestikulierte mit einem Schraubenschlüssel: »Seien Sie doch nicht böse, Genosse Solonewitsch, wir leben doch hier wie die Spinnen … Wem soll man glauben? Erst dachten wir, einen guten Menschen haben wir gefunden, nachher sahen wir den gleichen Menschen mit Podmokly zusammen. Kann man denn daraus klug werden? – Wir dachten, er ist einer von den Unsrigen, und dann diese Enttäuschung. Sie verstehen doch selbst, es war kränkend, sehr kränkend – gute, verstehende Worte sprach der Mensch und beschnüffelte sich dann mit der dritten Abteilung. Ich sagte Muchin, du sollst nicht überhasten, vielleicht hat er eine besondere Absicht im Kopf, und wir kennen sie nicht … Aber Muchin, das muß man doch verstehen – in Petersburg hat er Familie, Ihrem Rat zufolge wandert sie nun nach Turkestan aus … Sieht er Sie plötzlich bei der dritten Abteilung, unwillkürlich denkt er daran, was nun mit seiner Familie wird. Ich habe von Anfang an Verständnis gehabt, aber Muchin ging es zu sehr ans Herz …«
»Sie sollten doch auch daran denken, Lentschik, daß, wenn ich auch bei der dritten Abteilung war, es für mich keinen Sinn hatte, Muchins Familie etwas zuleide zu tun.«
»Eben, eben, dasselbe habe ich doch gesagt – es hätte doch keinen Sinn, genau so, wie es keinen Sinn hätte, unsere Stube anzuschwärzen. Sie wissen aber, heutzutage ist jeder Mensch stachelig geworden … Später kam Akulschin, lebt wohl, sagt er, Jungens! Fängt man mich nicht, dann habt ihr Solonewitsch umsonst beleidigt; weiter sagte er nichts, ging fort, dann hat man nach ihm gefahndet – doch nicht erwischt …«
»Das glaube ich auch – bestimmt hat man ihn nicht erwischt.«
»Ja, das stimmt – wir haben entsprechende Nachricht aus richtiger Quelle … Weg ist er …«
Erst in diesem Moment wurde mir klar, daß ich irgendwo tief im Unterbewußtsein einen abergläubischen Gedanken hatte – kommt Akulschin durch, kommen wir auch durch. Jetzt riß sich dieser Gedanke aus dem Unterbewußtsein wie ein Frühlingsstrom empor. Auf einmal wurde alles so fröhlich und hell …
Lentschik hielt mich immer noch am Knopf:
»Also, bringen Sie Schorschi mit und kommen Sie zu uns. Wir werden zu sechs sein … Zwei Literchen Wodka – ist schon abgemacht – einen mächtigen werden wir trinken, und das Böse soll der Teufel holen. Sie kommen doch?«
»Ich komme. Nur die Literchen, die bringe ich mit.«
»Nee, das geht nicht, bereits abgestimmt, einstimmig …«
»Na schön, Lentschik – aber die Zuspeisen, die bringe ich!«
»Auch daran wird's nicht fehlen. Jetzt begießen wir unsere Versöhnung, daß es rauchen wird!«
Lentschik ließ meinen Knopf in Ruhe und machte eine vielversprechende Geste.
Der Produktionsfinanzplan wurde übererfüllt. Ich brachte in die Monteurstube zwei Literflaschen Wodka und Zuspeisen – die nie hier gewesen und gesehen waren – wehe mir altem Sünder, ich hatte sie in meinem Kurort geklaut … Allerdings nicht ganz geklaut, denn Georg und ich haben nicht jeden Tag von unserem Recht auf eine Kurortverpflegung Gebrauch gemacht.
Muchin empfing mich schweigend und feierlich: er drückte mir die Hand und sagte nur: »Nichts für ungut.« Lentschik hantierte geschäftig am Tisch, Sereda schmunzelte in seinen Schnurrbart, während Pigoliza und Georg einfach sehr zufrieden waren.
Sereda beschaute mit aufmerksamen Augen meine Gaben: Schinken, Butter, gekochte Eier und sechs gebratene Schweinskoteletts – über die Art, wie diese wohlerworbenen Fressalien hierherkamen, war die Monteurstube bereits informiert. Deshalb spreizte Sereda nur die Arme und sagte:
»Und da sagt man noch, daß es in Sowjetrußland nichts zu essen gibt und hier – genau wie beim alten Regime.«
Nachdem man schon etwas getrunken hatte, kehrte Pigoliza ohne jeden Zusammenhang auf das Thema über das alte Regime zurück:
»Sie reden da immer vom alten Regime …«
Sereda zuckte leicht die Achseln, was etwa so gedeutet werden konnte – »allzuviel rede ich nicht davon, aber besser war es doch.«
Pigoliza sprang plötzlich auf:
»Jetzt zeige ich Ihnen gleich ein Ding – die Rede Stalins.«
»Wozu denn das?« fragte ich.
»Ihr habt doch alle über Stalin gesagt, daß er Rußland zugrunde richtet …«
»Das sage ich auch jetzt noch!«
»Gerade das ist nicht richtig. Ich suche gleich!« – Pigoliza begann auf dem Bücherregal herumzuwühlen.
»Lassen Sie doch, die Reden Stalins kenne ich auch ohne Sie!«
»Aber nein, warten Sie mal, warten Sie mal – Stalin redet über Rußland, d. h. daß uns alle schlugen, die dazu Lust hatten. Also sorgt er sich um Rußland … Hier, hört zu!«
Pigoliza fand endlich die Broschüre mit einer der »geschichtlichen« Reden Stalins und begann feierlich zu deklamieren:
»Wir sind hinter dem kapitalistischen Regime hundert Jahre zurückgeblieben. Für Rückständigkeit wird man geschlagen. Für Rückständigkeit schlugen uns Schweden und Polen. Für Rückständigkeit schlugen uns die Türken und die Tataren, schlugen uns die Japaner und die Deutschen. Wir sind hundert Jahre zurück. Wir müssen diese Spanne auf zehn Jahre verkürzen, oder wir werden erdrückt …«
Diese Rede Stalins kannte ich. Ich habe augenblicklich keine »Quellen« zur Hand, doch ich denke nicht, daß ich diese Rede irgendwie sehr entstellt hier wiedergebe – dem Ton und Sinn nach auf keinen Fall. Wohl war diese Tirade in Wirklichkeit etwas länger. Pigoliza deklamierte feierlich und abgehackt: schlugen – schlugen, schlugen – schlugen. Sein semmelblonder Schopf stand zu Berge und das Gesicht zeigte das Empfinden, daß uns früher alle schlugen, aber jetzt, entschuldigen Sie, wird man uns nicht mehr schlagen. Sereda seufzte düster:
»Da ist nichts zu sagen, tatsächlich, Hiebe haben wir manchmal gekriegt.«
»Da haben wir's«, sagte Pigoliza triumphierend, »und Sie sagen – Stalin geht gegen Rußland.«
»Genau gesagt geht er nicht gegen Rußland, Sascha – er geht für die Weltrevolution. Und für manche anderen Dinge. Im allgemeinen aber lügt er hier wie immer, lügt und weiter nichts!«
»Was heißt, er lügt?« empörte sich Pigoliza.
»Daß man uns tatsächlich schlug«, sagte Lentschik betrübt, »dagegen ist nichts zu sagen …«
»Was heißt, er lügt?« wiederholte Pigoliza. »Hat man uns etwa nicht geschlagen?«
»Doch. Die Schweden schlugen uns, auch die Tataren schlugen uns und nun, was weiter?«
Ich entschloß mich, meinen Triumph sozusagen ratenweise einzuheimsen – Pigoliza soll selbst dahinterkommen. Aber Pigoliza senkte die Broschüre und sah mich mit einem offen-fassungslosen Blick an.
»Also, nehmen wir an, Sascha, daß uns die Tataren schlugen. Auch die Schweden und die übrigen. Denken Sie aber nach, wie konnte dann Stalin den sechsten Teil des Festlandes der Welt regieren, wenn ›wir‹ vor ihm weiter nichts taten, als unsere Köpfe hinzuhalten? Wie? Die Rechnung stimmt also nicht?«
»Ja, da stimmt etwas nicht, Sascha«, griff Lentschik auf, »nimm die Tataren oder die Schweden – wo sind sie jetzt? Dieses Lager hier stand doch früher, wie man sagt, auf schwedischem Boden, Schweden war hier … Also, man hat nicht nur uns geschlagen, sondern auch wir haben manche vermöbelt, nur darüber schweigt sich Stalin aus.«
»Wissen Sie, Sascha, daß unsere Truppen auch in Paris und in Berlin waren?«
»Das … entschuldigen Sie, Iwan Lukjanowitsch, da sind Sie etwas zu weit gegangen – mit den Tataren, das ginge noch, aber Berlin – nee, das ist doch zu starker Tobak!«
»Und doch stimmt es«, bestätigte Georg ruhig, »wenn du willst, bringe ich dir morgen ein Buch – eine Sowjetausgabe.«
Georg erzählte dann den Vorfall während der Zusammenkunft der Monarchen in Reval, als Wilhelm II. den Trompeter eines russischen Regimentes fragte: »Wofür hat das Regiment die silbernen Trompeten bekommen?« »Für die Eroberung Berlins, Euer Majestät …« »Na, das kommt nicht mehr vor.« »Kann man nicht wissen. Euer Majestät.«
»Hat er tatsächlich so gesagt, der Hundesohn?« fragte Pigoliza frohlockend.
»Von Berlin«, sagte Sereda, »da hat nicht nur Pigoliza, da habe ich auch nie was gehört.«
»Sie haben aber doch seinerzeit russische Geschichte gelernt?«
»Gelernt zwar nicht, aber die Bücher gelesen – vor der Revolution die verbotenen, und später die Sowjetbücher: daraus kann man nicht viel erfahren.«
»Wißt ihr was«, schlug Lentschik vor, »wir trinken noch eins, dann machen wir eine kleine Atempause, und Sie, Genosse Solonewitsch, erzählen uns etwas aus der russischen Geschichte. Nur so, ganz kurz. Denn in der Tat, man muß unserem Vögelchen Pigoliza etwas beibringen – im Technikum lernt man doch nichts.«
»Und dir nicht?«
»Auch mir. Wohl habe ich viel gelesen; aber mehr ›unsere‹ Sachen, Sowjetistisches.«
»Wirklich, erzählen Sie uns etwas«, pflichtete auch Sereda bei.
»Also, alles herhören«, brüllte Lentschik. (»Sei still« – zischte Muchin ihm zu.) »Also, der nächste Punkt der Tagesordnung: ein Glas auf den Ruhm der russischen Waffen und auf den Vortrag des Genossen Solonewitsch. Das Wort hat das Gläschen: auf den Ruhm …«
»Waffe hin, Waffe her«, unterbrach Muchin düster, »auf die roten Waffen – mögen sie fünfmal russisch sein – kannst du allein trinken.«
»Nee, auf die roten trinke ich auch nicht«, sagte Lentschik.
Pigoliza stellte das bereits erhobene Glas wieder auf den Tisch:
»Das heißt also, ihr seid dafür, daß man uns wieder schlägt?«
»Wen uns? Uns schlägt man jetzt sowieso – mehr geht's wohl kaum … Wenn man aber euch die Jacke vollhaut, dann wird es für alle nur vorteilhaft.« Sereda trank fein Gläschen aus und stellte es auf den Tisch.
»Hier, mein Vögelchen Pigoliza, ist so 'ne Sache«, fuhr Lentschik hastig dazwischen, »der russische Bauer denkt bekanntlich langsam: bis man ihm nicht eins draufgibt – bekreuzigt er sich nicht. Hat man ihm aber eins draufgegeben, dann bekreuzigt er sich, und du kannst deine Zähne zusammensuchen. Beispielsweise zu Peters Zeiten – hat man ihm bei Narwa die Schnauze vollgehauen, er bekreuzigte sich – und es war aus mit den Schweden. Dasselbe bei Napoleon! Heute kriegt er wieder eins drauf, da ist nichts zu machen …«
»Also, willst du dich auch schlagen?«
»Und du in die Rote Armee gehen?«
»Warum auch nicht?«
Muchin schlug dröhnend mit seiner Faust auf den Tisch:
»Ach, du Hundesohn, für wen willst du dort kämpfen? Für die Lager? Dafür, daß man deine Kinder als Besprisorniki umherlaufen läßt? Für die GPU, du Lump, willst du kämpfen? Ich werde dir, du Hundesohn, als erster den Schädel einschlagen …« Das Gesicht Muchins verzog sich, er stützte sich auf die Tischkante und erhob sich. Eine Keilerei schien unvermeidlich.
»Hört mal, Genossen, hier war doch die Rede von der russischen Geschichte – laßt uns zur Tagesordnung übergehen«, mischte ich mich ein.
Aber Pigoliza erwiderte nichts – Muchin war für ihn eine Art Adoptivvater, und ihm gegenüber hatte er etwas Respekt. Er trank sein Gläschen aus und murmelte, zu Georg geneigt, etwas Ähnliches wie:
»Na, von wegen Schädel einschlagen, das werden wir noch sehen.«
Sereda hob die Augenbrauen:
»Bist du aber ein kluger Junge, Sascha, solche Klugen sind nicht mehr viel geblieben … Noch ein Jährchen hier im Lager, dann wirst du …«
»Also, wollt ihr hören oder nicht?« fuhr ich wieder dazwischen.
Man ging zur russischen Geschichte über. Für alle meine Zuhörer, außer Georg, war es eine neue Welt. Wie auch die meisten alten Geschichtsbücher talentlos und tendenziös gewesen sein mochten, sie hatten wenigstens Tatsachenmaterial. Die Geschichtsbücher der Sowjetproduktion enthalten überhaupt nichts: weder Tatsachen noch die einfachste Gewissenhaftigkeit. Nach diesen Geschichtsbüchern wurde das Rußland der vorleninschen Zeit als ein Schutthaufen dargestellt, seine leitenden Männer waren Idioten und Säufer, seine Geschichte eine ununterbrochene Kette von Niederlagen und Schande. Von dem Kern seiner Geschichte – von dem tausendjährigen Kampf mit der Steppe, von der Niederwerfung dieser Steppe hörte Pigoliza niemals etwas, nicht einmal Lentschik. Von den Chasaren, Polowzen, Petschenegen, Tataren, von dem Tribut, den das Rußland Katharinas der Großen noch an den Khan von Krim zahlte – bis zur allmählichen und konsequenten Niederwerfung der größten Militärmächte der Welt: Tataren, Türken, Schweden, Napoleon; von den feudalen Fürstchen, die nach Dschingis-Khan und seinen Nachfolgern regierten bis zu dem gigantischen Imperium, das gestern vom Zaren regiert wurde, und das heute Stalin regiert – dieser ganze Weg war meinen Zuhörern völlig unbekannt.
»Sind das nicht Halunken, unsere heutigen Sozialisten«, sagte Sereda, »alles mögliche habe ich gelesen, und darüber, wie es tatsächlich war, höre ich heute zum erstenmal in meinem Leben.«
Die Worte Alexanders III.: »Wenn der russische Zar angelt – kann Europa warten«, brachten Pigoliza in volles Entzücken:
»Hat er tatsächlich so gesagt? So ein Hundesohn! Sieh mal an … Wie?«
»Von diesem Alexander«, warf Sereda dazwischen, »steht in den Sowjetbüchern, daß er ein Säufer war.«
»Durch den Mund eines Handwerkers ist bei Gorki über ihn treffend gesagt: ›Das war ein Zar, der sein Handwerk kannte‹,« sagte Georg. »Er griff nicht nach den Sternen am Himmel, aber er verstand sein Handwerk.«
»Jedes Handwerk muß man verstehen«, sagte Muchin gewichtig, »jetzt hat man unsere ›regierende Klasse‹ errichtet, und die haben keinen blauen Dunst!«
Ich war mit Muchin nicht einverstanden: diese verstehen ihr Handwerk besser als Alexander III. das seinige verstand – nur daß ihr Handwerk ein räuberisches ist.
»Nehmen Sie aber Uspenski – ist doch ein ungebildeter Mensch.«
Auch damit war ich nicht einverstanden: »Ein sehr kluger Mensch ist Uspenski, und sein Handwerk kennt er schon – sonst säßen wir hier mit Ihnen, Genosse Muchin, nicht im Lager.«
»Wie aber weiter – das ist die Hauptsache?« fragte Sereda traurig.
»Irgendwie wird's schon werden«, sagte Lentschik optimistisch.
»Für unsere Enkel – vielleicht«, warf Muchin düster dazwischen. »Wir aber werden nichts davon sehen.«
»Der Dichter Alexis Tolstoi schrieb über die Zeit, als Moskau von den Franzosen besetzt wurde: ›Es schien, daß man nicht tiefer im Loch sitzen kann – und siehe da – schon sind wir in Paris.‹ Ich denke, daß wir noch manches sehen werden«, entgegnete ich.
»Das sage ich auch. Schauen Sie her«, Lentschik hob die Hand und begann, an den Fingern abzuzählen: »erstens, früher dachte jeder – was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß – mit dem Staat haben wir nichts zu tun, jetzt aber sogar Pigoliza – schon gut, schon gut, ich wollte dich nur so als Beispiel nehmen – jetzt versteht jeder: wenn der Staat da ist, dann muß man sich an ihn halten – wenn auch ein schlechter, halt dich dran!«
»Auch jetzt haben wir doch einen Staat«, unterbrach ihn Georg.
»Jetzt?« Verständnislos starrte Lentschik Georg an. »Soll das ein Staat sein? Boden? Den haben wir, doch allein genügt er nicht! Wir haben jetzt nicht einen Staat, sondern eine Räuberbande sitzen – wie so manchmal bei den Dorffesten, sammeln sich ein paar Raufbolde und stellen alles auf den Kopf … Doch darum handelt es sich nicht … Zweitens: nehmen wir Akulschin – man kann wohl sagen, er ist ein dummer Bauer, wilder Bauer, aus den Uralwäldern – also, wenn ihm jetzt nach all dem Vorgefallenen jemand vom Sozialismus reden wird oder die Weltrevolution propagiert – dann beißt er ihm mit eigenen Zähnen die Gurgel durch … Jetzt drittens: nehmen wir Sereda, er hat einst auch mit der Revolution angebändelt. (Sereda zuckte ärgerlich die Achseln: »Rede lieber von dir selbst!«) Nun gut, reden wir von mir – auch ich habe nachgedacht, allerhand Bücher gelesen, daß wir den Zaren stürzen müssen, Kerenski, Burschuis, Fabrikanten – das wird ein Leben! … So siehste aus! Auf den Leim kriechen wir heute nicht mehr!« – Lentschik sah auf seine Hand – es blieben noch zwei Finger übrig.
»Ja … Kurzum, einstweilen trinken wir noch eins. Die Hauptsache aber ist, daß das Volk klüger geworden ist, nachdem man es verraten und verkauft hat … Bald knüpfen wir diese schurkischen Räuber auf, und dann kommt ein Staat – so-o!« Lentschik hielt die Faust empor und streckte den Daumen nach oben. – »Wie es sein wird, das weiß man freilich noch nicht; aber, hol's der Teufel, wird schon werden! Wir werden's denen noch zeigen!«
»Wem, denen?«
»So – im allgemeinen. Damit niemand hochnäsig wird! Damit sie nicht zu sehr von sich eingenommen werden. Rußland wollen die Hundesöhne aufteilen …«
»Ja«, sagte Muchin und vergaß die »Enkel«, »manchen werden wir schon vertrimmen müssen, nichts zu machen!«
»Wie wollen Sie das machen?« fragte Georg. »Mit der Roten Armee etwa?«
Lentschik stockte. »Nein, das geht nicht, wir haben getrennte Wege.«
»Ist auch wahr! Gleich nachdem die Bolschewisten die alte Armee aufstiegen ließen, wollten die Engländer uns den ganzen Norden wegkapern«, erklärte im dozierenden Ton Sereda.
»Wollten«, warf Georg ein, »ist aber doch nichts daraus geworden.«
»Bei denen kann auch nichts werden, bei uns aber doch.«
Dies sagte Pigoliza – ganz erstaunt stellte ich es fest. Er war schon sehr angeheitert. Seine Haarwirbel standen nach allen Seiten ab, und die Augen flackerten erregt – er vergaß bereits sowohl Stalin wie auch sein »schlugen – schlugen«.
»Wer ist das, uns?« – Ich entsann mich, wie auch Chlebnikow von »uns« sprach.
»Überhaupt bei uns, in Rußland, heißt das. Denken Sie nur nach – hundertfünfzig Millionen, wenn wir alle uns ins Zeug legen wie ein Mann – ohne Parteimänner natürlich … Und jetzt – willst du lernen, allerhand Lumpenpack lehrt man, und ich … Oder sagen wir bei uns im Komsomol – ganz fähige Jungens gibt es dort, ich rede nicht von mir … Wir gingen ins Komsomol, um lernen zu können, und man sandte uns – auf die Getreidesammelstellen … Ich hatte dort ein Mädel, war dort auch im Komsomolauftrage, was ist da noch zu sagen … Man brachte sie aus einem Dorf zurück – mit gerissener Leber, so hat man sie geschlagen …«
Über das sommersprossige Gesicht Pigolizas rollten die Tränen. Georg steckte schnell und geschickt die vierte Flasche unter eine Matratze, ich nickte beifällig mit dem Kopf: es reicht schon. Pigoliza setzte sich an den Tisch und vergrub sein Gesicht in die Hände; seine Schultern begannen zu zittern. Muchin sah ihn an, merkte auch die geheimnisvollen Experimente Georgs:
»Was machen Sie bloß, junger Mann?« …
Ich trat Muchin auf den Fuß und zeigte mit dem Kopf nach Pigoliza … Muchin nickte zustimmend. Lentschik lief um den Tisch herum und schüttelte Pigoliza an den Schultern:
»Laß doch sein, Sascha, wenn sie auch gestorben ist – ist denn wenig Volk auf diese Weise umgekommen? Nitschewo, es geht vorüber, läßt sich vergessen …«
Pigoliza hob sein verweintes Gesicht – und versetzte mich nochmal in Erstaunen:
»Nein, Bruder, das werde ich ihnen nicht vergessen … Bis in den Tod vergesse ich das nicht.«
Bei der Zusammenstellung der Verpflegungslisten für meine Sportler ging ich von der Berechnung aus, daß ich einen schweren Handel haben werde, zunächst mit Uspenski und dann mit Neumeyer – dem Chef der Verpflegungsabteilung. Ich rechnete damit, daß Uspenski die Normen und Neumeyer die Rationen verringern würde. Aber zu meinem Erstaunen genehmigte Uspenski meine Pläne ohne jegliches Feilschen.
»Ja, so ist's nicht schlecht, die Kerle muß man nicht nur füttern, sondern sogar mästen.«
Ohne weiteres schrieb er quer über die Ecke meiner Liste:
»Gen. Neumeyer! Ausgeben! Zu Lasten der besonderen Fonds der GPU.«
Die Verpflegungsliste war auf achttausend Kalorien je Mann aufgestellt! Diese Kalorien bestanden aus Fleisch, Butter, Milch, Eiern, Schinken und dergleichen. Neumeyer fragte nur, inwieweit man zum Beispiel Fleisch durch Fische ersetzen könnte.
»Was für Fische?«
»Sagen wir Stör.«
Mit Stör war ich einverstanden.
Später habe ich mir oft die Frage vorgelegt: wie konnte ich mir nur einbilden, daß man all diese »wohltätigen Gaben« nicht weghamsterte, oder gar sagen: »Bei mir wird man nicht stehlen …« Inwiefern ist es in Sowjetrußland überhaupt möglich, sich so einzurichten, daß man nicht bestohlen wird? Gleich am Anfang ging das Stehlen los.
Das Bedienungspersonal meines Kurortes bestand aus den Lagerinsassen von Witschka. Folglich müßte beispielsweise der Koch, der für meine Zöglinge Beefsteaks, Spiegeleier mit Schinken, Schweinekoteletts und ähnliches briet, den Charakter des heiligen Antonius haben, um angesichts all dieser Verführungen sich nur von dem zu ernähren, was ihm zustand: anderthalb Pfund widerlichen Schwarzbrotes und anderthalb Teller ebenso widerlichen Gerstenbreies. Selbstverständlich aß der Koch Beefsteaks, auch seine Kochgesellen. Doch wäre das nur ein halber Schmerz.
Der Chef des Unterlagers in Witschka nämlich konnte von den Proviantvorräten ungefähr alles, was ihm gefiel, an sich bringen. Doch das, was unter diesen Vorräten nicht vorhanden war, das konnte sogar er nicht nehmen. Er könnte beispielsweise das ganze Speiseöl sich zu Gemüte führen, das für sein Unterlager geliefert wurde (zwei Gramm je Mann und Tag!); praktisch taten es auch sämtliche Vorgesetzten. Auch könnte er täglich einen Eimer voll Gerstenbrei futtern, wenn solche Heldentat in seinen Kräften stünde; wenn es aber auf dem Lager niemals Fleisch gab, dann war es technisch unmöglich, solches beiseite zu schaffen. Der Koch war dem Unterlagerchef nicht unterstellt. Die fröhlichen Kurortstage in Witschka gehen vorüber, und der Koch kehrt zur vollen und praktisch unkontrollierbaren Verfügung dieses Chefs zurück. Könnte dann der Koch seinem Chef etwas verweigern? Natürlich konnte er es nicht! Ebenso wie er dem Kolonnenführer, dem Statistiker, dem örtlichen WOCHR-Kommandanten und den übrigen großen und hungrigen Menschen dieser Welt nichts verweigern konnte.
Um eine beliebige Sowjetorganisation vor dem Klauen zu schützen, müßte man jedem Angestellten einen bewaffneten Tschekisten beigeben. Allerdings werden dann noch die Tschekisten mitstehlen. Ein Zauberkreis … Die Stenotypistinnen der Moskauer Institutionen kommen zu ihrer zusätzlichen Nahrung beispielsweise so: sechs Tage in der Woche klauen sie heimlich und unauffällig Papier – nur ein paar Bogen täglich. Am sechsten Wochentag, am Samstag, gehen sie auf den Markt und tauschen dieses Papier gegen Brot ein; – eine weitere Erklärung für die geheimnisvolle Tatsache, daß die Menschen in der Sowjetunion nicht ganz aussterben.
Auch einen Wirtschaftsführer hatte ich in Witschka, der in seiner Vorratskammer Seeräuberschätze an Zucker, Butter, Schinken, Stör und ähnlichem vergraben hatte. In den ersten Tagen wurde mein Wirtschaftsführer dauernd von allerhand Revisoren revidiert. Diesen Revisionen bereitete ich ein schnelles Ende. Aber wie konnte ich die freundschaftlichen Besuche des Chefs des Unterlagers bei meinem Wirtschaftsführer unterbinden? Man hätte den Chef, den Koch und den Wirtschaftsführer in den Karzer schicken müssen: wäre dies aber nicht unsinnig?
Aus den Reihen der Sportler wurden immer Diensthabende in die Küche und in die Proviantkammer abkommandiert. Ich vermutete nicht, daß daraus irgendwelche Komplikationen entstehen konnten, denn ich war selbst zweimal zum Küchendienst im Unterlager 1 abkommandiert. Man vermutete, ich würde in der Eigenschaft eines Vertreters der Gemeinschaftskontrolle aufpassen, daß die Küche keine Unberechtigten verpflege, und daß man in der Küche keine Lebensmittel klaue. Selbstverständlich tat man es doch. In diese Küche kam der Chef des Unterlagers wie in seine eigene: »Braten Sie mir mal …«
Von den Vorgesetzten kamen alle, die nicht faul waren, und verschlangen alles, was nur in sie hineinging. Hätte ich versucht zu protestieren, dann hätte dieser Bund der vereinigten Vorgesetzten mich selbst mit all meinen Protektionen verschlungen. Oder, wenn das Verschlingen nicht gelungen wäre, hätten sie mich irgendwie hinterrücks um die Ecke gebracht. Nein, die Gemeinschaftskontrolle unter den Bedingungen einer leibeigenen Gesellschaftsordnung ist ein gefährliches Spielzeug, sogar in der Freiheit. Und im Lager ist es einfach Selbstmord. Ich nahm an, daß meine Sportler diese Wahrheit zur Genüge kannten.
Aber irgendeine unsinnige »initiative Gruppe« unternahm, ohne mich zu fragen, die Revision der Vorratskammer und der Küche. Man revidierte, man erwischte, man machte Krach. Auch ein Protokoll setzte man auf. Der Koch und der Wirtschaftsführer wanderten in den Strafisolator – den Chef des Unterlagers setzte man natürlich nicht fest, außerdem waren der Koch und der Wirtschaftsführer nicht so dumm, um ihren hohen Vorgesetzten zu diskreditieren.
An der Spitze dieser initiativen Gruppe stand mein Menschewik Korenewski. Ich nehme an, daß für seine spätere Reise nach den Solowetzki-Inseln diese Revision auch eine besondere Rolle spielte. Korenewski wusch ich gewaltig den Kopf: Versteht er denn nicht, daß er und ich an Stelle des Kochs und des Wirtschaftsführers genau so gehandelt hätten, und es auch nicht möglich ist, anders zu handeln, ohne das eigene Leben zu opfern. »Man muß opfern«, sagte Korenewski. Meine Geduld riß endgültig: »Wenn schon opfern, dann – der Teufel soll Sie in Stücke reißen – für etwas Gescheiteres als Schweinekoteletts« … Doch blieb Korenewski unerschütterlich – es gibt noch dämliche Tölpel vor dem Herrgott!
Einen neuen Koch fand man ziemlich schnell. Mit dem Wirtschaftsführer war es nicht so leicht. Der Chef des Unterlagers, gekränkt in seinen besten gastronomischen Gefühlen, sagte:
»Sucht jetzt selbst – ich habe euch einen gegeben, hat er Ihnen nicht gefallen, dann ist es nicht meine Sache.«
Eines Tages kam Fomko zu mir und sagte:
»Hier ist ein alter Jude.«
»Was für ein Jude und warum Jude?«
»Ausnahmsweise ein guter Jud – alter Kooperator. Man hat ihn durchleuchtet, jetzt ist er ein Krüppel … Ein guter Wirtschaftsführer wird er aber sein.«
Durchleuchtung ist eines der sowjetistischen Worte, das die große, mächtige und freie russische Sprache bereichert hat. Nachstehend seine Bedeutung.
Auf der Suche nach Valuta für die Sozialisierung, Industrialisierung, für die Durchführung des Fünfjahresplanes in vier Jahren oder, wie der russische Arbeiter sagt – Fünfjahresplan im Handumdrehn – hat die Sowjetmacht allerhand Tricks ausgetüftelt – bis einschließlich Sklavenhandel durch die Intourist Reisegesellschaft für ausländische Reisen nach der Sowjetunion – eine besondere Sowjeteinrichtung.. Doch die einfachste Art, an die man sich am meisten gewöhnt hatte, und die am meisten den Instinkten der regierenden Klassen entsprach, war und bleibt immer noch die Ausplünderung: erst plündern wir aus, dann wird man schon sehen. Man begann zu plündern. Zunächst nahm man sich der Zahntechniker an, bei denen man Vorräte an Goldkronen vermutete, dann der Zahnärzte, dann der nicht ganz abgeschlachteten Reste der NEP-Männer, dann jener Ärzte, bei denen man Privatpraxis vermutete und schließlich all derer, die angeblich Geld hatten – denn bei dem sturzartigen Fall des Sowjetrubels bemühte sich jeder, der Geld verdiente (es gibt auch solche Gruppen der Bevölkerung – wie ich beispielsweise), die wackligen Sowjetbanknoten in etwas Beständigeres zu verwandeln.
Die Technik dieser Ausplünderung war folgendermaßen eingerichtet. – Der Zahntechniker Schepschelewitsch bekommt eine höflich-harmlose Vorladung von der GPU. Er meldet sich. Man sagt ihm höflich und eindringlich: »Wir wissen, daß Sie Gold und Valuta haben. Sie sind doch ein einsichtiger Staatsbürger des Vaterlandes der Werktätigen (selbstverständlich bin ich einsichtig, gibt Schepschelewitsch zu – wie kann man hier auch das Gegenteil behaupten?). Sie verstehen doch: gigantische Ziele des Fünfjahresplanes, Aufbau der klassenlosen Gesellschaft … kurzum – geben Sie im guten alles ab!«
Manche taten es. Jene aber, die nichts abgaben, lud man zum zweiten Male vor – weniger höflich und unter Bewachung. Man setzte sie in Parilka, in Cholodilka und in andere ebenso gemütliche Einrichtungen – so lange, bis der Mensch entweder alles hergab oder starb. Foltern wurden nicht angewandt. – Man richtete einfach Sonderzellen ein – mit Temperaturen etwas unter Null d. i. Cholodilka – russischer Spottname für die Zelle mit null Grad. und andere mit Temperaturen der Sahara d. i. Parilka – russischer Spottname für die Zelle mit etwa fünfzig Grad Wärme.. Man gab täglich zweihundert Gramm Brot, einen Hering und ein Glas Wasser. Die »Wohnfläche« der Zellen war so berechnet, daß nur die Hälfte der Inhaftierten sitzen konnte. Die anderen mußten stehen. Doch verwendete man keine spanischen Stiefel und keine Folterbänke. Man behandelte, wie es seinerzeit die Gerichte der Inquisition formulierten: nach Möglichkeit schonend und ohne Blutvergießen.
In Moskau kannte ich Menschen, die im guten vorgeladen waren und ebenso im guten alles, was sie hatten, abgaben: Taufkreuze, Zarenrubel, Trauringe … Ich kannte auch Menschen, die nach der ersten Vorladung die Bekannten abliefen, hundert bis zweihundert Rubel borgten, Ringe kauften (sogar in den staatlichen Magazinen) und es dann der GPU ablieferten. Menschen, die man zum zweitenmal vorlud oder vielmehr abholte, habe ich in Moskau nie wieder gesehen. Mit ihrer ganzen Schwere traf diese Durchleuchtung die jüdische Bevölkerung der Städte. Die GPU vermutete nicht ohne einigen Grund, daß, wenn ein Jude Geld verdiente, er es dann nicht versoffen hat und auch nicht in Sowjetpapiergeld aufbewahrt, folglich wird man aus ihm nach einem entsprechenden Aufenthalt in Parilka irgendwelche Werte ausschwitzen können. Wohlunterrichtete Menschen erzählten mir, daß die Moskauer GPU in den Jahren 1931 bis 1933 auf diese Weise dreißigtausend bis hunderttausend Dollar je Monat ausquetschte.
Fomko schleppte in mein »Kabinett« einen alten Juden; ich hatte mein eigenes Kabinett. Der Chef des Unterlagers stellte in ein Zimmer einen dreibeinigen Tisch und befestigte an der Tür ein selbstgefertigtes Schild mit der Aufschrift: »Kabinett des Chefs der Spartakiade«. Überlegte noch etwas und fügte dann mit Bleistift unten hinzu: »Ohne Voranmeldung kein Zutritt«. Die Speichellecker traten in Tätigkeit.
Man begrüßte sich. Mein künftiger Wirtschaftsführer schleppte sich mühsam und mit steifen Beinen zu einem Schemel und setzte sich:
»Gestatten Sie die Frage, haben Sie vielleicht mal in Minsk gewohnt?«
»Ja.«
»Dann kenne ich Sie doch … Auch Ihren Vater. Sie haben doch dort, vor dem Kriege, mit Ihren Brüdern auf dem Platz Fußball gespielt. Meiner erinnern Sie sich wahrscheinlich nicht, mein Name ist Danziger Der Name ist verändert..«
Wir kamen ins Gespräch. Der Vater meines Wirtschaftsführers besaß in Minsk eine Gerberei mit fünfzehn Arbeitern. Es kam die Revolution, die Gerberei wurde sozialisiert. Danziger floh irgendwo nach dem Ural und arbeitete dort in einem Kooperativ. Man kam hinter die »kaufmännische Herkunft« und schmiß ihn hinaus. Eine Zeitlang hungerte er, dann kam er bei irgendeinem Heimarbeiter unter und half ihm Leder verarbeiten. Ein halbes Jahr später wurde der Heimarbeiter wegen »Spekulation« festgesetzt – er hatte Häute von krepiertem Vieh aufgekauft. Danziger floh nach Noworossijsk und schlüpfte dort im Hafen als Lastträger unter, ausnahmsweise hatte er noch Kräfte. Bei einer Berufsverband-Säuberung (man hat auch unter den Lastträgern gesäubert) trat plötzlich ein Rassegenosse aus dem Komsomol hervor und sagte: »Ich kenne ihn doch, das ist doch Danziger, sein Vater hat eine große Gerberei gehabt.« Diesmal ging er nicht nur seiner Stellung verlustig, sondern man setzte ihn fest für »Verheimlichung der Klassenherkunft«. Er saß entsprechend lange. Als die NEP sich zu festigen begann, errichtete er gemeinsam mit noch mehreren aller Menschenrechte Beraubten eine Arbeitsgemeinschaft unter der Firma »Die freie Arbeit«. Man arbeitete tatsächlich unter freien Bedingungen ein ganzes Jahr: dann setzte man alle fest – wegen Bestechung.
»Ich möchte sehen, wie man ohne Bestechung auskommen konnte! Wir hatten einen Vertrag mit der Militärverwaltung auf Lieferung von Lederkoppeln. Die Rohstoffe bekamen wir von der staatlichen Ledersammelstelle. Wenn ich nun bei dieser Stelle keine Schmiergelder zahlte, dann hätte ich keine Rohstoffe bekommen, hätte die Koppel nicht fristgemäß abgeliefert, und man hätte mich für die Nichteinhaltung des Vertrages festgesetzt. Kaufe ich aber die Rohstoffe auf dem getarnten Markt, dann setzt man mich wegen Spekulation fest. Gebe ich Schmiergelder bei der Ledersammelstelle, dann werde ich früher oder später auch festgesetzt: also, wie man's macht, macht man's verkehrt … Na, es hat nicht lange gedauert, da saß ich wieder. Und wissen Sie, ich habe gar nichts bestritten: jawohl, ich hatte eine Gerberei, in Kurgan saß ich, in Noworossijsk auch, und die Schmiergelder mußte ich geben. ›Sagen Sie mir doch, Genosse Untersuchungsrichter, was hätten Sie an meiner Stelle getan?‹ – ›An Ihrer Stelle wäre ich schon längst krepiert.‹ – ›Na, ich werde auch krepieren – kann man denn so weiterleben?‹«
In Anbetracht der »aufrichtigen Reue« bekam er »nur« zwei Jahre. Saß sie ab … tauchte wieder in Petersburg auf: irgendeinen Vetter entdeckte er dort, der Chef der Miliz von Kronstadt war (»dort hat man gestohlen, davon machen Sie sich keinen Begriff!«). Der Vetter verschaffte ihm eine Aufenthaltsgenehmigung für Petersburg. Danziger eröffnete eine Krawattenproduktion, er sammelte verschiedene Stoffreste und -restchen, fertigte daraus Binder und Krawatten an und verkaufte sie auf dem Markt, arbeitete ganz allein und hatte keinerlei Fühlungnahme mit staatlichen Institutionen. »Ich habe mir die Finger schon genug verbrannt – es reicht; zu den Lederstellen oder sonstwo gehe ich nicht mal bis zur Schwelle …« Dann ließ er seine Familie kommen, nach seiner Erzählung war sie irgendwo am Ural geblieben; die Tochter starb vor Hunger, der Sohn verschwand unter den Besprisorniki – es kamen nur die Frau und der Schwiegervater.
Man arbeitete jetzt zu dritt. Anderthalb Jahre ging alles gut. Etwas hatte man gespart. Dann kam die GPU und sagte – bitte sehr. Man ging mit. Die GPU redete schön, lange und sogar rührselig – es half aber nichts. Man setzte sie fest. Man hielt sie drei Tage in Parilka und dann drei Tage in Cholodilka. Von Zeit zu Zeit führte man sie auf den Korridor hinaus, wo ein Beamter Reden hielt. Die Reden waren auserwählt und sehr abwechselnd. Man appellierte an die besten Eigenschaften eines Staatsbürgers, an den Selbsterhaltungstrieb, an die Elternliebe und an die eheliche Eifersucht. Den Männern sagte man: »Für wen halten Sie Ihr Gold verborgen? Für die Frau? – Sie hat doch das und das gemacht.« Man zeigte Schriftstücke, aus denen die Untreue der Gattinnen hervorging – sogar Photographien, in flagranti aufgenommen.
Den Kopf in die Schultern eingezogen, als ob jemand mit einem Knüppel nach ihm ausholte, und mit ewiger Angst in den erschrockenen Augen, erzählte mir Danziger, wie in diesen Parilkas und Cholodilkas die Menschen umfielen. Dank seiner kräftigen Konstitution hielt er es ziemlich lange aus. Die Beine schwollen an, er bekam Krampfadern, die Verknotungen platzten, und es bildeten sich offene Wunden, vor Rheuma wurden die Gelenke steif. Dann – das war ein Glück – verlor er das Bewußtsein.
»Na, wissen Sie«, seufzte Fomko, »zum Teufel mit dem Geld – ich hätte es abgegeben.«
»Sie hätten es abgegeben! Ich aber nicht, und wenn sie mir alle Zähne der Reihe nach gezogen hätten. Sie denken, daß ich mich, weil ich ein Jude bin, mehr ans Geld als an das Leben klammere? Ich pfeife aber aufs Geld – was ist auch Geld? – Verdient und ausgegeben – daß mein Geld auf deren Kinder als Schwären komme! Wofür hetzen sie mich fünfzehn Jahre lang wie einen Hund? Wofür starb meine Tochter? Mein Sohn? – Ich weiß nicht mal, wo er ist und ob er überhaupt lebt. Und da soll ich ihnen für ähnliche Sachen noch mein Geld geben?!«
»Sie haben es nicht abgegeben also?«
»Was heißt nicht abgegeben. Nu, ich gab es nicht ab, dann nahmen sie meine Frau und den Schwiegervater vor …«
»War es viel Geld?«
»Ach was, es ist 'ne Schande zu sagen: zwei Goldmünzen, acht Dollar und ein Trauring – nicht meiner, den hat man mir schon lange abgenommen – sondern der meiner Frau.«
»Das ist doch die Höhe«, sagte Fomko.
»Im ganzen waren es also nur etwa fünfzig Goldrubel?« fügte ich hinzu.
»Fünfzig Rubel? Sie sagen nur fünfzig Rubel! Und fünfzehn Jahre meines Lebens und meiner Kinder – sind das auch fünfzig Rubel? Und meine Beine, sind das auch fünfzig Rubel? Schauen Sie her.« Der Alte krempelte ein Hosenbein auf – der Unterschenkel war mit schmutzigen Lappen umwickelt, durch die der Eiter drang.
»Sehen Sie das?« Der Alte hob seine dürren Arme empor: »Wenn es einen Gott gibt, egal, ob Juden- oder Christengott – er soll ihre Kinder an einen Felsen schleudern, daß ihre Kinder und Kindeskinder voll Wunden sind wie meine Beine, daß …«
Von dem Minsker Gerber ging ein biblisches Grauen aus. Fomko rückte ängstlich von seinen fluchenden Armen ab und erblaßte. Ich dachte aber darüber nach, wie wenig diese Flüche – Millionen und aber Millionen von Flüchen – helfen … Der Alte barg seinen Kopf in die auf dem Tisch liegenden Arme und schluchzte dumpf – während Fomko blaß, fassungslos und bedrückt daneben stand.