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Die Verlorenen

Flucht aus dem Sowjetparadies


Proletariat

 

Medgora

Medgora, die Hauptstadt des BBK, war noch vor kurzem eine winzige Eisenbahnsiedlung, die am Treffpunkt der Murmansk-Eisenbahn mit der nördlichsten Spitze des Onega-Sees entstanden war. Nachdem das BBK ins Leben gerufen wurde, verwandelte sich Medgora zu dessen Hauptstadt und folglich zur Hauptstadt der »Republik Karelien«. Einige hundert Meter weiter westlich der Eisenbahn erstand ein ganzes Städtchen mit guten und dauerhaften Häusern, aus bestem Holz gezimmert: Es war die Zentralverwaltung des BBK mit seinen Abteilungen, Büros und Laboratorien, mit seinen Einzel- und Gemeinschaftswohnungen für Tschekisten und schließlich seiner riesigen, abseits im Park gelegenen Villa, in der die höchsten Vorgesetzten wohnten.

Östlich der Eisenbahn breiteten sich die privilegierten Baracken aus: das Unterlager 1. Hier wohnten die Häftlinge, die Angestellte der Verwaltung waren: Ingenieure, Planer, Techniker, Buchhalter, Kontoristen und dergleichen. Am Ufer des Sees, nach dem Hafen hin, erstreckte sich das Unterlager 2. Hier wohnten die Arbeiter der zahlreichen »Unternehmen«, welche die Lagerhauptstadt betrieb: Dampfmühlen, Hafenanlagen, Speicher, Werkstätten, Garagen, Druckereien und die Telefon- und Radiozentrale. Hier wohnten die zahlreichen Zimmermannsbrigaden der fortwährend erstehenden Neubauten, Baracken, Magazine und Gefängnisse; das BBK denkt gar nicht daran, seine Produktion und seine Bevölkerung in absehbarer Zeit abzubauen oder zu verringern.

Medgora ist der bevorzugteste Ort des BBK, offensichtlich der bevorzugteste unter allen Lagern der Sowjetunion. Einmal tauchte sogar der Plan auf, Medgora den ausländischen Touristen zu zeigen (Geviert 19 hätte man aber kaum gezeigt). Etwa vier Kilometer weiter nach Norden erstreckte sich das Unterlager 3, nicht so bevorzugt und schon gar nicht für die Besichtigung durch ausländische Touristen vorgesehen. Dieses Lager war hauptsächlich zum Sammeln und Umtransportieren der Lagerinsassen bestimmt. Dorthin kamen die Menschen, die einzeln abgeurteilt waren, dann solche, die von Unterlager zu Unterlager versetzt wurden, und ähnliche. Hier wurden die Häftlinge zwei, drei Tage festgehalten und dann weiter nach Norden befördert: Medgora war eigentlich der südlichste Punkt des BBK (nach der Liquidation von Podporog); weiter südlich befand sich nur das unbedeutende Unterlager von Petrosawodsk.

In der Umgebung von Medgora, im Halbkreis von fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer, gab es verstreut noch mehrere Unterlager, eine riesige Treibhausanlage des BBK-Sowchoses Witschka, die eine Bodenfläche von etwa zwei Hektar einnahm, und die Manufaktur- und Schneiderwerkstätten des Unterlagers 6. Etwa zehn Kilometer weiter, nördlich der Eisenbahn, gab es noch ein paar Waldlager, die ihre Insassen mit Rodungsarbeiten beschäftigten. In all diesen Lagern lebten insgesamt etwa fünfzehntausend »Einwohner«.

Im Süden des Städtchens lag eine freie Eisenbahnersiedlung, ein Klubhaus und der Markt; es gab Läden, Staatsspritmagazine, ein Torgsin, kurzum, alles, wie es sich gehört. Den Häftlingen war das Betreten der freien Siedlung verboten – wenigstens offiziell. Umgekehrt war auch der freien Bevölkerung nicht gestattet, mit den Häftlingen in Verbindung zu treten – auch offiziell. Inoffiziell wurden diese Verbote aber immer übertreten, und dieser Umstand gab der Verwaltung die Möglichkeit, von Zeit zu Zeit die Lagerinsassen in den Strafisolator und die freien Einwohner ins Lager zu bringen, um dadurch die eigene Überlegenheit zu zeigen: »Ihr sollt euch nicht zu viel einbilden.« Eingezäunt oder mit Stacheldraht umgeben war das Lager nicht.

Wir kamen nach Medgora in einer äußerst ungünstigen Zeit: dort spielte sich ein neuer Kindermord von Bethlehem ab – man baute den »Apparat« ab. In der Freiheit wird diese Operation mit unvermeidlicher Regelmäßigkeit vorgenommen – ungefähr jedes halbe Jahr einmal. Die Theorie dieses Abbaues geht von der unsinnigen Voraussetzung aus, daß das bürokratische System auch ohne den bürokratischen Apparat existieren kann. In der Sowjetunion plant und kontrolliert die Macht alles: die Politik, die Wirtschaft, die Ideologie, die »geographische Verteilung der Industrie«, die Bauernkuh, die Wohnungsintrigen, den Heringshandel, die Kleidermode, die Liebe in der Ehe; sie mischt sich also überall ein und bespitzelt alles. Trotzdem bildet man sich ein, daß eine solche Macht auch ohne den ungeheuer aufgeblähten Apparat der »Durchleuchtung« und Bespitzelung auskommen kann. Diese Voraussetzung erschien mir lange als vollkommen unsinnig. Nachher, als ich mit dem Sowjetsystem näher vertraut wurde, habe ich, wie es mir scheint, begriffen, wo der sozialistische Hund begraben liegt: die Regierung will den Massen zeigen, daß sie – die Regierung, als Macht und System – sozusagen auf der Höhe aller menschlichen Errungenschaften steht, nur der Apparat – entschuldigen Sie – besteht aus Lumpen. Und nun ringen wir – die Macht – mit diesem Apparat. Ganz gewaltig ringen wir … Man kann wohl sagen – ohne das Leben der Menschen dieses Apparates zu schonen … Und wenn eine Kolchosniza Weibliches Mitglied der kommunistischen Jugend. gezwungen wird, die Ferkel mit ihrer Brust zu stillen, – was hat das denn mit der Macht zu tun? Die Macht war nicht dabei: Mängel des Mechanismus, Erbschaft des verfluchten alten Regimes, Bürokratismus, »Loslösung von den Massen«, Mangel an Klassengefühl … na, und so weiter. Das System aber ist in jedem Falle nicht schuld. Das System taugt schon, es könnte sogar gleich auf die ganze übrige Welt verpflanzt werden.

In der Ausfindigmachung von allen möglichen und unmöglichen Sündenböcken hat die Sowjetmacht die besten Anhänger Machiavellis überspuckt. Doch helfen mit jedem Jahr die Sündenböcke immer weniger und weniger. In den stumpfsinnigsten Kopf beginnen sich Zweifel einzuschleichen: »Was habt ihr bloß, Brüderchen, – anderthalb Jahrzehnte baut ihr ab und nähert euch den Massen – und der Schlamassel bleibt Schlamassel.« – Im achtzehnten Jahre der »großen Revolution« zwingt man die Frau, Ferkel zu stillen, und greift bei den Schülerinnen zu ärztlichen Massenuntersuchungen »behufs Feststellung der Unschuld …« Und so was ereignet sich im Lande, das sich offiziell »das freieste Land der Welt« nennt. Mit den Worten: »verdammtes altes Regime«, »das Erbe der Leibeigenschaft«, »jahrhundertelanger Bildungsmangel Rußlands« und mit anderen ziemlich mystischen Sprüchen kann die Sache nicht mehr abgetan werden. Bei der Zarenregierung, welche von der Leibeigenschaft geschichtlich weniger weit entfernt war als die Sowjets, waren ähnliche Dinge überhaupt unmöglich. Nicht deshalb, weil es jemand verbot, sondern weil es überhaupt niemandem einfiel. Und wenn sich ein verrückter Kopf gefunden hätte, eine solche Untersuchung anzuordnen, dann hätte sich jeder Arzt geweigert, und keine Schülerin wäre zur Untersuchung gekommen.

Ja, in Rußland beginnen sich die Zweifel in die stumpfsinnigsten Köpfe einzuschleichen. Eben deshalb beginnt man für diese Köpfe neue Kinderklappern auszuklügeln – so in der Art des Stalinschen »das Leben wird schöner, das Leben wird fröhlicher, Genossen«. Manche Köpfe in der russischen Emigration und im Ausland beginnen diese Zweifel auch zu verstehen. Eine außerordentlich zeitgemäße Beschäftigung.

In dem Flimmern von allerhand administrativen Maßnahmen macht jede Sowjeteinrichtung, wie ein Planet auf seiner Bahn, einen Kreislauf durch: Abbau, Aufbau, Ab-Aufbau, Anschwellen und wieder Abbau: ein Hund lief in die Küche …

Wenn nun irgendein Apparat infolge von vorausgegangenen Maßnahmen bis zu dem Grade anschwillt, daß er unbeweglich wird, dann setzt die Abbaukampagne ein. Der Apparat wird unvermeidlich, unverzüglich, erbarmungslos und sinnlos abgebaut. Nach dieser Operation erscheint er derart verunstaltet, daß er in der Tat weder lebens- noch arbeitsfähig ist. Man hat ihm all das abgeschnitten, was keine »Verbindungen«, kein Parteibuch hat oder nicht fähig ist, sich herauszuwinden oder Sand in die Augen zu streuen. Den verstümmelten Apparat läßt man eine Zeitlang in Ruhe mit dem strengsten Verweis: künftig keine Anschwellung! Danach entsteht die Theorie des Aufbaues. Mehrere verstümmelte Apparate tun sich zusammen, wie der Taube mit dem Blinden. »Aufgebaut« und mit neuem Schild und neuen »Planaufgaben« versehen, beginnt der neugeborene Apparat leise und langsam anzuschwellen. Sobald die Anschwellung eine gewisse Grenze erreicht hat, bei der man weder atmen, noch sich bewegen kann, – erscheint die Theorie des »Ab-Aufbaues«. Der Aufbau entspricht der Zentralisation, der Spezialisierung, der Industrialisierung und überhaupt den »bolschewistischen Maßstäben«. Der Ab-Aufbau schiebt die Parolen der Annäherung an die Massen vor. Man nähert sich den Massen, den Werken, den Produktionen, den Frauen, dem Dasein, den Kühen. In den Zeiten der berühmten Kaninchenepoche wurde sogar die Parole »Annäherung an die Daseinsnöte der Kaninchen« ausgerufen. Man hat sich ihnen genähert. – Die Kaninchen krepierten.

Also, die gestern noch zentralisierte Unionsanstalt beginnt, sich in einzelne Bauunionen, Truste, Verwaltungen und dergleichen aufzulösen … Sie alle sind bestrebt, sich an etwas anzunähern. Sie alle erfinden neue Methoden und neue Perspektiven. Für neue Methoden und neue Perspektiven braucht man selbstverständlich neue Menschen. »Truste« und »Bauunionen« beginnen anzuschwellen – diesmal dreist und nicht mehr schüchtern. Doch wiederum bis zum Moment, wo sie weder atmen noch sich bewegen können.

Ein neuer Abbau beginnt.

So geht es nun schon achtzehn Jahre. So wird es noch lange gehen, denn das Sowjetsystem stellt Aufgaben, die kein Apparat bewältigen kann. Kein Apparat wird imstande sein, das »schöne Leben« fertig zu planen und die nach der Marx-Lenin-Stalinschen Theorie zulässige Anzahl von Küssen festzusetzen. Keiner Kontrolle wird es möglich sein, dem Verbleib jedes einzelnen Herings in jedem einzelnen Kooperativ nachzustellen. Und es bleibt dann nichts weiter übrig, als Planer auf Planer, Kontrolleur auf Kontrolleur und Spitzel auf Spitzel aufzutürmen. Und dann die Spitzel und die Kontrolle wieder zu planen.

Der Prozeß der Anschwellung erklärt sich damit, daß, wenn der Plan, die Kontrolle und die Bespitzelung roh bestimmt sind, sich herausstellt, daß man die Spitzel planen und die Planer bespitzeln muß. So wurde auch die Planabteilung in der GPU und die GPU-Abteilung in dem Staatsplan organisiert. In der Planabteilung der GPU organisiert man wiederum eine eigene Spitzelzelle und in der GPU-Abteilung des Staatsplanes eine Planungskontrollgruppe. Jeder faule »Kooperativ-Hering« beginnt mit Planern, Kontrolleuren und Spitzeln zu bewachsen. Einen solchen Rummel auszuhalten, ist nicht mal ein fauler Kooperativ-Hering imstande. Nun beginnt der Umbau: ein Hund lief in die Küche …

Allerdings geht diese Ab-Aufbau-Tätigkeit in der Freiheit mehr oder minder schmerzlos vor sich. Dehnbar wie Gummi hat sich das Sowjetdasein auch hier angepaßt. Irgendwie klappt es schon: wenn der Apparat A abgebaut wird, dann beginnt der Apparat B anzuschwellen, wenn B abbaut – dann schwillt A an. Iwan Iwanowitsch, der in A sitzt und den Abbau erwartet, ruft Iwan Petrowitsch, der in B sitzt und im Anschwellen begriffen ist, telefonisch an: »Haben Sie, Iwan Petrowitsch, vielleicht etwas Passendes?« Etwas Passendes wird gewöhnlich gefunden. Nach fünf, sechs Monaten ziehen Iwan Iwanowitsch, ebenso Iwan Petrowitsch, friedlich wieder zum Apparat A um, und so läßt es sich auch weiter drehen. Eine besondere Arbeitslosigkeit entsteht dabei nicht. Ein gewisses Anwachsen des sowjetistischen Durcheinanders, das durch all das entsteht, ist in der »allgemeinen Tendenz der Entwicklung« wenig bemerkbar und fällt nicht auf. Selbstverständlich wird Iwan Iwanowitsch beim Verlassen des Apparates A keine »Geschäftsübergabe« vornehmen: er schüttet einfach seine Papiere aus der Aktentasche und geht fort. Im Apparat B wird Iwan Iwanowitsch drei Monate die Papiere, die auf ähnliche Weise von jemand anderem ausgeschüttet waren, sortieren. Kaum ist er damit fertig, so beginnt der Aufbau oder der Ab-Aufbau. Lange auf einer Stelle zu sitzen, hat Iwan Iwanowitsch gar keine Chancen, abgesehen davon, daß das lange Sitzen auch gefährlich ist.

Hier beginnt schon ein regelrechtes Quodlibet – für das ich persönlich keine soziologische Erklärung finden kann. Wenn es Iwan Iwanowitsch, kraft eines geheimnisvollen Spieles der Umstände, gelingt, an einer Stelle drei bis vier Jahre sitzenzubleiben und folglich sich einigermaßen einzuarbeiten, dann wird ihm bei der nächsten Säuberung die Anklage an den Kopf geworfen, daß er zu lange sitzt. Diese Anklage wird genügen, um Iwan Iwanowitsch hinauszuschmeißen – allerdings ohne seine gute Sowjetehre zu schädigen. Mir gelang es offensichtlich, den Rekord des »langen Sitzens« für die ganze Sowjetunion aufzustellen. – Ich blieb an einer Stelle fast sechs Jahre sitzen. Doch wohlverstanden, es war eine konkurrenzlose Stelle: der Sport. Mit ihm sympathisieren alle, und von ihm versteht niemand etwas. Und doch flog ich im sechsten Jahr hinaus. – In der Äußerung der Säuberungskommission stand in einem unmöglichen Russisch wörtlich:

»Entlassen wegen des ›langen Sitzens‹, halbgebildet, keine Beziehung mit dem Sport, während Instruktor hat er sich durch nichts hervorgetan.«

In den gleichen sechs Jahren hat aber der Staatsverlag der Sowjetunion sechs meiner Handbücher über Sportpflege herausgegeben. Nein, weiß Gott, es ist wirklich besser, nicht lange zu sitzen.

*

In Medgora »lange sitzenzubleiben« hatten wir aber keinerlei Chancen: ein Umstand, von dem wir leider auch erst erfuhren, als »die Hebel bereits in Bewegung gesetzt waren«. – Medgora baute stürmisch ab. In Reichweite gab es aber kein hypothetisches B, das im Anschwellen begriffen war. Ingenieure, Planer, Buchhalter, Stenotypistinnen flogen hinaus, am gleichen Tage wurden sie von dem Unterlager 1 zum Unterlager 3 versetzt, sägten dort zwei, drei Tage das Holz oder reinigten die Aborte der Verwaltung – und verschwanden irgendwo nach Norden, nach Soroka, Segescha und Kem. Natürlich wird Medgora nach ein bis zwei Monaten wieder anzuschwellen beginnen, auch die Lagerverwaltung ist den unveränderlichen Gesetzen der »sozialistischen Natur« unterworfen, doch wird es erst in ein, zwei Monaten geschehen. Georg und ich riskierten aber, nicht in zwei, drei Monaten, sondern in zwei, drei Tagen in eine solche von dem Herrgott nicht vorgesehene Gegend zu geraten, daß es unmöglich sein wird, sich daraus bis zur Grenze durchzuschlagen. Diese Gedanken, Überlegungen und Aussichten gingen mir durch den Kopf, als wir auf dem Pappschnee unter dem Regen und in Begleitung unseres kreuzfidelen Kommandantleins, vom Bahnhof zur RVA in Medgora stapften. Georg war fröhlich und kampflustig gestimmt und sang sogar leise: »Was wird die nächste RVA uns bringen? Aus Eugen Onegin – etwas entstellt.«

Etwas Gescheites von dieser »nächsten RVA« zu erwarten, hatten wir keine Veranlassung.

 

Unterlager 3

Die RVA von Medgora war ungefähr genau so schrecklich und ekelhaft wie die in Podporog. Zwischen dem Leiter der RVA und unserem Wachtkommandanten entstand ein Streit. – Unsere Wache übergab uns und erhielt eine Quittung darüber. Der Leiter der RVA aber hatte keine Wache, die uns in das Lager 3 überführen konnte. Er verlangte von der Podporoger Wache, daß sie uns auch dorthin brachte. Unser Wachtkommandant trillerte einen langen Fluch und verschwand. So stand uns das zweifelhafte Vergnügen bevor, die Nacht in den Winkeln der neuen RVA eventuell zu verbringen. Doch bekamen wir nach einigem Gezänk ein Begleitschreiben und einen Schlitten für unser Gepäck. Wir gingen allein, ohne die Wache …

Auf dem Unterlager 3 angelangt, pendeln wir von der RVA zum Kolonnenführer, vom Kolonnenführer zu den Statistikern, von diesen zu den Obleuten und geraten endlich in die Baracke 19 …

Eine hohe und geräumige Baracke, viel besser als die in Pogra; elektrisches Licht und dreimal so viel Fenster. Aber eine Hundekälte, denn es gibt nur zwei Öfen. In der Mitte der einen Längsseite eine Art Fensternische, davor die »rote Ecke«: ein mit rotem Kattun dekorierter Tisch, auf ihm mehrere Propagandabroschüren; an den Wänden die Bilder der Parteigrößen und Sprüche … Viel Platz auf den Stellagen … Erst vor kurzem wurde nach Norden eine Gruppe der Abgebauten abgeschoben. In drei, vier Tagen kommt die nächste Gruppe an die Reihe. In diese können auch wir geraten. Doch soll man den Tag nicht vor dem Abend loben. Erst müssen wir schlafen …

Um ein halb sechs Uhr werden wir geweckt: Arbeitsaufnahme in Medgora! Wir wissen aber, daß wir noch keiner Kolonne zugeteilt sind und wiederholen unseren Trick von Pogra: gehen hinaus, pendeln von Abort zu Abort, bis die Kolonnen verschwinden, und legen uns wieder aufs Ohr.

Vormittags besichtigen wir das Unterlager. Ja, es ist etwas besser als das Pograer – nicht viel, aber immerhin besser. Aber von hier nach Medgora durchzukommen gelingt mir nicht. Wohl gibt es keinen Drahtverhau, aber zwischen Medgora und dem Unterlager liegt das Flüßchen Witschka, das selbst in den strengsten Wintermonaten nicht zufriert. Seine Ufer sind von angewehtem Schnee überhangen und vom spritzenden Wasser der Stromschnellen vereist. Durch ein solches Flüßchen sich hindurchzuarbeiten wäre äußerst beschwerlich, und auf dem Wege zur Grenze gibt es eine Menge solcher Flüßchen … Nein, im Winter wären wir nicht durchgekommen.

Über das Flüßchen führt eine Brücke, und auf der Brücke steht ein »Popka Lagerspitzname für einen bewaffneten Posten.«. Ohne den Passierschein vom Chef des Unterlagers kommt man nicht durch. Ich gehe zum Chef. Mißtrauisch sieht er mich an, und er schlägt meine Bitte rundweg ab:

»Es gibt keinen Passierschein, warum sind Sie nicht bei der Arbeit?«

Ich antworte, wir seien erst um fünf Uhr morgens angekommen, und ich fühle, daß mein Spezialisten-Aussehen hier nicht viel helfen wird. Es gibt zuviel Spezialisten hier, die mit Abortreinigen und ähnlichem Vergnügen beschäftigt sind. Offensichtlich muß man andere psychologische Kniffe zur Einwirkung anwenden. Welche, weiß ich noch nicht. So kehren wir in die Baracke zurück und setzen uns in der »roten Ecke« hinter das Schachbrett.

Nachmittags wurden wir der Brigade eines gewissen Machorenkoffs zugeteilt. Gegen Abend kam sie von ihrer Arbeit aus Medgora zurück. Ein sehr gemischtes Publikum: mehrere Lehrer und Ingenieure, ein Chemiker, viel Arbeiter und noch mehr Urkis. Ein Urka tritt auf mich zu und prüft familiär aufdringlich die Güte meiner Lederjoppe.

»Nettes Jäckchen, wo haben Sie die nur kaufen können?«

Auf seiner Visage steht deutlich geschrieben: für diese Jacke werde ich mindestens fünf Liter Wodka bekommen – unbedingt werde ich sie mitgehen heißen. Die Urkis in der Baracke sind schlimmer als die Kälte, das Gedränge, die Läuse und Wanzen. Du gehst zur Arbeit, deine Sachen und Proviant bleiben in der Baracke, zusammen mit ihnen aber bleibt unauffällig irgendein Urka zurück. Abends kommst du wieder, und weder Sachen noch Proviant noch Urka sind zu sehen. Nach ein, zwei Tagen erscheint der Urka wieder. Deinen Proviant hat er vertilgt, deine Sachen versoffen. Doch haben an diesem Versaufen nicht nur Urkis teilgenommen, sondern auch jemand vom örtlichen Aktiv, Kolonnenführer, Statistiker, jemand von der RVA und so weiter. Mit anderen Worten, du kannst an niemand appellieren und niemand um die Untersuchung der Angelegenheit bitten. Die erfahrenen Lagerinsassen sagen, daß es am »einfachsten« ist, der Mensch wird gleich nach der Ankunft im Lager ratzekahl gerupft und lebt fürderhin nach dem klassischen Spruch: omnia mea mecum porto … Man hat es in Pogra nicht fertiggebracht, uns zu bestehlen, dank unseren besonderen »Umständen«, d. h. dem Respekt vor unserer Kraft, und wir haben auch keine Lust, uns hier ausplündern zu lassen. Nicht nur aus einem unkommunistischen Eigentumsinstinkt, der jedem Menschen eigen ist, sondern auch deshalb, weil wir die Flucht unmöglich ohne jegliche Sachen wagen könnten.

Doch sind die Urkis immerhin mit dem Aktiv nicht zu vergleichen. Zwei, drei Tage halfen wir uns auf folgende Weise: wir bepackten uns mit allen Sachen und gingen so zur Arbeit. Dann trat ein unvorhergesehenes Ereignis ein.

Neben uns, oder genauer, über uns, hatte sich ein Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren eingenistet. Eines Nachts wurde ich von seinem Stöhnen geweckt.

»Was fehlt Ihnen?«

»Ich habe Bauchschmerzen, oh, ich kann nicht mehr, oh, es brennt alles da drin.«

Morgens wollte man den Burschen zur Arbeit treiben. Er kroch mühselig von der Stellage herunter, brach aber gleich zusammen. Man hob ihn auf und legte ihn auf seinen Platz. Der Statistiker fluchte gotteslästerlich und ließ den Burschen in Ruhe, drohte aber, die Ration für ihn nicht mit anzufordern.

Spätabends kamen wir zurück. Der Bursche stöhnte noch immer. Ich tastete seinen Magen ab. Selbst bei meinen geringen medizinischen Kenntnissen konnte ich erraten, daß infolge der Ernährungsweise im Lager (unausgebackenes Brot, angefaulter Kohl) der Bursche so etwas wie Magengeschwüre zu haben schien. Man wandte sich an den Barackenältesten. Der antwortete, die Ambulanz sei bereits verständigt. Wir legten uns hin. Körperlich ermüdet durch die Tage schwerer physischer Arbeit in der frischen Luft, schlief ich wie tot … Ich erwache vor Kälte – Georg ist weg. Beim Schlafen richteten wir uns so ein, daß Georg und ich Rücken an Rücken lagen – in dieser Lage reichte unser »Bettinventar« aus, daß wir nachts nicht erfroren. Nach einer halben Stunde kommt Georg zurück. Er hat ein finsteres und entschlossenes Aussehen. Neben ihm geht ein kleiner Alter, wie sich später herausstellt, der Arzt. Der versucht etwas davon zu erzählen, daß er sich nicht zerreißen kann, daß er keine Medikamente und auch keine freien Plätze in seinem Lazarett mehr hat, doch steht Georg wie ein Habicht vor ihm und sieht aus wie ein notorischer Mörder. Er redet in drohendem Ton:

»Erst untersuchen Sie gefälligst und dann werden wir uns mit Ihnen unterhalten. Man wird schon einen Platz finden. Im äußersten Falle gehe ich zu Uspenski.«

Uspenski – das ist der Chef des Lagers. Der Doktor kann nicht wissen, woher Georg am Horizont des Unterlagers 3 erschien und welche Beziehungen er zu Uspenski hat oder haben könnte. Der Arzt räuspert sich umständlich. Ich sage ihm, daß der Bursche offensichtlich ein Geschwür am Magenpförtner hat. Der Arzt streift mich mit einem mißtrauischen Blick.

»Ja, eigentlich muß er ins Lazarett. Nun ja, morgen schicke ich die Sanitäter.«

»Das ist morgen«, sagt Georg, »und der Bursche muß heute fortgeschafft werden.«

Einige Urkis drängen sich an die Liegestatt des Kranken. Im Nu haben sie irgendwo eine alte, zerrissene und blutbefleckte Tragbahre hervorgeholt – und so bleibt dem Arzt nichts übrig, als sich zu fügen. Man legt den Burschen auf die Bahre, und dann wird er in Begleitung Georgs, des Arztes und einiger Urkis fortgetragen.

Am anderen Morgen beginnen wir, wie üblich, uns mit unseren Sachen zu bepacken. Plötzlich tritt an Georg ein besonders klar ausgeprägter Urka heran, pflanzt sich vor ihm auf, macht ein paar Züge aus seiner Machorka-Zigarette, spuckt gewandt zur Seite und fragt: »Ist das dein Anführer?«

»Was für ein Anführer?«

»Nun, der Alte, der Vater – verstehst du die menschliche Sprache nicht?«

»Ja, das ist mein Vater.«

»Also, was ich sagen wollte, wegen eurer Klamotten braucht ihr keine Angst zu haben. Nicht ein Knopf wird verschwinden. Man keine Bange, dieser Bursche ist von unserer Rotte; und wie ihr uns, so wir euch …«

Schon manches habe ich über die Festigkeit der Versprechen gehört, die Verbrecher geben, doch wollte ich nie so recht daran glauben. Aber Georg legt kurz entschlossen die »Klamotten« ab, und es bleibt mir nichts übrig, als seinem Beispiel zu folgen. Wenn man schon »Vertrauen erweisen« will, dann ohne zu stocken. Der Urka sieht uns wohlgefällig an, spuckt kunstvoll aus und sagt:

»Wenn einer was anrührt, dann braucht ihr's nur mir zu sagen. Wir sind keine dritte Abteilung – Hokuspokus, und schon ist es wieder da.«

Es erwies sich tatsächlich, daß die Urkis nicht wie die dritte Abteilung oder der Aktiv waren. – Während unseres ganzen Aufenthaltes in Medgora verschwand nicht das geringste von unseren Sachen; sogar auch dann nicht, als wir vom Unterlager 3 anderswohin kamen. – Die geheimnisvolle Organisation der Urkis schien allgegenwärtig zu sein. Eine Art der chinesischen Bettler- und Vagabunden-Geheimbünde. Etwas später machte Georg eine Bekanntschaft mit dieser von der übrigen Menschheit losgelösten und nach ihren eigenen geheimen Gesetzen lebenden Welt. Doch einstweilen brauchten wir um unsere Sachen keine Sorgen zu haben.

 

Platzarbeiter

Wir werden um halb sechs früh geweckt. Draußen ist es noch finster. In der Dämmerung stellen sich lange Schlangen der Lagerinsassen auf, um ihre Morgenportion Gerstenbrei in Empfang zu nehmen. Die Portionen sind hier fast doppelt so groß wie in Podporog: je mehr sich jede Sowjetexistenz den hohen Vorgesetzten nähert, desto wohlgenährter wird sie und umgekehrt. Dann werden wir nach Brigaden aufgestellt und stapfen jeder seiner Arbeitsstelle zu. Unsere Brigade geht nach Medgora – »zur Verfügung der Kommandantur der Hauptverwaltung«.

Wir sind in Medgora. Auf einem großen Platz der Hauptverwaltung, die eigentlich ein Städtchen für sich bildet, liegen Häuser, Dienstgebäude und Magazine verstreut. Das Ganze ist viel solider gebaut als die Lagerbaracken. Inmitten des Platzes steht ein futuristisch aussehender Pfeiler und auf diesem – eine Büste Dserschinskys Der erste Oberchef der Tscheka. – sozusagen des Gründers dieser Stätte und des Wohltäters der hiesigen Bevölkerung.

Unser Brigadier verschwindet in der Tür der Kommandantur und erscheint bald wieder in Begleitung eines finster aussehenden Mannes in Lageruniform, mit langem, hängendem Schnurrbart und pockennarbigem Gesicht. Der Mann streift unsere bunte, im allgemeinen ziemlich zerlumpte Reihe mit einem verächtlichen Blick. Wir sind etwa dreißig Mann. Die einen werden zum Schneeschaufeln beordert, die anderen zum Auswerfen von Gruben für den künftigen Eiskeller der Tschekakantine. Nachdem der finstere Mann die ganze Reihe verteilt hat, erklärt er:

»Und ihr beiden da mit der Brille nehmt eure Schaufel, und los mit mir!«

Wir nehmen die Schaufeln und gehen. Der finstere Mann macht weit ausholende Schritte, springt über Schneehaufen, aufgehäuften Kehricht, Sägemehl, Bretter, und der Teufel weiß was noch. Wir folgen hinterher. Ich versuche, darüber schlüssig zu werden, wer das sein könnte – nicht seiner jetzigen offiziellen Stellung, sondern seinem früheren Leben nach. Dem allgemeinen Eindruck nach ein typischer Arbeiter, ein sogenannter Erbproletarier. Na, wir werden ja sehen.

Wir gelangen auf einen Hof, auf dem in ziemlichem Durcheinander Bretter, Balken, Kanthölzer und sonstiges Schnittholz lagern. Der finstere Mann beschaut das Ganze mit einem prüfenden Blick und sagt dann:

»Also … Der ganze Kram hier muß auseinandergelegt werden, d. h. Bretter zu Brettern, Kanthölzer zu Kanthölzern … Ordentlich für sich aufgestapelt, wie sich's gehört.«

Ich beschaue mir dieses heillose Durcheinander mit einem prüfenden Blick:

»Hier gibt es für zehn Mann einen Monat zu tun.«

»Der Kommandant« zuckte verächtlich die Achseln:

»Macht das Ihnen was aus? Reicht die Haft nicht? Zehn Jahre haben Sie doch mindestens?«

»Zehn nicht, aber acht.«

»Na also … stapeln Sie ruhig auf. Und nach Feierabend kommen Sie zu mir – gebe die Leistungsbescheinigung … Feierabend – um vier Uhr. Seid ihr soeben angekommen?«

»Ja.«

»Also, dann stapeln Sie man auf. Aus der Haut zu fahren hat keinen Sinn. Alles kriegt man nicht auf einmal – und die Haft wird schon ausreichen.«

»Der Kommandant« macht kehrt und geht von dannen. Georg und ich »machen einen Plan« und beginnen langsam die Bretter, Hölzer und dergleichen zu ordnen und aufzustapeln. Erst hier stellt sich heraus, wie sehr ich körperlich geschwächt bin. – Nach einer Stunde dieser eigentlich nicht anstrengenden Arbeit kann ich kaum mehr die Beine bewegen.

Das Wetter klärte sich auf. Wir setzten uns auf die Bretter in die Sonne, holten aus unseren Taschen je ein Stück Brot und frühstückten so, wie man in den Lagern und der Sowjetunion im allgemeinen frühstückt und zu Mittag ißt: sorgfältig jede kostbare Krume durchkauend und die auf die Bretter und die Schöße des Buschlats herabgefallenen Brotkrumen auflesend. Dann saßen wir und besprachen allerhand Dinge. Nachher gingen wir wieder an die Arbeit. So verging rasch die Zeit. Um vier Uhr begaben wir uns nach der Kommandantur, um die Leistungsbescheinigung abzuholen. Sie ist eine Art Quittung, auf der »der Arbeitgeber« vermerkt, daß der Sträfling sowieso soundso viel Zeit gearbeitet und soundso viel Prozent Norm erfüllt hat.

Der finstere Mann saß am Tischchen und telefonierte mit jemand. Wir warteten. Er hängte den Hörer auf und fragte nach meinem Namen. Ich nannte ihn. Er schrieb ihn auf, vermerkte »die Norm« und wandte sich an Georg. Georg nannte seinen Namen, worauf »der Kommandant« seine Brille auf die Stirn schob:

»Seid ihr verwandt?«

Ich erklärte.

»Aha«, sagte der Kommandant. »Fein gedreht. Damit nicht mal die Brut in Freiheit bleibt.« Er reichte auch Georg ein ausgefülltes Papier. Der nahm es, und wir gingen wieder hinaus. Hier schaute Georg auf das Blatt und machte einen Indianersprung – ein Überbleibsel jener Indianertänze, die er bei besonders feierlichen Anlässen seines Lebens vor etwa sieben Jahren vollführte.

»Schau her.«

Ich sah hin. Auf dem Papier stand:

Solonewitsch, Iwan. 8 Stunden. 135%.

Solonewitsch, Georg. 8 Stunden. 135%.

Das bedeutete, daß wir je einhundertfünfunddreißig Prozent einer uns nicht bekannten Norm erfüllt und deshalb das Recht hatten, ein Überudarnik Überudarnik ist ein Arbeiter, der sogar die Leistungen eines Udarnik (besonders »produktiver« Arbeiter) übertrifft.-Mittagessen und eine Überudarnik-Brotration in Höhe von je elfhundert Gramm zu bekommen.

Elfhundert Gramm Brot! Das war natürlich ein Kapital. Doch noch ein größeres Kapital war das Empfinden, daß es sogar in der Lagerwelt noch gute Menschen gab.

 

Enträtselung der einhundertfünfunddreißig Prozent

Unsere Brigade schlenderte ungeordnet und zerlumpt »nach Hause« zum Unterlager 3. Georg und ich gingen mit. Wir waren sehr müde, obwohl wir, weiß Gott, nicht viel gearbeitet hatten. Die Leistungsbescheinigung mit den einhundertfünfunddreißig Prozent befand sich in meiner Tasche und rief einige Zweifel hervor. Warum das alles?

Hier in Medgora gerieten wir auf die unterste Stufe der sozialen Leiter des Lagers. Eine Unzahl von allerlei Vorgesetzten umgab und bedrückte uns, mit dem hauptsächlichen Ziel, aus uns ein möglichst großes Quantum von kommunistischen Zusatzwerten herauszupressen. Und der kommunistische Zusatzwert ist ein viel ernsteres Ding als jenes kapitalistische, das Marx seinerzeit so naiv enthüllte. Hier wird man bis auf die Knochen ausgepreßt. Die Grundfunktionen dieses Auspressens liegen nicht bei einem, sondern bei allen »Arbeitgebern«, d. h. bei allen, die die Leistungsbescheinigungen aufzustellen bzw. zu verwerten haben.

Nachdem wir acht Stunden mit dem Umpacken des Schnittholzes beschäftigt waren, empfanden wir mit genügender Klarheit, daß wir bei unserem augenblicklichen Ernährungszustand und unserer Körperkraft nicht einmal fünfunddreißig Prozent, geschweige denn einhundertfünfunddreißig Prozent leisten konnten. Es war gut, daß wir auf eine gutmütige Seele gestoßen waren, die uns einhundertfünfunddreißig Prozent vermerkte. Und wenn morgen diese gutmütige Seele nicht da sein wird? Sehr trübe Aussichten!

Ich holte unseren Brigadier ein, bot ihm eine Zigarette an und begann von den uns bevorstehenden Arbeiten zu sprechen; nebenbei erkundigte ich mich, wer eigentlich unser Vorgesetzter sei. Zu der Bezeichnung »Vorgesetzter« verhielt sich unser Brigadier sehr ablehnend:

»Ach was, Vorgesetzter – einer wie wir alle.«

Diese Erklärung genügte mir aber nicht. Das Äußere des Brigadiers war auch nicht aufschlußreich. Welche Leute nannte er eigentlich unsere? Ich fragte ausführlicher.

»Ich meine doch unsere Burschen. Arbeiterpublikum.«

Das war schon klarer, jedoch nicht ganz. Erstens deshalb nicht, weil es zur Zeit in der Sowjetunion keine Schicht mit größeren Unterschieden gibt als die rühmliche Arbeiterklasse, und zweitens deshalb, weil mit der Berufsbezeichnung Arbeiter sich sehr viele Menschen bemänteln: Urkis, Kulaken, karrieremachende Aktivisten und so weiter.

»Na, wissen Sie, das Arbeiterpublikum ist doch sehr verschieden.«

Der Brigadier zuckte sorglos die Achseln:

»Mal verschieden, mal auch nicht. Hier zum Beispiel gibt es Garagen, ein Elektrizitätswerk, die Werkstätten, Mühlen. Da kann man nicht aufs Geratewohl jemanden einstellen. Hier haben die Qualitätsarbeiter die Leitung – Qualitätsarbeiter noch von der Zarenzeit her.«

Qualifizierte Arbeiter, dazu noch aus der Zarenzeit! Nun war es ganz klar und bestimmt, ein sehr großer Trost. Die einhundertfünfunddreißig Prozent der Normerfüllung, die in meiner Tasche lagen, verloren den Charakter einer angenehmen Überraschung und nahmen die Gestalt einer gewissen Gesetzmäßigkeit an: ein richtiger Arbeiter, ein qualifizierter, obendrein noch aus der Zarenzeit, wird uns, den Intellektuellen, eine Unterstützung nie versagen und wird alles tun, was er bei den gegebenen Umständen überhaupt machen kann. Wohl riskierte unser mir noch wenig bekannter Kommandant bei den »gegebenen Umständen« viel … Wenn plötzlich jemand unsere übererfüllte Norm enthüllt! Aber in der Sowjetunion haben sich die Leute an das Risiko gewöhnt – und nicht nur für sich allein.

Ich weiß nicht wer sonst, aber ich persönlich hielt die Theorie der »Spaltung« zwischen der Intelligenz und dem Volk für ein am grünen Tisch entstandenes Hirngespinst, für etwas einem puren Unsinn Nahes oder für eine der Erfindungen, in denen unsere russischen Literaten so große Meister waren. Wieviel von allerhand weltanschaulichem, mystischem, philosophischem und jenseitigem Unsinn hat man nicht ausgedacht! Und was für ein Wirrwarr entstand dadurch in der Terminologie, in den Begriffen und in den Gehirnen! Ich glaube, daß die Beseitigung all dieses Unsinns eine grundlegende und dringende Aufgabe des russischen Gedankens sein wird. Eine Frage des Seins oder Nichtseins der russischen Intelligenz schlechthin. Nicht so sehr der, die unter den Sowjets steht, als der Emigrantenintelligenz, denn bei den Sowjets ist der Prozeß der Beseitigung dieses Unsinns eigentlich bereits gründlich im Gange – zusammen mit den Köpfen.

Im Jahre 1921/22 erlebte Odessa die sogenannten »Tage des friedlichen Aufstandes«. »Die Arbeiter« suchten die Wohnungen der »Burschuis« auf und plünderten alles, was für die Burschuis de jure überflüssig war und für die Aufständischen de facto als nicht überflüssig schien. Es wäre sehr einfach zu sagen: Da habt ihr's, eure Arbeiter, eure russische Arbeiterklasse! Doch es waren keine Arbeiter, nicht ihre Klasse, es war die Hafenunterwelt, das Lumpenproletariat von Moldawanka Vorort von Odessa., allerhand aus Rand und Band geratene Leute, sozusagen die genealogische Wurzel des heutigen Aktivs. Sie waren keine Arbeiter, ebensowenig wie der vorrevolutionäre Oberwachtmeister, der dem betrunkenen Nachtwächter ins Gesicht schlug, ein Intellektueller war. Auch jene Herrschaften, die ihre letzten Hypotheken versoffen, gehörten nicht zu uns, den Kopfarbeitern von Beruf.

Die russische Revolution, die mich, wie fast alle russischen Intellektuellen, von »oben« wegfegte – in meinem Falle ein sehr relatives »Oben« – und mich hinabtauchte in ein in meinem Falle durchaus nicht relatives »Unten« (die Wegräumung von Kehrichthaufen im Zwangsarbeitslager – gibt es noch ein größeres »Unten«?) – gab mir eine glänzende Möglichkeit, die eigenen und fremden Anschauungen in einigen Fragen nachzuprüfen. Ich muß offen gestehen, daß der Preis, ein Jahr Zwangsarbeitslager, nicht zu hoch war. Es lohnte sich sogar sehr. Und ich bin nicht abgeneigt zu behaupten, daß für einen gewissen Teil der russischen Emigranten ein Jahr Zwangsarbeitslager ein ausgezeichnetes Mittel wäre, ihnen die Augen zu öffnen und den Kopf zurechtzusetzen.

In jenen Tagen, als das kultivierte Odessa durch »friedliche Aufstände« geplündert wurde, arbeitete ich als Lastträger in einem Odessaer Arbeiterkooperativ. Ich wurde in einem Lastauto auf die Werke Gena geschickt, um dort Bohnen auf einem Speicher einzusacken. Der Chauffeur fuhr mit seinem Lastauto wieder fort, und ich mußte allein arbeiten. Es wurde sehr unbequem, da niemand da war, der den Sack aufhielt. Ich mußte aber arbeiten. Die Werksirene ertönte. An dem Speicher vorbei – er stand etwas abseits – schleppten sich Gruppen von Arbeitern, – hungrig, zerlumpt und müde. Im Vorbeigehen schauten sie hinein, sahen sich um, flüsterten etwas miteinander und betraten schließlich das Magazin.

»Diese Hundesöhne haben zu dieser Arbeit nur einen Mann bestellt?«

Ich antwortete, es ginge wohl nicht anders, wahrscheinlich Leutemangel.

»Die sollten keine Leute haben? Bei ihnen in den Kommissariaten sitzen doch lauter Lastträger. Na los, wir wollen Ihnen etwas helfen.«

Man half mir. – Es waren etwa zehn Mann, und die Bohnen waren in einer knappen Stunde eingesackt. Einer der Arbeiter klopfte auf den letzten zugebundenen Sack:

»Da sieht man, wenn man etwas kollektiv macht – eins, zwei und schon fertig. Na, jetzt rauchen wir noch eine, damit man zu Hause keine Sorgen hat. Ein Sprichwort.«

Wir rauchten und unterhielten uns über dies und jenes. Beim Abschied bedankte ich mich. Einer der Arbeiter betrachtete düster mein Äußeres und fragte, wie es mir damals schien, mißtrauisch:

»Sind Sie schon lange bei dieser Arbeit?«

Ich murmelte etwas Undeutliches in den Bart. Ein anderer Arbeiter fiel gleich ein:

»Stell dich nicht so dumm an, Genosse, siehst du denn nicht, daß das ein gebildeter Mensch ist? Ist das denn seine Sache, hier die Säcke zu schleppen?«

Der düstere Arbeiter spuckte aus und stieß einen kräftigen Fluch aus:

»Deshalb geht auch alles so, verdammt noch mal! Der die Säcke verladen muß, macht die Gesetze, und der die Gesetze zu machen hat, der müht sich mit den Säcken ab. Gelernt hat der Mann, Geld hat es auch gekostet … Auf solchen Wegen kommen wir nicht weit.«

Der erste Arbeiter zog seine mit einem Strick gehaltene Hose hoch, verabschiedete sich und sagte beruhigend:

»Macht nichts, Teufel nochmal! Wir werden ihnen schon die Bäuche aufschlitzen.«

Vor Überraschung stellte ich eine offensichtlich dumme Frage:

»Ihnen? Wer sind die?«

»Nicht doch, das wissen Sie genau so gut, wie wir es wissen.«

Er drehte sich um, ging auf die Tür zu, wandte sich abermals zu mir und zeigte auf seine zerrissene Hose:

»Haben Sie das gesehen?«

Ich fand keine passende Antwort. Ich habe zwar noch schlechtere Hosen gesehen, aber diesmal waren auch die meinen durchaus nicht besser.

»Am Anfang, im Jahre 1917, als unsere Genossen über alles Bevorstehende Reden hielten, da dachte ich, die Arbeitermacht kommt, ich werde einen Anzug und alles übrige haben. Nun ist es vier Jahre her, ich habe nichts mehr, nur diese Hose noch. Die einzige Errungenschaft – mehr Löcher sind drin. Alles andere ist auch so. Wenn die schon den Wirt machen! Verwalter! Nein, wir werden ihnen schon bestimmt die Bäuche aufschlitzen.«

Mit dem Aufschlitzen ist es einstweilen nichts geworden. Der düstere Arbeiter erwies sich als kein Prophet: man ging tatsächlich weit – viel weiter, als es in jenen Jahren jemand vermuten konnte.

Welche waren nun die echten Vertreter der Arbeiterklasse? Jene, die Burschuis-Wohnungen ausplünderten, oder jene, die mir halfen, die Säcke zu füllen? Die Arbeiter vom Don, die gegen die weiße Armee gingen, unterstützt durch lettisch-chinesisch-ungarische Maschinengewehre, oder die Arbeiter von Ischew, die sich als Sturmregimenter bei Admiral Koltschak freiwillig einstellen ließen?

Es vergingen viele, sehr viele Jahre. Sie brachten die »Vertiefung der Revolution«, »Liquidation des Kulaken auf der Basis der allgemeinen Kollektivisierung des Dorfes«, Hunger in Werken und Dörfern. Sie brachten fünf Millionen Menschen in die Zwangsarbeitslager. Und nicht einen Tag schwieg die »Arbeit« in den Verliesen der Tscheka.

In diesen verworrenen und tragischen Jahren arbeitete ich als Lastträger, Fischer, Kooperator, Platzarbeiter, Mitarbeiter der Sozialversicherung, Angestellter und endlich als Journalist.

Eine Abschweifung sei mir gestattet. Ich möchte, um die Ernährungsmöglichkeiten der Arbeiter klarzulegen, auf einen berühmten und belächelten Sport eingehen, das Angeln. Im gegenwärtigen Sowjetleben ist dies nicht nur ein ruhiger Sport mit der Angel, an deren einem Ende sich ein Köder und am anderen ein Blöder befindet. Er ist eine Ernährungsart und stellt damit eine von vielen Antworten auf die Frage dar: Wie ist es denn möglich, daß bei solcher Wirtschaft, die in der Sowjetunion herrscht, das proletarische und nichtproletarische Rußland noch nicht endgültig vor Hunger ausstirbt? – Der Retter ist in der Hauptsache der große Raum. In den Ländern, wo dieser Raum nicht zur Verfügung steht, wird die Revolution bedeutend mehr kosten.

Ich kenne Ingenieure, die ihren Beruf fallen ließen, um Fische zu fangen, Pilze und Beeren zu sammeln. Vom Fischfang ernährte auch ich mich nicht selten. So ist es. Unzählige Wanderlager von Arbeitern, solcher, die ihren freien Tag ausnützen, und solcher, die ihre Nahrung durch »Schwänzen«, »Faulenzen« und »Fluidität« erwerben, wandern an den reichen Ufern der russischen Seen, Teiche, Flüsse und Bäche entlang. Oft sind diese Ufer, besonders in der Umgebung Moskaus, mit Lauben und Erdhütten übersät, die mit Reisig, Tannenzweigen und Moos überdeckt sind. Dort übernachten die proletarischen Fischer, warten das Anbeißen der Fische ab oder überdauern ein Unwetter …

Am Ufer der Utsch, in der Nähe von Moskau. Der letzte Lichtstreifen am westlichen Himmel ist verloschen. Die letzte Angel ist aufgerollt. Bei einer Laube versammeln sich die Angler aus der Nachbarschaft. Ein Feuerchen wird gemacht und die Fischsuppe darangestellt. Einer holt aus seinem Rucksack ein halbes Liter Wodka. Andere folgen seinem Beispiel. Es lohnt nicht mehr, bis zur Morgenröte zu schlafen. Das Feuer knistert. Die Wodkaflaschen glucksen, mit Nahrung und Wärme füllen sich die während der ganzen Woche ausgehungerten Mägen – und hier beim Feuerschein werden die wertvollsten Unterhaltungen mit dem Proletariat angeknüpft. Es sind einfache Unterhaltungen, keine Mystik, keine Fragen der Ewigkeit, keine Themen aus dem Jenseits. Der einfache, gute, gesunde Menschenverstand urteilt über die Revolution, die Intelligenz, die Partei, über den Produktionsfinanzplan, das Werk, die Ingenieure. Das ganze Dasein erscheint in einem Licht, vor dem die Sowjetpresse die Augen verschließt, und in Formulierungen, die in keiner Presse der Welt Eingang haben.

In diesen Lauben versuchten die Kulturabteilungen der Partei sich einzunisten, und man errichtete »rote Lauben«, mit Bildern von Marx, Lenin, Stalin und mit dem übrigen »zwangsweise eingeführten Assortiment«. Aus der Umgebung dieser roten Lauben verschwanden dann nicht nur die Arbeiter, sondern sogar die Fische. Die roten Lauben verfielen und wurden vergessen …

Aus der Unmenge der Fragen, die bei diesen Unterhaltungen »unter vier Augen« angeschnitten wurden, kann ich hier nur eine und selbst diese nur flüchtig streifen – die Frage der Beziehung des Arbeiters zur Intelligenz.

Wenn vor der Revolution auch keine Spaltung da war, so gab es doch bis in die letzten Jahre kein klares und erschöpfendes Verständnis für eine Verbundenheit, deren Störung dem Körper der Arbeiterschaft wie der Intelligenz so blutige Wunden beibrachte. Heute, nach den furchtbaren Jahren des »sozialistischen Aufbaus«, hat die gesamte Arbeitermasse teils nur gefühlt, teils aber auch bewußt verstanden, daß sie einst irgendwie die Intelligenz verpaßt hat. Jene Intelligenz, in der es sowohl Idealisten wie selbstverständlich auch Lumpen gab (wo geht es ohne Lumpen?), die aber insgesamt den Staat um ein Vielfaches besser, ehrlicher und menschlicher leitete, als es heute die Partei und der Aktiv tun. Sowohl das Proletariat als auch das Bauerntum – ich spreche vom Durchschnittsarbeiter und vom Durchschnittsbauern – empfinden ihre Schuld vor der Intelligenz, besonders vor der alten Intelligenz, die sie für vernünftiger, gebildeter und zur Führung fähiger als die neue halten. Eben deshalb empfand ich überall, wo ich mit Arbeitern und Bauern in Berührung kam, nicht in der Eigenschaft eines Vorgesetzten, sondern als Gleicher oder Untergeordneter, mit jedem weiteren Revolutionsjahr immer schärfer und schärfer die ungeschriebene Parole der russischen Arbeitermasse:

Die Intelligenz muß man schonen.

Das ist nicht die wohlrühmliche russische Weichherzigkeit –, denn was könnte das jetzt für eine Weichherzigkeit sein, die von Leichen und auf Leichen lebt! Weder Georg noch ich gehörten zu den Menschen, die ein besonderes Mitleid in der Lagerumwelt erregen konnten. Wir waren kräftiger und besser genährt als der Durchschnitt, aber trotzdem haben wir sehr oft gerade von den Arbeitern Unterstützung gefunden, in ihren Augen wohl die Unterstützung des Wertvollsten, das ihnen geblieben: der Erben und der künftigen Wiedererbauer des großen russischen Reiches und der russischen Kultur.

Und ich, der Intellektuelle, empfinde ganz klar, empfinde es mit meinem ganzen Innern, daß ich nur das zu tun brauche, was dem russischen Bauern und dem russischen Arbeiter nützlich und nötig ist. Mehr darf ich nicht tun. Das übrige geht mich nichts an, das übrige ist vom Bösen.

 

Arbeitstage

Auf dem Unterlager 3 sanken wir also bis ganz nach unten und fühlten, daß wir uns trotzdem unter den Unsrigen befanden. Wir verluden die Bretter, schaufelten den Schnee auf den Höfen der Hauptverwaltung, trugen die Säcke zur Mühle und wieder zurück, brachen das Eis am Onega-See aus, sägten und hackten das Brennholz für die Tschekistenwohnungen, hielten die Anschlußgleise und die Häfen in Ordnung, schafften die Kehrichthaufen im Verwaltungsstädtchen fort. Von den vielen Leitern, Kommandanten, Aufsehern und anderen hat uns kein einziger im Stich gelassen: alle vermerkten einhundertfünfunddreißig Prozent der Norm – das Höchste, was nach der Lagerverfassung überhaupt zu vermerken möglich war. Nur der Leiter einer Mühle vermerkte uns einmal einhundertfünfundzwanzig Prozent. Georg trat von einem Bein auf das andere und sagte schließlich:

»Warum, Genosse, haben Sie uns so wenig Prozente vermerkt? Alle haben uns einhundertfünfunddreißig gegeben, warum wollen Sie unter die ›Nachzügler‹ geraten?«

Der Leiter betrachtete uns mit einem schwankenden, verstörten und übermüdeten Blick und sagte:

»Das Lumpenpack da oben wird es vielleicht nicht glauben.«

»Wird's schon glauben«, sagte ich überzeugt. »Einmal ist es schon vorgekommen, daß unser Statistiker bockig wurde und sagte, daß in seiner Kolonne niemals eine derartige Norm erreicht wurde.«

»Und nun?« fragte der Leiter interessiert.

»Ich ließ ihn meine Muskeln betasten.«

»Hat er sie betastet?«

»Ja.«

Der Leiter sah uns mit einem abschätzenden Blick an.

»Wenn dem so ist, dann geben Sie her, ich schreibe es um. Es kommt aber doch vor, daß man einem Menschen wenigstens einhundert Prozent vermerken will, und er kann kaum kriechen. Wer wird's dann glauben? Und doch sollte man solch einem armen Kerl eigentlich mehr vermerken als Ihnen. Trägst du aber viel ein, und es kommt eine plötzliche Nachprüfung, dann … selig sei dein Name.«

Das Leben verlief so: Um halb sechs wurden wir geweckt, bekamen zum Frühstück den stets üblichen Gerstenbrei und gingen mit einer Brigade nach Medgora. Wir arbeiteten zehn Stunden täglich; da aber in der Sowjetunion offiziell nur der Achtstundentag existiert, so war in allen Papieren, Rapporten und Bescheinigungen zu lesen: geleistete Stunden – acht. Zurück kamen wir gegen sieben Uhr abends, »ganz erschossen«. Dann mußten wir uns beim Statistiker melden, dabei selbstverständlich Schlange stehen, denn bei ihm wurden die Leistungsbescheinigungen gegen die Tageskarten für Brot und Mittagessen umgetauscht, dann Schlange stehen beim Brotappell und beim Holen des Mittagessens. Nach dem Mittagessen, so gegen neun Uhr abends, legten wir uns schlafen, eng aneinandergeschmiegt und mit allem Verfügbaren zugedeckt und schliefen einen todesähnlichen, traumlosen Schlaf.

Beiläufig etwas über die Träume. – Einer meiner Leidensgenossen erzählte mir, bereits hier im Ausland, daß er sehr oft vom qualvollen Alpdrücken der Flucht und der Verfolgung heimgesucht wurde. Wir drei hatten auch schwere Träume, sie verfolgen uns bis heute noch. Merkwürdigerweise haben sie alle einen gleichen Charakter. Ich träume immer, ich bin wieder in Moskau und muß aufs neue fliehen. Fliehen unter allen Umständen! Wie bin ich aber hierher geraten? Ich war doch schon im Ausland, das unwahrscheinliche Leben in der Freiheit war doch schon Wirklichkeit geworden. Dann auf einmal, wie es oft im Traum vorkommt, erkenne ich, es ist ja nur ein Traum, nicht zum erstenmal ist deine Seele von diesem Alpdruck beschwert worden, von dem Alpdruck der Rückkehr ins Sowjetleben. Ich erwache dann plötzlich und sehe gewöhnlich Boris und Georg an meinem Bett stehen, die mich lachend ins freie Leben zurückrufen.

In Medgora aber hatte ich keine Träume. Mochte die Kälte noch so stark gewesen sein, der Polarsturm hinter den dünnen und durchlöcherten Wänden der Baracke noch so heulen, die Stunden des Schlafes vergingen wie ein Augenblick. Für unsere einhundertfünfunddreißig Prozent der Normerfüllung arbeiteten wir immerhin mit dem Einsatz aller Kräfte. Das geschah aus vielen Gründen. – Hauptsächlich vielleicht, um zu zeigen, daß wir auch die körperliche Arbeit nicht verachteten. Die ersten Tage war es sehr schwer, doch ein Kilo Brot mehr und Postpakete, die hier in der Lagerhauptstadt stets ganz unversehrt ankamen, steigerten von Tag zu Tag die Kraft unserer inzwischen stark mitgenommenen Muskeln.

Die fünf- bis sechsstündige Arbeit mit einem Brecheisen von zwanzig Pfund war ein hervorragendes Training. Bei dem wöchentlichen Pflichtbad tastete ich Georgs und meine Muskeln mit dem Gefühl einer großen Genugtuung ab und stellte mit noch größerer Genugtuung fest: sie wuchsen und wurden härter. Beide waren wir der Ansicht, daß wir uns fast ideal eingerichtet hatten und nichts Besseres auszudenken war. Es handelte sich nur darum, uns in dieser fast idealen Stellung möglichst lange zu halten. Wie ich schon sagte, war das Unterlager 3 ein Verteilungslager, so daß hier mit einem längeren Aufenthalt nicht gerechnet werden durfte. Wie überall und immer in der Sowjetunion mußte man sich durchschlängeln.

 

Wir drücken uns

Unsere Arbeit hatte noch den Vorteil, daß ich die Möglichkeit besaß, sie nach Belieben zu unterbrechen, um in eigenen Angelegenheiten umherzuschweifen.

Eines Tages ging ich zur RVZ, der Registrations- und Verteilungszentrale des Lagers. Dort hatte ich einige Bekannte aus dem halben Hundert der »Spezialisten in Registrations- und Verteilungsarbeiten«, die Jakimenko während der Zusammenstellung der BAM-Transporte seinerzeit mit nach Podporog brachte. Ich zog bei ihnen Erkundigungen ein. An eine Unterbringung in Medgora war nicht zu denken: die Büros waren gerade im Stadium eines grausamen Abbaus. Ich wandte einen verwickelten, eigentlich aber nicht allzu schlauen Trick an: von mehreren Abteilungen der RVZ erhielt ich für Georg und mich eine ganze Reihe sich gegenseitig aufhebender Anforderungen zur Dienstaufnahme an verschiedenen Stellen; ich verdrehte etwas unsere Namen, Alter und Spezialitäten und half dann heuchlerisch dem Disponenten der RVA, aus diesen verschiedenen Anforderungen klug zu werden; doch das »Klugwerden« war absolut unmöglich. Ich brachte ihm meine tiefe und aufrichtige Anteilnahme zum Ausdruck: »Diese Hundesöhne sitzen da und machen ein Durcheinander, und nachher wird alles auf Sie abgewälzt.«

Der Disponent verstand wohl, daß man gerade auf ihn alles abwälzen wird, auf wen auch sonst! Wütend packte er sämtliche Anforderungen zusammen und schob sie ganz zuunterst eines riesigen Papierhaufens, der seinen lahmen Brettertisch schmückte.

»Dann hol sie alle der Teufel! Nach diesen blödsinnigen Anforderungen werde ich Ihnen keinen Reiseschein ausstellen. Kein Schwein kann daraus klug werden! Gehen Sie selbst zur RVZ, sie sollen mir vernünftige Papiere schicken. Die Hundesöhne verdrehen alles, und dann packt man mich an den Kiemen, und rein in den Strafisolator!«

Der Disponent sah mich gereizt und wütend an. Ich brachte meine Anteilnahme nochmals zum Ausdruck.

»Ich habe doch damit nichts zu tun!«

»Ich etwa? Und die Verantwortung will keiner tragen! Ich sage Ihnen: Solange kein offizieller Wisch von der RVZ da ist, werden diese Anforderungen hier liegenbleiben, und wenn Ihre ganze Strafzeit drangeht!«

Mehr wollte ich nicht. Der Disponent der RVA konnte nicht ahnen, daß ich meine Lage auf dem Unterlager 3 als nahezu ideal betrachtete, und daß er von der RVZ niemals einen »Wisch« erhalten würde. Unsere Papiere fielen aus dem normalen Gang des laufenden Bandes der Lagerkanzleimaschine, und dieses laufende Band verliert, nachdem es ein Papier verloren hat, auch den dazugehörigen lebendigen Menschen. Kurzum, wir hatten uns auf dem Unterlager 3 auf einige Zeit fest eingenistet. Später werden wir schon weitersehen.

Es gab noch eine amüsante Episode. Die einhundertfünfunddreißig Prozent der Normerfüllung verschafften uns das Recht auf die Überudarnik-Brotration und auf das Überudarnik-Mittagessen. Die Brotration – elfhundert Gramm – bekamen wir regelmäßig. Dafür aber waren die Überudarnik-Mittagessen überhaupt nicht vorhanden. Das Recht auf das Überudarnik-Mittagessen, wie auch viele von den Sowjetrechten im allgemeinen, blieb eine von jeder Wirklichkeit weit entrückte Abstraktion, und ich wie auch die anderen wenigen Besitzer von so glücklichen Arbeitsbescheinigungen gaben bald die Hoffnung auf diese Mittagessen auf. Georg war aber der Ansicht, daß man es nicht tun sollte – wenn sonst schon nichts zu holen sei, dann wenigstens ein Überudarnik-Mittagessen. Nach einigem Hin und Her war ich gezwungen, meine Faulheit zu überwinden und zum Proviantmeister des Unterlagers 3 zu gehen.

Der Proviantmeister empfing mich sehr ungnädig – nicht, daß er mich sofort zum Teufel schickte, aber einen ähnlichen Gedanken brachte er doch zum Ausdruck. Aber er irrte sich in der Bewertung meiner Sowjeterfahrung. – Ich sagte ihm, daß es sich nicht so sehr ums Mittagessen handle, als darum, daß er, der Proviantmeister, die Politik der Sowjetmacht untergrabe, daß er sich mit der Gleichmacherei befasse, die eine konkrete Erscheinung der trotzkistischen Abweichung sei.

Das Problem des Überudarnik-Mittagessens erstand plötzlich vor dem Proviantmeister in einem ganz neuen Licht. Sein Ton wurde um eine ganze Oktave tiefer. Der Teufel wurde fallengelassen.

»Was soll ich denn machen, Genosse, wenn wir solche Mittagessen überhaupt nicht haben?«

»Das, Genosse Proviantmeister, ist nicht meine Sache. Haben Sie keine Mittagessen, dann geben Sie was anderes. Es ist nicht wegen des Mittagessens, sondern wegen der ›Stimulierung‹.«

Der Proviantmeister hob die Augenbrauen und gab sich den Anschein, als ob er wegen der Stimulierung im Bilde sei. Ich fuhr fort:

»Es ist sehr notwendig, die Lagermasse zu stimulieren. Nur keine Gleichmacherei! Hier handelt es sich um eine politische Linie.«

Die politische Linie gab dem Proviantmeister den letzten Stoß. Von nun ab bekamen wir außer dem üblichen Mittagessen mal hundert Gramm Quark, mal Räucherfische, mal ein Stück Pferdewurst.

Der Proviantmeister verhielt sich uns gegenüber mit etwas besorgter Aufmerksamkeit: Daß diese Hundesöhne nur nicht irgendeine Abweichung ausgraben!

 

Die Krämpfe der Fluidität

Unser Leben in den »unteren Schichten« war aber nicht nur mit Rosen bedeckt, es gab auch Dornen. Das Unangenehmste waren die dauernden Versetzungen von Baracke zu Baracke. Nach einer ungefähren Berechnung Georgs haben wir in diesem Lager nacheinander siebzehnmal die Baracken gewechselt.

Überall in der Sowjetunion wird eine dauernde Fluidität beobachtet, am meisten in den Vorgesetztenkreisen. Es gibt sogar einen offiziellen Terminus: »Fluidität des Führerkorps«. Dieses fließende und durchfließende Vorgesetztentum hält es immer für notwendig, die ersten Schritte seines administrativen Wirkens mit irgendwelchen Neuerungen zu bekränzen. Das Grundziel ist, zu zeigen, daß auch der Genosse X nicht ohne Initiative ist. Wodurch aber kann Genosse X in seinem neuen Wirkungskreis die Initiative zum Ausdruck bringen, wenn er vom Tuten und Blasen keine Ahnung hat? Aber man muß doch etwas zeigen! So entwickeln sich die Maßnahmen in der Richtung des geringsten Widerstandes: es werden endlose, gewöhnlich völlig unsinnige Versetzungen von Dingen und Menschen von Ort zu Ort ausgedacht. In der Freiheit kommt dies zum Ausdruck durch ununterbrochene Neuordnungen von allen möglichen Sowjetapparaten, durch Änderungen der Namen, durch Verschiebung von Abteilungen und Unterabteilungen, Versetzungen von Menschen, Tischen und Schreibmaschinen: von Straße zu Straße oder wenigstens von Zimmer zu Zimmer.

Diese Tradition ist so stark, daß sie sich sogar über die Staatsgrenzen der Sowjetunion auswirkt. Einer meiner Bekannten, ein Deutschrusse, der sich gegenwärtig im BBK befindet, hat vorher etwa drei Jahre in der Handelsvertretung der Sowjetunion in Berlin gedient. Die Handelsvertretung war in einem Riesenhause mit vierhundert Zimmern untergebracht. Das deutsche Blut meines Bekannten zeigte sich in einer gewissen Neigung zur Statistik. Er rechnete aus, daß er in den zwei Jahren und acht Monaten seines Dienstes bei der Handelsvertretung genau achtundzwanzigmal mit seiner Abteilung von Zimmer zu Zimmer, von Stockwerk zu Stockwerk umgezogen war. Die bestürzten deutschen Kunden der Handelsvertretung stolperten hilflos von Etage zu Etage auf der Suche nach der Abteilung, die, sagen wir, gestern in Zimmer 171 war und heute sich weiß Gott wo befindet. Doch war der neue Standort der umgezogenen Abteilung nicht nur den Deutschen unbekannt, die ohnehin durch das stürmische Tempo der sozialistischen Fluidität erschüttert waren, sondern auch den Mitarbeitern der Handelsvertretung selbst. Man zuckte die Achseln und gab den Rat: Gehen Sie doch zum Auskunftsbüro! Das Auskunftsbüro zuckte ebenfalls die Achseln und sagte: Gestatten Sie, hier steht doch verzeichnet – Zimmer 171. Dem erschütterten Ausländer blieb weiter nichts übrig, als auch seinerseits die Achseln zu zucken, sich nach Hause zu begeben und abzuwarten, bis der Standort der gewünschten Abteilung in den Dschungeln der Handelsvertretung genau festgestellt war.

In der Freiheit macht man sich darüber kein Kopfzerbrechen. Man bindet einfach seine Papiere und Akten zusammen, wandert in das andere Stockwerk über und hat dann etwa zwei Wochen schöne Ausreden, sich von der Arbeit zu drücken: »Wissen Sie, wir sind doch soeben umgezogen, ich habe meine Sachen noch nicht geordnet.« Doch im Lager ist es schlimmer. Erstens wird man vielleicht in einer anderen Baracke keinen Platz finden, zweitens ist man nie sicher, ob man in eine andere Baracke oder auf ein anderes Unterlager oder infolge einer unbekannten Denunziation irgendwohin, fünfhundert Kilometer weiter nördlich, versetzt wird, so zum Beispiel auf den Faulen Fluß – eine Stelle, die etwa fünfhundert Kilometer weiter nördlich liegt und aus der lebendig wieder herauszukommen, fast keine Aussicht besteht.

Jeder neu hinzugeflossene Vorgesetzte des Unterlagers oder der Kolonne trachtet unbedingt danach, eine neue »Umplazierung« seiner Untergebenen auszuklügeln. Am Tage hat man für diese Umplazierungen keine Zeit – die Menschen sind entweder auf ihren Arbeitsplätzen oder stehen Schlange beim Essenholen. Und so wird man mitten in der Nacht an den Beinen von der Stellage gezogen:

»Name? … Sachen packen …«

Schlaftrunken und frierend sammelt man seine Klamotten und stapft mit unbekanntem Ziel in die Nacht hinaus, immer sich selbst fragend, wo wird man eigentlich hingeschleppt. In eine andere Baracke oder an den Faulen Fluß? Nachdem man mit seinen Habseligkeiten die Baracke verlassen und die Vorgesetzten in der Dunkelheit verloren hat, taucht die Möglichkeit auf, sämtliche Umplazierungen zu lassen, wie sie sind, und auf den alten Platz zurückzukehren. War aber dieser Platz am Ofen, dann wird er bereits von einem anderen besetzt sein. In Anbetracht dieser Umstände dachte ich eine neue Methode aus. – Den nächsten Kolonnenführer, der kam und mich an den Beinen zog, wünschte ich mit einem kräftigen Fluch noch weiter als an den Faulen Fluß.

Soweit weggeschickt, war er zunächst sprachlos, wurde dann aber sehr wütend. Ich schickte ihn nochmals an den Faulen Fluß und zeigte ihm von der Stellage mein Gesicht mit einem offensichtlich rauflustigen Ausdruck. Über die »trotzkistischen Abweichungen« beim Proviantmeister war der Kolonnenführer im Bilde, doch stand damit in seinem Gedächtnis mein Gesicht und mein Name wahrscheinlich nicht in Verbindung.

Von der Stellage herab sagte ich, daß er, der Kolonnenführer, die Lagerdisziplin untergrabe und sich mit »administrativem Kopfverdrehen« befasse. Wenn er mich noch mal an den Beinen ziehe, würde ich ihn in der »Umschmiedung« so hochnehmen, daß ihm das Leben auf dieser Welt keine Freude mehr mache.

»Die Umschmiedung«, wie schon gesagt, war ein Blatt der Lagerdenunziation. In Medgora befand sich das Zentralorgan. Der Kolonnenführer hielt den Schnabel und ging fort. Doch später mußte ich diese Szene büßen.

 

Monteurstube

Eine der schwersten Arbeiten war das Sägen und Hacken von Brennholz. Mit dem Hacken ging es noch einigermaßen, dafür aber war das Sägen furchtbar schwer. Ich habe sehr wenig Ausdauer bei gleichförmigen mechanischen Bewegungen. Dazu war die Säge eine Sowjetsäge, an den Aststellen verbog sie sich, die Zähne spreizten sich, und wir verstanden das Richten nicht; nach fünf bis sechs Stunden war die Säge ganz stumpf. So stehen wir über den Sägebock gebeugt und sägen. Ein Arbeiter, klein von Wuchs, behende und lustig, tritt heran: »Was sägt ihr, meine Herren? Sägt nur weiter, mit solcher Säge kann man ruhig versuchen, den eigenen Vater durchzusägen. Zeigt doch mal her. Möchte die Säge mal näher ansehen.«

Mit Mühe zog ich sie aus dem Schnitt. Der Arbeiter räusperte sich:

»Auf der kann man ja nach Petersburg reiten. Da ist halt nichts zu machen – ich gebe Ihnen eine Säge aus unserer Monteurstube, noch aus der Zeit des alten Regimes.«

Er wurde etwas verlegen, sah prüfend auf unsere Brillen und fügte hinzu: »Na, ich sehe, ihr seid nicht so welche, die klauen; wenn ihr fertig seid, dann bringt die Säge zu uns in die Monteurstube.«

Der Arbeiter verschwand und kam nach einer Minute mit der Säge zurück. Er beklopfte das Sägeblatt, das einen klangvollen Ton von sich gab, und sagte wohlgefällig: »Schauen Sie her, wie spitz sind die Zähne.« In der Tat waren die Zähne zu einer Nadelspitze abgefeilt. Er hob ein Ende der Säge an das Auge, kniff das andere zu und sah an ihr entlang: »Und ausgerichtet ist sie wie am Schnürchen!« Die Ausrichtung war tatsächlich wie am Schnürchen. Mit der Säge konnte man schon die Norm erreichen. Der Arbeiter übergab sie mir mit lustiger Feierlichkeit und dem Aussehen eines Facharbeiters, der die Güte eines Werkzeuges wohl zu schätzen versteht:

»Das nenne ich eine Säge! Ungeachtet, daß sie zur Zarenzeit gemacht. Gute Sägen hat man damals gemacht … sozusagen um die Werktätigenklasse entzweizusägen und das Blut aus ihr zu saugen. Tja–a … So ist es, meine Herren Genossen. Und jetzt ist der Zar nicht da, keine Sägen und kein Holz … Habe Familie in Petersburg, weiß der Teufel, womit sie dort heizen … Na, einstweilen! … Muß laufen. Sollten Sie frieren, dann kommen Sie in unsere Stube, wärmen Sie sich. Ganz passable Burschen sind dort – auch noch zur Zarenzeit gemacht. Na, ich muß fort …«

Die Säge lief beinahe von selbst. Eine Zeitlang sägten wir und setzten uns dann hin, um auszuruhen. Jeder holte aus der Tasche sein Stück gefrorenes Brot und begann zu frühstücken. Eine Arbeitergruppe ging vorbei. Sie machten uns den Vorschlag, inzwischen für uns zu sägen, und sagten: »Wollen euch mal zeigen, was Klasse ist!« Sie zeigten es. Ganz große Klasse! Die Holzscheite flogen nur so von den Stämmen.

»Jede Sache hat ihren Meister«, sagte mit belehrender Anteilnahme ein hoher, düster aussehender Arbeiter. Sein knochiges Gesicht zeigte die typische Tätowierung eines Bergmanns: blaue Punkte in der Haut, in die sich Kohlenstaub auf immer eingefressen hat.

»Wo haben Sie die Kunstgriffe her?« fragte ich. »Sie sind doch Bergmann. Vielleicht vom Don?«

»Auch im Donbecken bin ich gewesen. Haben Sie es an diesen Flecken gemerkt?« – Ich nickte. – »Ja, wer auf den Zechen war, der bleibt sein Leben lang gezeichnet. Die Kunstgriffe stammen auch von dort. Sind Sie Ingenieur?«

So wurden wir mit dem eingefleischten Erdarbeiter aus Petersburg, Genossen Muchin, bekannt. Die Revolution hat ihn von einer Ecke des russischen Landes zur anderen geworfen; ins Lager kam er aus seiner Heimatstadt Petersburg. Es war eine ziemlich bezeichnende und ähnlich oft vorkommende Geschichte. Auf seiner Zeche wurde eine neuartige Bohrmaschine aufgestellt – eine sehr verwickelte und sehr komplizierte Maschine. Um Devisen zu sparen und den ausländischen Burschuis »die Nase zu wischen«, sollte eine Komsomolbrigade die Maschine selbständig und ohne Hilfe der Firmenmonteure zusammenmontieren. Ungeheuer hat man daran gearbeitet. Den ausländischen Burschuis hat man in der Tat »die Nase gewischt« – die Maschine wurde um das Zwei- oder Dreifache schneller zusammenmontiert, als es auf den amerikanischen Werken üblich war. Ein unglückseliger Ingenieur, dem man im Rahmen der »Arbeitsdisziplin« die Montageleitung aufgebürdet hatte, bekam sogar eine Prämie – später traf ich diesen Ingenieur auch hier im BBK.

Also, die Montage war fertig. An der Spitze der Brigade, die diese Maschine zu bedienen hatte, stand Muchin …

»Ich bin, müssen Sie wissen, mit allen Hunden gehetzt, hier aber war trotz aller Versuche nichts zu machen … Es war eine Riesendummheit von mir, daß ich weitere Versuche machte; aber ich dachte, zwei, drei Wochen schlängelst du dich weiter durch, und dann verschwindest du wieder nach dem Don. Brachte es doch nicht fertig, hol's der Teufel.«

Die Maschine ging gleich nach Inbetriebnahme in die Brüche. Der Ingenieur, Muchin und zwei Facharbeiter fuhren ins Zwangsarbeitslager, verurteilt wegen Schädlingstum. Muchin hat allerdings nicht viel »angelötet« bekommen – »nur« drei Jahre; der Ingenieur aber bezahlte das »Sowjettempo« viel teurer.

»… Und nun sitze ich. Mir macht's nichts aus. Hier geht es mir besser als in der Freiheit. Aber da habe ich vier Kinder; meine Frau, sehen Sie, hat Kinder sehr gern«, lächelte Muchin trübe, »ich habe sie auch recht gern. Aber ist heute eine Zeit dafür? Auf dem Werk mußte ich zwei Schichten hintereinander arbeiten. Wenn ich dann nach Hause kam, konnte ich mich kaum bewegen. Die Kinder waren halb verhungert und ich selbst fast ganz. Hier ist das Essen nicht schlechter als in der Freiheit: damals habe ich in den Wohnungen der Freimieter schon mal die Leitung nachgesehen oder was anderes und verdiente manchen Groschen nebenbei. Und da ging es auch einigermaßen. Aber jetzt ist allein der Gedanke, wie es um die Familie steht, furchtbar.«

Am anderen Tage sägten wir wieder. Vom Nordosten, vom Weißmeer und den Tundren her blies ein scharfer, durchdringender Polarwind. Er drang durch den Buschlat. Sogar Buschlat und Lederjoppe zusammen schützten kaum unsere erstarrenden Körper vor diesen wütenden Windstößen. Mitunter wirbelte der Wind ganze Wolken von stechendem, trockenem Schneestaub auf, blendete uns und drang in alle Kleideröffnungen, verbarg hinter einem weißen Vorhang die Nachbargebäude, das Elektrizitätswerk und die Monteurstube. Beunruhigend heulte er in den Zweigen der Kiefern. Ich fühlte, daß man mit der Arbeit Schluß machen und davonlaufen mußte. Aber wohin? Georg sprang von einem Bein aufs andere und steckte seine Hände unter die Jacke. Er war blau vor Kälte.

Aus der Monteurstube sprang eine im Schneesturm verschwommene Gestalt und brüllte mit vom Sturm zerrissener Stimme:

»Eh, Alter, dein Junge friert! Los, hierher in die Stube! Es gibt Tee!«

Bereitwillig stürzten wir in die Stube. Monteure sind überhaupt ein kameradschaftliches und haushälterisches Volk. Die Monteurstube stellte einen Bretteranbau dar, in dem Stellagen waren für etwa zehn bis fünfzehn Mann; in der Mitte ein großer, glatt gehobelter und blank gescheuerter Tisch, an den Wänden hingen geographische Karten – alte zerrissene und sorgfältig unterklebte Schulkarten von beiden Erdhälften und eine bescheidene Anzahl von Bildern mit Köpfen der Partei. Kein Enthusiasmus, aber auch keine Konterrevolution! Aus Zeitschriften ausgeschnittene Bilder von Turgeneff, Dostojewski und Tolstoi – auch zerrissen und auch unterklebt – vervollständigten den »Wandschmuck«. Ein Brett mit etwa vierzig Büchern stand davor. Auf dem Tisch ein Schachbrett mit selbstverfertigten Figuren. An besonderen Wandbrettern, mit verschieden eingeteilten Einschnitten, hingen allerhand Schlosser- und Monteurwerkzeuge. Ein ordentliches Öfchen – nicht aus Schwarzblech, sondern aus Steinen – brannte gemütlich und einladend. Darauf eine große Blechkanne mit Tee, der stark dampfte.

All das sah ich allerdings erst, als ich meine beschlagene Brille abgenommen und geputzt hatte. Auch den Mann, der uns mit brüllendem Baß in die Monteurstube rief, konnte ich nun sehen. – Es war der Arbeiter, der uns neulich mit der Säge aus der Zeit des alten Regimes ausgerüstet hatte. Er machte hinter uns sorgfältig die Tür zu.

»Das geht denn doch nicht! Bei dem Wetter sollen die Hundesöhne selbst sägen. Sonst passiert es euch – die Nase war da – und futsch ist sie … Ist euch das Lagerholz etwa teurer als die eigene Nase? Zum Teufel damit! Setzt euch, wärmt euch, zieht die Buschlats aus – es ist warm hier bei uns.«

Wir zogen die Buschlats aus. Auf dem Tisch erschien der Tee – natürlich sowjetistischer – einfaches Kochwasser ohne Zucker und ohne eine Spur von Tee.

Oben auf den Stellagen zeigte sich ein zerzauster Kopf:

»Na, Lentschik, hast unsere Säger hergeschleift?«

»Jawohl.«

»Es war auch die höchste Zeit! Das Wetterchen, kann man wohl sagen, ist ein Parteiwetter. Ein erbärmliches Wetter, Gott vergebe mir! Der Tee ist da, sagst du; dann komm ich gleich runter.«

Von der Stellage stieg ein etwa dreißigjähriger, untersetzter Mann mit gebräuntem Gesicht und munteren, lebhaften Augen.

»Nun, da ihr unsere Gäste seid, gestattet, daß wir uns in aller Form vorstellen. Ich heiße Sereda, Erb-Ehrenproletarier; war Mechaniker, wollte später Ingenieur werden und sitze jetzt hier; Paragraph 58, Absatz 7 Schädlingstum., Strafzeit zehn Jahre, davon fünf abgesessen. Das ist« – nickte Sereda in der Richtung des lustigen Arbeiters mit der Säge –, »das ist Lentschik aus der nie den Mut verlierenden Arbeiterklasse; Paragraph 59, Absatz 3 Banditenunwesen.; Strafzeit nur fünf Jahre; hat Schwein gehabt, unser Lentschik – hat Menschen gemordet und doch nur fünf Jahre bekommen.«

Lentschik zwängte ein Holzscheit in den Ofen – wahrscheinlich von unserer Sägearbeit –, wischte seine Hand an der Hose ab und wandte sich uns zu:

»Also, dann wollen wir in aller Form! Nur mein Name ist nicht Lentschik – Sereda ist ein Meister der Lüge –, sondern Lentschitzki. Doch der Einfachheit halber nennt man mich Lentschik. Wollen Sie etwas Brot haben?«

Wir hatten eigenes Brot, dankten deshalb und stellten uns »in aller Form« vor.

»Das wissen wir schon«, sagte Sereda. »Muchin hat euch schon angemeldet. Da kommt er wahrscheinlich schon selbst angestapft.«

Hinter der Tür hörte man ein heftiges Getrampel Schnee abklopfender Füße, dann traten zwei Männer in die Stube – Muchin und ein junger Bursche, etwa Anfang zwanzig. Wir begrüßten uns. Der Bursche drückte unsere Hände und murmelte etwas Unverständliches.

»Und du, Pigoliza, wenn du dich mit den Menschen bekannt machst, dann sag' gefälligst, welcher Eltern Kind du bist … Wann ist es nur soweit, du Kolchoskind, daß du das richtige Benehmen endlich lernst? Wäre ich an Stelle deines Papachens, ich hätte dir bei jeder öffentlichen Versammlung die Hose strammgezogen.«

Muchin verstaute müde sein Werkzeug:

»Hör auf mit deinen Hänseleien, Lentschik.«

»Du lieber Gott, hier kann man doch nur von Hänseleien leben! – Wenn Sereda und ich nicht den ganzen Tag hänselten, dann hättest du dich schon längst aufgehängt. Durch unsere Hänseleien haben wir dich, Brüderchen, vor der Schlinge bewahrt. Undank ist der Welt Lohn! Na, wollen wir den Kummer mit dem Tee heruntergießen.«

Alle setzten sich an den Tisch. Pigoliza goß sich finster und schweigsam einen Becher Kochwasser ein, und dann, als ob er sich besonnen hätte, schob er ihn zu mir. Lentschik zwinkerte mir listig zu – der Kerl lernt doch das richtige Benehmen! Sereda stieg auf die Stellage und holte von dort ein Weißbrot, teilte es in gleiche Teile und legte wortlos vor jeden ein Stück. Weißbrot haben wir seit unserer Verhaftung nicht mehr gesehen. Georg blickte mit Begierde auf das Brot, doch sagte er:

»Wir haben eigenes Brot, Genossen, danke, bemühen Sie sich bitte nicht.«

Sereda sah ihn mit gemachtem Ernst an:

»Sie brauchen nicht zimperlich zu sein, junger Mann, nehmen Sie sich ein Beispiel an den Älteren – die werden sich schon nicht weigern! Das ist erarbeitetes Brot! Habe die Leitung bei einer proletarischen Gnädigen nachgesehen und Trinkgeld bekommen.«

Monteure und überhaupt das ganze Facharbeitervolk brachten es fertig, sogar hier im Lager ihre »Privatpraxis« auszuüben. Die einen legten oder verbesserten die Lichtleitungen bei den Freimietern, das heißt in den Tschekistenwohnungen, die anderen verfertigten aus entwendeten Lagermaterialien Messer, Sicheln oder gar Sensen für die freie Bevölkerung oder reparierten die Schlösser, wiederum andere befaßten sich mit dem »Binnenwarenaustausch« ungefähr nach folgendem Schema: die Monteure beliefern die Müller mit im Elektrizitätswerk geklautem Petroleum – die Müller beliefern die Monteure mit in der Mühle geklautem Mehl, und alle sind zufrieden, alle sind satt. Nicht besonders dick, aber doch satt. So daß zum Beispiel Muchin seine sämtlichen Brotrationen auf dem Ofen zu Zwieback trocknete und ihn, selbstverständlich durch Mittelsmänner, seinen Kindern nach Petersburg sandte. Dieses ganze Arbeiterpublikum lebte freundschaftlich und zusammengeschlossen, kroch nicht in den Aktiv, befaßte sich nicht mit Denunziationen und half stets, was auch kam, sich und den anderen aus der Patsche.

Lentschik nahm sein Stück Weißbrot und hielt es für seine Pflicht, Sereda beizustehen:

»Wie es in der Heiligen Schrift steht: gibt man – dann nimm, schlägt man – dann laufe. Sereda ist ein gescheiter Bursche. Die Fressalien holt er auch da noch heraus, wo zehn andere vor Hunger schon längst krepiert wären. Ich sagte Ihnen doch, unsere Burschen sind wie Nägel, allerdings aus der Zarenzeit, nicht wie irgendeine Sowjetfabrikation« – Lentschik klopfte Pigoliza auf die Schulter – »nicht wie dieser Vorgeschobene Aus den Reihen des Komsomols ungeachtet der Bildung und Erfahrung in vordere Reihen gestelltes Mitglied.

Pigoliza zog finster seine Schulter zurück:

»Laß doch dein Palaver, Lentschik. Was lügst du denn immerzu von dem alten Regime! Hat man dich denn so wenig in die Visage gehauen?«

»Meiner Visage ist nichts passiert, Brüderchen, nichts. Wohl waren wir einfache Leute. Nach einem Trinkgelage haben wir uns manchmal auch gerauft … Die Sünde muß ich schon zugeben. Aber ich trank für mein Geld, für wohlverdientes … Und Geld hatte ich genug, um zu trinken und dazu etwas zu essen; auch einen Groschen hatte ich, um den Automaten die ›Donauwellen‹ spielen zu lassen … Und wenn man etwas zuviel geladen hatte, dann hieß es: ›Kutscher, los, auf die Petersburger Seite, zwei Groschen!‹ Für zwei Groschen fuhrst du dann wie ein gnädiger Herr. So war es, Brüderchen!«

»Das lügst du ja alles«, sagte Pigoliza. »Wenn du wenigstens nur unter uns lügen würdest, dann hol's der Teufel.«

»Hier, Brüderchen, gehört jeder gute Mensch zu uns.«

»Unser Pigoliza«, erklärte Sereda zwischendurch, »ist ein netter Kerl. Daß er etwas mürrisch dreinschaut, kommt daher, daß es bei ihm im Gehirn ein bißchen am ›Produktionsfinanzplan‹ mangelt. Was zappelst du bloß daher, du Vogelscheuche? Hier sprechen doch Menschen, die was Besseres als du gesehen haben. Sei still und höre hin. Sich an ein gutes Leben zu erinnern, ist auch im Lager angenehm.«

»Schön, dann will ich jetzt hören«, sagte Pigoliza gereizt. »Ihr lobt das Alte, als ob ihr euch verabredet habt, ich werde aber den Neuen fragen.«

»Bitte, frage mal!«

Pigoliza sah mich prüfend an:

»Entsinnen Sie sich, Genosse, vielleicht des alten Regimes?«

»Ja.«

»Also, dann haben Sie sicher damals auch mitunter zu essen und zu trinken eingekauft?«

»Das habe ich.«

»Die Alten hier versuchen, mich dauernd zu beschummeln – nun ja, sie stecken unter einer Decke. Wenn Lentschik mir in der alten Zeit einen Rubel gegeben und gesagt hätte: Geh und kaufe« – Pigoliza begann an den Fingern abzuzählen – »eine halbe Flasche Wodka, ein Pfund Wurst, ein Weißbrot, einen Hering, zwei Gurken und was noch … ja, noch eine Schachtel Zigaretten – was bekomme ich dann von diesem Rubel noch heraus?«

Die Frage Pigolizas überraschte mich etwas. – Weiß der Teufel, was das alles gekostet hat … Außerdem ist es in der Sowjetunion nicht angebracht, sich der alten Zeit zu entsinnen, besonders dann nicht, wenn die Erinnerungen von den offiziellen Bannflüchen zu weit entfernt sind. Ich wurde etwas verlegen. Muchin sah mich mit seinem trüben Lächeln an:

»Haben Sie man keine Sorge, der Bursche hat zwar nicht alle auf dem Christbaum, sonst aber ist er ganz passabel und kein Angeber … Ich will Ihnen helfen: eine halbe Flasche …«

»Nicht vorsagen, ihr habt mich genug beschummelt. Sagen Sie selbst, wieviel bekomme ich noch raus?«

Ich begann aufzuzählen – auch an den Fingern: »Eine halbe Flasche Wodka – ungefähr fünfundzwanzig Kopeken, Wurst – dasselbe.« Muchin nickte zustimmend mit dem Kopf, und Pigoliza sah ihn beunruhigt an. »Weißbrot – fünf Kopeken, ein Hering – drei Kopeken, Gurken – auch fünf Kopeken, Zigaretten … ja, dann werden ungefähr zwanzig Kopeken übrigbleiben.«

»Nichts bleibt übrig«, brüllte triumphierend Lentschik.

»Denn ich hätte dich, Lausejunge, noch nach zwei Flaschen Bier geschickt, und das Geld wäre genau alle.«

Fassungslos und mißtrauisch besah sich Pigoliza die ganze Gesellschaft.

»Na?« fragte Muchin. »Willst du nun wieder sagen, daß wir uns verabredet haben?«

Pigoliza sah finster, aber durchaus nicht überzeugt drein:

»Das glaube, wer will! Wenn solche Preise waren, dann hätte es keine Revolution gegeben. Klar!«

»Eben! Solch Kluge wie du haben die Revolution gemacht.«

»Hast du etwa nicht mitgemacht?«

»Ich?«

»Ja, du!«

»Auch ohne mich hätte es genug so Kluge gegeben«, antwortete nicht besonders aufrichtig Sereda.

»Pigoliza«, mischte sich Lentschik ein, »um dir den ›Durchbruch‹ in deinem Gehirn zuzustopfen, hätte man nach alten Preisen mindestens eintausend Rubel versaufen müssen. Ist das ein Tolpatsch, Gott vergebe mir! Dauernd klärt man ihn auf, und immer noch leiert er seine Litanei von den Burschuis daher; aber was vor seiner Nase steht, sieht er nicht.«

»Gefallen dir denn die Burschuis?«

»Hast du einen Burschui gesehen?«

»Gesehen nicht, doch weiß ich.«

»Ein Hundesohn bist du, Pigoliza, das will ich dir sagen. Was weißt du Tölpel von den Burschuis? So ein Burschui saß früher da und handelte mit Kartoffeln, und da gingst du zu diesem Burschui, kauftest bei ihm für drei Kopeken Kartoffeln und hattest keine Sorgen. Und jetzt bist du ohne Burschuis – dafür durftest du aber bei der ›Kartoffelaufbereitung‹ dabeisein?«

»Ich nicht.«

»Dann bist du auf die Getreideaufbereitungen gefahren – Hose wie Jacke. Bist nicht gefahren?«

»Das schon.«

»Gut … ganz ausgezeichnet – dann wollen wir so sagen: statt zum Burschui zu gehen und bei ihm für drei Kopeken fünf Kilo Kartoffeln zu kaufen« – Lentschik hob den Zeigefinger – »für drei Kopeken fünf Kilo – ohne jeglichen Bürokratismus oder Schlangestehen! fuhr unser lieber, ehrenwerter Proletariergenosse Pigoliza, die Bauern zu plündern. So! Fertig und auf die Bahn mit den Kartoffeln? Dann sagt man unserem lieben, ehrenwerten Genossen Pigoliza: ›Würden Sie nicht so liebenswürdig sein, im Rahmen des Komsomol – oder meinetwegen der Gewerkschaftsdisziplin – sich zum Bahnhof zu begeben und eben diese Kartoffeln einzusacken?‹ Am Samstagnachmittag natürlich und ›freiwillig‹. Bist du nicht zu diesen Samstagnachmittagen gegangen?«

»Und du etwa nicht?«

»Ich auch, aber ich prahle nicht damit.«

»Ich auch nicht.«

»Das ist ganz ausgezeichnet, denn zu prahlen, Brüderchen, war da überhaupt nichts: man zwang dich, und du gingst hin. Hättest bloß versuchen sollen, nicht hinzugehen … Also nach dieser Ausplünderung ging unser Pigoliza hin und verlud die Kartoffeln – natürlich nicht alle Pigolizas gingen hin und verluden die Kartoffeln; denn mancher von ihnen hat schon seine Knochen dabei gelassen. Dann schüttete Pigoliza die Kartoffeln aus den Säcken in die Keller, dann verlas er sie, dann pendelte er zwischen verschiedenen Brigaden und ›Kavallerien‹, mal revidierte er ein Kooperativ, mal führte er eine Säuberung durch, mal kontrollierte er die Lebensmittelkarten und weiß der Teufel noch was … Und für die ganze Mühsal bekam unser Pigoliza eine Karte und nach der Karte – fünf Kilo Kartoffeln pro Monat, nur daß diese Kilos, entschuldigen Sie man, nicht drei, sondern dreißig Kopeken kosteten. Dazu noch Schlangestehen!«

»Mit dieser Arbeit hätte man beim alten Regime fünf Waggons Kartoffeln verdienen können.«

»Warum denn fünf Waggons?« fragte Pigoliza.

»Das ist doch sehr einfach. Ich war zum Beispiel Facharbeiter, meine Sache war es, hinter der Werkbank zu stehen. Und wenn ich nun die ganze Zeit, die du für Aufbereitungen, für Samstagnachmittage, für Brigadenarbeit und für das Schlangestehen verbraucht hast, hinter meiner Werkbank gestanden hätte – denk mal nach, wieviel Rubel ich dann verdient hätte? Richtige Rubel, Goldrubel! Bestimmt hätten sie für fünf Waggons Kartoffeln gereicht.«

»Was rechnet ihr immer mit Rubeln und Kopeken?«

»Und womit hast du gerechnet?«

»Daher saß auch der Burschui auf deinem Halse.«

»Und auf deinem Halse sitzt heute etwa niemand? Und du selbst, wo sitzt du? Wenn schon vom Halse die Rede ist, dann mußt du erst recht schweigen. Wofür hat man dir fünf Jahre aufgeknallt? Hättest du einem alten Burschui eins in die Schnauze gegeben, dann hättest du eine Woche gesessen und basta. Nun aber steht an Stelle des Burschui die Parteizelle. Wem hast du eins in die Schnauze gegeben? Bleibe jetzt fünf Jahre sitzen. Und dann läßt man dich noch nicht nach Hause – wirst irgendwohin zum Teufel fahren müssen. Und du fährst! Uber den Hals mag sonst wer reden aber du, Pigoliza, solltest lieber schweigen.«

»Wenn dir der alte Burschui«, sagte Lentschik, »solche Kartoffeln verkauft hätte, wie sie heute der Kooperativ ausgibt – dann hättest du dem Burschui diese faulen Kartoffeln auf seiner Visage verschmiert!«

»Nu, es kann doch nicht alles auf einmal klappen. Wir haben's noch nicht gelernt …«

»Jawohl, selbstverständlich, nicht gelernt! In fünfzehn Jahren nicht? In fünfzehn Jahren kann man aus einem Affen einen Professor machen, geschweige denn den Kartoffelhandel erlernen. Große Wissenschaft ist das! Früher lernte niemand, wie man Kartoffeln pflanzt und wie man damit handelt! Instruktionen, jawoll, hat's nie gegeben! Ein Kartoffel-Abc haben wir nicht lernen müssen! Wenn das so weiter geht, werden wir nicht nur das Pflanzen der Kartoffeln, sondern auch das Kauen verlernen.«

Pigoliza erhob sich düster und begann, schweigend von den Regalen einige Werkzeuge zu entnehmen. Sein Aussehen war offensichtlich defensiv.

»Man soll dieses Gerede in der Tat lassen«, sagte Muchin mit Würde. »Was soll man dem Menschen einreden, wenn er sich die Ohren zuhält. Laßt ihn noch ein paar Jahre sitzen – wird schon klüger werden.«

»Wer klüger wird, das ist noch unbestimmt. Ihr schaut immer in das Alte zurück, wir sehen aber vorwärts.«

»Siebzehn Jahre seht ihr schon vorwärts!«

»Ja, siebzehn Jahre – und noch siebzehn Jahre werden wir Vorwärtssehen. Habt ihr denn früher Werke gebaut?«

»Zum Kuckuck mit deinen Werken, Dummkopf!« brauste Sereda auf. »Werke gebaut? Warum fährst du denn dann nicht an die Tuloma, du Hundesohn, und baust das Elektrizitätswerk auf? Warum fährst du nicht? Wie? Daß man's nicht auf deinen Knochen baut? Dummkopf, also deine Knochen hergeben willst du doch nicht!?«

An der Tuloma – einem Fluß, etwa zehn Kilometer südlich von Murmansk – wurde zur Zeit ein Elektrizitätswerk gebaut, selbstverständlich ein »Sturmbau« und selbstverständlich ein Bau »auf den Knochen« – auf einer großen Menge von Knochen. Alle, die sich von der Verschickung an die Tuloma drücken konnten – taten es mit allen Mitteln. Offensichtlich drückte sich auch Pigoliza.

»Denkst du, ich fahre nicht?«

»Meinetwegen zu allen Teufeln. Dann gibt es einen Dummkopf weniger.«

»Ihr aber seid klug. – Im Jahre 1917 zogt ihr doch alle gegen die Burschuis. Und jetzt, ohne Burschuis, sind euch die Trauben zu sauer. Euch fehlt die Kinderfrau. Gespannt wäre ich, zu hören, was ihr im Jahre 1917 über die Burschuis geredet habt … Uns jetzt Kooperativs und Lager unter die Nase reiben, das kann jeder Dummkopf. Schlauköpfe … wo habt ihr eure Köpfe denn gehabt, als ihr die Revolution mitmachtet?«

Pigoliza verstaute sein Werkzeug in die Taschen und verschwand. Muchin zwinkerte mir zu:

»Das war ein Wort, fein gedreht. Alle über einen herzufallen! Ist schon wahr!« Eine Genugtuung lag in Muchins Ton. Etwas tückisch sah er Sereda an: »Tatsächlich wahr, wer auch die Revolution gemacht hat, den Brei haben die Pigolizas auszulöffeln. Und wo sollen sie jetzt hin?«

»Tja–a«, zog Sereda hin, als wollte er sich vor jemand rechtfertigen. »Im Jahre 17, das, natürlich … Auch der Krieg vorher. Einen Narren haben wir abgegeben, das muß man wohl sagen, darum brauchen wir aber nicht ewig Narren zu bleiben … Es wäre an der Zeit, klüger zu werden …«

»Schon gut, hat Pigoliza dein Alter erreicht, dann wird er von selbst klüger … Ihm aber immer unter die Nase zu reiben: Dummkopf und so was, ist doch keine Sache … Wer geht in solchem Alter nicht unter die Narren?«

»Was ist dieser Pigoliza für ein Kerl«, fragte ich, »sind Sie überzeugt, daß er nicht zur dritten Abteilung läuft?«

»Ne–e, das nun nicht«, antwortete Sereda hastig, als ob er sich über das neue Thema freute. »Das gibt es nicht. Er ist der Sohn eines Freundes von Muchin, Muchin hat ihn hier aufgelesen … Pigoliza hat einem Komsomolsekretär die Schnauze vermöbelt, und dafür hat man ihm fünf Jahre aufgeknallt … Ohne Muchin wäre der arme Kerl sicher umgekommen …« Sereda schüttelte sich und hub dann wieder an: »Für solche wie Pigoliza ist es hier am schlimmsten – wenig Verstand und noch weniger Erfahrung, glauben an allerhand Politgramotas, glauben aufrichtig … Glaubt, daß er in der Tat im Königreich der Werktätigen lebt. Einstweilen aber hat er fünf Jahre … Warum? Hat versucht, seine Komsomolrechte zu behaupten. Hier versucht er dasselbe nicht wieder. Warum? Dann ist's endgültig aus mit ihm. Du, Muchin, trittst für ihn ein. – Niemand will ihn beleidigen; aber man muß sie doch lehren, daß sie mit offenen Augen herumlaufen … Hätte man uns 1917 gerade heraus bewiesen, so klar wie zwei mal zwei vier ist: Narren seid ihr, Kerle, ihr grabt ja euer eigenes Grab – dann säßen wir nicht hier.«

»Hätten Sie 1917 auf solche Beweise gehört?« warf ich ein.

Sereda machte ein saures Gesicht und sah durchs Fenster:

»Das ist's ja eben«, sagte er unbestimmt.

 

Beziehungen zueinander

In der Monteurstube verbrachten wir viele Stunden des Tages, wir suchten Zuflucht vor den letzten Winterstürmen oder nahmen einfach eine Einladung zum »Tee« an. Sehr bald kam es in der Stube zu den Beziehungen, die sozusagen als »Standard« zwischen dem vernünftigen Teil der Intelligenz und dem vernünftigen Teil des Proletariats bestanden. Unsere proletarische Beziehung kam dadurch zum Ausdruck, daß wir stets eine tipptopp ausgerichtete Säge hatten, daß wir zum Beispiel von dem Kommandantenwechsel rechtzeitig unterrichtet waren, damit wir die Norm tatsächlich erfüllen konnten. Die Norm erfüllten wir mit Hilfe der ganzen Monteurstube, so daß dem neuen Kommandanten – einem Freiangestellten – der deshalb gekommen war, um unsere phantastischen hundertfünfunddreißig Prozent nachzuprüfen –, nichts übrigblieb, als ratlos dreinzuschauen und seinen niederträchtigen Verdacht mit einem ziemlich verworrenen Satz zu büßen:

»Na ja – wenn der Mensch gebildet ist …«

Warum ein gebildeter Mensch ein Arbeitspensum sollte erfüllen können, das sogar weit über die Kräfte eines Holzarbeiters von Beruf hinausging, blieb selbstverständlich unaufgeklärt. Doch waren unsere hundertfünfunddreißig Prozent sozusagen offiziell nachgeprüft und offiziell bestätigt. Lentschik, der nicht ohne einige Unruhe dieser Nachprüfung von der Seite zuschaute, konnte sich nicht enthalten und schnitt dem sich entfernenden Kommandantenrücken eine lange Nase.

»Teufel, Teufel, wenn wir so beisammen wären wie unsere Finger an der Hand« – Lentschik spreizte zur besseren Anschaulichkeit die Finger und ballte dann die Faust – »wenn wir zusammenhielten, dann hätten wir's diesem Lumpenpack zeigen können!«

»Ja«, sagte Georg finster, »die Sache ist nur die, daß dieses Lumpenpack all das besser versteht als wir.«

»Das macht nichts, junger Mann. Sie kennen doch die Geschichte. Als Rußland aus kleinen Fürstentümern bestand und jeder nach seiner Fasson leben wollte – da unterjochten uns die Tataren. Und als wir plötzlich auf einmal wie ein Mann dastanden, da blieb von den Tataren nur ein nasser Fleck.«

»Richtig«, sagte Georg noch finsterer, »nur saßen die Tataren fast dreihundert Jahre fest.«

Lentschik biß sich auf die Lippen:

»Ja, das wohl, dreihundert Jahre … Doch jetzt ist das Tempo und auch das Volk ein anderes … Lange bleiben sie nicht sitzen.«

Die Arbeiter halfen uns also mit ihrer Körperkraft, und wir belieferten die Monteurstube mit unserer »Intelligenzproduktion«. Das haben heute, aus allen ihren gewohnten Gleisen geworfen, die russischen Massen sehr nötig. Zu wem soll auch der Bauer gehen, sagen wir, mit der Frage über die Düngung seines Hausackers Nach der Verelendung des Bauern infolge der Kollektivierung erließ die Sowjetregierung eine Verordnung, wonach jeder Kolchosbauer seinen eigenen Gemüsegarten unmittelbar hinter seinem Hause für den eigenen Bedarf unterhalten mußte.. Zu dem Aktiv? Der Aktiv ist doch nicht für die Aufklärung, sondern für die Ausplünderung vorgesehen. An wen soll sich ein Arbeiter wenden bei Rentenangelegenheiten, beim geforderten Ortswechsel, bei Wohnungsschwierigkeiten oder wenn es heißt, sich von irgendeiner neuen Mobilisierung zu drücken, dorthin, wo der Pfeffer wächst? Etwa an einen roten Gewerkschaftssekretär? Der funktioniert doch nur als »Treibriemen von der Partei zu den Massen«, und dieser Riemen ist sehr stramm gespannt. Nein, der Bauer geht zu irgendeinem Dorfintelligenten, unbedingt einem Parteilosen, der Arbeiter geht zu irgendeinem Stadtintelligenten, vornehmlich zu einem Konterrevolutionär. Immer freuen sie sich, der Bauer und der Arbeiter, auf die Unterhaltung mit einem klugen und gebildeten Menschen, auch über die Politik: »Wo steckt der Haken in dem Gesetz über Kolchoshandel?« In jedem Gesetz suchen die Menschen in der Sowjetunion einen Haken oder vermuten eine Hinterlist. »Was macht Japan, und wie steht es um den kommenden Krieg?« Darüber schreibt selbstverständlich auch die Sowjetpresse, doch nimmt diese Presse eine einzig dastehende Position ein: niemand, aber auch niemand glaubt ihr – selbst die Parteimenschen nicht. Sogar dann glaubt man nicht, wenn die Presse etwas wirklich Wahres schreibt.

Auch im Lager hat jeder seine Schwierigkeiten und Probleme. Muchins Familie ist in Petersburg geblieben, selbstverständlich hat man ihr die Pässe entzogen – wohin nun? Alles ist überfüllt, überall herrscht Hunger. Fährt sie nach irgendeinem Provinzstädtchen, wird sie gezwungen sein, monatelang im Wartesaal, in leeren Güterwagen, unter Zäunen oder dergleichen unterzuschlüpfen: Wohnungskrise! Auf jedem beliebigen Werk wird man Frau Muchin fragen: »Warum sind Sie aus Leningrad fortgefahren, und wo haben Sie Ihren Paß?« Selbstverständlich wendet sich Muchin mit solchen Fragen nicht an den »Justitiar« oder an die Kultur- und Bildungsabteilung. Ich aber konnte ihm einen wirklichen Rat geben: »Man muß nicht in ein Provinzstädtchen, sondern an die Grenze von Turkestan oder von Persien fahren – dort gibt es wenig Russen, und dort nimmt man es nicht so genau mit den Pässen. Dort, in irgendeinem Pischpeck oder in Machatsch-Kala, wird man sich an einen Iwan Iwanowitsch wenden können, der wahrscheinlich immer noch in einem Schafzuchttrust präsidiert oder irgendwo daneben. Dieser Iwan Iwanowitsch hat die Möglichkeit, Frau Muchin entweder in dem Opium-Sowchos in Kara-Kola oder im Schafzucht-Sowchos in Katschkora unterzubringen. Man wird in einer Jurte leben müssen, doch wird man nicht verhungern.

Das alles ist sozusagen Lebensprosa. Aber außer Prosa gibt es noch manche anderen Fragen: Beispielsweise über die alte russische Literatur, die man voller Hingabe liest, bis die Seiten ganz zerlesen sind – dreimal unterklebt, abgegriffen, voll von Bleistiftergänzungen und endgültig unleserlichen Stellen … Die marxistische Deutung der russischen Klassiker kennen fast alle – aber daran, was die »Genossen« schreiben, glaubt niemand, obwohl gerade hier die marxistische Kritik mehr oder weniger zutreffend ist … Doch sagt man: das schreiben »die Unseren« – es lohnt sich nicht zu lesen.

So geht an Millionen Orten und aus Millionen von Anlässen der Prozeß einer Veredelung, einer Stählung des Volksbewußtseins vor sich.

 

Kulake Akulschin

Der Frühling nahte, und alle unsere Brigaden wurden mobilisiert, um den Kehricht aus den zahlreichen Höfen der BBK-Hauptverwaltung fortzuschaffen. Georg hatte sich zu dieser Zeit etwas anderem zugewandt: auf dem Wege zwischen Medgora und dem Unterlager 3 war man mit dem Verputz des künftigen Technikums des BBK beschäftigt. In dem Gebäude wohnte schon der künftige Leiter, und Georg überlegte ganz vernünftig, daß es für ihn am zweckmäßigsten wäre, in der Nähe dieses Technikums herumzupendeln, mit dem wohldurchdachten Plan, in diesem als Schüler Unterschlupf zu finden. – Über das Technikum wird später noch die Rede sein. Ich durfte aber die Höfe der Verwaltung nicht verlassen, da ich von hier aus verschiedene Aufklärungsgänge in den Verwaltungsbüros besser erledigen konnte. Kurz und gut, ich war endgültig unter die Platzarbeiter geraten.

Ich wurde als Handlanger zu einem Fuhrmann beordert, einem stämmigen Bauern von etwa fünfundvierzig Jahren mit pockennarbigem Gesicht und einem düsteren Blick unter den buschigen herabhängenden Augenbrauen. Unsere »Funktionen« bestanden in der Entleerung der Kehrichtkästen und in der Abfuhr unserer Beute außerhalb des Verwaltungsterritoriums. Der Inhalt bestand aus gefrorenen Abfällen, die man mit der Brechstange loseisen und dann mit Schaufeln auf den Schlitten aufladen mußte.

Meiner Hilfe stand der Bauer zunächst etwas skeptisch gegenüber. Einigen Grund dazu hatte er schon. Ich war wahrscheinlich stärker als er, doch war meine städtische und sportliche Ausdauer im Vergleich zu seiner ländlichen und an schwere Arbeit gewohnten nicht der Rede wert. Er arbeitete mit der Brechstange wie eine Maschine, Stunde um Stunde. Ich konnte bei diesem Tempo nicht mehr als eine halbe Stunde ununterbrochen arbeiten. Abgesehen davon, daß ich in punkto Räumung von Kehrichtkästen keine Übung besaß.

Der Bauer sprach fast nichts, aber sein Gemurmel und sein Mienenspiel konnte man in etwa so deuten: »Das ist nicht Ihre Sache, ich werde schon selbst fertig. Stehen Sie mir bloß nicht immer im Wege.« Ich geriet in die unangenehme Rolle eines unnützen Menschen, der verständnislos dreinschaut, wie der andere seine Arbeit macht.

Dann geschah folgendes: Mein Patron schlug die drei Wände eines Kastens ab, und heraus fiel ein Eisklumpen, so an die vier Zentner schwer. Der Klumpen hatte bereits einen Anriß, und der Bauer zerschlug ihn sehr geschickt in zwei fast gleiche Teile. Ich machte den Vorschlag, die beiden Teile, ohne sie weiter zu zerschlagen, direkt auf den Schlitten zu laden, dann brauche man sich mit dem Schaufeln nicht unnötig abzuplagen. Der Bauer lächelte nachsichtig:

»Redet der Mensch von einer Sache, von der er nichts versteht!«

Ich sagte: »Man muß es probieren.«

Der Bauer zuckte die Achseln: »Probieren Sie mal.«

Ich ging in die Hocke, umfaßte den Klumpen, meine Augen quollen hervor, doch war der Klumpen auf den Schlitten gepflanzt – zunächst der eine und dann der andere.

Der Bauer sagte: »Sieh mal an!« und »nu, nu« und fragte dann: »Tragen Sie schon lange die Brille?«

»So dreißig Jahre.«

»Nun ja, dann wollen wir mal rauchen.«

Wir rauchten je eine Selbstgedrehte an und gingen neben dem Schlitten. Sich auf den Schlitten zu setzen war verboten: dafür gab's ein Jahr Zusatzhaft, denn die »Pferdebestände« waren sowieso kaum am Leben; die »Menschenbestände« dagegen interessierten unsere Vorgesetzten nicht.

Es entspann sich die übliche Unterhaltung: wie lange im Lager, Länge der Strafzeit, welcher Paragraph, wer in der Freiheit zurückblieb und so weiter. Aus der Unterhaltung habe ich erfahren, daß der Bauer Akulschin hieß, daß er zehn Jahre für den Widerstand gegen die Kollektivisation bekommen hatte. Allerdings war er nicht allein hereingefallen: das ganze Dorf mit Frauen und Kindern wurde nach Sibirien verbannt, ohne Vieh und Inventar. Er selbst bekam als kleiner Rädelsführer zehn Jahre. Die größeren Rädelsführer wurden an Ort und Stelle erschossen. Irgendwo in Sibirien, unbestimmt wie, lebt seine Familie dahin – die Frau (»meine Frau ist ein wahres Kleinod«) und sechs Kinder im Alter von drei bis fünfundzwanzig Jahren – (»ganz passable Kinder habe ich, Gott sei gedankt«).

»Wo liegt die Stadt Barnaul?«

Ich gab Bescheid.

»Und hinter Barnaul was? Wilde Gegend? Na, wilde Gegend, dann sind die Meinigen – heidi in die Taiga … Hatten schon lange vor, in die Taiga zu verschwinden. – Nun ja, haben's nicht geschafft … Meine Alte hat geschrieben … Wohnt hinter Barnaul …«

Der Bauer verstummte mißtrauisch.

Am anderen Tage machten unsere freundschaftlichen Beziehungen einige Schritte vorwärts. Akulschin erklärte, die Kehrichtkästen solle der Teufel holen: er selbst hätte sich umsonst abgeplagt und umsonst die Klumpen gewälzt – über diesen Kehricht könne doch keine Kontrolle sein. »Wer weiß denn, wieviel es ist?« …

Im Walde warfen wir unsere Ladung ab, setzten uns hin und rauchten. Sprachen über dies und jenes: über den Kunstdünger (»gut ist er, doch gibt es keinen«), über die Japaner (»werden wahrscheinlich Barnaul erreichen – wird eine Freude für unsere Sibirier!«), über Sowchose (»früher klagten die Bauern über den Gutsbesitzer – und jetzt, was geht er uns an – wären froh, selbst am Leben zu bleiben«), dann wieder Barnaul: »Was für Gegend und wie weit zu fahren?« Ich zog mein Notizbuch und zeichnete schematisch: Murmansk-Eisenbahn, Moskau, Ural, sibirische Bahn, Altaj-Strecke … »Tja, weite Fahrt! Hauptsache aber ist Proviant. Doch an Proviant komme ich schon!«

Das Letzte entschlüpfte Akulschin ungewollt. – Ich fühlte, daß er über all das schon viel, viel nachgedacht hatte. Akulschin hob die Schulter, lächelte gekünstelt und sah mich von der Seite an: »So kommt der Tod über die Menschen – denken für sich, denken und dann platzen sie heraus.«

Ich gab mir Mühe, Akulschin zu beruhigen: »Ich platze überhaupt nicht heraus, weder über mich, noch über die anderen …«

»Na, dann gebe es Gott … Zeiten sind heute – ist besser, vor dem eigenen Vater nicht herauszuplatzen … Gesagt ist gesagt … Was soll ich noch Versteck spielen? Meine Familie ist nach der Taiga – hat kein' Sinn für mich, hierzubleiben.«

»Wie werden Sie aber Ihre Familie in der Taiga finden?

»Find' sie schon, gibt ein Mittel, schon alles besprochen.«

»Und wie ist es mit der Flucht, mit Geld und Reiseproviant?«

»Macht nichts, sind ja selber Waldleute, vom Ural; mal gehe ich durch die Wälder, mal hänge ich mich an den Zug.«

»Und Geld und Proviant?«

Akulschin lächelte: »Ich hab doch Hände.«

Ich sah auf seine Hände. Akulschin ballte die Faust, auf der die Muskeln spielten. Ich sagte, daß es nicht so einfach wäre.

»Und doch – ist's ganz einfach! Gibt es so wenig Lumpen? Fahren doch jetzt überall mit Naganrevolvern und Aktentaschen herum. An der Gurgel gepackt und Schluß …«

Unter meinen sehr zahlreichen und sehr verschiedenen Berufen im Sowjetstaat gab es auch folgenden: Ich war Box- und Jiu-Jitsu-Lehrer. Aus einigen sehr wichtigen Gründen habe ich mir eine Kombination aus beiden Systemen ausgedacht. Nachdem aber die Gründe nicht mehr da waren, benutzte ich einen Teil des Ausgedachten »für Zwecke der Nutznießung« – ich erteilte in Kursen den Sowjetkommandeuren und der Miliz Unterricht und schrieb auch ein Buch darüber. Das Buch wurde sofort von der GPU eingezogen, man kam sogar zu mir, nicht, um Haussuchung zu machen, sondern sehr nachdrücklich von mir zu fordern, ich solle sämtliche Verfasserexemplare herausgeben. Ich gab sie her. Fast alle. Ein Exemplar aber, das einen sehr verwickelten Weg hinter sich hatte, holte ich jetzt aus der Tasche. Akulschin wußte nicht, daß zehntausend Exemplare meines unglückseligen Nachschlagewerkes von der GPU und der »Dynamo Sportorganisation der GPU.« ausgenützt wurden, und folglich wußte er auch nicht, daß das Packen an der Gurgel bei weitem nicht so einfach war, wie es ihm schien.

»Ist doch ganz einfach« – wiederholte etwas sorglos Akulschin.

»Dann probieren Sie es mal, und ich zeige Ihnen, was daraus wird.«

Akulschin probierte – es wurde nichts daraus – eine halbe Sekunde später lag er vollkommen hilflos im Schnee. Die nächste Stunde unseres Arbeitstages widmeten wir dem Einstudieren einiger Griffe der edlen Kunst lautloser Liquidierung seines Nächsten in Varianten, die nicht mal in meinem rühmlichen Handbuch enthalten waren. Nach dieser Stunde war ich endgültig müde, während Akulschin noch ganz frisch blieb.

»Guck einer an, was Bildung bedeutet!« – schloß Akulschin ziemlich unerwartet.

»Was hat das mit Bildung zu tun?«

»Na ja, Kraft hab ich, doch keinen Verstand, um diese richtig anzuwenden. Überhaupt, wenn ein Volk ohne gebildete Menschen bleibt, dann ist es wie eine Armee, die an einer Stelle alle Kompanieführer ohne Kompanien und an anderer Stelle alle Soldaten ohne Kompanieführer stehen hat. Schlägt sie jeder, der Luft hat … Unsere Genossen haben's ganz geschickt ausgeklügelt … Die Gebildeten sitzen, als ob sie keine Arme und Beine hätten, und wir – ohne Kopf … Daher kommt man auch zu nichts.« – Akulschin dachte nach und fügte mit Nachdruck hinzu: – »Keine Organisation!«

»Was man hat, wird nicht geschätzt, doch nach dem Verlust beweint man es Ein altes russisches Sprichwort.«, ironisierte ich.

Akulschin tat so, als ob er meine Bemerkung nicht gehört hätte.

»Nehmen wir jetzt unsereinen, den Bauern. Wohl haben die Städter die Revolution angezettelt, aber auch jetzt werden wir ohne die nichts machen können. An Volk mangelt es nicht – schon allein mit Äxten ausgerüstet, hätten wir's geschafft, aber es fehlt an Organisation. Wie viele Aufstände gab's bei uns am Ural – doch vereinzelt und verstreut. Die einen machen Krieg, die anderen wissen von nichts, sitzen und warten. Nachher hat man sie unterdrückt – dann erheben sich die anderen. So geht es schon seit Jahren, und es kommt doch nichts dabei heraus. Ohne richtige Führer leben wir, und das Volk ist durcheinandergewürfelt. Endgültig umkommen werden wir natürlich nicht, aber es ist eine traurige Sache.«

Ich sah auf die mächtigen Schultern Akulschins und auf sein kräftiges, energisches Kinn und stimmte innerlich zu: so einer wird tatsächlich nicht umkommen – doch ihrer sind nicht allzuviel. Akulschins Lebenslauf konnte man sich aus den dürftigen und abgerissenen Sätzen der gestrigen Unterhaltung wie folgt ergänzen: Sein ganzes Leben lang hat er ungefähr so wie gestern mit dem Brecheisen gearbeitet. Durch zielbewußte und vernünftige Arbeit mußte er ein »Kulake« werden – das geschah wahrscheinlich ohne Absicht und Willen. Dann geriet er unter die »Klassenfeinde« und sitzt nun im Lager. Er wird sich aber auch im Lager herauswinden: er ist von gutem Schrot und Korn … Ich entsann mich der Kulaken, die ich seinerzeit in der Gegend von Archangelsk in Swanetien und am Pamir gesehen hatte; es waren Ausgewiesene, Verbannte und aufs Geratewohl Geflohene. Nach Archangelsk kamen sie buchstäblich in dem, was sie anhatten: in Scharen wurden sie aus den GPU-Transportzügen ausgeladen und in alle vier Windrichtungen freigelassen. Die Kinder und die Alten starben bald aus, die Erwachsenen klammerten sich mit eisernem Griff ans Leben und an die Arbeit … und dann nach ein, zwei Jahren waren sie auf unergründliche Weise wieder Kulaken. – Der eine als der Fuhrunternehmer, der andere als Fischer, der dritte sogar als Gründer einer Genossenschaft für Holzarbeiten – und siehe da, wieder hat er hohe blanke Stiefel und einen wohlgepflegten Vollbart … bis zur nächsten Entkulakisierung.

In Kirgisien, weit im Hinterland, befassen sich die »Kulaken«, die man alle absichtlich in ein ganz und gar unfruchtbares Gebiet verbannt hatte, mit allerhand rätselhaftem Gewerbe – mit Bleierzgewinnung aus den geheimnisvollen Erzquellen im Gebirge, mit Fang und Räucherung von in den Gebirgsflüssen lebenden Forellen, mit primitiver Jagd durch Auslegen von Schlingen und sonstigen vorsintflutlichen Fanggeräten. Sie leben in den unbeschreiblichen Lauben und bringen es fertig, sogar mit den Basmatschi Ein sehr räuberisches und gegen Sowjetrussen stets feindlich gesinntes Nomadenvölkchen mongolischer Rasse. im Frieden zu bleiben.

In Swanetien wirken sie noch organisierter: Sie haben sich in Genossenschaften zusammengetan und richten Holzverwertungsstellen für teure zum Export bestimmte Hölzer (wie zum Beispiel Buchsbaum) ein, handeln mit der Sowjetmacht in Form des »Warenaustausches«, haben sogar eigene Maschinengewehrkommandos. Die Sowjetmacht nimmt das Edelholz an, gibt dafür die Waren, zieht es aber vor, im Gebirge nicht zu erscheinen und tut so, als ob alles in Ordnung wäre. Das habe ich selbst mit angesehen. Meine Freunde – Teilnehmer zahlreicher geographischer, geologischer, botanischer und sonstiger Expeditionen erzählten mir noch viel interessantere Dinge. Ähnliche Expeditionen haben sich gegenwärtig unglaublich vermehrt. Für deren Teilnehmer ist das die beste Art, sich von dem Sowjetleben zu erholen. Für die Regierung ist es eine »tiefe Aufklärung« der Wildnisse des Landes. Für das Land ist es eine Berechnung der »stillen Reserven«, auf denen die künftige Wirtschaft des Landes wachsen wird. Diese Reserven sind ungeheuer. Man erzählte mir von ganzen Dörfern, die in der Taiga, mit besonderen Wachtpunkten umgeben, verborgen liegen. Die Wachtpunkte signalisieren jedes Herannahen von bewaffneten Abteilungen – und das Dorf verschwindet in der Taiga. Die bewaffnete Abteilung findet leere Hütten und kommt sehr selten lebendig heraus. In diesen Dörfern gibt es amerikanische Grammophone, japanische Gewehre und japanische Manufaktur.

Allem Anschein nach hat sich auch die Familie Akulschins in ein solches Dorf geflüchtet. In diesem Falle hat es für ihn selbstverständlich keinen Sinn, hier im Lager zu stecken. Bei der nächsten Gelegenheit wird er einen Tschekisten an der Gurgel packen, ihm das Gewehr abnehmen und, den Onega-See umgehend, nach Osten zum Ural wandern. Ich würde sicherlich nicht durchkommen, aber Akulschin kommt wahrscheinlich durch. Im Wald ist er zu Hause. Er wird dort Nahrung finden, wo ich wahrscheinlich verhungern würde, er wird unbehelligt eine Gegend passieren, wo ich mich hoffnungslos verloren und verlaufen hätte. Durch meinen Jiu-Jitsu-Unterricht bin ich jetzt wahrscheinlich Komplice in der Mordsache eines unvorsichtigen Tschekisten geworden; denn es ist wohl kaum anzunehmen, daß der Tschekist sich aus dem eisernen Griff Akulschins lebend befreit. Doch interessiert mich das Leben dieses Tschekisten in keiner Weise. Ich selbst müßte eigentlich zur Vervollständigung der Fluchtausrüstung an Waffen denken. Akulschin aber ist einer von den meinigen, mein Volks- und Unglücksgenosse. Nein, das Leben des Tschekisten interessiert mich nicht.

Akulschin erhob sich schwerfällig:

»Na, bis das gute Leben kommt, gehen wir Sch… fahren.« – Ja, das »gute Leben« ist noch weit.

 

»Der Klassenkampf«

Eines Tages luden Akulschin und ich unsere »Beute« in einem Walde ab, etwa zwei Kilometer von Medgora entfernt. Schon die ganzen Tage vorher blies ein schwerer, frostiger Nordost, der heute zu einem orkanartigen Sturm wuchs. Die Kiefern beugten sich und knarrten, Wolken von Schneestaub verschütteten den Wald und die Wege. Akulschin trieb zur Eile. Gerade waren wir mit dem Abladen fertig, als über den Wald, auf uns zukommend, ein tiefes und beunruhigendes Dröhnen ging: der Schneesturm kam. In wenigen Minuten verschwanden Wald und Weg in der weißen Finsternis. Fast tastend, ganz vornübergebeugt, begannen wir uns in Richtung Medgora durchzuarbeiten. An ungeschützten Stellen warf uns der Wind beinahe um. Auf zehn Schritt war nichts mehr zu sehen. Ohne Akulschin hätte ich mich bestimmt verlaufen und wäre erfroren. Er ging aber ganz sicher, am Zaumzeug das ängstlich schnaufende und sich sträubende Pferdchen, bald mit dem Fuß den Weg abtastend, bald sich orientierend nach seiner besonderen, mir unbekannten Waldwitterung.

Fast eine Stunde brauchten wir bis Medgora. Ich war völlig durchfroren. Akulschin schaute sich immer nach mir um und ermahnte mich fortwährend, die Ohren zu reiben. Er redete mir sogar zu, mich auf den Schlitten zu setzen: bei solchem Sturm wird sowieso niemand was merken; doch ich fühlte, wenn ich mich setze, erfriere ich endgültig.

Endlich stießen wir an das steile Ufer des Flüßchens Kumsa, das um das Verwaltungsstädtchen herumfloß. Von hier aus waren es noch vier Kilometer bis zum Unterlager 3. An weitere Arbeit war gar nicht zu denken … Die vier Kilometer werde ich aber kaum zurücklegen können.

Ich schlug deshalb vor, in die Monteurstube einzukehren. Akulschin weigerte sich erst: »Wo soll das Pferd hin?« Doch stand neben der Monteurstube ein leerer Brennholzschuppen, dort konnte man das Pferd unterstellen. So fuhren wir bei der Monteurstube vor.

»Gehen Sie nicht ohne mich hinein, warten Sie, bis ich das Pferd untergebracht habe … Als Unbekannter schickt es sich nicht, allein zu kommen.«

Ich wartete. Akulschin spannte sein Pferdchen aus, stellte es in dem Schuppen unter, rieb es sorgfältig mit einem Heuwisch ab und deckte es mit etwas Zerlumptem zu; ich stand dabei, fror immer mehr und ärgerte mich über Akulschin und über sein umständliches Hantieren. Das Pferdchen schnappte zärtlich nach seinem schmutzigen und zerrissenen Ärmel. Akulschin legte ihm das Heu vor. Ich fügte mich in mein Schicksal und dachte daran, daß für ihn diese Lagerschindmähre nicht »lebendiges Inventar«, nicht einfach eine »Zugkraft« ist, sondern ein Lebewesen, eine Helferin in seinem arbeitsamen Bauernleben … Wie soll er da kein Kulake werden? Wie soll er nicht einem beliebigen Sowchos, Kolchos und den übrigen Unternehmen sozialistischer Art ein Dorn im Auge werden?

In der Monteurstube entdeckte ich zu meinem Erstaunen Georg – er war aus dem Technikum ausgerissen, wo er zuletzt sich als Zimmermann betätigte. Neben ihm saß Pigoliza, und es schwirrten die Worte Tangente und Kotangente durch die Luft. Akulschin begrüßte würdevoll Georg und Pigoliza, bat um Erlaubnis, sich zu wärmen und begab sich dann zum Ofen. Ich putzte meine Brille, setzte sie wieder auf und stellte fest, daß außer Georg und Pigoliza sonst niemand in der Stube war. Pigoliza begann etwas genierlich seine Papiere auf dem Tisch zusammenzukramen. Doch sagte Georg:

»Warte mal, Sascha, laß liegen. Wir werden jetzt die alte Generation mobilisieren. Hör mal, Wa, wir sind hier bei der Trigonometrie, wir brauchen deinen Rat.«

Doch konnte man auf meinen Rat nicht viel geben. Innerhalb des Vierteljahrhunderts, das nach meiner Reifeprüfung schon vergangen ist, hatte ich nicht ein einziges Mal nötig, mich mit der Trigonometrie zu befassen, und die Tangenten haben sich in meinem Kopf nicht mehr zu Hause gefühlt: die Zeit war auch danach. Georg nun hat Mathematik auf einer deutschen Schule und in deutschen Bezeichnungen studiert. Deshalb verstanden sich die beiden sehr schwer. Mit Ach und Krach konnten wir es schließlich doch zusammenbringen. Pigoliza bedankte sich bei mir:

»Georg ist sozusagen mein Mathematikchef geworden«, erklärte er etwas schüchtern. »Unsere Alten, die ochsen ja auch wohl, verstehen selbst aber nicht viel.«

Akulschin wandte sich vom Ofen uns zu:

»Das nenne ich brav, Jungens – trotz Lager an das Lernen zu denken. Bildung ist eine große Sache, sehr groß. Mit Bildung kommt man durch dick und dünn.« – Ich dachte hierbei an Awdejeff und brachte meine Zweifel zum Ausdruck. Doch unterbrach mich Georg:

»Bitte stört uns einstweilen nicht, denn Sascha hat nicht mehr viel Zeit.«

Akulschin wandte sich wieder seinem Ofen zu, während ich mir auf dem Bücherbrett zu schaffen machte. Hier standen mehrere populäre Handbücher für Elektrotechnik und Mathematik, ein dicker Band Widerstandslehre, ein halbes Dutzend unaufgeschnittener Broschüren des Fünfjahresplans, »Zement« von Gladkow, zwei Bände »Krieg und Frieden« von Tolstoi, Fragmente des zweiten Bandes der »Brüder Karamasoff« von Dostojewski, eine Wirtschaftsgeographie Rußlands und »Fregatte Pallas« von Gontscharow. Ich nahm selbstverständlich »Fregatte Pallas«. Gemütlich reiste und gemütlich schrieb der Alte. Nach allen Lebens- und Meereswogen blieb bei ihm immer eines: Rußland; in Rußland Petersburg, in Petersburg das Haus, all das fest und ordentlich und all das sein eigen. Eigener Herd – persönlich und national, an den er im beliebigen Augenblick seines Lebens zurückkehren konnte. Und wohin können wir Russen von heute zurückkehren, die wir diesseits und jenseits der »geschichtlichen Grenze zwischen zwei Welten« leben? Obdachlos sind wir hier wie dort – nur daß dort diese Empfindung der Obdachlosigkeit unvergleichlich schärfer ist … Hier habe ich auch kein Vaterland, doch habe ich hier wenigstens die Empfindung eines »zu Hause«, aus dem mich, wenn ich nicht stehle und nicht morde, niemand in die Einzelzelle oder ins Jenseits befördern wird. Dort gibt es kein Vaterland und kein Zuhause. Dort gibt es nur ein Hasendasein. – Den ganzen lieben Tag in Ängsten, des Nachts wie ein Hase unter einem Strauch oder in einem Erdloch eingekuschelt und die Löffel gespitzt: daß man nur niemanden »mobilisiert«, nicht festsetzt, nicht verhungern läßt, entweder mich oder meine Angehörigen. Daß man uns die Wohnfläche nicht nimmt, die Lagerstätte, daß man Georg nicht auf die Getreideaufbereitungen vor die »Kulakenkarabiner Eine versteckbare Waffe der Kulaken, die aus einem Militärgewehr verfertigt wird, indem man den Lauf um ein Stück abschnitt.« schickt, oder Boris für seine geheimen Jugendsportorganisationen nicht erschießt, oder meine Frau auf die Kulturarbeit unter die Sowjetbergleute auf die Insel Spitzbergen kommandiert, oder mir selbst nicht ein »Schädlingstum«, »Konterrevolution« oder etwas Ähnliches aufbindet. Ein Beispiel: Meine Frau war als Dolmetscherin einer ausländischen Arbeiterdelegation beigeordnet. Sie reiste mit und dolmetschte – selbstverständlich unter scharfer Kontrolle. Die Delegation hielt Reden, dann fuhr sie wieder fort, und es stellte sich heraus, daß in ihr ein Mann war, der Russisch verstand. In sein Vaterland zurückgekehrt, berichtete er über die Art, wie meine Frau gewisse Dinge übersetzt habe … Sie wurde zur zuständigen Stelle befohlen, verhört, ausgefragt, dann sagte man: »So – so, hm, wir werden sehen …« Es gab mehrere ungemütliche Wochen. Richtige Hasenwochen … Ja, das Reisen und das Leben war für Gontscharow unvergleichlich gemütlicher. Eben deshalb ist wahrscheinlich »Fregatte Pallas« so abgegriffen und abgenutzt. Manche Seiten sind sogar verschwunden. Was nützt's? … Ich verkroch mich auf eine leere Pritsche und lächelte in mich hinein ob meiner schon gewohnten Gedanken über die Unbeständigkeit der Statistik.

Zur Zeit meiner Beschäftigung im CK SSTS Zentralkomitee des Berufsverbandes der Angestellten. leitete ich, wie bereits erwähnt, das Sportwesen. Den Sport kenne und liebe ich. Plötzlich drängte man mir das Schachspiel auf, das ich nicht liebe und nicht ausstehen kann – nun ja, ich leitete die Schachabteilung. Danach, als der einzige Mann mit Hochschulbildung beim CK, bekam ich die Leitung der Büchereien: etwa siebenhundert ständige und zweitausend Wanderbüchereien. Ich kannte das Fach zwar nicht, doch war es sehr interessant. Unter anderem führten wir Statistik über die Beliebtheit verschiedener Autoren.

Jede Sowjetstatistik ist eine in Zahlen ausgedrückte Lebenserscheinung, doch bis zur völligen Unkenntlichkeit durch verschiedene »Zusatzaufgaben« entstellt. Manchmal kann man die Erscheinung unter diesen Aufgaben noch hervorholen, manchmal ist sie aber endgültig verschüttet. Unsere offizielle Statistik ergab, daß an erster Stelle die politische Literatur stand, an zweiter – die angelsächsischen Autoren, an dritter – Tolstoi und Gorki, dann kamen die Sowjetautoren und nach ihnen die übrigen russischen Klassiker. Ich begann, für meinen eigenen Gebrauch die Statistik von allen »Zusatzaufgaben« zu säubern, doch blieb trotzdem eine große Lücke zwischen dem, was ich im Leben beobachtete, und dem, was die von mir bereinigten Zahlen zeigten. Später, nach Rücksprache mit den Bibliothekarinnen und nach eigenen reiflichen Überlegungen war das Geheimnis mehr oder minder gelüftet: Der Sowjetleser, der aus der Bibliothek einen Band Dostojewski oder Gontscharow entleiht, hat fast keine Aussicht, diesen Band zurückzubringen. Das sah ich jedenfalls bei mir, und ich war erst der Ansicht, daß dies eine individuelle Erscheinung sei. – Es kommt eine Maria Iwanowna und sieht auf meinem Tisch, sagen wir, die »Brüder Karamasoff« liegen:

»Ach, lieber Iwan Lukjanowitsch, nur für zwei Tage, bei Gott, nur für zwei Tage, Sie haben sowieso keine Zeit zum Lesen … Was glauben Sie denn, ich bin doch ein kultivierter Mensch! Übermorgen abend bringe ich es unbedingt wieder.«

Nach etwa fünf Tagen gehe ich zu Maria Iwanowna.

»Sie müssen schon entschuldigen, Iwan Lukjanowitsch, vor ein paar Tagen war Wanja Iwanow hier … Er hat sehr gebettelt … Wissen Sie, ich konnte es schlecht abschlagen; unsere Jugend kennt so wenig von den Klassikern … Nein, nein. Sie brauchen keine Sorge zu haben, er wird es bestimmt zurückgeben, oder ich gehe selbst hin und hole es ab.«

Nach einer Woche gehe ich zu Wanja Iwanow. Wanja empfängt mich etwas geräuschvoll:

»Ich weiß schon, Sie kommen wegen Dostojewski … Jawohl, schon ausgelesen … Glänzend geschrieben … Die alten Knaben verstanden doch gut zu schreiben … Sagen Sie mir aber, warum dieser Alte …«

Als es mir nach einer längeren literarischen Diskussion gelingt, zum Schicksal des Buches zurückzukehren, stellt sich heraus, daß er das Buch nicht mehr hat: es liest irgendeine Sonja.

»Ach was, bin ich etwa ein Burschui, um dem Mädel das Buch vorzuenthalten? Sie frißt es doch nicht auf. Bücher find dazu da, um gelesen zu werden … In der Bücherei? So sehen Sie aus – kann man denn dort etwas Gescheites bekommen? Nitschewo, sie liest es aus und wird es wiederbringen, oder ich bringe es Ihnen selbst.«

Also, ich gehe reumütig in die Bücherei, bezahle drei Rubel Strafe, das Buch verschwindet aus dem Katalog und wandert intensiv von Hand zu Hand. Nach einem Jahr landet das entliehene Buch irgendwo in dem Hafen von Igar oder auf den Baumwollfeldern von Turkestan. Ich aber, noch weniger die Bibliothek werden diesen Band jemals wiedersehen … Und keine Statistik wird diese Beliebtheit erfassen können.

So existieren mehr oder minder friedlich nebeneinander im Sowjetlande zwei Systeme der geistigen Nahrung für die Masse: auf der einen Seite ein weitgespanntes Netz von Berufsverbandbibliotheken, in dem besonders gedrillte und für die Steigerung der Anfragen nach Sowjetbüchern verantwortliche Bibliothekarinnen irgendeinen Fabrikburschen einzufangen versuchen:

»Haben Sie ›Hydrozentralen‹ gelesen? Nicht? Dann müssen Sie es unbedingt nehmen! Ein ausgezeichnetes Buch, ein ganz hervorragendes Buch!«

Auf der anderen Seite die Klassiker, die man einem aus den Händen reißt, denen gegenüber sich die Macht zwar sehr nachsichtig verhält, die aber nicht neu verlegt werden: Papiermangel. In der letzten Zeit ist Saltykow in Ungnade gefallen: seine Satiren wären heute durchaus für ein zeitgemäßes Feuilleton zu gebrauchen.

Weiter eine ganze Reihe von Sowjetschriftstellern, die gleichzeitig existieren und nicht existieren. – Aus vielen Büchereien hat man manches wieder entnommen und unter Verbot gestellt. Es ist natürlich notwendig, eigene Lyrik und eigene Satire zu haben; denn wo bleibt sonst das »goldene Zeitalter der Stalinschen Literatur«? Doch besser ist es, den Massen diese nicht zugänglich zu machen.

Schließlich die illegale Literatur, die von Hand zu Hand, auf Hektographenbogen abgezogen, wandert; das sind noch fast niemandem bekannte künftige Klassiker, die »für die Seele« Hunderte von Druckbogen schreiben und vertreiben. Viele, darunter ich selbst, machen es so: Mit der einen Hand (der rechten) schreiben sie für die Seele und mit der anderen Hand (der linken) für »unser Brot«, das, o weh, immer »täglich« nötig ist … Illegale Leserkreise legen trotz des Risikos, in »die weit entlegenen Orte« zu geraten, je drei Rubel zusammen, spüren allem nach und kaufen, was nicht den offiziellen Stempel hat und verboten ist.

Eine klare und bestimmte Stellung nimmt die politische Literatur ein. Sie wird in Millionenauflagen gedruckt und liegt dann brach in den riesigen Provinzbüchereien, waggonweise (buchstäblich waggonweise) unaufgeschnitten, als Papiermakulatur und richtet die Etats der Büchereien zugrunde.

Und wie ist es mit der Statistik?

Mit der Statistik ist es so:

Jede Bibliothekarin ist dienstlich daran interessiert, den höchsten Prozentsatz der Benutzung politischer und sowjetistischer Literatur zu erreichen. Jeder Instruktor des Zentralkomitees ist daran interessiert, seinen Behörden die Bücherei so zu zeigen, wie sie den Sowjetvorschriften am meisten entspricht. Jeder Berufsverband hat wiederum Interesse daran, dem Zentralkomitee der Partei zu zeigen, daß bei ihm die Kulturbildungsarbeit »nach Stalins Art« organisiert ist und gedeiht.

Folglich: die Bibliothekarin lügt, der Instruktor lügt, und der Berufsverband lügt. Es lügen noch viele andere zwischeninstanzliche Stellen. Instruktor wie Bibliothekarin, Zentralkomitee und Zwischeninstanzen wissen das sehr genau voneinander, es herrscht ein unausgesprochenes, aber völliges Einvernehmen … Und als Endergebnis erscheint die »Statistik«. Nach genau dem gleichen Schema erhält man die Statistiken über die Aussaat in den Kolchosen, über die Kohleförderung, die Instandsetzung der Traktoren und so weiter … Nein, die Statistik bleibe mir vom Leibe! Auf den Leim gehe ich nicht.

 

Vor allem – das Lernen

Von Gontscharow brachte Georg mich ab; wieder war meine mathematische Einmischung nötig. Gemeinsam machten wir uns an die Arbeit. Es erwies sich, daß Pigoliza über die Trigonometrie herfiel, obwohl er nur sehr unklare Vorstellungen von Algebra und Geometrie hatte – Tangenten stolperten über Logarithmen, Logarithmen über Potenzen, und es war überhaupt unerklärlich, warum das gute alte russische Ch fremdklingend x genannt wird. Manche Formeln waren auswendig geochst, doch gab es zwischen ihnen Lücken, wodurch die logische Verbundenheit zwischen dem Vorangegangenen und dem Nachfolgenden unterbrochen wurde – was man in der Sowjetsprache »absolute Zusammenhanglosigkeit« nennt. Also versuchten wir den Zusammenhang zu bekommen. Bei diesem Anlaß überzeugte ich mich mit Genugtuung, daß, obwohl ich meine Gymnasialmathematik gründlich vergessen hatte, ich doch die Möglichkeit besaß, auf dem Wege der Logik viel, fast alles wieder aufzufrischen. Zur Erbauung Pigolizas und auch Georgs sagte ich einige eindringliche Worte über die Notwendigkeit eines systematischen Lernens. Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich mich mit Trigonometrie beschäftigt und bin niemals darauf zurückgekommen, doch heute ist es wieder frisch. Meine Worte reizten Pigoliza:

»Was erzählen Sie mir davon, als ob ich es selbst nicht weiß. Sie haben's gut gehabt beim Lernen – nirgends hat man Sie hingetrieben. Sie saßen da und büffelten; aber hier wird man umhergejagt – Werksarbeit, Komsomolarbeit, Berufsverband, Samstagnachmittage … Zum Lernen muß man sich die Zeit stehlen … Du hast gerade einen Monat Unterricht, da jagt man dich auf ein Dorf – und du mußt wieder von neuem beginnen … Dazu nichts zu fressen. Nein, von wegen dem alten Regime – das lassen Sie man sein.«

Ich antwortete, daß ich mein Brot seit dem fünfzehnten Lebensjahr selbst verdiente, mich allein auf die Reifeprüfung vorbereitete, auf der Universität für selbstverdientes Geld studierte, und daß es solcher noch viele gab. Pigoliza nahm diese Mitteilung mit unverhohlenem Mißtrauen auf:

»Das alte Regime ist nicht mehr da, so kann man darüber alles mögliche sagen. Den regierenden Klassen ging es natürlich nicht schlecht, darüber sage ich auch nichts; aber das Arbeitervolk …«

Akulschin hüstelte grämlich:

»Das Arbeitervolk«, sagte er, ohne den Blick vom Feuer abzuwenden, »das Arbeitervolk saß nicht in Lagern und brauchte nicht vor Hunger zu krepieren … hatte freie Bahn – geh, wohin du willst, zum Werk oder zur Universität.«

»Willst du mir etwa sagen, daß ein Bauernbursche auf die Universität gehen konnte?«

»Jawohl, behaupte ich. Und noch mehr will ich sagen. – Wo soll jetzt der Bauernjunge hin, wo er nichts zu essen hat? In den Kolchos?«

»Warum auch nicht?«

»Um von solchen wie du kommandiert zu werden?« fragte Akulschin verächtlich und, ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort, über das zu sprechen, was ihn schon lange schmerzte. »Auf Narren stützt sich die Macht; Dummköpfe, Faulenzer, Nichtsnutze, Säufer, ja Verbrecher hat man zusammengetrommelt, und nun kommandieren sie. Fünfzehn Jahre lang kommen wir aus der Hungersnot nicht heraus.«

»Aus der Hungersnot? Denkst du, daß der städtische Arbeiter nicht hungert? Und wer hat diese Hungersnot verursacht? Diese Lumpen, sie sabotieren, schlachten das Vieh ab, diese verfluchten Kulaken …«

»Was? Kulaken?« – Der Schnurrbart Akulschins sträubte sich. »Kulaken? Kulaken haben Rußland ruiniert? Wie? Kulaken und nicht Genossen mit ihren Revolvern und Lagern? Kulaken? Ach, du rotznasiger Hundesohn!«

Akulschin stockte, er fand keine Worte zum Ausdruck seiner Wut … »Hundesohn, du erbärmlicher, Vorgeschobener!«

Den Vorgeschobenen konnte Pigoliza nicht ausstehen:

»Sie, Väterchen«, sagte er mit eisiger Stimme, »wenn Sie sich wärmen gekommen sind, dann wärmen Sie sich, sonst … Für den Vorgeschobenen kann man auch einen in die Schnauze kriegen.«

Akulschin erhob sich schwerfällig von seinem Schemel:

»Du, mir … in die Schnauze?«

Er trat einen Schritt vor, Pigoliza sprang auf. Im Gesicht Akulschins stand ein unstillbarer Haß gegen alle Aktivisten, und in Pigoliza ahnte er, nicht ohne einigen Grund, etwas Aktivistisches. Durch das Wort »Vorgeschobener« wurde Pigoliza aus seinem ohnehin ziemlich labilen und gereizten Gleichgewicht gebracht. »Vorgeschobener« klingt im inoffiziellen Rußland als etwas besonders Höhnisches und übertrifft seiner Stärke nach die unflätigsten Schimpfworte. Eine Schlägerei schien im Anzug. Georg sprang auf.

»Laß doch sein!« hub er an. Doch war der Augenblick für Friedensverhandlungen nicht mehr geeignet. Akulschin schob Georg höflich zur Seite, sah Pigoliza mit gesenktem Kopf sprungbereit an und packte ihn plötzlich an der Gurgel. Ich verwünschte den neulichen Jiu-Jitsu-Unterricht und stürzte mich als Friedensstifter dazwischen. In diesem Augenblick aber ging die Tür der Monteurstube auf, und wie ein deus ex machina erschien Lentschik und hinter ihm Sereda. Lentschik reagierte ganz eigenartig auf dieses Ereignis.

»Hurra«, brüllte er, »'ne Balgerei? Arbeiter- und Bauerngemeinschaft? Das habe ich gern … Gib ihm eins auf den Hintern … Zeig's ihm, Väterchen …«

Sereda verhielt sich dem Ganzen weniger schaulustig gegenüber:

»Eh, Bauer, wenn du in fremdem Hause bist, dann bändige mal deine Arme, laß die Hand los! Was geht hier vor?«

In diesem Augenblick hatte ich bereits Akulschin höflich um die Taille gefaßt. Akulschin senkte die Hand, stand schwer schnaufend da, wandte aber seinen haßerfüllten Blick von Pigoliza nicht ab. Auch Pigoliza rang mit vor Wut verzerrtem Gesicht nach Atem.

»So–o–o«, sagte er drohend. »Eine ganze Bande seid ihr also!«

»Eine ganze Bande«, davon konnte selbstverständlich nicht die Rede sein – im Gegenteil, wir waren alle bereit, Pigoliza in Schutz zu nehmen. Doch verstand er unter Bande offensichtlich die ganze »alte Welt«, die zu zerstören er sich berufen fühlte; dazu noch befand er sich in einem kaum zurechnungsfähigen Zustand.

»So–o–o«, wiederholte er, »nach dem alten Regime wirkt ihr …«

»Bei dem alten Regime, mein liebes Vögelchen Pigoliza«, plapperte Lentschik dazwischen, »säßest du in keinem Lager, doch hätte der achtbare Selige, das heißt dein Papachen, dich einfach übers Knie gelegt und dir eine gebührende Portion draufgegeben.«

Das gab Pigoliza den Rest, er verstummte, stürzte zum Werkzeugbrett und packte einen Meißel:

»Ach so, übers Knie, ich werde euch zeigen, übers Knie!«

Georg schob sich zwischen ihn und das Wandbrett, er faßte Pigoliza freundschaftlich um die Schulter:

»Laß doch sein, Sascha, siehst du denn nicht, daß die Burschen dich einfach aufziehen wollen?«

»Aha, aufziehen, ich werde ihnen das Aufziehen zeigen.«

Sereda und ich stürzten Georg zu Hilfe.

»Aufziehen … Übergenug habe ich vom Aufziehen … Jeder Lump reibt mir unter die Nase: Dummkopf, Vorgeschobener, Plünderer … Habe ich dich ausgeplündert?« wandte er sich wütend Akulschin zu.

»Etwa nicht?«

»Hör mal, Sascha« – etwas ungeschickt mischte sich Georg ein –, »du hast doch tatsächlich geplündert. Bist doch auf die Getreideaufbereitungen gefahren?«

Jetzt entlud sich die Wut Pigolizas auf Georg:

»Du – auch … Ach, du Lump, wenn du geschickt wirst, fährst du dann etwa nicht? Für wessen Geld hast du in Berlin studiert? Etwa nicht für das Geld, das durch meine Getreideplünderung einkam?«

Die Bemerkung Pigolizas könnte im wörtlichen Sinne richtig sein, im übertragenen war sie völlig richtig. Georg war beschämt:

»Ich spreche nicht von mir. Doch wird es für Akulschin nicht leichter, ob du aus freien Stücken oder aus Zwang gehandelt hast!«

»Haltet mal, Kerls«, sagte Sereda streng, »und du, Väterchen, hör zu: ich kenne dich. Hast du in der dritten Zimmermannsbrigade gearbeitet?«

»Und wenn?« Etwas mißtrauisch kam die Antwort.

»Hast du das neue Gebäude des Strafisolators mitgebaut?«

»Nun ja.«

»Warst dazu gezwungen?«

»Bin ich hier aus freiem Willen?«

»Wo liegt denn da der Unterschied? Diesen Jungen zwang man, dich zu plündern, und dich zwang man, das Gefängnis mitzubauen, in dem dieser Junge vielleicht sitzen wird. Sitzen wir hier etwa alle aus freiem Willen? – Pfui«, spuckte Sereda wütend aus, »hol euch der Teufel, Hundesöhne … Siebzehn Jahre lang hetzt man die Bauern auf die Pigolizas, und ebenso lange zwingt man die Pigolizas, die Bauern auszuplündern! Nun fehlt es gerade noch, daß ihr, um das Maß vollzumachen, euch gegenseitig an der Gurgel packt, und dazu noch aus freien Stücken. Seid ihr ein gescheites Volk, Gott vergebe mir! Statt dahinterzukommen, wer und womit man euch schlägt, habt ihr nichts Gescheiteres zu tun, als euch gegenseitig zu verprügeln … Und du, Bauer, du solltest dich schämen, ein alter Muschik bist du und müßtest es längst verstanden haben.«

»Schon lange«, antwortete Akulschin düster.

»Warum hast du dann Pigoliza gepackt?«

»Und du, hast du gesehen, was deine Pigolizas auf den Dörfern machen?«

»Hab ich. War das etwa freiwillig?«

»Halt, ihr Kerls«, schwatzte Lentschik wieder dazwischen, »nicht freiwillig pickt der Spatz den Pferdeapfel. Natürlich, wenn es eine Balgerei aus gutem Herzen gibt, warum soll man dann nicht ein paar Püffe austauschen – doch hat es keinen Sinn, sich ernstlich anzufallen.«

Inzwischen sprach Georg eindringlich auf Pigoliza ein.

»Nun, dann hol sie der Teufel«, sagte Pigoliza plötzlich. »Selbst angezettelt haben sie alles, die Lumpen, und nun reiben sie mir's unter die Nase. Habe ich die Revolution angefangen? Habe ich die Sowjets eingerichtet? Und jetzt, wo ihr alles eingebrockt habt, wo soll ich leben? Kann ich nach Amerika fahren? Der hat's gut« – Pigoliza nickte in Georgs Richtung –, »er kennt allerhand Sprachen; aber wohin soll ich? Wenn man all euren Erzählungen über das alte Regime Glauben schenkt, dann kommt's raus – toll seid ihr vom guten Leben geworden, nur die Revolution hat euch gefehlt! Und ich muß für ein Stück Brot aus dem Verteilungsmagazin wie ein Gaul schuften. Um zu lernen, muß ich meine letzte Gesundheit hergeben.« In der Stimme Pigolizas wurde ein hysterischer Unterton hörbar. »Warum packst du Lump mich an der Gurgel?« wandte er sich an Akulschin. »Warum drückst du mir die Kehle zu? Du Hundesohn bist doch nicht mit rationiertem Brot aufgewachsen, da bin ich für dich wie eine Fliege – zugeschlagen und fertig … Wohlan, schlag zu, was stehst du da, schlag zu!« – Pigoliza begann, krampfhaft den Kragen seines Buschlats aufzureißen, der nicht mit Knöpfen, sondern wie üblich mit Bindfäden zugehalten wurde. »Schlagt mich, würgt mich, dafür daß ich Dummkopf ein Vorgeschobener bin, daß ich keine Kräfte habe, bitte, schlagt zu …«

Georg faßte Pigoliza wieder freundschaftlich unter und redete ihm etwas Sinnloses vor: etwa, laß doch, Sascha, der Satan soll alles holen, die verstehen doch nicht, was Spaß ist – und so fort.

Sereda wandte sich düster an Akulschin:

»Und du, Bauer, solltest eigentlich daran denken, daß es vielleicht auch deinem Sohne irgendwo so geht … Du hast wenigstens eine Jugend gehabt, und diese? Was haben die gesehen? Läuft man etwa vom guten Leben weg zur Getreideaufbereitung? Bist du denn so gewesen mit zwanzig Jahren? Saßest du im Lager? Helfen muß man dem Burschen und nicht an der Gurgel packen.«

»Helfen?« lächelte Pigoliza verächtlich. »Helfen? Viel habt ihr mir hier geholfen!«

»Reg' dich nicht auf, Sascha … Sicher taten wir manchmal zu viel des Guten, doch immerhin hat dich Muchin aufgegabelt, und du lebst jetzt nicht in der Baracke, sondern in unserer Stube, wir bringen dir das Handwerk bei, hier – Georg studiert mit dir Mathematik, und da – Genosse Solonewitsch erzählt von den Dichtern … War das keine Hilfe?«

»Brauche solche Hilfe nicht.« – Finster, doch schon bedeutend ruhiger sagte das Pigoliza.

Akulschin griff plötzlich nach seiner Mütze und ging zur Tür:

»Hier gibt es nur eine Hilfe – die Axt gepackt und in den Wald!«

»Halt, Väterchen, wohin?« sprang Lentschik auf, doch war Akulschin schon draußen. »Ist das ein blödes Volk, bei dem Sturm, mein Gott!« Lentschik stülpte seine Mütze auf und stürzte davon. Wir blieben zu viert. Pigoliza ließ sich erschöpft auf die Bank nieder:

»Quatsch ist alles … Wo soll man hier auch hin? … So und so verloren. Lernst du nicht – krepierst du vor Hunger, lernst du – dann reicht die Gesundheit nicht aus … Hier bleibt nur das eine: statt sich nach Altem umzuschauen – ist es besser, vorwärtszusehen – vielleicht wird was draus. Der Fünfjahresplan …«

Pigoliza stockte: vom Fünfjahresplan sollte man eigentlich nicht sprechen …

»Irgendwie krabbeln wir uns schon rauf«, sagte Georg optimistisch.

»Du ja. Du hast es auch ganz anders. Du hast Bildung, bist gesund, hast einen Vater … Für mich, Bruder, ist es schon schwieriger.«

»Du sollst dich auch nicht immer sträuben, wenn die erfahrenen Menschen dir etwas sagen. Brauchst dich mit deinem Kommunismus nicht zu verkriechen. Man muß sich durchschlagen«, sagte Sereda.

Pigoliza heftete seinen Blick auf ihn:

»Durchschlagen, und wohin meinen Sie, soll ich mich durchschlagen?« Pigoliza wandte sich mir zu und wiederholte seine Frage:

»Wohin nun?«

Mit bisher nie dagewesener Schärfe stellte ich mir das Leben Pigolizas vor. – Für ihn war das Sowjetregime mit seinem ganzen Zierrat die einzige bekannte Umwelt. Eine andere kannte er nicht. Georgs Erzählungen über Deutschland, wo er von 1927 bis 1930 studierte, hinterließen in ihm nur einen Wirrwarr von Gedanken, einen Wirrwarr, von dem er sich instinktiv auf die einfachste Weise befreien wollte – durch Ablehnung. Für ihn ist das Sowjetregime eine geschichtliche Gegebenheit, und er will, wie die Mehrzahl aller Lebewesen, sich der Umwelt anpassen, aus der er keinen Ausweg sieht. »Ihr habt's gut, über das alte Regime zu sprechen und das sowjetistische zu kritisieren!« Das sowjetistische Regime war, ist und bleibt für mich ein fremdes Regime, »Gefangenschaft bei Affen«. So oder so fliehe ich von hier, früher oder später fliehe ich, mag das Risiko noch so groß sein. Wo kann aber Pigoliza hin? Wohin kann er gehen, jedenfalls so lange, bis die Millionen von Pigolizas und Akulschins die Macht der Organisation und der Einigkeit nicht erfaßt und erkannt haben?

Ich begann, einige auf Pigoliza anwendbare Theorien zu entwickeln, wie er sein Studium bewältigen, sich durchschlagen und das Leben einrichten könne. Sereda pflichtete mir mehrmals bejahend bei. Es waren lediglich Anpassungstheorien – etwas anderes konnte ich Pigoliza auch nicht bieten. Er hörte finster zu und stocherte mit dem Meißel auf dem Tisch. Es war nicht zu sehen, ob er damit einverstanden war oder nicht.

In die Monteurstube trat Lentschik mit Akulschin.

»Na also«, sagte Lentschik lustig, »Papachen habe ich überredet, o Gott, o Gott.«

Akulschin tat etwas verlegen:

»Sei nicht böse, Junge. – Das Leben ist so, daß man sich selbst an der Gurgel packen möchte.« Pigoliza zuckte müde die Achseln.

»Also, Meister«, wandte sich Akulschin mir zu, »es ist Zeit, nach Hause zu fahren. Bei der Finsternis sieht uns auch niemand.«

Es wurde in der Tat Zeit, zu fahren, sonst könnte man uns noch einen Fluchtversuch ans Bein binden. Ich erhob mich. Wir verabschiedeten uns. Im Fortgehen verhielt sich Akulschin etwas umständlich an der Tür und sagte dann:

»Du, Junge, Hauptsache is – lernen! Die Bildung is … Jedenfalls lerne, was das Zeug hält.«

»Jawohl, ich tu es, und wenn ich dabei draufgehe«, antwortete Pigoliza finster. »Georg, kommst du mit dem Mathematikbuch morgen vorbei?«

»Unbedingt«, sagte Georg.

Wir gingen hinaus.


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